Editorial | Nummer 440 - Februar 2011

// Katastrophale Hilfe

Scheitern als Chance. Die optimistische Formel des 2010 verstorbenen Regisseurs und Aktionskünstlers Christoph Schlingensief ist in Haiti nicht aufgegangen. Nicht wenige ließen unmittelbar nach dem Beben am 12. Januar 2010 die Hoffnung verlauten, die Katastrophe sei auch eine Chance für das Land. Auf den Trümmern könne man ein schöneres, besseres Haiti aufbauen. Ein Jahr danach sind gerade mal fünf Prozent des Schutts weggeräumt, 15 Prozent der Häuser wieder aufgebaut und selbst der größtenteils zerstörte Präsidentenpalast dient weiterhin nur als Mahnmal statt zur Führung der Regierungsgeschäfte.

Das politische Versagen beim Wiederaufbau ist komplett – national und international. Dabei hatte Präsident René Préval schon im März einen 55-seitigen Wiederaufbauplan vorgelegt. Die Zielsetzung hatte es in sich: Eine Gesellschaft, an der alle BürgerInnen Anteil haben sollten: mit einem handlungsfähigen Staat, einem funktionierenden Bildungs- und Gesundheitssystem, blühenden Regionen und guten Straßen, um die Hauptstadt mit den Rest des Landes zu verbinden – und das alles innerhalb von zehn Jahren. Die Ende März zugesagten 11 Milliarden US-Dollar der Geberkonferenz sollten bei der Realisierung helfen.

Für die praktische Umsetzung gibt es nach wie vor keine konkreten Pläne. Die Regierung Préval ist quasi handlungsunfähig und aus Sicht der internationalen HelferInnen und GeberInnen der Sündenbock Nummer eins. Nur ein Bruchteil der 10 Milliarden US-Dollar sind mit dieser Begründung bisher geflossen. Statt eines planvollen Wiederaufbaus herrscht fortgesetzte Nothilfe, durch die zusätzliche Cholera-Epidemie sicher dringlicher denn je. Doch seit dem Erdbeben arbeiten in Haiti rund 11.000 Hilfsorganisationen größtenteils unkoordiniert, oft ohne durchdachte Konzepte und ohne lokale PartnerInnen. Es ist eine notwendige Hilfe, die freilich für Haiti keinerlei ökonomische Perspektive bietet. Von dem nach Haiti fließenden Geld kommt so gut wie kein Cent bei den lokalen Graswurzelorganisationen an, die es in der Stadt und auf dem Land fast überall gibt und die sich schon bisher mit ihren geringen Mitteln dem Staatsversagen entgegenstemmten. Das Geld fließt stattdessen fast ausschließlich von den Geberländern an internationale Hilfsorganisationen. Statt Haiti zu entwickeln, läuft es einmal mehr darauf hinaus, dass die Unterentwicklung fortgeschrieben wird. Mit einer fatalen Konsequenz: „Viele HaitianerInnen warten bloß noch darauf, dass ihnen das Ausland hilft, statt sich selbst zu helfen“, so die haitianische Historikerin Suzy Castor. Selbst die Hoffnung, dass sich nach dem Erdbeben die Landflucht vermindere, hat sich schon wieder zerschlagen. Da es kaum Hilfe zur Selbsthilfe gibt, begeben sich die Menschen vom Land in die Zeltlager der Hilfsorganisationen, weil sie dort überleben können.

Für einen Neuanfang ist es nie zu spät. In Haiti ist er dringlicher denn je. Er bedarf freilich eines radikalen Wandels auf allen Ebenen. Haiti braucht eine neue Regierung mit Legitimität – bei der eigenen Bevölkerung ebenso wie bei der „internationalen Gemeinschaft“. Denn nur auf diesen beiden Säulen kann ein Wiederaufbau des Landes gelingen. Und es ist entwicklungsökonomisch glasklar, dass der Wiederaufbau von Port-au-Prince ohne eine Stärkung des ländlichen Raumes, indem 70 Prozent der HaitianerInnen leben, nicht funktionieren kann. Nur über eine Dezentralisierung der Wirtschaft und einen Wiederaufbau des Agrarsektors kann Haiti langfristig auf eigenen Beinen stehen und die Landflucht stoppen.
Um Haiti in die Lage zu versetzen, Überschüsse zu erzielen statt am Tropf zu hängen, müsste exakt die Liberalisierungspolitik umgedreht werden, die Haiti schon weit vor dem Erdbeben maßgeblich ins Elend gestoßen hat. Dass die Geberstaaten daran denken, ist nicht ansatzweise auszumachen. Sowenig wie sie und Haitis kleine Oberschicht daran denken, denjenigen zum Souverän der Entwicklung zu machen, der es qua Verfassung ist: das haitianische Volk. Damit ist das Scheitern Programm.

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