Editorial | Nummer 309 - März 2000

Selbstbedienungsladen Bundesrepublik

Der politische Prozess gegen Ex-Innenminister Kanther war ein großes Medienspektakel: Der Saubermann des bundesdeutschen Parlaments, der in den letzten Jahren eine aggressive Anti-Korruptionskampagne ins Rollen gebracht hatte, saß nun wegen dringendem Verdacht der Veruntreuung von Parteigeldern selbst auf der Anklagebank. Die bundesdeutsche Öffentlichkeit war erstarrt angesichts täglich neuer und immer tiefergehender Anschuldigungen, die dann doch nur die Spitze des Eisberges darstellten.
Enthüllungen von Journalisten gaben den Anstoß für einen politischen Erdrutsch, der Kanther letztendlich Kopf und Kragen kostete. Sie sind ein Rundumschlag, ein Frontalangriff auf die Träger der höchsten staatlichen Ämter und auf das Ausmaß der Korruption in Exekutive und Legislative.
Wildeste Spekulationen über die Herkunft und über den Wahrheitsgehalt der Korruptionsanschuldigungen geisterten durch die Medien, im Bundestag fühlten sich viele Amtsinhaber zu einer Stellungnahme genötigt und verteidigten empört ihre Ehre.

Er habe einen Fehler begangen, gab Kanther öffentlich bekannt, aber das nützte seiner Glaubwürdigkeit als großer Saubermann auch nichts mehr. Dennoch schien er den Prozess zum Amtsenthebungsverfahren fürs Erste überstanden zu haben. Die Medien mutmaßten über Gewinner und Verlierer dieser politischen Schlammschlacht im Parlament und in der Öffentlichkeit. Doch dann wurde wenige Tage später gegen Kanther ein vorläufiger Haftbefehl wegen Veruntreuung von Parteigeldern verhängt. Am Mittag des gleichen Tages verkündete Kanther seinen Rücktritt. Wenige Stunden später befand er sich bereits auf der Flucht nach Costa Rica. Er bezeichnete sich nach seiner Ankunft in San José als politisch Verfolgter und erklärte, er habe massive Drohungen seitens Altbundeskanzler Kohl erhalten. Mit der Flucht Kanthers nach Costa Rica scheint die politische Schlammschlacht in der Bundesrepublik zunächst in eine Feuerpause gegangen zu sein. Doch die Entwicklung setzte sich fort und rüttelte an den Grundfesten der Demokratie. Gerüchte über heimliche Waffengeschäfte des Sohns von Kohl machten die Runde und tatsächlich erscheint es unwahrscheinlich, dass Kohl als Einziger inmitten von lauter korrupten Beamten die Fahne der Ehrenhaftigkeit aufrecht gehalten hat.

Nach dem im vergangenen Jahr aufgedeckten Korruptionsskandal um den Verkauf der Leuna-Werke, in den die Nichte des Kanzlers verwickelt war, hatte auch Kohl die korrupte bundesdeutsche Realität nicht länger verleugnen können. Ähnlich wie Kanther droht dem Ex-Kanzler ein Haftbefehl, eine Hausdurchsuchung wurde bereits angekündigt. Insgesamt hat der Fall Kanther / Kohl zu einer kollektiven Resignation angesichts des Ausmaßes an Korruption geführt und stellt für viele das demokratische Modell in Deutschland in Frage. Das Gemetzel innerhalb der politischen Elite und die ausufernde Korruption als Indikator für die Labilität der politischen Institutionen lässt die Zukunft der Bundesrepublik düster erscheinen. Dazu kommen die Muskelspiele einiger CDU-Landesverbände, allen voran der Ex-Verteidigungsminister Rühe, der seit seiner Rolle im Krieg gegen Jugoslawien im Frühjahr letzten Jahres ein nationales Idol ist. Er ließ verlautbaren, es sei wohl mal wieder an der Zeit, „richtige Führungspersonen“ in die höchsten Ämter des Staates zu hieven.

Die Tatsache, dass die Korruption bis in die obersten Etagen der Staatsorgane gelangt war, erschütterte das in letzter Zeit ohnehin stark strapazierte Vertrauen der Öffentlichkeit in die politischen Mandatsträger.

Choreographiert nach Worten und Sätzen aus einer Titelgeschichte in den LN Nr. 257/258 vom November/Dezember 1995 über den „Selbstbedienungsladen Ecuador“. Fünf Jahre später stürmte ein Teil der Bevölkerung das Parlament.

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