Editorial | Nummer 432 - Juni 2010

// Feigenblatt statt Schutzschild

MenschenrechtsbeobachterInnen sollen Schutzschilde sein. Regierungen schrecken vor internationaler Kritik zurück und sehen daher von Angriffen auf die eigene Bevölkerung ab, wenn diese von AusländerInnen begleitet wird. So die Grundannahme, auf deren Basis AktivistInnen aus Europa und den USA zum Beispiel nach Mexiko kommen.

Am 27. April starb einer von ihnen im Kugelhagel von Paramilitärs. Der Finne Jyri Jaakkola und seine mexikanische Kollegin Alberta Beatriz Cariño überlebten den Versuch nicht, Lebensmittel in eine Gemeinde im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca zu bringen, die von einer paramilitärischen Organisation belagert wird (siehe Artikel ab Seite 34). Der Gouverneur von Oaxaca verkündete, statt wenigstens Besorgnis auszudrücken, Ausländer hätten in diesem Gebiet nichts zu suchen und er werde den rechtlichen Status derer überprüfen lassen, die den Angriff überlebt hatten. Und was war die internationale Reaktion? Die Vorsitzende der Kommission für Menschenrechte des Europäischen Parlaments, die Finnin Heidi Hautala, forderte eine Wahrheitskommission. Diplomatische VertreterInnen mehrerer europäischer Länder, darunter Deutschland, und der USA reisten nach Oaxaca, um mehr über den Vorfall zu erfahren.

Hat sich irgendeine einE deutscheR RegierungspolitikerIn dazu geäußert? Nein. Das ist nicht verwunderlich. 2006 wurden im zentralmexikanischen Atenco über 200 Menschen festgenommen, misshandelt und verschleppt. Es gab zwei Tote durch Schussverletzungen. Fünf AusländerInnen wurden misshandelt und illegal abgeschoben, darunter die deutsche Studentin Samantha Dietmar. Auch damals war von Seiten der deutschen Regierung keine Kritik am Vorgehen der mexikanischen Polizei zu hören. Mexiko ist ein geschätzter Handelspartner der Bundesrepublik. Knapp zehn Milliarden Euro betrug das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern im vergangenen Jahr. Als Präsident Felipe Calderón Anfang Mai anlässlich des Petersberger Klimadialogs Deutschland besuchte, zeigten er und Angela Merkel sich optimistisch und einig im Kampf gegen den Klimawandel – das Thema Menschenrechte kam nicht vor. Dabei bezeichnet das im Jahr 2000 geschlossene Freihandelsabkommen zwischen der EU und Mexiko die Wahrung der Menschenrechte als einen „wesentlichen Bestandteil dieses Abkommens.“ Doch es gibt keine Kontrollmechanismen für die Menschenrechtssituation in Mexiko. Die Klausel ist ein Feigenblatt, mehr nicht.

Aber nicht nur die Handelsinteressen, auch ideologische Verbohrtheit hält die deutsche Politik von Kritik an Calderóns Menschenrechtspolitik ab. Man stelle sich vor, in Venezuela oder auf Kuba werde einE europäischer MenschenrechtsaktivistIn erschossen. Die Bundesregierung würde nicht zögern, die Menschenrechte gegen die unliebsamen Regierungen in Anschlag zu bringen.

Calderón aber ist keiner der linken lateinamerikanischen PräsidentInnen, die in den letzten Jahren mit mehr oder weniger Erfolg versucht haben, den Interessen des Südens Vorrang einzuräumen. Er ist einer dieser verlässlichen Partner, der hilft den industrie- und elitefreundlichen Status quo zu erhalten. Im Süden von Mexiko werden die Profitinteressen mit nackter Gewalt gegen die Bevölkerung durchgesetzt. Internationale Menschenrechtsbeobachtung verkommt zumindest in Mexiko zum porösen Schutzschild. Die AktivistInnen sind zunehmend selbst schutzlos und ihre Arbeit in Regionen, die es am nötigsten haben, wird erschwert. Die MexikanerInnen, die dort Tag für Tag mit Repression und staatlicher Willkür leben müssen, bleiben noch verwundbarer zurück.

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