Science Fiction und Realität
“In den frühen Morgenstunden marschierten Truppen der US-Army an zwei Punkten über den Rio Grande. Die 24. motorisierte Division aus Fort Stewart, Georgia, setzte über die Gateway-Brücke in Richtung Matamoros, Mexiko, und die 7. Infanterie-Division aus Fort Luis, Washington, überquerte die internationale Brücke in McAllen auf dem Weg nach Reynosa.” Die US-Invasion Mexikos hat begonnen. Der Grund: Nach der Ermordung des mexikanischen Präsidenten kam es zu einer dramatischen Aufwühlung der Gesellschaft. Ein “charismatischer von den Jesuiten ausgebildeter Universitätsprofessor” gelangte an die Macht und setzte ein radikales Reformprogramm durch: Verstaatlichung der Banken und Versicherungen, agressive Politik gegenüber Washington. In Mexiko brachen daraufhin Unruhen und das Chaos aus. Gegen einen anschwellenden Flüchtlingstrom mußten 60.000 US-Soldaten zur Verteidigung der Grenze abkommandiert werden. In Mexiko-Stadt brachte ein Putsch zwar wieder eine US-freundliche Regierung an die Macht, aber das Pentagon beschließt die Militärinvasion, weil sich starke Guerillaverbände um den gestürzten populistischen Präsidenten bilden, der den US-Truppen entwischt ist.
Science Fiction, Horrorszenario, Panikmache? Vielleicht, aber die geschilderte Invasion ist eines der wahrscheinlichsten Kriegsszenarien der nächsten zwölf Jahre. Das meint zumindest der ehemalige US-Verteidigungsminister Caspar Weinberger in seinem neuen Buch. Weinberger datiert das Szenario auf den 14. April 2003, also doch Science-Fiction. Aber das Kopfzerbrechen über Mexiko in den Planungsstäben des Pentagon ist real: Im Vorwort von “The next war” erklärt der Ex-Pentagonbefehlshaber der Reagan-Administration, daß das US-Verteidigungsministerium die fiktive Invasion in Computersimulationen durchspiele, um für alle Fälle gewappnet zu sein.
Freilich gäbe es momentan Dringlicheres, als eine Invasion Mexikos zu planen. Wie kann die wirtschaftliche Talfahrt in Mexiko beendet werden? Wer ist in der Lage, den ruinösen und gewaltprovozierenden Zerfall der Staatspartei PRI zu zivilisieren? Wie kann der schleichenden Machtübernahme durch die Drogenmafia, der “Kolumbianisierung” Mexikos, Einhalt geboten werden? Auf welche Weise können demokratische Freiräume geöffnet werden? Wie sind das hundertfache Blutvergießen und die allgegenwärtigen Menschenrechtsverletzungen in den bäuerlichen Armutsregionen zu stoppen? Fragen, auf die die Neoliberalen in der mexikanischen Regierung und die Planungstäbe in Washington keine Antworten haben. Im Gegenteil: Sie sind verantwortlich für die Misere. Und nichts deutet darauf hin, daß sie gewillt sind, von ihrem politisch autoritären und wirtschaftlich gnadenlosen Crashkurs mit all seinen desaströsen Folgen in Mexiko auch nur ein Jota abzuweichen. Die Folgen sind bekannt und werden auch in dieser Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten wieder im Mittelpunkt stehen. Statt auf politische Lösungen setzen die Mächtigen auf Militarisierung.
Mit Nachtsichtgeräten ausgerüstete Militärflugzeuge überfliegen die Selva Lacandona, um Stellungen der EZLN zu lokalisieren. Mexikanische Militärs absolvieren Intensivkurse in Guerillabekämpfung an Militärakademien in den USA. Die USA liefern Kampfhubschrauber und high-tech-Kriegsgerät an die mexikanische Armee. Zum ersten Mal befinden sich die US-Army und die mexikanischen Streitkräfte in gemeinsamen Manövern. US-Ausbilder trainieren mexikanische Truppen in Chiapas. Science Fiction, Horrorszenario, Panikmache? Dieses Szenario ist Realität – heute.