“FÜR DIE MENSCHEN, MIT DEN MENSCHEN”

Plant gemeinsam mit Präsident Gustavo Petro Großes Kolumbiens Vize Francia Márquez steht nicht nur bei der COP27 für einen Paradigmenwechsel (Foto: Midia Ninja via Flickr, CC BY-NC 2.0)

Die erste linke Regierung Kolumbiens unter Präsident Gustavo Petro und Vizepräsidentin Francia Márquez ist gut 100 Tage im Amt. Wie beurteilen Sie den Start im Allgemeinen?

Die Übergabe der Regierungsmacht an Petro und Márquez war und ist mit Hoffnung für die kolumbianische Bevölkerung und auch darüber hinaus in Lateinamerika verbunden, wo einige linke Regierungen in jüngster Zeit gewählt wurden. In Kolumbien gibt es seit der Unabhängigkeit im Jahre 1810 diesen Traum, dass es eine Regierung der Leute für die Leute mit den Leuten gibt, eine Regierung, die für die Mehrheit regiert und sie beteiligt. Die Regierung Petro/Márquez ist die erste, die dieses Vorhaben angeht. Das hat sich schon in den ersten drei Monaten gezeigt. Die Regierung befragt die Bevölkerung nach ihren Vorstellungen. Das wurde bei der Ausarbeitung des Nationalen Entwicklungsplans 2022-2026 gemacht, wo mehr als 200.000 Kolumbianer aus den unterschiedlichen Regionen beteiligt waren und ihre Anliegen einbringen konnten. Der Start der Regierung ist gelungen, die Beteiligung der Bürger ist real und nicht dekorativ wie bei den Vorgängerregierungen.

Worum geht es beim Entwicklungsplan?

Im Mittelpunkt stehen menschliche Sicherheit und soziale Gerechtigkeit, der Zugang zu Wasser, Umweltgerechtigkeit, Klimaschutz und die produktive Transformation für ein besseres Leben und die Förderung der Angleichung der Lebensumstände in den Regionen.

Sie kommen aus Buenaventura an der Pazifikküste, dem bedeutendsten Exporthafen Kolumbiens. Die Stadt ist von der Gewaltherrschaft krimineller Banden geprägt. Hat sich da bereits etwas getan?

Ja, es gibt positive Anzeichen. Es gibt realen Wandel. In Buenaventura wurden sogenannte einheitliche Kommandoposten für das Leben (PMUV) eingerichtet, bei denen die bewaffneten Gruppen ihre Waffen niederlegen und sich der Demobilisierung anschließen können. Das kommt an. In Buenaventura gab es über einen Monat keinen einzigen Mord. Auch bei den kulturellen, sozioökonomischen Rechten sowie bei den Umwelt- und Landrechten gibt es schon Fortschritte zu verzeichnen. Die Regierung Petro hat den Integralen Spezialplan für die Entwicklung von Buenaventura unterzeichnet, was die Vorgängerregierung von Iván Duque verweigert hatte. Dafür werden 600 Milliarden kolumbianische Pesos (umgerechnet rund 120 Millionen Euro) zur Verfügung gestellt. Das ist wunderbar. Es handelt sich um eine Regierung des Übergangs und der wurde bereits begonnen.

Die Regierung hat bereits Strukturveränderungen wie eine progressive Steuerreform eingeleitet. Diese Mittel sollen in soziale Investitionen fließen und der Pflege sowie der Wiederherstellung der Kulturlandschaften dienen. Eine gute Strategie?

Ich halte das für eine exzellente Strategie. Bisher war es so, dass die untere und die mittlere Klasse mit ihren Steuern die Unternehmerklasse unterstützten und auch die multinationalen Unternehmen, die kaum Steuern gezahlt haben. Das ändert sich jetzt durch die Steuerreform. Die, die viel Geld haben, werden jetzt zur Kasse gebeten, und die Mittel sollen in die Sektoren fließen, wo sich die Verletzlichsten der Gesellschaft befinden, die oft ethnischen Minderheiten angehören.

Die Steuerreform soll mindestens vier Milliarden US-Dollar Mehreinnahmen pro Jahr bringen. Reicht das?

Das ist ziemlich gut für den Anfang. Es versetzt die Regierung in die Lage, den Plan der sozialen Investitionen in Gang zu setzen. So kann begonnen werden, die soziale Schuld gegenüber der armen Mehrheit der Bevölkerung abzutragen. Dazu hat sich die Regierung verpflichtet.

Die Regierung hat es nachvollziehbarer Weise in gut drei Monaten noch nicht geschafft, die soziale Krise zu bewältigen, noch die Vertreibungen zu beenden. Haben Sie die Hoffnung, dass die Regierung ihr Ziel des „Totalen Friedens“ erreicht?

Das ist ein ziemlich großes Ziel, eine große, wichtige Herausforderung. Es ist noch viel zu früh, das abzuschätzen. Kolumbien hat eine jahrhundertelange Geschichte der systematischen Gewalt und der Landvertreibungen. Das kann keine Regierung in drei Monaten beilegen, dafür bedarf es eines sehr langen Prozesses. Ich habe die Überzeugung und den Glauben, dass diese Transformation stattfinden wird. Petro kann als Präsident nicht wiedergewählt werden und so in vier Jahren nur das Fundament legen und Fortschritte auf vielen Ebenen erreichen. Danach muss es weitergehen. Wir brauchen mindestens fünf Linksregierungen, um den „kompletten Frieden“ erreichen zu können. Aber der Prozess hat begonnen, einen Monat ohne einen Mord in Buenaventura … Das war lange unvorstellbar.

Wie viele Morde waren in Buenaventura früher üblich?

An einem Wochenende gab es im Schnitt sieben Morde und die Getöteten hatten ein Durchschnittsalter von 26 Jahren. Die jungen Männer gingen in die Falle derjenigen, die ihnen versprochen haben, mit dem Griff zu den Waffen könnten sie ihr Leben verbessern. Sie wurden von bewaffneten Gruppen geködert und getäuscht. 74 Prozent der Bevölkerung in Buenaventura lebt in Armut. Organisierte Kriminalität ist kein Ausweg, sondern eine Falle.

Was steckt hinter der Gewalt?

Letztlich die Idee der neoliberalen Entwicklung, getragen von der unternehmerischen Elite und der rechten politischen Klasse. Land wird nicht geachtet, sondern nur ausgebeutet. Die Gewalt ist dort am stärksten, wo sich die Gebiete befinden, die für die Ausbeutung, den Extraktivismus, am attraktivsten sind. Diese Gebiete sind ein Schlachtfeld. Einst war Buenaventura ein friedlicher Ort, ein Ort des würdigen Zusammenlebens. Das hat sich durch die Logik des Extraktivismus geändert, rauszuholen aus dem Boden, was rauszuholen ist, Gold, Mangan, Coltan … Und die Leute, die auf dem Land leben, werden vor dem Abbau einfach mit Gewalt vertrieben. Wir sind hier auch reich an Biodiversität, aber wir wurden verarmt durch die Politik des Raubbaus. In Buenaventura leben 500.000 Menschen und die meisten haben keinen Zugang zu Basisdienstleistungen wie fließend Wasser und Strom. Vertreiben und Ausrauben hieß bisher die Devise seitens der Elite. Die neue Regierung will das stoppen.

Neben dem Extraktivismus ist der Drogenhandel ein weiterer großer Brandherd des Konfliktes in Kolumbien. Präsident Petro versprach einen „Paradigmenwechsel“ und eine Lösung für das Problem der illegalen Drogen im weltweit größten Kokainproduzentenland. Kann der Drogenhandel eingedämmt werden?

Der Drogenhandel ist in der Tat eine weitere große Herausforderung. Die Koka-Pflanze an sich ist ja kein Problem, sie ist eine heilige Pflanze, harmlos. Nur die Herstellung von Kokain und das darauf aufbauende Geschäft ist ein Riesenproblem. In Buenaventura wird Land geraubt, um den Anbau der Koka-Pflanze für den Drogenhandel auszubauen, aber auch für Monokulturen wie die Ölpalme, den Kautschuk oder den Kakao. Für uns Bewohner von Buenaventura ist klar: Für ein friedliches Zusammenleben taugt keine Monokultur, weder eine illegale noch eine legale. Was auch nicht funktioniert, sondern große Schäden verursacht hat, war der Versuch vergangener Regierungen, die Kokapflanzungen mit dem Herbizid Glyphosat aus der Luft zu besprühen. Denn das Glyphosat hat auch die Nahrungsmittelproduktion getroffen.

Welche Alternativen sehen Sie?

Die Bewohner in Buenaventura, die indigenen und afrokolumbianischen Gruppen, haben zwei mögliche Auswege vorgeschlagen: Die Kokapflanze ausschließlich für medizinische und kosmetische Zwecke zu nutzen oder die Kokapflanzen zu vernichten, aber indem wir sie per Hand eine nach der anderen ausreißen. Ohne Chemie. Zu letzterem hat sich beispielsweise der Gemeinschaftsrat des Yurumanguí-Flussgebiets im Departamento Buenaventura entschlossen. Dieses afro-kolumbianische Territorium gehört nun zu den Regionen mit den wenigsten Koka-Pflanzungen im ganzen Land. Staatliche Unterstützung gab es dafür nicht, auch keinen Schutz. Die sozialen Anführer dieser Region gehören zu den von den kriminellen Banden am meisten Verfolgten. Einer ist mit seiner ganzen Familie wegen Morddrohungen nach Madrid geflohen, vier Anführer, zwei Männer und zwei Frauen, sind in den vergangenen Wochen dort ermordet worden. Und das nur, weil sie offen gesagt haben: kein Koka-Anbau mehr, kein Bergbau mehr und den Widerstand dagegen organisiert haben. Auch den Drogenhandel zu bekämpfen, das ist ein langwieriger Prozess. Zuerst muss die Intensität gesenkt werden, der Druck der Drogenbanden auf die Bauern, Koka anzubauen, ihnen Land zu nehmen. Aus meiner Sicht hat Präsident Petro die Dynamik und die Mechanismen dieses Geschäfts gut verstanden. Die Regierung hat begonnen, einen Prozess weg vom Kokain einzuleiten. Wir sehen das mit Hoffnung. Allerdings ist die Aufgabe sehr schwierig, aber nicht unmöglich. Man darf nicht vergessen, dass die Strukturen der Gewalt auf der großen Ungleichheit in der Gesellschaft beruhen. Wird der Reichtum besser verteilt, wie es die Regierung angeht, wird die soziale Gerechtigkeit wachsen und die Gewalt zurückgehen.

Sie sind Mitbegründerin der sozio-ökologischen Stiftung ARIBÍ, die die Organisationsprozesse lokaler afro-kolumbianischer Gemeinschaften unterstützt, sich für eine nachhaltige Entwicklung einsetzt und das Gleichgewicht des Ökosystems und den Schutz der Umwelt anstrebt. Francia Márquez träumt davon, die Energiewende zu schaffen, um künftigen Generationen eine mögliche Welt zu hinterlassen. Sind das auch ihre Träume?

Diese Träume teile ich selbstverständlich. Das Umweltthema ist jedoch ein Thema, das die ganze Welt angeht. Es geht schlicht um die künftigen Lebensbedingungen für die ganze Menschheit. Papst Franziskus hat gesagt, dass die Menschen den Planeten als Heimat begreifen müssen, den die Menschheit als ein gemeinsames Haus bewohnt, das wir gemeinsam pflegen müssen. Praktisch ist es aber so, dass eine Minderheit sich auf Kosten der Mehrheit bereichert und den Planeten unverantwortlich ausplündert und die Umwelt schädigt. Wir erleben das hier mit den von Chemikalien verschmutzten Flüssen, die Chemie landet in den Fischen und die Fische auf dem Teller. Missbildungen wie das Fehlen einer Hand bei Neugeborenen, eine steigende Zahl von an Krebs Erkrankten sind Folgen davon. Die Umwelt zu schützen, die Biodiversität zu erhalten, die Pflanzenarten, die Tiere, das Wasser, ist unerlässlich. Francia Márquez kämpft an unserer Seite für dieselbe Sache.

Wie sieht der Ansatz von ARIBÍ aus?

Wir von ARIBÍ leisten unseren Beitrag für den Erhalt des Ökosystems. Zentral ist für uns dabei, Wissen aus der Tradition der afrokolumbianischen Kultur – zum Beispiel über Heilpflanzen, Anbaumethoden, Saatgut – mit dem afrokolumbianischen „vivir sabroso“ zu verbinden, ein würdiges, gehaltvolles Leben ohne Überfluss und Verschwendung. So wollen wir die verheerenden Folgen des extraktivistischen Wirtschaftsmodells in unserer Region Schritt für Schritt überwinden. Wir fühlen unsere Verantwortung, die Lebensbedingungen für die künftigen Generationen zu erhalten, wir fühlen das als ein Mandat, eine Verpflichtung, der wir uns stellen müssen. Die Doppelmoral der Industriestaaten, die die höchsten Emissionen haben und die die Länder im Globalen Süden mit ein paar Klimahilfsgeldern abspeisen wollen, damit sie ihre Umwelt bewahren, ist inkohärent. Kolumbien hat nur 0,7 Prozent Anteil an den Emissionen weltweit, stellt aber zehn Prozent der Biodiversität. Die Pazifikregion um Buenaventura und das kolumbianische Amazonasgebiet ist nach Brasilien die zweitgrößte Lunge der Welt. Sie zu bewahren, liegt in aller Interesse und der Globale Norden muss dafür solidarische Unterstützung leisten, uns großzügig beim Erhalt der Umwelt helfen, statt die Ausbeutung zu befördern wie bisher. Die Regierung Petro und Márquez liegt mit dem Ansatz einer grundlegenden Energiewende und dem angestrebten Ausstieg aus der fossilen Wirtschaft und der Kohlenwasserstoffförderung auf dieser Linie. Wir unterstützen diesen Weg.

In einem Gespräch mit El País betonte Francia Márquez, dass Frauen Räume öffnen und dass die Präsenz von Frauen in der Politik auf globaler Ebene, neue Diskussionen, neue Wege der Politikgestaltung und der Veränderung von Realitäten eröffneten. Sehen Sie das auch so?

Total. In der Politik eröffnen sich inzwischen mehr Räume für Frauen, Entscheidungen zu treffen, die die Gesellschaft von Grund auf verändern. Ich bin überzeugt davon, dass Frauen verstärkt versuchen sollten, sich um politische Posten zu bemühen, um gestalten zu können. Das ist nicht einfach, das ist ein langwieriger Prozess. Und dafür brauchen wir auch progressive Männer, die diesen Prozess unterstützen. Wir haben diesen Prozess der Transformation begonnen, wir müssen ihn fortsetzen. Für eine Gesellschaft der Solidarität, für eine Gesellschaft gegenseitigen Respekts. Deswegen überlege ich, 2023 für das Bürgermeisteramt in Buenaventura zu kandidieren.

AM ATRATO-FLUSS

Eigenes Rechtssubjekt Der Fluss Astrato und seine Nebenflüsse werden von der Verfassung geschützt – bedroht sind sie trotzdem (Foto: Produce1895 via wikimedia commons , CC BY-SA 4.0 )

Der wichtigste Fortschritt in Kolumbien in Bezug auf Territorium und Autonomie kam mit der politischen Verfassung von 1991, aus der der multiethnische und multikulturelle Staat hervorging. Etwa zwei Jahre später wurde das Gesetz 70 als Instrument zur Anerkennung des Rechts auf kollektives Eigentum erlassen. Das Dekret 1745 von 1995 definiert den Gemeinderat als höchste Instanz für die Verwaltung der Gebiete und die Ausübung der Autonomie.

In Kolumbien sind mehr als 5.000.000 Hektar Land im Kollektivbesitz. In der Praxis garantiert die Anerkennung der Autonomie über die kollektiven Territorien jedoch nicht, dass Gemeinschaften diese auch tatsächlich ausüben können. Der Staat kontrolliert die Gebiete mit militärischen und wirtschaftlichen Mitteln. Bergbau, Erdölexploration und Abholzung wird in Regionen vorangetrieben, die eigentlich der Kontrolle der Gemeinderäte unterlägen. Die Anwesenheit bewaffneter Gruppen hat eine Ausweitung des illegalen Koka-Anbaus, Waffen- und Drogenhandels in den Gebieten zur Folge. Drohungen und Morde gegen Führungspersönlichkeiten der Gemeinschaften nehmen zu.

Ein wichtiger Erfolg zur Ausübung der territorialen Autonomie ethnischer Gemeinschaften in Kolumbien ist auch das Urteil T-622 aus dem Jahr 2016. Vorausgegangen war diesem eine Klage, welche Basisorganisationen aus dem Chocó eingereicht hatten, die sich für die Rechte von afrokolumbianischen, Palenquero- und Raizal-Gemeinschaften einsetzen. Im Urteil erkennt das Verfassungsgericht den Fluss Atrato und seine Nebenflüsse als Rechtssubjekt an.

Weiterhin stellt das Urteil schwerwiegende Verletzungen der Rechte auf Leben, Gesundheit, Wasser und Ernährungssicherheit der Gemeinden im Einzugsgebiet des Atrato und seiner Nebenflüsse fest. Verantwortlich für diese Verletzungen sind laut Urteil staatliche Stellen und der illegale Bergbau.

Da der Atrato-Fluss somit als Rechtssubjekt anerkannt ist, muss der Staat seinen Schutz, die Erhaltung und Instandhaltung sowie Wiederherstellung garantieren. Dafür verantwortlich sind zwei „Wächter“ (guardianes), gestellt von der Regierung und den Gemeinschaften. Sie stehen in direkter Verbindung mit den Basisorganisationen und gemeinsam wurde ein System der Entscheidungsfindung geschaffen, in dem die Organisationen über Autonomie bei der Umsetzung des Urteils sowie einen Mechanismus zur Überwachung und Rechenschaftspflicht der Aktivitäten verfügen.

Trotz der Fortschritte gibt es noch viele Herausforderungen, welche die Anwendung des Urteils erschweren. Nach sechs Jahren sind die Gemeinschaften noch immer mit einer besorgniserregenden Situation aufgrund der vielen Menschenrechtsverletzungen konfrontiert.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

WIDERSTAND IM CHOCÓ

Die autonome Dorfgemeinde von Marcial / Foto: Javier Serna

Kinder sitzen aneinander gekauert in einem Loch in der tiefroten Erde, vielleicht ein, zwei Meter tief. Sie ducken sich verängstigt, ziehen die Köpfe ein, ein paar etwas Ältere drücken die Kleinsten eng an sich. Diese Bilder aus dem Chocó, dem nordwestlichen Department Kolumbiens zwischen Pazifik und Karibik, gingen im August durch die Medien. Aufgenommen mit Handys von Familienangehörigen. Grund für die Situation waren Hubschrauberflüge vom Militär über der Gemeinde. Solche Drohgebärden verängstigen die Menschen, wurden ihre Gemeinden in der Vergangenheit doch immer wieder von Militär und Paramilitär bombardiert.
Hier im Norden Kolumbiens, ein paar Tage mit dem Boot von Panama entfernt, befinden sich zahlreiche Autonomiegebiete von Indigenen und Afrokolumbianer*innen. Sie umfassen insgesamt über 93 Prozent der Fläche des Chocó. Die Autonomie dieser Gebiete wurde in der Verfassung von 1991 legal verankert. Zur Wahrung der ethnisch-territorialen Rechte müssen die Bewohner*innen im Falle einer Intervention auf ihrem Gebiet vorher befragt werden, denn die Landtitel sind kollektiv, können nicht an externe Akteure veräußert, sondern maximal verpachtet werden. In den Gebieten der Indigenen ist zudem die eigene Justiz per Gesetz anerkannt. Im Chocó existieren 120 solcher indigener Autonomieregionen, zumeist bewohnt von Embera und Wounaan.

“Es ist eine Gemeinde von Vertriebenen, die […] seit Jahrzehnten des Bürgerkriegs auf der Flucht sind”

Eine davon ist Jagual-Río Chintadó, in der sich auch das Dorf Marcial befindet. Es liegt am Fluss Chintadó, einem Nebenarm des Atrato, und wurde 1984 von rund 1000 Indigenen gegründet. „Die Geschichte der Siedlung Marcial reicht aber mindestens 500 Jahre zurück“, erzählt Pedrito García von den Wounaan: „Während all dieser Zeit waren wir auf der Suche nach einem geeigneten Territorium, wo der Boden eine gute Ernte garantiert, wo genügend Fische und andere Tiere leben.“ Bevor die Familien in Marcial siedelten, waren sie als Halbnomad*innen in großen Familienzusammenhängen organisiert. Erst mit den Jahren wurden immer mehr Familien in Marcial sesshaft und bauten Häuser. „Es ist eine Gemeinde von Vertriebenen, die wegen der verschiedenen bewaffneten Auseinandersetzungen seit Jahrzehnten des Bürgerkriegs auf der Flucht sind – teilweise waren sie sogar bis nach Panama geflohen“, erklärt García. Die Region ist von dichtem Urwald bewachsen, es gibt keine Straßen oder befestigten Wege, nur über die Flusswege gibt es Zugänge. Die Bezirkshauptstadt ist acht Stunden mit dem Boot entfernt, sofern der Fluss nicht vom vielen Schwemmholz verstopft ist.
Doch selbst der dichte Urwald kann bewaffnete Akteure nicht abschrecken. Heute geht es ihnen vor allem um die Kontrolle der Transportwege für illegale Märkte, für Drogen, Waffen, illegalen Rohstoffhandel mit Ressourcen wie Kupfer, Gold und Coltan. Aber auch illegal geschlagene Edelhölzer werden über das weit verzweigte Flusssystem transportiert – 4.000 Hektar der Regen­wälder im Chocó werden jährlich abgeholzt. Nicht zuletzt boomt das Geschäft mit Ölpalmen auf den gerodeten Flächen. Mit den Monokulturen verlieren die Menschen die Kontrolle über ihre kollektiven Gebiete und ihre Autonomierechte. Die Biodiversität und der biologische Genpool sind von Interesse für die Pharmaindustrie und der Atrato ist von großer Bedeutung als Süßwasserreservoir. Am dramatischsten sind jedoch die Geschäfte mit Migration und Menschenhandel. Der Atrato ist das Nadelöhr für die globale Migration über Mittel- nach Nordamerika. Die Migrant*innen kommen nicht nur aus der Karibik, sondern auch aus Westafrika und Südasien.
Und der kolumbianische Staat? Der vernachlässigt die Bedürfnisse der Menschen vor Ort und verdient kräftig mit an den illegalen Geschäften. Er tritt nicht für die Rechte der Anwohner*innen ein, sondern für die Militarisierung mit Blick auf zu fördernde Ressourcen. So kam es auch unter Mitwirken des Staates zur ersten massiven Vertreibung in den Jahren 1996 und 1998. Damals wurden erste Megaprojekte initiiert und zum Schutz der Interessen der internationalen Firmen die paramilitärischen Gruppen bewusst aufgebaut.

Foto: Andreas Hetzer

Die Folgen sind verheerend. Im Chocó leben 500.000 Menschen – laut Statistikamt sind fast 80 Prozent der lokalen Bevölkerung arm. Zum Vergleich, im nationalen Landesdurchschnitt sind es 28 Prozent. Rund 27 Prozent der Menschen im Chocó leiden unter extremer Armut – in ganz Kolumbien betrifft das sieben Prozent, zumindest nach offiziellen Angaben. In Marcial sind allein in den letzten beiden Monaten acht Kleinkinder an Unterernährung gestorben. Da die bewaffneten Akteure die Zugänge über die Flüsse kontrollieren, kommen Nahrungsmittel und Medikamente nicht an – oder sie werden mit Schutzgeld belegt und werden damit unerschwinglich für die Bevölkerung. Die Folge sei chronische Mangelernährung, weil die Menschen nie ins bäuerliche Leben zurückfinden, so die Ombudsstelle für Menschenrechte in Kolumbien.
Der Krieg dauert bis heute an und hat in den letzten Jahren sogar an Intensität zugenommen. Seit dem Friedensabkommen von 2016 ist nirgendwo in Kolumbien die Vertreibung so massiv, rund 70 Prozent aller aktuellen Fälle finden am Pazifik statt. Die Vertriebenen suchen oft monate- oder jahrelang vergeblich Hilfe in den urbanen Zentren. Die Menschen fliehen, um ihre Kinder vor Zwangsrekrutierungen zu schützen. Zwischen Januar 2018 und Juni 2019 wurden 57 Massenvertreibungen gemeldet – 21.000 Personen sind auf der Flucht. „Wir bleiben in Marcial. Was haben wir sonst für eine Wahl. In anderen Dörfern müssen sie bei jedem lauten Knall fliehen. Dann leben sie im Elend in Riosucio oder anderen urbanen Zentren“, beschreibt García.

21.000 Menschen sind auf der Flucht

Von den Vertreibungen im Jahr 2018 waren laut der UNO vor allem Indigene und Afrokolumbianer*innen betroffen. Im Bezirk von Riosucio, zu dem auch Marcial gehört, wurden laut staatlichen Quellen zwischen 1985 und 2019 mindestens 382 Menschen ermordet, und 190 Menschen entführt, die seitdem verschwunden sind. Seit 2017 wurden 17 Aktivist*innen im Chocó ermordet, davon 9 am Flusslauf des Atrato. Dabei sind die Menschen nicht mitgezählt, die den Landminen zum Opfer fallen. „Das schlimmste, was der Konflikt uns hinterlässt, sind die Minen,“ erzählt García. In der gesamten Region seien sie verlegt. „Eigentlich überall dort, wo es Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen bewaffneten Gruppen gibt, um ihre Einflussgebiete vor ihren Gegnern zu verteidigen“, ergänzt er. Die Embera und Wounaan rufen das Militär zu Hilfe, wenn sie Landminen auf ihrem Gebiet vermuten. Denn nur das Militär hat die notwendige Ausrüstung und Personen mit Spezialausbildung zu deren Räumung und Entschärfung. In allen Autonomiegebieten werden immer wieder Minen gefunden, manchmal tritt nachts ein Tier darauf und explodiert. Gleich hinter dem Sportplatz von Marcial steht ein Schild, das vor dem Betreten des Waldstücks warnt. Eigentlich wären es zur Nachbargemeinde Jagual nur ein paar Minuten zu Fuß. Der einzig sichere Zugang bleibt nur über den Fluss.

Foto: Andreas Hetzer

Und wer legt die Minen? Vor allem Paramilitärs, aber auch Guerilla und sogar das Militär selbst. Es ist schwer nachzuweisen, da die Minen immer selbstgebastelte Sprengkörper sind, die nicht eindeutig einem Akteur zugeordnet werden können. Seit 2015, also inmitten der Verhandlungen der FARC mit der Regierung, sind nun wieder paramilitärische Verbände in der Region verankert – sie lassen Menschen verschwinden und säen Terror unter der Bevölkerung. Die Paramilitärs rekrutieren auch zwangsweise Minderjährige. Ebenfalls wächst der Einfluss der ELN-Guerilla in der Region am Atrato. Seit der Präsident Iván Duque die Verhandlungen mit ihnen abgebrochen hat, ziehen sie sich in ihre traditionellen Gebiete zurück. Unter anderem in den Chocó. Sie sollen viermal mehr Mitglieder haben als noch vor zwei Jahren.
Aber es gibt Widerstand aus den indigenen Gebieten – vollkommen unbewaffnet. „Alles was wir einsetzen, ist unsere Gemeinschaft und die Solidarität untereinander“, beschreibt García. Ein Teil der Gemeinde in Marcial ist damit beauftragt ihr Gebiet zu bewachen. Sie nennen sich selbst Verteidiger*innen des Territoriums und lassen sich an ihrem symbolischen Kommandostab, dem bastón de mando, erkennen, den sie immer mit sich führen. Die Verteidiger*innen werden auf den Treffen der ganzen Dorfgemeinschaft bestimmt. Simón ist einer von ihnen. Mit seinen 31 Jahren gilt der in Marcial geborene junge Wounaan schon als einer der Älteren. Er ist damit beauftragt, die Verteidiger*innen zu koordinieren und ihre Aufgaben einzuteilen. Die Gemeinschaft habe ihn mit dieser wichtigen Aufgabe betraut, weil sie seine Disziplin und seinen Gemeinschaftssinn schätze, teilt er schüchtern und mit leiser Stimme mit. Seit knapp drei Jahren ist er dabei – von Beginn an. Die Idee kam im Austausch mit anderen Indigenen bei einem Treffen in der Hauptstadt Bogotá. „Andere indigene Gemeinschaften haben schon seit vielen Jahren eigene Verteidigungseinheiten, die sie woanders guardia indígena nennen. Wir befinden uns noch im Aufbau und benötigen die Unterstützung von anderen indigenen Völkern, die uns in Theorie und Praxis der Selbstverteidigung schulen können.“ Bisher haben sie sich alles selbst beigebracht und greifen auf den Erfahrungsschatz der Älteren in der Gemeinde zurück.

Unterricht in Marcial "Eine Gemeinde von Vertriebenen" Unterricht in Marcial – “Eine Gemeinde von Vertriebenen” / Foto: Javier Serna

Schon den Kindern ab zwölf Jahren wird in der Schule grundlegendes Wissen zur Verteidigung des Territoriums beigebracht, aber Aufgaben dürfen sie erst ab 18 Jahren übernehmen. In Marcial gibt es 54 Verteidiger*innen, davon 21 Frauen. Die Frauen haben dieselben Aufgaben wie die Männer. Der einzige Unterschied ist, dass sie tagsüber über das Gebiet wachen und die Männer nachts. Der Mut und die Überzeugung, ihre Gemeinschaft und ihr Territorium zu verteidigen, verleiht ihnen die notwendige Kraft, um sich notfalls gegen bewaffnete Akteure zu stellen. „Wenn es gravierende Probleme in einer der Nachbargemeinden gibt, schicken wir eine Kommission zur Unterstützung oder Verstärkung, und umgekehrt. Wir arbeiten immer gemeinschaftlich“, erläutert Simón selbstverständlich. Nur in Ausnahmefällen, wenn die Bedrohung sehr groß sei, werde die gesamte Gemeinde mobilisiert.

In Marcial gibt es 54 Verteidiger*innen, 21 davon sind Frauen.

Die Verteidigung des Rechts zu bleiben geht weit über Marcial hinaus. “Wir verstehen uns als einen kleinen Teil der Bewegung für das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben“, sagt García. Gerade deswegen ist die Verteidigung des Territoriums existenziell. Denn das Territorium bedeutet mehr als nur der Boden. Es gilt den Embera und Wounaan als vitaler Lebensraum, der unmittelbar mit der eigenen Kosmovision und Identität zusammenhängt. Der Erhalt der eigenen Kultur ist deswegen immer auch ein kollektiver Akt des Widerstands gegen die Kolonisierung und Unterdrückung. „In vielen Bereichen sind wir bereits gescheitert, denn die sogenannte Zivilisation, die Konquistadoren und ihre Religion haben viel von unserer Tradition und sogar unsere Sprache zerstört“, sagt García. Im Jahr 1995 hat die Gemeinschaft in Marcial deshalb beschlossen, nach ihren eigenen Ursprüngen und ihrer Kosmovision zu forschen und dieses Wissen zu verschriftlichen. „Denn es gibt kaum schriftliche Überlieferungen. Wir haben quasi von null angefangen“, so García weiter.

Verteidigerin des Territoriums – Frauen haben die gleichen Schutzaufgaben wie die Männer / Foto: Nicolás Achury González

Das Gleiche gilt für die Schule im Dorf. Anfangs gab es ein Gebäude aus traditionellen Naturmaterialien, um den Kindern traditionelles Wissen beizubringen. Allerdings hatten die Kinder nur bis zur fünften Klasse Unterricht, da es keine ausgebildeten Lehrer gab. Später dann setzte die Gemeinde durch, dass der Staat die Lehrer*innen bezahlte, jedoch kamen diese immer von außerhalb und unterrichteten nur auf Spanisch. „Bis 1995 gab es keinen Lehrer mit linguistischen Kenntnissen unserer Muttersprache, aber nun gibt es welche aus unseren eigenen Reihen. Wir haben erhebliche Fortschritte gemacht. Heute sind wir über 300 Wounaan-Lehrer in Kolumbien“, berichtet García stolz, der selbst Lehramt studiert hat und an der eigenen Schule arbeitet. Nun wird besonders in den ersten Jahren Wert darauf gelegt, einen Teil der Lehre in Wounaan und Embera abzuhalten. Zudem wird der Lehrplan selbst entwik-kelt und eigenes Lehrmaterial zu indigener Kultur und Geschichte erstellt. Doch nicht nur die Lehrer*innen und Schüler*innen sind daran beteiligt. „Die Bildung ist ein Gemeinschaftsprojekt. Wir beziehen die gesamte Gemeinde mit ein, denn das Wissen und die Wissenschaft besitzen die Weisen und Ältesten“, gibt sich García sicher. Nicht nur die Bildung, sondern eigentlich alles wird in Marcial gemeinschaftlich organisiert. Jeden Tag kommt die große Versammlung zusammen, an der alle teilnehmen, auch die Kinder über 12 Jahre. García lächelt und sagt: „Deshalb bezeichnen wir die Versammlung als unsere Universität, da wir jeden Tag etwas über die indigenen Rechte und die politische Organisierung des Widerstands lernen.“

* Namen der Autoren von der Redaktion geändert

 

 

SOZIALER PROTEST ZWISCHEN HOFFNUNG UND POLARISIERUNG

Gefährlicher Einsatz Politische Opposition fordert in Kolumbien viele Menschenleben (Foto: Comunicaciones CRIC)

Der Begriff Minga bezeichnet einen kollektiven Arbeitseinsatz und wird in Kolumbien inzwischen auch für politische Versammlungen verwendet. Die derzeit wichtigste heißt „Minga für die Verteidigung des Lebens, des Territoriums, der Gerechtigkeit und des Friedens“. Nach und nach haben sich der Minga-Blockade auf der Panamericana ebenfalls Bauern und Bäuerinnen, Afro-Kolumbianer*innen und indigene Gruppen aus anderen Regionen angeschlossen. Trotz abwechselnd schwerer Regenfälle und brennender Sonne, nahm die Zahl der Protestierenden seit Mitte März eher zu als ab. Die Hauptforderung: Präsident Iván Duque soll in den Cauca kommen, um Rechenschaft abzulegen – über die mehr als tausend vom kolumbianischen Staat nicht erfüllten Abkommen mit den Gemeinden und ihren Organisationen, seine als Unterminierung wahr­­genommene Haltung gegenüber dem Friedensprozess mit der demobilisierten FARC-Guerilla sowie den immer weiter zunehmenden Morden an lokalen Führungspersönlichkeiten und Menschenrechtsverteidiger*innen. 556 solcher gezielten Tötungen verzeichnet das Forschungsinstitut für Entwicklung und Frieden (INDEPAZ) zwischen Januar 2016 und Januar 2019 in Kolumbien, mit einem stetigen Anstieg. Die meisten Morde wurden mit 252 an der Zahl im Jahr 2018 verübt. Die Region Cauca ist in dieser Statistik mit einem Anteil von mehr als einem Fünftel trauriger Spitzenreiter. Aber die Fronten sind verhärtet. Der Präsident weigerte sich wochenlang direkt mit den Protestierenden zu verhandeln und entsendete nur Stellvertreter*innen. „Mit Blockaden verhandeln wir nicht“, wiederholte er immer wieder in einer offensichtlichen Paraphrasierung der gleichen Aussage in Bezug auf Terrorist*innen. Erst am 5. April kam es zu einem Durchbruch bei den Verhandlungen. Die Regierung stellte ein über 230 Millionen Euro schweres Investitionspaket im Rahmen des Nationalen Entwicklungsplanes sowie die direkte Präsenz des Präsidenten in der Folgewoche in Aussicht. Im Gegenzug erklärten sich die an der Minga beteiligten Organisationen bereit, zwar nicht die Minga zu beenden, aber zumindest die Blockade der Panamericana bis auf weiteres aufzuheben.

„Gegen die Minga wird mit militä-rischen Mitteln vorgegangen.“

Bisher setzte Präsident Duque auf die Strategie der Kriminalisierung sozialer Proteste, die sein Verteidigungsminister Guillermo Botero im letzten Jahr mit der Behauptung, alle indigenen Proteste seien vom Drogenhandel finanziert, auf die Spitze trieb. Der Vorwurf, der Protest sei von bewaffneten Gruppen unterwandert oder politisch von der demobilisierten Guerilla FARC kontrolliert, wird seitdem laufend wiederholt. Mitglieder der Regierungspartei Centro Democrático befüttern unter anderem den Twitterkanal #MingaDeLasFarc laufend mit Propaganda. Dass die indigenen Gemeinden seit jeher die Präsenz aller bewaffneten Akteur*innen – egal ob Armee, Guerilla oder Paramilitärs – in ihren Territorien ablehnen und die autonome indigene Justiz regelmäßig Waffen und anderes Kriegsmaterial beschlagnahmt und ausnahmslos vernichtet, wird ignoriert.  Das befördert einerseits die von einigen Vertreter*innen des Regierungslagers betriebene politische Polarisierung der kolumbianischen Gesellschaft, mit fortwährenden Anschuldigungen und Beleidigungen gegen jede Opposition und rechtfertigt andererseits nach außen ein hartes Vorgehen gegen die Blockade. „Gegen die Minga wird mit militärischen Mitteln vorgegangen“, stellt Omar Quirá vom Menschenrechtsprogramm des Indigenen Regionalrats des Cauca (CRIC) fest, welcher als Zusammenschluss von 90 Prozent der indigenen Gemeinden des Cauca maßgebliche Kraft hinter der Minga ist. „Es ist besorgniserregend, dass unter den zur Kontrolle der Minga entsandten Kräften nicht nur Polizisten, sondern auch Soldaten sind. Außerdem gab es mehrere Versuche, die Minga zu infiltrieren. Wir haben ungefähr zehn Militärangehörige identifiziert und an die Defensoría del Pueblo [nationale Ombudsbehörde, Anm.d.Verf.] sowie die UNO übergeben,“ ergänzt Quirá.

Foto: Miguel Boller

Inzwischen sind mehrere Videos veröffentlicht worden, auf denen zu sehen ist, wie Soldaten mit auf Dauerfeuer geschalteten Waffen in Richtung der Protestierenden schießen. Mehrfach wurden auch die Zeltlager der Mingueroas angegriffen, obwohl sie abseits der Panamericana liegen. Militärflugzeuge, Drohnen und Hubschrauber überflogen trotz anders lautender Abmachungen immer wieder die Protestlager und warfen Propagandamaterial oder Leuchtkörper ab. Gleichzeitig versuchten anscheinend auch illegale bewaffnete Gruppen, die Situation zu nutzen, um ihre Positionen zu stärken oder gegen die autonomen Gemeinden vorzugehen, die für sie ein Hindernis bei der Durchsetzung ihres Machtanspruchs darstellen.

Die bisherige Bilanz: Über 100 Verletzte und 11 Tote auf Seiten der Mingueroas, darunter mehr als ein Dutzend durch Schusswaffen Verwundete. Außerdem wurde ein Polizist durch nicht identifizierte Heckenschützen erschossen. Die meisten Toten gab es bei einer noch ungeklärten Explosion in einer Hütte, in der sich mehrere Indigene ausruhten. Laut einem Überlebenden hatten Unbekannte einen Sprengsatz in die Hütte geworfen. Von der Regierungsseite wurden sofort Anschuldigungen laut, die Opfer hätten selbst mit Sprengstoff hantiert.Vom 3. auf den 4. April kam es in Popayán, der Hauptstadt des Cauca, zu massiven Übergriffen auf Gebäude und Installationen des Regionalrats des CRIC als wichtigste Kraft hinter der Minga. Außerdem wurden die Bauernorganisation CIMA und die nationale Ombudsbehörde angegriffen. Mehrere Menschen wurden teils schwer verletzt (siehe Kurznachrichten S.54).
Oberflächlich betrachtet ist der wichtigste Faktor hinter diesen Auseinandersetzungen die in Kolumbien allgegenwärtige Frage nach Landbesitz und einer Agrarreform. Die Bedeutung der Landfrage spiegelt sich auch darin dass die „Integrale Reform des ländlichen Raums“ der erste Punkt der Friedensabkommen von Havanna ist. Laut Daten von Oxfam ist die Ungleichheit in der Landverteilung in Kolumbien weiterhin extrem und hat seit den 1990er Jahren sprunghaft zugenommen: Nur ein Prozent der landwirtschaftlichen Produktionseinheiten kontrollieren über 70 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche.

Hier prallen Welten aufeinander

Im Cauca werden diese Gegensätze besonders deutlich: Auf der einen Seite stehen traditionelle Großgrundbesitzer*innen wie die Zuckerrohrbaron*innen im Norden des Departements, deren Felder sich über tausende Hektar in den am einfachsten zu bewirtschaftenden Ebenen vom Norden des Cauca bis in das Nachbardepartement Valle del Cauca erstrecken. Auf der anderen Seite finden sich tausende Kleinproduzent*innen in den indigenen, afrokolumbianischen und Campesino-Gemeinden, deren Ländereien häufig an den schwer zu bearbeitenden Andenhängen liegen und in vielen Fällen nicht einmal die Größe erreichen, die nach offiziellen Daten für den Unterhalt einer Familie ausreicht. Hinzu kommen relativ neue Akteur*innen wie Cartón Colombia, eine Tochterfirma der europäischen Smurfit Kappa mit Sitz in Irland. 2015 besaß Smurfit Kappa, unter anderem auch Deutschlands größter Hersteller von Kartonverpackungen, in Kolumbien knapp 68.000 Hektar. Mit Slogans wie „Better Planet Packaging“ bastelt die Firma in Europa an ihrem Nachhaltigkeitsimage und schafft es sogar noch, für völlig sterile Fichten- und Eukalyptus-Monokuturen Aufforstungs- und Klimaboni einzustreichen. Hier prallen nicht nur Welten aufeinander, sondern auch Produktionsmodelle: Agrarindustrie und kleine, diversifizierte Produktionsflächen, die neben der Produktion für den Verkauf auch der Selbstversorgung dienen.

Dass es gerade im Cauca immer wieder sowohl zu Gewaltausbrüchen als auch zu längeren Auseinandersetzungen zwischen sozialen Bewegungen kommt, hat weitere Gründe. Zum einen haben die unterschiedlichen bewaffneten Gruppen ein hohes Interesse an der Kontrolle sowohl von Anbaugebieten von Koka und Marihuana als auch an den unterschiedlichen Routen in Richtung Pazifik, wo die Drogen zum Export verladen werden. Zum anderen ist wohl nirgendwo in Amerika, mit Ausnahme der zapatistischen Gemeinden in Mexiko, die indigene Autonomie so weit entwickelt wie im Cauca. Der CRIC ist von fünf Gemeinden bei ihrer Gründung 1971 auf inzwischen 126 Gemeinden mit etwa 270.000 Einwohner*innen in der gesamten Region angewachsen. Die indigene Justiz setzt ihre Eigenständigkeit mit viel Selbstbewusstsein durch. Sie beschlagnahmt und zerstört Waffen und Drogen, und große Infrastruktur- oder Bergbauprojekte müssen regelmäßig mit gut organisiertem Widerstand rechnen. Es gibt autonome Schulen, ein eigenes Gesundheitssysstem und die Gemeinden schrecken auch vor Besetzungen von Ländereien der Familien mit Großgrundbesitz nicht zurück. Der Aufbau eigener Strukturen wurde außerdem von Beginn an mit einer juristischen Strategie begleitet. Damit konnten bestehende Normen und sogar Regelungen, die noch aus der Kolonialzeit stammen, subversiv zur Untermauerung von Forderungen und zur Absicherung von Erreichtem genutzt werden. Zusätzlich wurde efolgreich Lobbyarbeit für Gesetzesreformen betrieben, die auch nationale Auswirkungen haben.

Minga ist mehr als eine Blockade

Dadurch haben sich die indigenen Gemeinden des Cauca zu einem Machtfaktor entwickelt, der den bewaffneten Akteuren genauso ein Dorn im Auge ist wie der Regierung und den Großgrundbesitzer*innen. Diese greifen zur Verteidigung ihres Machtanspruchs immer wieder zu Gewalt und Kriminalisierung oder versuchen bei anderen benachteiligten Sektoren Neid auf die politischen und materiellen Errungenschaften der indigenen Bewegung zu schüren und sie gegeneinander auszuspielen. In letzter Zeit ist es dennoch mehrfach gelungen, vor allem die unterschiedlichen Gruppen aus dem ländlichen Raum zu koordinieren und eine gemeinsame Agenda auszuhandeln, so auch bei der aktuellen Minga. José Ildo Pepe, einer der von der Minga benannter Sprecher stellt fest: „Unsere Minga fordert die Umsetzung bestehender Abkommen und Rechte für die afrokolumbianischen Gemeinden, für die Campesinos und für uns Indígenas. Unsere Minga hat nationale Reichweite. Die Themen sind struktureller Art: Land, Schutz des Lebens und der Umwelt, Wasser, nicht nur im Cauca, sondern im ganzen Land. Die Regierung denkt, es geht nur um den von ihr vorgelegten Nationalen Entwicklungsplan. Aber es geht um mehr: Es geht um die Bewahrung des Lebens in seiner Ganzheit.”


(Foto: Comunicaciones CRIC)

 

Diese Sichtweise zeigt sich auch in den anderen Gesichtern der Minga, abseits der Konfrontationen mit der Staatsmacht, von Außenstehenden nur selten wahrgenommen. „Die Kreativität der Menschen, um unter solchen Bedingungen durchzuhalten, ist unglaublich“, erzählt Omar Quirá mit einem breiten Grinsen. „Es wurden zum Beispiel schon Fußballturniere und Unterricht in traditionellen andinen Tänzen mitten auf der Panamericana organisiert. Und ein paar Jugendliche drehen mit einer Kameraattrappe aus Pappe Runden durch die Protestlager, führen Interviews, verbreiten Neuigkeiten und bringen nebenbei die Leute zum Lachen.“ Auch die basisdemokratischen Elemente der indigenen Kultur sind ein wichtiger Bestandteil. „Nach jeder Verhandlungsrunde finden Versammlungen statt, um die Menschen zu informieren, zu hören, was sie denken, politische Themen zu diskutieren sowie Empfehlungen und Anweisungen an die Sprecher*innen und Verhandlungsführer*innen zu vereinbaren“, führt Quirá aus. „All das verwandelt sich in neue Protestformen, stärkt den Zusammenhalt und unsere autonome Kultur.“

 

„WIR MÜSSEN AM FRIEDEN FESTHALTEN“

Sie reisen als Menschenrechtlerin durch Europa, um auf die Probleme Ihrer Gemeinden aufmerksam zu machen. Was macht die Situation der Afrokolumbianer*innen in der Region Buenaventura aus?
Wir wohnen auf Grundstücken, die durch Landgewinnung aus dem Meer entstanden sind. Das ist ein Gebiet, das an unsere Wohngegend angrenzt und das wir durch eine traditionelle Praktik des Aufschüttens erobert haben, mithilfe von Bauschutt oder Müll. Das Gebiet macht 60 Prozent der Insel Buenaventura aus, der Ort ist die Kernregion für die Errichtung von Häfen in Buenaventura, 60 Prozent der Insel sind mithilfe der Aufschüttungstechnik entstanden. Es ist Teil unserer Landgüter, die wir nicht nur besetzt, sondern die wir mithilfe unserer Vorfahren mit unseren eigenen Händen gebaut haben. Die Regierung handelt im Sinne der Investoren, denn sie hat vor, diese Landgüter zu räumen. Dafür wird der bewaffnete Konflikt vorgeschoben oder die „Entwicklung“, um in der öffentlichen Politik einen Umsiedlungsprozess der Gemeinden durchzusetzen. Sie sagen, dass wir in einem hochgefährlichen Gebiet leben, nur um uns von dort zu vertreiben und dort mehr Häfen bauen zu können für die internationale Wirtschaft und den internationalen Tourismus. Wir fragen: Wie kann es sein, dass die Wohnstätten von uns schwarzen Gemeinden, die wir dieses Land gewonnen haben, in einer Gefahrenzone liegen, aber gleichzeitig keine Gefahr für Hotels, Infrastruktur und Häfen besteht, die sie in diesem Gebiet entwickeln wollen?

Wie artikuliert sich dieses Problem konkret?
Wir hatten einen Gemeindeführer: Temístocles Machado. Er widmete sein Leben der Denunzierung von Landraub. Er prangerte an, dass unsere Rechte verletzt werden, dass wir Besitzer dieser selbst erbauten Grundstücke sind, die wir durch Landgewinnung errungen haben. Er wurde am 27. Januar dieses Jahres gewaltsam ermordet.
Temísto hatte die meisten historischen Kenntnisse über diesen Streit und seinen Verlauf, er war der Gemeindeführer, der sich am meisten auf landesweiter Ebene bewegte, um öffentlich zu machen, was in Buenaventura passierte. Er dokumentierte alles, um die Erinnerung an die Herrschaftsprozesse zu etablieren.
Dieser Gemeindeführer wurde ermordet. Bei diesem Mord ging es nicht um ihn oder seine Familie, sondern darum, die Gemeinden zu lähmen, die er repräsentierte. Aber wichtig ist, dass wir weitermachen. Trotzdem kann man nicht leugnen, dass es Leute gab, die danach nicht mehr an Organisationen teilgenommen haben, dass aufgrund dieses Mordes Leute weggezogen sind. Das sind die Strategien, um die Dynamik unserer Verteidigungsorganisationen zu zerlegen. Temístocles ist nur eines von vielen Beispielen.

Warum sind afrokolumbianische Gemeinden angreifbarer als andere?
Wir ethnischen Völker erleben eine doppelte Form der Herrschaft, wir sind in einer doppelten Opferrolle. Zum Einen sind wir Opfer als Kollektiv, als Gemeinde. Neben dem bewaffneten Konflikt und über die extraktivistische Wirt­schafts­­politik hinaus gibt es für uns auch einen strukturellen Aspekt, nämlich den der sozialen Ausgegrenztheit. Zum Anderen sind wir Opfer in Bezug auf unsere Beziehung zu unserem Land, denn jenes Land, auf dem wir leben könnten, wird zerstört. Wir haben als Völker eine sehr enge Beziehung zu unserem Lebens- und Wohnraum. Unser Leben hängt von der Einheit mit unserem Land zusammen. Deshalb sind wir von Landraub auch besonders betroffen. Wenn wir umsiedeln, verlieren wir nicht nur die Möglichkeit, an diesem Ort zu sein, wir verlieren die Möglichkeit unserer alltäglichen kulturellen Praxis. Ich kann nicht in den Bergen fischen. Ich brauche das Meer oder den Fluss.

Die Regierung beschuldigt Menschen aus den afrokolumbianischen Gemeinden, Mitglieder von Guerrillas zu sein.
Wir werden übertrieben gerichtlich verfolgt. So ist es zum Beispiel Ende April passiert, mit zwei Gemeindeführerinnen, Mutter und Tochter, aus Tumaco, dem Gebiet von Río Mira an der Pazifikküste. Diese beiden Frauen wurden von der Regierung und durch die nationale Staats­anwaltschaft als Mitglieder der ELN juristisch verfolgt. In den letzten 30 Jahren wurden wir afrokolumbianischen Gemeinden durch die Regierung immer wieder beschuldigt, Mitglieder der FARC zu sein. Heute gibt es keine FARC mehr – offiziell zumindest. Jetzt sind wir also Mitglieder der ELN. Die beiden Frauen wurden juristisch verfolgt, verhört und sofort in einem Hochsicherheitsgefängnis in Haft genommen wie die größten Schwerverbrecher des Landes. Die Geschichte von Tulia, der Mutter, ist aber die: Sie ist eine Frau aus der Gemeinde, die einen Teil ihres Lebens der Kinderfürsorge in Kindertages­stätten gewidmet hat. Im Prozess wurde behauptet, sie habe die Kinder auf eine Mitglied­schaft bei der ELN vorbereiten wollen. Und im Fall von Sára, der Tochter, hieß es, dass Vorsichts­­maßnahmen getroffen werden müssten, um Aktionen der ELN zu verhindern. Sára hat aber nur denunziert und öffentlich gemacht, dass auf ihrem Land Koka angebaut wurde und wie die Dynamik des Drogenhandels das Leben in der Gemeinde zerstört hat. Das alles sind historische Strukturen. Aber wir kennen die Vorgehens­weisen der Regierung schon. Wir hoffen, dass die Justiz Fortschritte macht, und tun alles, was in unserer Macht steht, um zu zeigen, dass Tulia und Sára Gemeinde­führerinnen sind, und dass die Verteidigung von Menschenrechten kein Verbrechen ist.

Welche Rolle habt und hattet ihr als Gemeinden in dem bewaffneten Konflikt wirklich?
In den kritischsten Momenten des bewaffneten Konflikts – in Anwesenheit der FARC – war unsere Rolle als Gemeinden einerseits, dass wir umsiedeln mussten, um uns zu schützen, andererseits Widerstand zu leisten, ebenfalls um uns zu schützen. Wir sahen das als Zwangs­umsied­lung an. Wir haben es geschafft, unser Leben zu verteidigen, aber nicht, unser Leben zu leben. Es gab Organisationen, die bestimmten, wann wir umziehen mussten oder wann es besser war, Widerstand zu leisten oder welcher Teil der Bevölkerung eines von beidem tun sollte. Wenn wir das nicht täten, würden wir nicht mehr existieren. Wir haben keine Alternative. In der aktuellen Situation nach dem Abkommen ist der Konflikt nicht zu Ende, aber man kann nicht leugnen, dass es weniger geworden ist, dass wir ein bisschen mehr Luft zum Atmen haben.Was ist unsere Rolle jetzt? Wir wollen die Umsetzung des Abkommens. Denn mitten im Krieg mussten wir die Zwangsrekrutierung unserer Gemeinde­mitglieder in die Reihen der Guerillas miterleben. Wir können nicht leugnen, dass es auch freiwillige Teilnahme gab. Aber in der Mehrheit war es erzwungene Teilnahme durch Zwangs­rekrutierung. Weil viel Druck ausgeübt wurde, da es keine Alternativen gab.

Wie gehen die Gemeinden mit diesen Menschen um?
Wir bereiten uns darauf vor, diejenigen wieder aufzunehmen, die eigentlich Teil unserer Gemeinde sind, aber die es irgendwann nicht mehr waren. Weil auch sie verwundet wurden. Und hier gibt es einen langen Prozess des Verständnisses, der neuen Auslegungen, dass diejenigen, die dort waren und jetzt wieder zurück kommen, keine Fremden sind, sie sind Teil unserer Gemeinden. Aber das ist nicht einfach. Es ist einfach zu sagen, aber schwer umzusetzen. Das ist eine Herausforderung bei der Schaffung von Frieden. Wir bereiten uns darauf vor, sie in Empfang zu nehmen, damit unsere Brüder als Teil der Gemeinde von Neuem eine Beziehung zum Zivilleben aufbauen können, damit sie nicht etwas Abgesondertes von uns sind. Einerseits. Dann gibt es den Prozess mit der Regierung: Wie befreien wir sie vom illegalen Anbau, also vom Koka-Anbau? Das hat etwas mit der Dynamik der Regierung zu tun.

Was bedeutet der Wahlausgang für Sie? Von Iván Duque ist zu erwarten, dass Teile des Friedensabkommens rückgängig gemacht werden.
Unsere Positionen sind weiterhin die, die unsere Vorfahren uns gelehrt haben. Um weiterhin Widerstand zu leisten und zu überleben, müssen wir daran festhalten, in unseren Gebieten, die wir seit unseren Ahnen bewohnen und die uns gehören, Frieden zu schaffen. In diesem Sinne ist es egal, welcher Kandidat die Präsidentschaft der kolumbianischen Republik antritt – unsere Rolle besteht darin, weiterhin zum Frieden beizutragen, indem wir aktiv an der Entwicklung von Abkommen teilnehmen und Protagonisten sind. Dazu kommt aber, dass wir weiterhin auf unserem Land ausharren müssen, denn selbst wenn wir im Friedensprozess aktiv an den Abkommen zwischen FARC und Regierung mitwirken, gibt es weitere Kriegsdynamiken in unseren Gebieten und andere Konfliktsituationen; Gewalt, wie eben wirtschaftliche Megaprojekte an den Häfen oder der Abbau von natürlichen Ressourcen.

„BESSER LEBEN OHNE KOHLE”

El Cerrejón – so nannten die Wayúu einst den heiligen Berg. Heilig, weil er ihnen seit Jahrhunderten Medizinpflanzen spendete und das spirituelle Erbe der Gemeinschaft, der größten indigenen Gruppe Kolumbiens, barg. Heute steht El Cerrejón für einen Großkonzern, eine Mine, ein Loch, Zerstörung. Der Berg ist ausgehöhlt, die Menschen vertrieben.

Samuel Arregoces ist Sprecher der afrokolumbianischen Gemeinde Tabaco und wurde 2001 selbst Opfer einer gewaltvollen Vertreibung durch El Cerrejón. Der gesamte Ort wurde dem Unternehmen übergeben, um dort weiter Kohleabbau zu betreiben. Bis heute warten die Menschen von Tabaco darauf, dass ein Ort für die Neugründung ihrer Gemeinde bereitgestellt wird.

„Es geht hier um mehr als die physische Trennung zwischen Mensch und Territorium“

„Es geht hier um mehr als die physische Trennung zwischen Mensch und Territorium“, schildert Arregoces den Verlust. Mit der Vertreibung und Hinauszögerung der Umsiedlung sterbe etwas in der Gemeinschaft, im sozialen Gefüge. Der Aktivist ringt um Worte. „Unsere Kinder verlieren das Bewusstsein für die anzestrale Mythologie, hören auf zu träumen“. Ein wesentlicher Bestandteil der Wayúu-Spiritualität ginge somit verloren. „Der Verlust dieses Gedächtnisses des Territoriums ist irreparabel“, sagt Arregoces.

Hinzu kommt, dass die Dorfgemeinschaft beständig unter Druck von außen durch den Bergbaukonzern steht. Durch unterschiedliche Strategien wie zum Beispiel lukrative Jobangebote versucht El Cerrejón, den Zusammenhalt im Widerstand zu schwächen. Dass diese Strategie der internen Spaltung oft genug aufgeht, beschreibt Arregoces mit Bedauern: „Ein Riss zieht sich durch Familien und Freundschaften: Manche arbeiten in der Mine, andere verlieren durch sie jegliche Existenzgrundlage.“ Im Fall von Tabaco gestalte es sich darüber hinaus schwierig Widerstand zu organisieren, da alle ehemaligen Dorfmitglieder nun an verschiedenen Orten verstreut lebten. Geld für die Anreise und Organisation von Treffen sei fast nie da.

„Und daher sind wir nun hier in Deutschland, um uns mit sozialen Bewegungen und Aufklärungskampagnen zu vernetzen und internationalen Druck aufzubauen. Wenn man hier im Norden davon spricht, von der Kohle als Energiequelle wegzukommen, dann heißt das für uns notwendigerweise, dass man uns unsere Territorien zurückgibt.“ Arregoces verdeutlicht, dass es den Menschen von Tabaco nicht nur um die Einhaltung internationaler Standards und Verträge seitens des Unternehmens geht. Nein, auch ein definitives Ende des Extraktivismus in der Region, stehe auf ihrer Agenda. Die Rechtfertigung der Konzerne, Arbeitsplätze zu schaffen und den “Fortschritt” der Region zu befördern, hält Arregoces für einen Vorwand.

Tabaco ist nicht die einzige Gemeinde, die große Verluste zu beklagen hat. In den vergangenen drei Jahrzehnten wurden durch die Mine große Teile des Territoriums der Wayúu zerstört. Ganze Landstriche wurden verwüstet, Böden unbrauchbar gemacht, Biodiversität vernichtet und die Versteppung vorangetrieben. Wasserläufe versiegen aufgrund des riesigen Wasserbedarfs für die Mine, was die übliche kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft unmöglich macht. Vielen Dörfern droht nun mit der geplanten Erweiterung des Tagebaus bereits die zweite Vertreibung.

Die im Nordosten Kolumbiens gelegene Mine El Cerrejón ist der größte Steinkohletagebau der Welt.

Die auf der Halbinsel La Guajira im Nordosten Kolumbiens gelegene Mine El Cerrejón ist mit einer Gesamtfläche von 69.000 Hektar der größte Steinkohletagebau der Welt. Noch bis 2034 läuft der Vertrag zwischen den beteiligten Konzernen Anglo American aus Großbritannien, BHP Billiton aus Australien, dem Schweizer Glencore und dem kolumbianischen Staat. In dem „Plan Colombia País Minero 2019“ sieht Kolumbien eine Ausweitung aller bestehenden Minen vor, sowie eine Steigerung der landesweiten Kohleförderung. 98 Prozent der kolumbianischen Kohle sind für den Export bestimmt. Immer noch wird auf die Bergbauindustrie als „Lokomotive für die Entwicklung Kolumbiens“ gesetzt und verheerende Folgen für die Bevölkerung werden in Kauf genommen.

Während die Mine für die ansässige Bevölkerung den Inbegriff von Gewalt und Ungerechtigkeit darstellt, importieren Unternehmen wie Vattenfall, RWE oder E.ON weiterhin kolumbianische Kohle, um sie unter anderem in Deutschland zu verstromen. Die versprochene Energiewende in Deutschland, und das Einstellen der eigenen Steinkohleproduktion bis 2018, ist tatsächlich nur durch das Festhalten an Kohleimporten möglich. Deutschland allein importiert momentan pro Jahr rund 54 Millionen Tonnen Steinkohle und ist damit Spitzenreiter in der EU.

Rund ein Drittel der Importe stammt aus Russland. Nummer zwei der Importländer ist Kolumbien mit ungefähr 20 Prozent. Weiterhin gibt es kaum Transparenz über die Lieferbeziehungen, was der Missachtung von Grundrechten Tür und Tor öffnet. Laut einer aktuellen Studie von den Nichtregierungsorganisationen Germanwatch und MISEREOR betrifft ein Drittel der unternehmensbezogenen Vorwürfe zu Menschenrechtsverletzungen den Energie- und Rohstoffsektor. Anders als Frankreich, Großbritannien und die Niederlande hat sich Deutschland jedoch immer noch nicht dazu durchringen können, Gesetze mit Menschenrechtsvorgaben für Auslandsgeschäfte von Unternehmen zu verabschieden.

So kann ein hier geführter Protest gegen Vattenfall und Co. die Gemeinden in der Guajira ganz konkret in ihrem alltäglichen Widerstand unterstützen. Auch das ist eine Botschaft der drei Aktivist*innen. Die Ziele und Vorstellungen der betroffenen Menschen müssen in den Vordergrund gestellt werden, um Chancen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit und Solidarität auszumachen.

Auftaktveranstaltung der Rundreise war die Filmvorführung des Dokumentarfilms La buena vida (Das gute Leben) von Jens Schanze in Berlin. Der Film erzählt die Geschichte der Dorfgemeinschaft Tamaquito am Río Ranchería, die 2011 zum Vorzeigeprojekt „gelungener Umsiedlung“ unter „Einhaltung internationaler Standards“ durch El Cerrejón werden sollte. Dies misslang vollauf.

Catalina Caro Galvis, ebenfalls Aktivistin und Bergbaureferentin der Umweltorganisation CENSAT – Agua Viva kann im Kampf gegen das Kohlegeschäft aber auch von Erfolgen berichten. So wurde im März 2017 ein Besuch einer Konzerndelegation von Vattenfall in der Guajira erwirkt, bei dem die Führungsebenen des schwedischen Staatskonzerns mit den Menschenrechtsverletzungen in den Minen Kolumbiens konfrontiert werden sollten. Die Besonderheit: Kolumbianische Aktivist*innen, unter anderem Caro Galvis, bestimmten den Ablauf dieses Besuches. Bis heute steht das versprochene Abschlussgutachten von Vattenfall jedoch aus. Caro Galvis vermutet, dass jede weitere zeitliche Verzögerung dazu führen wird, dass die Zustände abgeschwächt und beschönigt werden. Einmal mehr ruft sie daher dazu auf, von Deutschland aus Druck auf Vattenfall auszuüben und die Veröffentlichung eines weitreichenden und transparenten Gutachtens einzufordern.

Vattenfall spielt weiterhin auch im deutschen Kohleabbau eine bedeutende Rolle. Ironischerweise finanziert der Konzern seit 2006 das „Archiv verschwundener Orte“, in dem an die 136 Dörfer erinnert wird, die allein in der Lausitz seit 1924 dem Braunkohlebergbau ganz oder teilweise weichen mussten. Bei einer Fahrradtour um den Braunkohletagebau Jänschwalde an der deutsch-polnischen Grenze tauschen die kolumbianischen Gäste ihre Erfahrungen aus der Guajira mit deutschen und polnischen Klimaaktivist*innen aus. Arregoces zieht aus diesem Zusammentreffen vor allem eine Erkenntnis: dass Kohleabbau überall auf der Welt mit einer gewaltvollen Geschichte von Vertreibung und Umweltzerstörung verbunden ist – auch in Deutschland, dem vermeintlichen Vorreiter des Umweltschutzes und der Menschenrechte. Strategie, Logik und Argumentation der Konzerne seien überall auf der Welt gleich, wenn auch die Bedingungen der Vertreibung mehr oder weniger gewaltvoll sein können, schlussfolgert er aus der Rundreise. „Hinter all dem steht die gleiche Grundidee“, sagt er.

„Extraktivismus und Wirtschaftwachsum gehen vor, Menschen müssen weichen und Lebensräume werden zerstört.“

In den noch bis vor Kurzem bedrohten sächsischen Ortschaften Grabko, Atterwasch und Kerkwitz in der Lausitz können die Anwohner*innen mittlerweile aufatmen.

In den noch bis vor Kurzem bedrohten sächsischen Ortschaften Grabko, Atterwasch und Kerkwitz in der Lausitz können die Anwohner*innen mittlerweile aufatmen. Die jahrelangen Forderungen von Umweltschützer*innen erfüllen sich: Der Tagebau Jänschwalde wird nicht erweitert und Welzow-Süd in der Niederlausitz auf Eis gelegt. Fest steht nun: Spätestens 2050 ist Schluss mit der Kohleverstromung in der Lausitz. Und bereits im Oktober 2018 sollen in Jänschwalde erste Generatoren stillgelegt werden, voraussichtlich Mitte der 2020er Jahre wird das Feld ausgekohlt sein. Der Austausch bestärke alle Beteiligten einmal mehr, weiterzukämpfen, so die Aktivist*innen. Nicht nur der Protest, sondern auch die Möglichkeiten eines sozialverträglichen Kohleausstiegs und alternative Erwerbskonzepte müssten global gedacht werden.

Jakeline Romero Epiayu, Sprecherin von Fuerza de Mujeres Wayúu, macht sich darüber hinaus bei einem Vernetzungstreffen mit Berliner Anti-Kohle-Aktivist*innen von den Bewegungen Kohleausstieg Berlin, Ende Gelände und anderen dafür stark, das Thema Klimagerechtigkeit und Energie in den Diskurs um einen möglichen Frieden in Kolumbien zu integrieren. Sie fordert einen Friedensvertrag, in dem das aktuelle neoliberale Wirtschaftsmodell infrage gestellt wird. Eben dieses Modell sei seit jeher Triebfeder des Konfliktes. Romero Epiayu sagt das sowohl mit Blick auf die Situation der vertriebenen Gemeinden in der Guajira, als auch in Hinblick auf das Gebiet Catatumbo. Durch die dort herrschende Guerilla ist die Region bisher weitgehend von extraktivistischen Großprojekten verschont worden. Nun könnte Catatumbo jedoch als lukrativer Standort der Kohle- und Ölförderung ins Blickfeld der Konzerne geraten. Aktionen des zivilen Ungehorsams, wie sie Ende Gelände in den vergangenen Jahren in Deutschland durchführte, seien in Lateinamerika jedoch undenkbar, glaubt Romero Epiayu. „In Kolumbien gleicht eine Mine einer militärischen Festung und das Verhältnis zum Staat ist ein anderes“, erklärt sie. „Wenn du einen Tagebau betrittst, kann das jederzeit mit einem tödlichen Schuss enden.“ Gerade in der derzeitigen Implementierungsphase des Friedensabkommens werden Aktivist*innen in erhöhtem Maße Opfer von Kriminalisierung und Bedrohung. Auch Jakeline und Samuel erlebten bereits konkrete Gewaltandrohungen aufgrund ihrer politischen Tätigkeit. „Schutz, Unterstützung und Sichtbarmachung für Betroffene, als auch deren Familien, muss ein internationales Interesse werden“, fordert Romero Epiayu.

Letzte Station der Rundreise: Der Gipfel der Globalen Solidarität im Rahmen des Anti-G20-Protests in Hamburg. „Wir wollen erreichen, dass die Regierungschefs beim Thema Klimaschutz uns indigenen Gemeinschaften zuhören“, sagt Romero Epiayu. „Immerhin haben wir unsere Territorien und natürlichen Ressourcen über Jahrhunderte konserviert. Unsere Hoffnung ist, dass ein Leben ohne Minen und so, wie wir es uns vorstellen, irgendwann wieder möglich ist.“ Die Zukunft sieht die Aktivistin in lokalen Initiativen und kommunitären Formen des Zusammenlebens. Agerroces ergänzt: „Was man aus dem Süden in den Norden schafft, kontaminiert den ganzen Planeten. Vielleicht erinnern sich die G20 irgendwann daran, dass wir in einem einzigen gemeinsamen Ökosystem leben.“ Was die beiden zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen können, wenige Tage nach dem Gipfel jedoch feststeht: US-Präsident Donald Trump hat in Hamburg in Sachen Missachtung des Pariser Klimaabkommens einen Verbündeten gefunden. Überraschend stellt nun auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Umsetzung des Pariser Vertrages durch sein Land infrage. Ein Grund mehr für Aktivist*innen, sich weltweit zu verbünden.

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