Colonia Dignidad | Editorial | Nummer 529/530 - Juli/August 2018

// EIN SKANDAL

Nach jahrzehntelangem Schweigen, Wegducken und Herumlavieren kam vor einem Jahr die Überraschung: Der Bundestag beschloss einstimmig einen Antrag mit dem Titel „Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad“. Dies erweckte zumindest den Anschein, Deutschland würde sich endlich der Verantwortung für die von deutschen Siedler*innen begangenen Verbrechen in Chile stellen: systematischer Kindesmissbrauch, Zwangsarbeit, zwangsweise Verabreichung von Psychopharmaka, Mord und Folter von Oppositionellen während der Militärdiktatur.

Spätestens seit 1966 wusste die deutsche Botschaft in Santiago von den Grausamkeiten – unternommen wurde nichts. Selbst der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier meinte 2016, deutsche Diplomaten hätten „bestenfalls weggeschaut“. In einigen Fällen wurden aus der Colonia Geflüchtete von der deutschen Botschaft in Santiago gar wieder in die Sekte zurückgeschickt. Um das alles aufzuarbeiten, verpflichtete der Bundestag die Regierung, bis zum 30. Juni 2018 ein „Konzept für Hilfsleistungen zur Beratung vorzulegen und dessen Finanzierung zu prüfen.“

Auf den letzten Drücker hat das Auswärtige Amt nun ein solches Konzept vorgelegt. Der Hammer kommt schon in der Einleitung: „Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass aus den Geschehnissen in der Colonia Dignidad keine rechtlichen Ansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland entstanden sind. Vor diesem Hintergrund enthält der nachfolgende Entwurf für ein Hilfskonzept ausschließlich Vorschläge für freiwillige Unterstützungsmaßnahmen.“ Und: „Individualmaßnahmen, insbe­sondere Geldzahlungen an Einzelpersonen, sind dagegen nicht vorgesehen.“

Die geplanten Maßnahmen sind dann auch nicht mehr als ein Potpourri an unverbindlichen Bildungs- und Unterstützungsmaßnahmen für die deutschen Opfer der Sekte, die ohne jeglichen Rentenanspruch nach jahrzehntelanger Zwangsarbeit in der Colonia auf finanzielle Hilfeleistungen gehofft hatten. Von Unterstützung für die Angehörigen der chilenischen Opfer ist in dem Konzept gar zu keinem Zeitpunkt die Rede. Dabei hatten sie nicht einmal Entschädigung gefordert, sondern lediglich wissenschaftliche und technische Unterstützung bei der Suche nach Massengräbern und der Exhumierung und Identifizierung dort begrabener Häftlinge. Enttäuscht wurden sie dennoch: „Was das Konzept der Bundesregierung als ‚Zusammenarbeit‘ vorschlägt, ist die Delegierung dieser wissen­schaft­lichen Arbeiten an ein undurch­schaubares, bürokratisches Netz von Zuständigkeiten, die – wir kennen es leider – letztlich in der Straflosigkeit versanden“, kommentierte Myrna Troncoso, Präsidentin der Angehörigen­­­organisation der Verschwundenen der Colonia Dignidad in der Región del Maule.

Auch Vertreter*innen von verschiedenen Parteien äußerten sich fassungslos über das Konzept. Ein „Affront“, so Renate Künast, ein „Skandal“ und „beschämend für Deutschland“ sei das Papier, so der CDU-Abgeordnete Michael Brand. Aber warum eigentlich? Hätte man wirklich erwarten können, dass eine deutsche Regierung Menschenrechte und historische Verantwortung für wichtiger erachtet als fiskalpolitische Peanuts? Hat sie das jemals? Denn dann könnte ja schließlich jeder kommen: Die Nachfahren der Opfer des Völkermordes an den Herero und Nama in Namibia oder der Brandschatzung Griechenlands während des Zweiten Weltkriegs, oder die Opfer der Bombardierung eines von Zivilist*innen umringten Tanklasters im afghanischen Kundus 2009 und ihre Angehörigen. Ganz zu schweigen von der menschenverachtenden Flüchtlingspolitik der deutschen Regierung: Dank Dublin-Verordnung kann mit ruhigem Gewissen auf Länder an den EU-Außengrenzen gezeigt werden. Verantwortung abgeschoben, Hände in Unschuld gewaschen. Bereits mehr als tausend ertrunkene Migrant*innen im Mittelmeer 2018 spielen keine Rolle. Nur Teile der Zivilgesellschaft setzen sich für sie ein, wie zuletzt auf den Seebrücke-Demos in mehreren deutschen Städten.
Diese menschenverachtende Außenpolitik Deutschlands ist ein Skandal, ein Affront, aber leider eben wie immer und wenig überraschend. Da ist das Konzept zur Colonia Dignidad keine Ausnahme.

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