Editorial | Nummer 197 - November 1990

Editorial Ausgabe 197 – November 1990

Die Solidaritätsbewegung in der BRD befindet sich in der Krise. Oft gehört und sicher auch richtig. Umso erfreulicher, wenn es dennoch gelingt mehrere hundert InternationalistInnen zu einem Kongreß nach Frankfurt zu mobilisieren. Er-schreckend aber dann ansehen zu müssen wie ein voller Saal zu Beifallsstürmen hingerissen werden kann, durch Außerungen über die mensch eigentlich den Kopf schütteln müsste. Lag es wirklich nur an der Person des Redners?
Kein geringerer als “Der letzte Sandinist, der alles erzählen kann” (so der plakatierte Werbetitel für sein neues Buch), Comandante Tomás Borge, referierte über die Perspektiven der nationalen Befreiung in Lateinamerika. Und was der ehemalige Innenminister des revolutionären Nicaragua so alles vom Stapel ließ, half uns dann doch erheblich weiter. In seiner auch durchaus selbstkritischen Rede, ist es dem Comandanten einige Male durchgegangen. Erntete er noch vom Großteil des Publikums zustimmendes Kichern als er gestand, daß bei den “Arbeitern und Bauern sich der Klasseninstinkt nicht so spontan ausdrückt wie der Sexualtrieb, so runzelten später schon die ersten die Stirn: “Während wir uns in Lateinamerika wie Brot, wie Schnecken und verwilderte Katzen vermehren, nimmt die Bevölkerung im Europa der großen Betten, der 100% sicheren Verhütungsmittel und der mechanischen Orgasmen unaufhörlich ab. Dort rennen wir wie Gazellen, hier wie Bärinnen in den Wechseljahren; dort bauen wir gynäkologische, hier gerontologische Abteilungen in den Kliniken auf. Dort versuchen wir den neuen Menschen zu schaffen, indem wir ihn aus der Verachtung der Agonie erlösen und ihm die Lorbeerenkrone aufsetzen und ihn in einen Gott verwandeln. Hier findet die Apologie des Postmodernen statt.” Kann man dem Commandanten noch zustimmen, wenn er feststellt, daß “weder der Marxismus noch der Sozialismus gescheitert sind, sondern vielmehr der Dogmatismus, der Bürokratismus und die panische Angst vor der Kreativität”, so sprach kurz darauf wieder der Poet T.Borge:”Der Marxismus begrenzt sich nicht auf die Funktion des anklagenden Zeigefingers, sondern ist wie ein Polarstern. Am dritten Tage -sobald der Mensch von diesen Plagen, dieser Lepra, geheilt ist wird der Sozialismus auferstehen.” Den weisen Rat, den Tomas Borge schon immer den Machthabern in den Ländern des real existierenden Sozialismus gab, verriet er dann auch ehrlich dem Frankfurter Publikum: “Sie hätten dem grauen Sozialismus einen Minirock anziehen sollen !” Aha, so ist das also. Ein Redaktionsmitglied der LN konnte sich die Frage nicht verkneifen, ob Miniröcke den Herren Honnecker und Ceaucesu gut gestanden hätten. Und die Kritik an den formalen Demokratien haben sich -ganz dem Zeitgeist entsprechend -modernisiert. “In Costa Rica koexistieren die formale Demokratie mit einem dramatischen Anstieg der AIDS-Erkrankungen sowie der ökonomischen und sozialen Unzufriedenheit.” Und über den neuen Menschen erfahren wir, wie er denn nun sein soll: “ein Mensch, der trotz aller äußeren Einschränkungen gut genährt und immer bereit ist, sportliche und kulturelle Wettkämpfe zu gewinnen.” Daraufhin sprach sich die LN-Redaktion für die Durchführung der Olympischen Spiele in Berlin, Hauptstadt Großdeutschlands aus. Mehr über den auch sonst recht ärgerlichen Kongreß in dieser LN.

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