© Kleber Nascimento
Das Zischen des Schnellkochtopfs, das erst noch fröhliche Singen der Mutter, dann das Geräusch der Helikopterflügel und der stürmische Ton mehrerer Handynachrichten. So beginnt das Musical Ash Wednesday, das Spielfilmdebütder brasilianischen Regisseur*innen João Pedro Prado und Bárbara Santos. Die Mutter Demétria (Uriara Maciel) wartet am letzten Karnevalstag auf ihre Tochter Cora, die schon längst von der Schule hätte zurück sein sollen. Doch eine brutale Polizeirazzia, vermeintlich gerechtfertigt durch den Kampf gegen Drogenhandel, überfällt die Favela in Rio de Janeiro, den Wohnort der beiden. Einschüchternde Szenen der Polizei gegenüber den Bewohner*innen der Favelas, welche nur abwertend Favelados (Slumdogs) genannt werden, werden vom bunten Szenenbild der Favelas und dramatischen Gesängen getragen, welche die Verzweiflung über Rassismus und soziale Konflikte zum Ausdruck bringen. Zugleich wird durch die Darstellungsform als Musical manchmal Abstand zur Realität genommen und das Musical wirkt teilweise fast wie ein Theaterstück, wodurch die Handschrift der Theaterregisseurin und Aktivistin für Feminismus und gegen Rassismus Bárbara Santos zu bemerken ist. Diese stilistische Kombination trägt dazu bei, den Wunsch nach Ausbruch zu verstehen, aufmerksam zu machen und die Augen dafür zu öffnen, mit welchem Unrecht und diktatorischem Vorgehen gehandelt wird und wie nah doch Freude und Leid beieinander sein können.
Dabei wird auch der innere Konflikt des Glaubens gezeigt, in dem die Mutter einerseits Hilfe sucht und zur Göttin Naña, Beschützerin der Verlorenen, betet. Doch andererseits der Besuch des Pfarrers eher einschüchternd und anklagend wirkt. Angsterfüllte Stimmen der Mütter, die ihre Kinder suchen, werden abwechselnd mit Szenen aus der Pressekonferenz des Gouverneurs gezeigt, der für „Säuberung“, „Funktionsfähigkeit“ und „Krieg gegen Drogen“ wirbt.
Durch die Kameraperspektiven und Lichteinstellungen, welche Demétria zentrieren und die anderen im Hintergrund erscheinen lassen, wirken die Leidensgenossinnen der Mutter und die Göttin, eher wie Traumvorstellungen, welche eine Art Realitätsflucht veranschaulichen. Die Nahaufnahmen der Mutter, die Energie geladenen Soundeffekte und die rhythmischen Tanzbewegungen zeigen ihre innere Zerrissenheit und die Absurdität des Lebens.
Als beeindruckend ist zu benennen, dass das Favela-Setting an der Filmuniversität Babelsberg Konrad-Wolf absolut authentisch nachgebaut worden ist. Der strukturelle Rassismus und die seit Jahrzehnten präsenten sozialen Konflikte in Brasilien, welche durch die Pandemie mehr denn je verstärkt worden sind, werden in einer mitreißenden Art und Weise benannt. Die ausdrucksstarken Szenen vermitteln die damit verbundene Verzweiflung. Dieses Musical ist ein Gewinn für die Sektion Perspektive Deutsches Kino, welche die Sektion für aufregenden Nachwuchs in Deutschland darstellt und durch ungewöhnliche Einblicke die Realität dokumentiert und durch Realitätsflucht vollendet.
LN-Bewertung: 5/5 Lamas