Editorial | Nummer 425 - November 2009

Zukunft oder Gegenwart

„Brasilien – Land der Zukunft“. So sah es Stefan Zweig in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Scheinbar wird diese Zukunft sich erfüllen. So wie die letzten Olympischen Spiele der neuen Weltmacht China eine Bühne boten, sich selbst zu präsentieren, so sollen die Spiele 2016 den gleichen Zweck für Brasilien erfüllen: Der Welt zeigen, dass man ganz oben dazu gehört. Als bekannt wurde, dass Rio Olympiastadt werde, stieg an der Copacabana eine Riesenparty. Präsident Lula bedankte sich unter Tränen beim Komitee für die Entscheidung und erklärte, dass gerade für ein Land mit kolonialer Vergangenheit wie Brasilien solch ein Erfolg wichtig sei für das eigene Selbstbewusstsein.

Und selbstbewusst ist die brasilianische Regierung derzeit gewiss. Kaum ein Land ist so schnell und relativ unbeschadet aus der Weltwirtschaftskrise aufgestiegen. Brasilien verfügt über Devisenreserven von etwa 193 Milliarden US-Dollar bei einer Auslandsschuld von etwa 211 Milliarden US-Dollar. Im Juni dieses Jahres wurde Brasilien vom Schuldner zum Gläubiger beim Internationalen Währungsfonds. Zehn Milliarden US-Dollar stellte Brasilien dem IWF zur Verfügung. Dafür verlangt Brasilien natürlich auch mehr Mitsprache. Gleichzeitig investierte die brasilianische Regierung im September in die Bank des Südens, die auf Initiative Venezuelas gegründet worden war und ein finanzpolitisches Gegengewicht zum IWF darstellen soll.

Zusätzlichen Auftrieb erhält das neue brasilianische Selbstbewusstsein durch die Erdölfunde vor der Küste. Damit könnte Brasilien bald zu den Ländern mit den größten Erdölreserven der Welt gehören. Und bei der Entwicklung von Agrartreibstoffen ist niemand so weit fortgeschritten wie Brasilien. Auch in anderen wirtschaftlichen Bereichen gehört Brasilien mittlerweile zur Weltspitze. Der Flugzeugkonzern EMBRAER ist seit längeren der Weltmarktführer beim Bau von mittelgroßen Passagierflugzeugen und ist der drittgrößte Flugzeughersteller weltweit.

Als solche Wirtschaftsmacht beansprucht Brasilien auch eine politische Führungsrolle auf internationalem Parkett. Das Land will einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Für eine solche Rolle braucht ein Land – so glaubt man zumindest – auch eine moderne Armee. Zum Unabhängigkeitstag gratulierte Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und brachte gleich ein Waffengeschäft mit. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab Brasilien nicht mehr so viel Geld für Rüstung aus.

Viel Geld wurde auch in die Infrastruktur gesteckt, doch bei genauerem Hinschauen entpuppen sich die großen Projekte als Bedrohung für weite Teile der Bevölkerung. Die durch Staudämme oder die Verlegung des Flusses São Francisco vertriebenen Menschen fallen dem Modell von Brasiliens Exportwirtschaft zu Opfer. Die Entwicklung von Agrartreibstoffen basiert auf miserablen Arbeitsbedingungen, zerstört Naturräume, vertreibt Menschen und könnte die Wüstenbildung fördern. Ob die Polizeireform in Rio de Janeiro, die für die Spiele 2016 geplant ist, hilft, die Korruption und die Verbindung der Mafia mit der dortigen Polizei aufzulösen, ist mehr als fraglich. Die zeitliche Koinzidenz des Auftauchens der Milizen mit der Vorbereitung Rios auf die Pan-Amerikanischen Spiele 2007 war doch mehr als auffällig. Wie viel die arme Bevölkerung von den Olympischen Spielen haben wird, zeigt sich schon daran, dass 3 500 Familien aus Favelas umgesiedelt werden sollen, um Platz für das olympische Dorf zu schaffen.

Brasiliens Wirtschaft hat eine große Zukunft. Doch diese Entwicklung hat auch ihre Schattenseiten, die vor allem die arme Bevölkerung ausbaden muss. Der unlängst vorgestellte Agrarzensus zeigt, dass in den letzten zehn Jahren die Landkonzentration in Brasilien weiter zugenommen hat. Wenn Brasilien nicht nur immer das Land der Zukunft bleiben will, muss es sich vor allem daran messen lassen, ob es diese wachsenden Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft beseitigt – in der Gegenwart.

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