Kultur | Nummer 270 - Dezember 1996

Lateinamerika – ein kultureller Hybrid

Interview mit dem Kulturwissenschaftler Néstor García Canclini

Seine Bücher sind Pflichtlektüre für SoziologInnen, KommunikationswissenschaftlerInnen und AnthropologInnen an den Universitäten Lateinamerikas: der Argentinier Néstor García Canclini. Anfang 1996 veröffentlichte García Canclini sein neues Buch “Consumidores y ciudadanos”. Es untersucht die Veränderungen in der Kultur und Geographie lateinamerikanischer Städte in den letzten Dekaden und kritisiert Prozesse der kulturellen Globalisierung, die von Massenmedien dominiert wird.

Xavier Andrade, Javier Auyero

Der Begriff Hybridisierung ist zentral in deinen beiden letzten Büchern (“Consumidores y ciudadanos” und “Culturas híbridas”, Anm.d.Red.). Du benutzt ihn, um die Veränderungen seit den 70er Jahren in Lateinamerika zu beschreiben. Andererseits scheinst du damit einen neuen Begriff prägen zu wollen im Gegensatz zu anderen, deren Erklärungskraft nicht ausreicht. Was genau meinst du, wenn du von Hybridisierung sprichst?

Ich verwende den Begriff der Hybridisierung um die Vielfalt und das
Potential neuer Kombinationen zu beschreiben. Heutzutage verknüpft sich das Religiöse mit dem Politischen, das Künstlerische mit dem Kommunikativen und um diese Form erklären zu können, ist ein umfassender Begriff notwendig. Schon seit langem haben Menschen in Literatur, Kunst und Kultur über den hybriden Charakter Lateinamerikas nachgedacht und geschrieben, ohne allerdings den Begriff Hybridisierung zu verwenden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein Grossteil der Untersuchungen über mestizaje und sincretismo spielen auf das Phänomen der Hybridisierung an. Ich wollte mich aber gegen diese früheren Arbeiten abgrenzen. Einerseits weil eine Vielzahl von ihnen nur eine einzelne, bestimmte Art von Hybridisierung analysiert. Zum Beispiel ist mit mestizaje immer die Hybridisierung von Menschen”rassen” gemeint. Oder Leute, die über Synkretismus schreiben, meinen nur religiöse Hybridisierung. Ich glaube aber, daß das Besondere seit der Mitte dieses Jahrhunderts ist, daß sich die unterschiedlichen Arten von Hybridisierung vermischen und kulturell miteinander verknüpfen. Es ist nicht mehr so, daß sich nur eine Religion mit der anderen vermischt. Stattdessen gibt es heute immer weniger orthodoxe Formen von Religionen. Dasselbe gilt für ethnische oder soziale Gruppen. Es gibt heute keine “Reinformen” mehr. Stattdessen verknüpfen sich alle diese Formen miteinander.

Welche Verbindungen gibt es zwischen deiner früheren Arbeit “Culturas híbridas” und deinem neuen Buch “Consumidores y ciudadanos”? Was sind die Hauptthemen deiner neuen Arbeit?

In Consumidores y ciudadanos greife ich einige Fragestellungen aus Culturas híbridas wieder auf und betrachte sie in einem anderen Licht. In den fünf Jahren nach dem Erscheinen von Culturas híbridas haben sich die nationalen und internationalen Bedingungen verändert, unter denen Prozesse der Hybridisierung stattfinden. Um nur einige solcher Bedingungen zu nennen: Ich meine den Freihandelsvertrag NAFTA zwischen den USA, Mexiko und Kanada, Mercosur in Südamerika oder einzelne Verträge zwischen Lateinamerika und Europa oder den USA. Auch die Migrationsbewegungen haben sich in den vergangenen Jahren verstärkt. Ich meine, daß Multikulturalismus Hybride erzeugt, und ich glaube, daß Hybridisierungsprozesse zwischen Menschen wichtiger geworden sind als die, die in der Welt des Kapitals und in den Massenmedien vonstatten gehen.
Schließlich haben sich elektronische Kommunikationsnetze ausgebreitet, die den Austausch von Botschaften erleichtern. Diese elektronische Kommunikation wirkt multiplizierend, intensivierend und bis zu einem bestimmten Grad auch demokratisierend. Als E-mail oder Internet ermöglicht sie Prozesse der Horizontalisierung von Kommunikation. Das heißt, Menschen sind nicht nur entweder SenderInnen oder EmpfängerInnen von Nachrichten, sondern können beides sein, vor allem beides gleichzeitig. E-Mail und Internet erweitern aber vor allem auch die Möglichkeiten internationaler Kommunikation. Dadurch können neue Kommunikationskreise zwischen NGOs oder alternativen Gruppen aufgebaut werden, allerdings natürlich auch zwischen den “großen” transnationalen Kräften. All das hat die Bedingungen verändert, unter denen Hybridisierung heute stattfindet.

Wie zeigen sich denn diese Veränderungen im Alltag und wie verändern sie konkret die politische Kultur in Lateinamerika?

Die größeren internationalen Kommunikationskreise breiten sich auch innerhalb der Bevölkerung eines einzelnen Landes immer weiter aus, obwohl bisher nur eine Minderheit der Bevölkerung Zugang zu den neuesten Technologien hat. So werden Formen der Aufnahme und Verarbeitung von Nachrichten und der Aneignung und Verknüpfung von Informationen und Gütern komplexer und vielfältiger, und Hybridisierung nimmt immer komplexere Formen an. In jeder mittelgroßen Stadt ist das Repertoire an Gütern und Nachrichten, die den lokalen Raum überschreiten, vielfältiger als noch vor zwanzig Jahren. Die Möglichkeiten, wie Menschen Nachrichten auswählen und verknüpfen haben sich deshalb vervielfältigt. Alle neuen Forschungen zeigen, daß Menschen Nachrichten nicht passiv empfangen, sondern kontinuierlich und individuell verändern.

Du sagst, daß Lateinamerika gegenwärtig aus “BürgerInnen des 18. Jahrhunderts und KonsumentInnen des 20. Jahrhunderts” besteht. Welche Möglichkeiten intellektueller und praktischer Einflußnahme gibt es heute in Zivilgesellschaften ?

In den letzten Jahren sind traditionelle Formen politischer Represäntation, wie Parteien, Gewerkschaften, StudentInnenorganisationen zerfallen. Öffentlichkeit hat sich von ihren konventionellen Orten weg und hin zur massenmedialen Sphäre verlagert. Die Definition, wer BürgerIn ist und wie Beteiligung aussehen kann, muß sich in diesem massenmedialen Bereich bewegen, wenn sie überhaupt noch eine Bedeutung haben will. Fragen der Repräsentation und der Zugehörigkeit werden heute großenteils in der Sphäre des Konsums, der Aneignung von Gütern und in der Interaktion mit Massenmedien beantwortet und nicht mehr im Verhältnis zu Parteien oder den “klassischen” Institutionen politischer Repräsentation. Internationale ökonomische und politische Zusammenschlüssen zwingen uns, auch Öffentlichkeit international zu denken. Die Definitionen, wer BürgerIn ist und was ihre/seine Rechte und Einflußmöglichkeiten sind, muß also auch die traditionellen Grenzen des Nationalstaats überschreiten.

Läßt sich Politik denn überhaupt außerhalb von Konsum denken?

Ja, ich glaube, Politik existiert außerhalb von Konsumkreisläufen oder erschöpft sich jedenfalls nicht in ihnen. Dennoch findet heute ein Großteil dessen, was wir früher politische Bewußtseinsbildung oder das Schaffen eines kritischen Bewußtseins der Welt genannt haben, in einer Auseinandersetzung mit dem Lebensalltag des Konsums statt, mit Fragen der Lebensqualität, oder der Aneignung von Gütern. Diskussionen drehen sich nicht mehr so sehr um große historische Sprünge oder um die Veränderung ganzer Gesellschaftsmodelle.

Solange ein Großteil der Bevölkerung Lateinamerikas nicht mal Zugang zu minimalem Konsum hat, glaubst du nicht, daß du das Verhältnis von Konsum und Politik und die Rolle von Massenmedien überbetonst? Sind nicht andere soziale Netze und Beziehungen entscheidend, wie zum Beispiel klientelistische Beziehungen in der Politik oder Netzwerke kollektiven Handelns, die überhaupt erst den Zugang zu Mitteln, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, ermöglichen?

Vielleicht ist es hier notwendig, klarzustellen, daß ich in der ersten Hälfte von Consumidores y Ciudadanos vor allem urbane Veränderungsprozeße beschreibe und die Auswirkungen, die die Veränderungen in den großen lateinamerikanischen Städten auf politische Beteiligung haben. Ich betrachte aber diese großen Städte in gewisser Weise auch als massenmediale Systeme, die nicht nur auf ihrem eigenen Territorium vernetzt sind, sondern auch international. Deshalb spreche ich von “Globalen Städten”. Ich will aber nicht andere Netzwerke von Zusammengehörigkeit vergessen, wie zum Beispiel Nachbarschaftsgruppen oder Jugendgruppen. Außerhalb oder neben massenmedialen Netzwerken bleiben diese Gruppen oder andere Formen der Zusammenschlüsse natürlich wichtig, aber beide interagieren auch miteinander.

In deinem Buch forderst du eine neue Art von Intellektuellen, die radikal die Grenzen ihrer Disziplinen überschreiten sollen. Was für ein Profil müssen Intellektuelle haben, die über aktuelle kulturelle Veränderungen nachdenken?

Ich glaube nicht, daß man von einem einzelnen Typ Intellektuellen sprechen kann. Genausowenig wie es ein einzelnes Motiv für politische Bewegungen gibt oder ein einzelnes Gesellschaftsmodell, das im Moment wünschenswert und praktikabel wäre. Ich würde deshalb im Plural sprechen, von den unterschiedlichen Profilen. Ich glaube auch, daß es weiterhin Intellektuelle geben kann, die sich nur einer Disziplin zurechnen und diese dann – teilweise sehr gut – ausüben. Sie sind dann gute SoziologInnen oder AnthropologInnen oder SpezialistInnen in Kommunikation oder Literaturgeschichte. Ich weiß auch, daß es viele institutionelle und vor allem ökonomische Anreize gibt, die dazu führen, daß Leute ihrer Disziplin treu bleiben. Mir aber erscheint es attraktiver, verschiedene Disziplinen zu durchqueren und nach unterschiedlichen Blickwinkeln auf einen Vorgang zu suchen. Daraus will ich aber kein Dogma machen. Im Rückblick auf die letzten zwanzig Jahre kann man sehen, daß die Kulturstudien, die mit dem starken Impetus angefangen haben, Grenzen von Disziplinen zu überschreiten, später dann auch keine allzu großen theoretischen Entwürfe mehr geliefert haben. Jedenfalls haben sie nicht die Existenz der Einzeldisziplinen überflüßig gemacht.

Du selber hast dich zum hybriden Intellektuellen entwikkelt, insofern du viel mehr als früher die US-amerikanischen kulturwissenschaftlichen Debatten in deine Gedanken integrierst…

Wie der Großteil der Menschen vom Rio de la Plata bin ich mit einem ständigen Blick nach Europa großgeworden, vor allem nach Frankreich. Da bin ich dann auch hingegangen, intellektuell und physisch, habe vor allem über Sartre und Merleau-Ponty gearbeitet und später dann mit und über Bourdieu. Der ist für mich auch der attraktivste und systematischste Soziologe überhaupt geblieben. Ich glaube, daß diese Art von umfassenden Intellektuellen wie Sartre, Bourdieu oder auch Habermas theoretische Entwürfe geschaffen haben, die es so nicht mehr gibt. Stattdessen treten heute einzelne Figuren aus unterschiedlichen Ländern hervor. Viele von ihnen leben in den USA. Manche von ihnen arbeiten als Outsider der US-Gesellschaft, wie zum Beispiel die chicanos. Leute wie Renato Rosaldo sagen mir deshalb eine Menge und ich glaube, daß Kulturwissenschaften in den USA deshalb weitaus interessanter sind als sonstwo.

Übersetzung: Silke Steinhilber

KASTEN:
Néstor García Canclini machte seinen Doktor in Philosophie in Paris. Er lebte bis 1976 in Argentinien und zog dann nach Mexiko. Zur Zeit leitet er das Programm “Stadtkultur” an der Universidad Autónoma Metropolitana leitet. 1981 erhielt sein Buch Las culturas populares en el capitalismo den Literaturpreis Casa de las Americas, und 1992 erhielt das Buch Culturas híbridas (Hybride Kulturen) den iberoamerikanischen Buchpreis der Latin American Studies Association als bestes Buch über Lateinamerika der Jahre 1990-1992.

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