Editorial | Nummer 538 - April 2019

// Perdón, kein Perdón

Es ginge ihm um „Versöhnung“, schrieb der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador in einem Brief an den spanischen König und den Papst. Eine Versöhnung mit der gemeinsamen Geschichte. Diese sei jedoch nur möglich, wenn sich der spanische Staat und der Vatikan für die Massaker an den Aztek*innen und Maya während der Kolonialisierung entschuldigten.

Während vom Vatikan darauf keine öffentliche Reaktion kam, folgte im spanischen Staat eine Welle der Empörung, Geschichtsverdrehung und höhnischer Kommentare. Pablo Casado von der konservativen Oppositionspartei PP machte klar, dass er die „großartige Geschichte Spaniens“ nicht bereuen würde. Bereits zuvor hatte er die spanische Kolonialisierung Lateinamerikas (euphemistisch hinter dem Wort Hispanität versteckt) als die „brillanteste Etappe der Menschheitsgeschichte“ verherrlicht. Aber auch die sozialdemokratische Regierung wies die Aufforderung durch verschiedene Vertreter*innen als „unzeitgemäß“ zurück. Ganz unzeitgemäß dürften die Forderungen jedoch nicht sein, wenn man bedenkt, dass Spanien noch heute von seiner Vergangenheit als Kolonialmacht profitiert. Die angeblich „brilliante“ Geschichte der Hispanität ist viel mehr eine der Vernichtung und Ausbeutung, der Sklaverei und der Plünderung des Kontinents.

Kritisch mit der kolonialen Vergangenheit umzugehen liegt in der Verantwortung von Politik und Gesellschaft.

López Obrador wiederum beschränkt sich selbst in seinem Streben nach Versöhnung auf Symbolpolitik. In der gleichen Videobotschaft, in der er seine Forderungen gegenüber Krone und Kirche öffentlich machte, räumte er auch ein, sich für die Verbrechen an der indigenen Bevölkerung nach der Unabhängigkeit Mexikos entschuldigen zu wollen. Das ist zwar ein Novum und in Hinblick auf den Rassismus in Mexiko und die historische Verachtung gegenüber Indigenen seitens weißer Machthaber*innen sogar ein politisches Wagnis. Doch die Politik, die der mexikanische Präsident faktisch betreibt, geht in eine andere Richtung. Es gibt viele Beispiele für neoliberale Mega-Projekte von López Obrador, die indigene Gemeinschaften und ihre Lebensräume direkt negativ beeinflussen. Der sogenannte Tren Maya ist nur eines davon: Um Maya-Stätten im Süden Mexikos zugänglicher für Tourismus aus Cancún zu machen, plant er eine umstrittene Zugstrecke durch indigene Gebiete, in denen schwerwiegende Schäden für die Natur erwartet werden. Befragungen oder Abstimmungen der Bevölkerung dazu wurden bislang nicht nach international verpflichtenden Standards durchgeführt, was dem Tren Maya den Vorwurf einbringt, ein „neokoloniales Entwicklungsprojekt“ zu sein. Tatsächliche Versöhnung sieht anders aus.

Die spanische Selbstgefälligkeit ist indessen eine europäische. Sie ist all den Ländern gemeinsam, die immer noch jede Verantwortung der begangenen Kolonialverbrechen zurückweisen. Auch Deutschland glänzt mit seiner Kunst, betretene Stille zu wahren, wenn es um die Anerkennung des Völkermords an den Nama und Herero im heutigen Namibia geht. Trotz einer offiziellen Entschuldigung im Jahr 2016 weigerte sich die Bundesregierung Klageschriften von deren Vertreter*innen anzunehmen und eine Vertretung zu Gerichtsverhandlungen Anfang 2018 in New York zu senden, so dass die Verhandlungen über Wiedergutmachungen nun schon mehrere Jahre andauern. Bis heute liegen Schädel der damals Ermordeten als Erbstücke in deutschen Haushalten herum, bis heute setzt sich eine Struktur der wirtschaftlichen Unterdrückung fort.

Sich mit der geteilten Geschichte und Geschichtsschreibung auseinanderzusetzen, ist eben nicht aus der Zeit gefallen. Sie gesellschaftlich aufzuarbeiten und nicht zu verklären liegt auch nach 100, 500 oder 600 Jahren noch in der Verantwortung von Politik und Gesellschaft.

// Die Redaktion

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