Editorial Ausgabe 252 – Juni 1995
Fast zwanzig Jahre nach dem Mordanschlag auf Orlando Letelier, den chilenischen Außenminister unter Präsident Allende, wurden jetzt in letzter Instanz die Urteile gegen Ex-Geheimdienstchef Manuel Contreras und seinen Stellvertreter Pedro Espinosa Bravo bestätigt. Für beide führt juristisch kein Weg mehr am Gefängnis vorbei. Eigentlich ein eindeutiger Schlußpunkt unter einem Prozeß mit klar verteilten Rollen nach den Regeln des chilenischen Ubergangsprozesses. Nur spielt nun Contreras nicht mit und weigert sich, die Haftstrafe anzutreten.
Dabei schien der Fall zur Zufriedenheit (fast) aller zuendezugehen. Contreras sollte dar Bauernopfer sein, um das leidige Thema der Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur endlich abzuhaken. Die Regierung wollte nach außen Willen und Fähigkeit demonstrieren, daß sie Verbrechen der Diktatur juristisch verfolgte, ohne damit größere Konflikte zu riskieren.
Für die Menschenrechtsgruppen bedeutet dar Urteil einen kleinen Erfolg und eine, wenn auch begrenzte, Genugtuung. Zwar kritisierte beispielsweise Fabiola Letelier, Schwester des i Ermordeten und als Anwältin am Prozeß beteiligt, das geringe Strafmaß von knapp sieben und knapp sechs Jahren. Die meisten Chileninnen aber akzeptieren das Urteil, zu sehr würde ein weiteres Rühren in der Vergangenheit die so geschätzte Ruhe und Stabilität stören.
Das Militär war zerstritten über die Frage der Verurteilung, und Putschgerüchte bestimmten in den Tagen vor der Urteilsverkündung die öffentliche Diskussion. Alle blickten ängstlich auf General Pinochet. Würden Verfahren und Urteil Gnade vor seinen Augen finden? Obwohl ein Putsch Chile international völlig isolieren würde, funktionierte der Mechanismus, durch Putschgerüchte Druck zu erzeugen. Just zum Zeitpunkt der Verhandlungen über den NAFTA -Beitritt Chiles durfte das Land gegenüber den USA nicht das Bild eines Krisenherdes abgeben.
Pinochet selbst segnete dann auch das Urteil ab. Er konnte ohnehin zufrieden sein. Die Frage seiner persönlichen Verantwortung wurde im gesamten Contreras-Prozeß ausgeklammert. In einem Akt vorauseilenden Gehorsams betonten alle, es werde kein Präzedenzfall zur Aufarbeitung der Vergangen- heit geschaffen. Sogar Juan Pablo Letelier, der Sohn des Ermordeten, meinte, hier gehe “es weder um den General Pinochet noch um die Armee.”
Contreras war also der einzige, der sich nicht an die Spielregeln hielt, sondern sich in der Rolle des rebellischen Helden gefiel. Er verschanzte sich auf seinem südchilenischen Landsitz und betonte in vollmundigen Interviews mit ausgewählten Journalistlnnen seine Unschuld. Welche Druckmittel und Informationen er tatsächlich besaß, blieb unklar. Er schien sich jedenfalls der Solidarität der Armee sicher zu sein.
Nach Tagen der Unsicherheit und Spekulationen, wie seine Verhaftung erreicht werden könnte, deutete sich schließlich ein Kompromiß an: Eine Absprache zwischen Re-gierung und Armee soll es dem General iR. nun ermöglichen, sich zur Behandlung an Darmkrebs in ein Militärhospital zu begeben.
Contreras und Espinosa sind die einzigen Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur, die rechts-kräftig verurteilt wurden. Es war ein Urteil, das viel später als erwartet und nur unter massivem Druck der USA zustandekam. Zwar protestieren einzelne Offiziere weiterhin gegen das Urteil, in der Öffentlichkeit aber flacht das Interesse am Fall Contreras schon wieder ab. Die Chance, eben dieses öffentliche Interesse für eine wirkliche Aufarbeitung und Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen der Diktatur zu nutzen, wurde vertan. Wer in Chile noch darauf besteht, bleibt allein. Das ist nichts Neues, und insofern war dieses Urteil besser als gar nichts. Aber auch nicht viel mehr.