Editorial | Nummer 428 - Februar 2010

Haitis blockierte Entwicklung

An Haiti kommt derzeit kein Medium vorbei ­– auch nicht die Lateinamerika Nachrichten. Die Zahlen des Horrors ­– 150.000 Tote und 250.000 Verletzte mit nach oben offenem Ausgang – sind unfassbar. Noch auf geraume Zeit wird es in Haiti um Nothilfe gehen, denn an Wiederaufbau ist faktisch so schnell nicht zu denken. Nichtsdestotrotz werden die Weichen für einen Wiederaufbau schon jetzt gestellt. Sie sind alles andere als ermutigend: Noch am 20. Januar hatte der Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF), Dominique Strauss-Kahn, erklärt, der IWF werde sowohl seinen neuen Katastrophenhilfe-Kredit als auch seine bestehenden Forderungen von 165 Millionen US-Dollar in einen Zuschuss umwandeln, um Haiti nicht mit neuen Schulden zu belasten. Schon eine Woche später brach der IWF sein Wort: zinsfreier Kredit von 102 Millionen US-Dollar, Beginn der Rückzahlung erst nach fünfeinhalb Jahren. Was im Normalfall und für andere Länder günstige Kreditkonditionen sind, bedeutet in Haiti die Fortschreibung der Abhängigkeit. Eine Abhängigkeit, die Geschichte hat.

Seit der Unabhängigkeit 1804 ist die Auslandsverschuldung einer der entwicklungshemmendsten Faktoren überhaupt. Das besiegte und gekränkte Frankreich verhängte nicht nur ein Embargo gegen die junge Republik – unterstützt von den anderen Kolonialmächten –, auch für die Anerkennung Haitis als Staat forderte es seinen Preis. Ende der 1820er musste die „Perle der Antillen“ 150 Millionen Francs an Frankreichs König Charles X. zahlen. Den Gegenwert von 22 Milliarden Dollar stellte 2004 der damalige Präsident Jean-Bertrand Aristide Frankreich in Rechnung – erfolglos und kurz bevor ihn Chirac und Bush im gegenseitigen Einvernehmen zwangsexilierten.

Fraglos ist die komplette Streichung von Haitis Auslandsschulden eine notwendige, wiewohl nicht hinreichende Bedingung dafür, dass Haitis Zukunft besser aussieht als seine Vergangenheit. Auch der Wiederaufbau muss über Schenkungen statt wie üblich über Darlehen finanziert werden. In der Vergangenheit wurde aus Haiti rausgepresst, was herauszupressen war. 2010 stehen vertraglich 17 Millionen Dollar Schuldendienst an, danach pro Jahr laut Weltbank 10 Millionen mehr, sodass Haiti schon 2013 wieder das Niveau vor der Teilentschuldung 2009 erreicht hätte. Gesamtwirtschaftliche Entwicklung ist so a priori ausgeschlossen.
Auch die erste Geberkonferenz im kanadischen Montréal am 25. Januar stellte keine notwendigen Weichen. Das Treffen der AußenministerInnen und RepräsentantInnen von etwa 20 Staaten und Organisationen endete ohne verbindliche Zusagen – auch ohne die Zusage eines Schuldenerlasses. Dieser wäre jedoch zwingend notwendig, um eine nachhaltige Entwicklung in die Wege zu leiten, die verhindern könnte, dass ein Erdbeben so viele Opfer fordert.
Selbst mit der BRD wurde nach dem Zweiten Weltkrieg beim Londoner Schuldenabkommen 1953 weit pfleglicher umgegangen und neben einer Teilschuldenstreichung die künftige Schuldenbedienung an eine zentrale Entwicklungsbedingung geknüpft: Zahlbar nur bei Leistungsbilanzüberschüssen. Doch um Haiti in die Lage zu versetzen, statt am Tropf zu hängen, Überschüsse zu erzielen, müsste exakt die Liberalisierungspolitik umgedreht werden die Haiti schon weit vor dem Erdbeben maßgeblich ins Elend gestoßen hat. Dass die Geberstaaten daran denken, ist nicht ansatzweise auszumachen. Die Blankovollmacht, die Haitis Präsident René Préval der US-amerikanischen Außenministerin Hillary Clinton ausstellen musste, steht für das Gegenteil. Haitis weitere Entwicklung wird damit gewissermaßen wieder offiziell in die Hände der USA gelegt. Und die früheren Kolonialstaaten stehen Spalier. Wie einst beim Embargo nach 1804.

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