Editorial | Nummer 311 - Mai 2000

Geschichte auf brasilianisch

Man nehme einen Mythos, beschwöre ihn mit Harmonie, gebe tüchtig Medienmultis hinzu und schmecke das Ganze mit vordergründigen Zugeständnissen und kuriosen Denkmälern ab – Ergebnis: Feierlichkeiten zum 500. Jahrestag der „Entdeckung“ Brasiliens.
Am 22. April vor 500 Jahren ging der portugiesische Admiral Pedro Álvares Cabral im heutigen Bundesstaat Bahia an der Ostküste Brasiliens an Land, um das östliche Gebiet des zuvor von Columbus zufällig „entdeckten“, „neuen“ Kontinents für die portugiesische Krone in Besitz zu nehmen. Das offizielle Brasilien feiert stolz diesen „Glücksfall der Geschichte“, der es ermöglichte, dass bis heute Schwarz, Weiss und Indigen harmonisch das halb Südamerika bedeckende Land bevölkert. Seit über zwei Jahren schon werden die Feierlichkeiten vom brasilianischen Medienkonzern TV Globo in schönen Farben vermarktet. Es ist nicht von Kolonialisierung, nicht von Sklaverei und Vertreibungen, geschweige denn von sozialer Ungerechtigkeit und Besitzkonzentration – also den Themen, die eigentlich das Leben der Mehrheit der 165 Millionen EinwohnerInnen Brasiliens bestimmen – die Rede. Verklärt wird die Geschichte beispielsweise durch Duschgelflaschen mit der Aufschrift „Brasil 500 Anos“ oder mit nachgespielten Kolonialisierungen mit grimmigen Wilden und lächelnden Portugiesen als Werbegag in Schaufenstern der großen Shoppingcenter.
Das „andere Brasilien“, das sich zu diesem Anlass ebenso zu Wort meldet, um auf Ungerechtigkeit und Armut aufmerksam zu machen, soll durch diese kommerzielle Einseifung unsichtbar werden. Die Landlosenbewegung, Schwarze- und Indigenennetzwerke haben sich in der Kampagne Outros 500 – „Die anderen 500 Jahre“ zusammengetan, um in Porto Seguro gegen die offizielle Darstellung der Geschichte, gegen Diskriminierung und Benachteiligung in der brasilianischen Gesellschaft zu demonstrieren. Von denjenigen, die das Land einst mit etwa fünf Millionen Menschen bewohnten, leben heute nur noch etwa 300.000. Sie müssen heute gegen Großgrundbesitzer und Regierung um die offizielle Anerkennung als Indigene und ihre Territorien kämpfen.
Landlose Kleinbauern leiden unter Besitzkonzentration und Bodenspekulation. Mehrere Millionen besitzlose Landarbeiter und verarmte Kleinbauern sind – von staatlichen Umsiedlungsprogrammen oder Großgrundbesitzern vertrieben – auf der Suche nach einer Lebensgrundlage. Und die seit 1946 in der Verfassung verankerte democracia racial existiert faktisch nicht: Je dunkler die Hautfarbe, desto benachteiligter der Mensch. Das ist die Realität im „Land der Zukunft“, eine Beschreibung, die die politische und ökonomische Elite des Landes am liebsten sieht. Um diese Träume rein zu halten, wurde 500 Jahre nach der „Entdeckung“ der Zeremonienort Porto Seguro hermetisch abgeriegelt und in Coroa Vermelha auf die Stimmen derer niedergeprügelt, die die brasilianische Gesellschaft auf „Invasion, Völkermord und Sklaverei“ gebaut sehen. Denn: „Wer gegen die Entdeckung seiner Heimat protestiert, ist kein Brasilianer und sollte nicht als solcher behandelt werden“, so ein brasilianischer Senator, der kurz zuvor im Parlament von einem Indigenen mit Pfeil und Bogen bedroht wurde. Folgerichtig wurde ein Freilichtmuseum auf indigenem Territorium und ein neues Shoppingcenter namens „Patashopping“ (dem Namen des indigenen Pataxó-Volkes „nachempfunden“) eingeweiht und der umgerechnet über vier Millionen Mark teure Nachbau der Karavelle Cabrals ohne lästige Proteste zu Wasser gelassen.
Die kommerzielle Wäsche sollte die nationale und internationale Aufmerksamkeit einmal mehr hin zu bunten Spektakeln wie Samba, Caipirinha und Zuckerhut und weg von fehlenden Grund- und Menschenrechten lenken. Diese Ausgabe der LN ist eine Gemeinschaftsproduktion mit der Koordinationsgruppe Brasilien KoBra e.V..

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