Nicht eine einzige weniger!
Es ist ein starkes Zeichen: Nie hat eine Kampagne gegen sexualisierte Gewalt in Lateinamerika so viel Unterstützung erhalten wie am 3. Juni vor dem Kongress in Buenos Aires. „Ni una menos“, – „Nicht eine einzige weniger“, war der Slogan, unter dem mehrere hunderttausend Menschen in Argentiniens Hauptstadt und in hundert weiteren Städten des Landes demonstrierten. Zeitgleich fanden Demonstrationen in Chile und Uruguay statt. Frauen und Männer, Kinder und Alte, alle Parteien, arm und reich und auch die „Mitte der Gesellschaft“ forderten ein Ende der Feminizide, also der Ermordung wegen der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht.
Drei besonders grausame Morde an Frauen im Mai dieses Jahres hatten zum Demonstrationsaufruf geführt. Doch die Proteste richteten sich auch gegen den alltäglichen Machismus im Großen und Kleinen, im Privaten und Öffentlichen, mit dem sich alle Frauen tagtäglich und wie selbstverständlich auseinandersetzen müssen. Der unsichtbar ist und als „natürlich“ betrachtet wird, bis er sich in offene physische Aggression verwandelt. Und selbst dann oft verschwiegen wird. Viele der demonstrierenden Frauen erzählten ihre eigenen Geschichten: von täglichen Belästigungen auf der Straße, Beleidigungen, Handgreiflichkeiten bis hin zu Gewalttaten in jeglicher Form.
Diese Demonstration hat wachgerüttelt und in Argentinien eine mitreißende Euphorie hinterlassen. „Nichts wird mehr so sein wie vor dem 3. Juni“ hört und liest man. Alternative wie kommerzielle Medien sprechen von einem historischen Moment. Wer dabei war, lobt die intensive und bewegende Stimmung, fühlt sich gestärkt von der Energie des Abends. Darunter sind viele, die jahrzehntelang für die Rechte der Frauen gekämpft, Organisationen und Institutionen ins Leben gerufen, Fortschritte und Veränderungen erstritten haben. Keine von ihnen hätte sich eine Beteiligung wie am vergangenen Mittwoch erträumen lassen.
Der Oberste Gerichtshof Argentiniens reagierte umgehend auf die Demonstration: Vizepräsidentin Elena Highton de Nolasco kündigte bereits am folgenden Tag an, dass zukünftig Feminizide von einem zentralen Register der Justiz erfasst werden und die Zahlen online jederzeit zugänglich sein sollen. Damit wäre eine der zentralen Forderungen der Proteste erfüllt. Nach bisherigen Schätzungen wird in Argentinien alle 31 Stunden eine Frau von einem Partner, Ex-Partner, Liebhaber oder Unbekannten umgebracht. Die Anzahl der Morde ist nicht rückläufig, sondern hat in den letzten Jahren stetig zugenommen.
Argentinien reiht sich in die lange Liste der lateinamerikanischen Länder ein, die eine hohe Zahl an Feminiziden aufweisen. Daran hat auch die Einführung rechtlicher Instrumente zur Prävention und Sanktion geschlechtsspezifischer Gewalt wenig geändert. Bis 2014 haben 14 lateinamerikanische Länder den Feminizid als spezifischen Straftatbestand definiert. Aber es mangelt an der konsequenten Umsetzung; die Straflosigkeit ist weiterhin horrend. Nicht nur in Argentinien ist daher eine zentrale Forderung der Proteste, die bestehenden Gesetze zum Schutz der Rechte der Frauen und zur Bestrafung der Täter tatsächlich in die Praxis umzusetzen.
Doch es fehlen auch ganzheitliche Politikprogramme, finanzielle Mittel und Institutionen für Gleichberechtigung, die Betreuung und Unterstützung der Opfer und die Sicherung ihres Zugangs zur Justiz. Die Thematisierung der Gewaltkultur, in Schulen, in öffentlichen Debatten. Das Hinterfragen scheinbar „natürlicher“ Verhaltensweisen, damit ein Umdenken, eine Bruch mit der Kultur des Machismus möglich wird. „Es reicht uns! Wir Frauen wollen uns lebend!“ ist die laute Botschaft des 3. Junis. Dass noch viel zu tun bleibt, aber eine Veränderung bereits begonnen hat, ist ein überaus hoffnungsvolles Signal.