Editorial | Nummer 318 - Dezember 2000

Der Aufstand der Anständigen

Ein schönes Bild. Deutschland steht auf gegen Neonazis. 200.000 Menschen demonstrieren in Berlin für Menschlichkeit und Toleranz und verurteilen, wie es im Aufruf formuliert wurde, „Hass, Gewalt, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit“. Demonstrationen wie die vom 9. November in Berlin oder knapp zwei Wochen zuvor in Düsseldorf werden auch im Ausland deutlich wahrgenommen. In vielen Ländern Lateinamerikas wurde ausführlich über sie berichtet, und wir hoffen, dass nicht Wenigen die Angst genommen wurde, nach Deutschland zu kommen, sei es zu einer kurzen Urlaubsreise, zum Studium oder auch für die Suche nach Arbeit und einem besseren Leben.
Die Sache hat Charme, und doch bleibt ein schaler Nachgeschmack zurück. Der „Aufstand der Anständigen“, der hier zelebriert wurde, war verlogen. Dass der Rassismus in der Mitte der Gesellschaft verankert ist, gesteht selbst eine ganze Reihe RegierungspolitikerInnen ein. Dies zu benennen war am 9. November allerdings nicht erlaubt. Selbst so harmlose und in ihrer Aussage kaum in Frage zu stellende Transparente, wie zum Beispiel mit der Aufschrift „Nazis morden. Der Staat schiebt ab“, wurden von der Polizei einkassiert, mehrere Protestierer festgenommen.
Der rassistische Grundkonsens der deutschen Politik sollte nicht in Frage gestellt werden, sowohl Edmund „verrasst“ Stoiber als auch Otto „die Grenzen der Belastbarkeit durch Zuwanderung sind überschritten“ Schily und all die anderen ScharfmacherInnen der „Parteien der Mitte“ sollten sich zur Teilnahme bereit finden. So konnte es sich nur Paul Spiegel leisten, Kritik am Zündeln der PolitikerInnen zu üben. Anetta Kahane, seit Jahren in Brandenburg in Initiativen gegen Rechtsextremismus aktiv, wurde auf Drängen der CDU als Rednerin wieder ausgeladen.
So schlimm das Gerede der CDU von der deutschen Leitkultur und die Kritik daran berechtigt ist, in der Organisation der Demo wurde in einem wichtigen Punkt verwandtes Denken offenbar: Während die CDU Einwanderern eine vom Christentum und Judentum geprägte Werteordnung abverlangen will, wurden die Organisationen der in Deutschland lebenden MigrantInnen, die ja mehrheitlich aus islamischen Ländern kommen, erst gar nicht in die Vorbereitungen für den 9. November einbezogen.
Vor acht Jahren, im November 1992, hatten mehr als 300.000 Menschen in Berlin für die „Würde des Menschen“ demonstriert; nur wenig später stimmte die SPD der Asylrechtsänderung im Grundgesetz zu. Seit Jahren werden politisch Verfolgte mit den abstrusesten Rechtfertigungen in Länder abgeschoben, in denen ihnen erneute Verfolgung droht. Dass Schily und Co dagegen sind, dass Menschen in Deutschland totgetreten werden, weil sie anders aussehen, steht außer Frage. Keine Probleme haben sie aber damit, Flüchtlinge abzuschieben und sie der Gefahr von Folter und Mord auszusetzen. Der einzige Unterschied: In den Kongo oder nach Algerien, nach Angola oder in die Türkei abgeschobene Flüchtlinge sind keine Nachricht mehr wert, wenn sie dort erneut verfolgt werden. Weder die Bundesregierung noch die deutsche Wirtschaft muss deswegen Angst vor Exporteinbrüchen und Investitionsverlusten haben, die Opfer der Abschiebepolitik gefährden ja nicht das Bild Deutschlands in der Welt.
Nach der Zunahme rassistisch motivierter Gewalt in den letzten Monaten nun eine erneute Großdemonstration. Manch eineR der Teilnehmenden war an diesem Tag zum ersten Mal auf der Straße, um gegen das Treiben der Neonazis zu demonstrieren. Gut so. Nur wird solch ein „Aufstand der Anständigen“ weder etwas an der Asyl- und Abschiebepraxis der Bundesregierung noch am rassistischen Denken und Handeln vieler PolitikerInnen ändern. Schily wird weiter abschieben, Stoiber weiter hetzen, und Merz und Merkel werden auf der Suche nach Wählerstimmen weiterhin die Stammtische bedienen. Derweil liefern sie den Nazibanden das Gefühl, gar nicht so weit entfernt von diesen Schreibtischtätern zu sein. Nein, mit diesen PolitikerInnen kann man nicht für Menschlichkeit und Toleranz demonstrieren, es geht nur gegen sie.

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