// Blutig erkaufter Fortschritt
Sie sollen dem Fortschritt nicht im Weg stehen. „Die Regierung kann und wird nicht irrealen, ideologischen Projekten von Minderheiten zustimmen“, erklärte Gleisi Hoffmann, Kabinettschefin der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff, Anfang Mai. Die gemeinten Minderheiten sind Indigene, die „irreale, ideologische Forderung“ ist die Demarkierung ihrer Territorien. Statt der nationalen Stiftung für Indigene FUNAI soll nun die staatliche Forschungsbehörde für Landwirtschaft EMBRAPA die Demarkierung übernehmen. Ein besseres Beispiel für „den Bock zum Gärtner machen“ gibt es kaum. Die EMBRAPA ist die Behörde, welche die grüne Revolution nach Brasilien gebracht hat, mit der das Land zum landwirtschaftlichen Giganten wurde. Im Zweifel werden sie immer für die Landwirtschaft und gegen die Demarkation als indigenes Gebiet urteilen.
Die grüne Revolution in Brasilien gilt immer noch als Erfolgsgeschichte. Seit der Silvesternacht 1938, als der damalige Präsident Getúlio Vargas den „Marsch nach Westen“ ankündigte, wurden riesige Gebiete im brasilianischen Westen und Norden für die Landwirtschaft erschlossen. Heute ist Brasilien einer der größten Lebensmittelproduzenten der Welt und führend in der Entwicklung von neuen Agrartechnologien. Weltweit wollen andere Länder diese Entwicklung nachahmen.
Dass die grüne Revolution in Brasilien auch ihre Schattenseiten hatte, ist allgemein bekannt, doch welche Verbrechen genau begangen wurden, war kaum zu belegen. Dies hat sich nun geändert. Im April ist ein verloren geglaubter Bericht wieder aufgetaucht, der viele Verbrechen minuziös dokumentiert. Der Figueiredo-Report ist im Archiv des Indigenenmuseums in Rio de Janeiro wieder gefunden worden. Im Auftrag des Innenministers legte der Staatsanwalt Jader de Figueiredo Correia Ende der 1960er Jahre 16.000 km zurück und besuchte über 130 Stationen der damaligen „Indianerschutzbehörde“ SPI. Was er und seine Mitarbeiter_innen auf über 7.000 Seiten zusammentrugen, schockierte die Welt. Figueiredo sammelte Berichte von systematischer Folterung von Indigenen, durch Farmer oder Angestellte der SPI. Die Indigenen galten im brasilianischen wilden Westen und Norden nicht als vollwertige Menschen, sie wurden auf oft bestialische Art erniedrigt und versklavt.
Die Gewalt gegen Indigene war aber nicht nur Willkür, sondern auch zielgerichtet. Angestellte der SPI verkauften mit Strychnin vergifteten Zucker an Indigene und verteilten mit Pocken verseuchte Kleidung. Die Indigenen sollten nur schnell verschwinden, egal wie, egal wohin. Es sollte freies Land entstehen für die Landwirtschaft. Dass dabei ganze indigene Ethnien komplett verschwanden, wurde billigend in Kauf genommen.
Als der Report 1968 bekannt wurde, erregte er weltweit Aufsehen. Die SPI wurde aufgelöst und durch die FUNAI ersetzt. Doch bevor wirkliche Konsequenzen gezogen werden konnten, verschwand der Bericht. Angeblich fiel er einem Feuer zum Opfer; ein offenes Geheimnis, dass die damalige Militärdiktatur das Dokument verschwinden ließ. Die Expansion der Landwirtschaft ging ungestört weiter und auch die neue FUNAI legte den Farmern kaum Steine in den Weg.
Nun ist der Figueiredo-Report wieder da und gibt beredtes Zeugnis von dem Genozid, den das „grüne Wirtschaftswunder“ in Brasilien auch bedeutete. Notwendig ist, dass daraus juristische Konsequenzen gezogen werden. Dass Indigenen, die gewaltsam vertrieben wurden, ihr Land zurückgegeben wird. Dass die Verantwortlichen für den Genozid vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden, wie es in Guatemala – trotz aller aktuellen Rückschläge – mit dem Ex-Diktator Ríos Montt geschieht. Noch wichtiger wäre es, den Report zum Anlass zu nehmen, um in der Agrarpolitik umzudenken, und die Interessen von Menschen und Umwelt ins Zentrum zu stellen und nicht die Profite der Industrie. Von alledem passiert nichts in Brasilien. Doch die Erinnerung bleibt und der Figueiredo-Report zeigt, dass die Ordnung und der Fortschritt in der brasilianischen Flagge mit Blut erkauft wurden.