ANTWORT DER GEMEINSCHAFT AUF DEN ABWESENDEN STAAT

Angestauter Frust “Schluss mit den staatlichen Plünderungen” hieß es schon 2015 auf Demonstrationen (Foto: Surizar via Flickr (CC BY-NC 2.0)

Nery Osorio ist Koordinator der Bauernvereinigung Río Negro Trece de Marzo Maya Achí, die sich auf die Rettung und Vermittlung von traditionellem Wissen über Agrarökologie sowie Ernährungssouveränität konzentriert. Infolge der historischen Vernachlässigung des Staates und der aktuellen Krise waren sie gezwungen, kollektive Strategien zu entwickeln, um den am stärksten gefährdeten Einwohner*innen zu helfen.


Im November verabschiedete der guamaltekische Kongress hinter verschlossenen Türen den Haushalt für das Jahr 2021 und löste damit bei vielen Bürger*innen Empörung aus. Ressourcen wurden gekürzt, zum Beispiel für den Kampf gegen Unterernährung und die Versorgung der nationalen Krankenhäuser. Glauben Sie, dass die aktuellen Proteste tiefgreifende Veränderungen im Land herbei-führen können?
Es ist kompliziert, weil die führenden Politiker entscheiden, ohne uns zu konsultieren oder die Grundbedürfnisse des Volkes zu berücksichtigen. Es gibt eine Menge Korruption und sie verwalten das Geld nicht richtig: Statt die Menschen zu erreichen, wollen sie nur ihre Taschen füllen. Es ist traurig, denn wir sehen so viel Mangelernährung bei Kindern, und die Kinder sind die Basis des Volkes. Wir wollen uns mit anderen Gemeinschaften zusammenschließen und demonstrieren. Denn wenn die Regierung nicht in der Lage ist, das Land zu führen, sollte sie besser gehen. Bei anderen Gelegenheiten haben wir uns dafür eingesetzt, dass die ganze Gemeinde demonstriert, entweder in der Hauptstadt oder in Salamá (Hauptstadt von Baja Verapaz, Anm. d. Red.). Aber im Moment fehlt es an Geld, um Transport, Essen und Unterkunft zu bezahlen. Diesmal werden nur wenige Menschen in die Hauptstadt reisen können. Wir werden unser Bestes tun, um eine Veränderung herbeizuführen.

Wie hat der Staat aus Ihrer Sicht auf die Pandemie reagiert?
Leider muss man sagen, dass wir schon lange auf uns allein gestellt sind. Die Regierung hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Menschen über das Nötigste zu informieren. Wir haben einen rassistischen Präsidenten, der die indigenen Völker weder respektiert noch unterstützt. Es besteht keine Hoffnung, dass sich die Lage bald ändern wird. Obwohl der Staat eine Menge Geld und Spenden aus anderen Ländern erhalten hat, haben diese nie die Gemeinden erreicht, die sie am meisten benötigen. Wir selbst waren es, die sich dafür eingesetzt haben, wichtige Informationen an die Familien weiterzugeben und die Menschen aufzuklären, damit sie wissen, was die Präventivmaßnahmen sind: häufiges Händewaschen, Tragen einer Maske, Abstand halten.

Wie hat sich der Alltag in Ihrer Gemeinde seit dem Auftreten der Pandemie verändert?
Die Situation ist fatal, weil viele Menschen ohne Einkommen auskommen müssen, um ihre Familie zu ernähren. Ältere Menschen, Witwen und alleinerziehende Mütter haben am meisten gelitten. Viele sind niedergeschlagen, weil sie ihr Haus und die Region nicht verlassen können oder nichts mehr zu essen haben. Wir durchleben eine große Krise und wir sind sehr besorgt um die Kinder. Deshalb baten wir im Namen der Vereinigung um internationale Unterstützung durch die Initiative Comunidades Solidarias (Gemeinschaften in Solidarität, Anm. d. Red.), um Grundnahrungsmittel wie Mais, Bohnen, Reis, Öl und Zucker kaufen zu können. Aber mit dieser Unterstützung konnten wir bisher nur 41 Familien helfen.

Wie ist die Beziehung zwischen den natürlichen Ressourcen in Ihrer Region und den dort lebenden Gemeinden?
Im Gegensatz zu Unternehmen, die in unserer Region Megaprojekte wie Wasserkraftwerke installieren oder Bäume fällen, um das Holz zu verkaufen, schätzen und respektieren wir natürliche Ressourcen. Wir bearbeiten das Land auf nachhaltige Weise nach den Prinzipien der Agrarökologie und der Wiederaufforstung mit Obstbäumen. Das Landwirtschaftsministerium spricht immer über die Bedeutung der Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft, unternimmt aber nichts in dieser Richtung. Es unterstützt die Bauern nicht dabei, ihre Praktiken zu verbessern. Die spirituelle Beziehung zu unserer Mutter Erde ist für uns sehr wichtig, denn sie gibt uns Energie. Wir führen immer Zeremonien durch, um unseren Ajaw (der Weltanschauung der Maya zufolge der Schöpfer aller Dinge, Anm. d. Red.) zu bitten, uns Weisheit und Kraft zu geben, damit wir uns den Problemen unserer Gemeinschaft stellen können.

Am 5. November 2020 erlebte die Region zwei aufeinanderfolgende Tropenstürme. Wie ist die aktuelle Situation in der Region und in Ihrer Gemeinde?
Mittlerweile hat der Regen aufgehört. Aber die Situation ist bedrückend und ernst, da viele Menschen durch so viel Regen ihre Ernte verloren haben. Andere Gemeinden in der Region waren stärker von Erdrutschen betroffen und von der Kommunikation abgeschnitten. Die Menschen hier sind sehr verzweifelt, weil das Wenige, das sie hatten, um ihre Familien zu ernähren, verloren ging. Wie erwartet kam keine Unterstützung vom Staat. Als beispielsweise Präsident Giammattei zu einem Besuch in die Region kam, wollte der Bürgermeister von Carchá im Departement Alta Verapaz um Unterstützung bitten, doch ein Gespräch wurde ihm verwehrt. Deshalb setzen wir uns dafür ein, das Wissen der Vorfahren für die Bepflanzung von Maisfeldern, die Erhaltung von Boden und Wasser zu retten, immer mit Rücksicht auf die Umwelt. Ernährungssicherheit wird durch die Rettung einheimischen Saatguts erreicht. Das Problem ist, dass wirtschaftliche Ressourcen benötigt werden, um diese Projekte durchzuführen und Gehälter zahlen zu können.

Was waren die Konsequenzen für Ihre Arbeit innerhalb der Organisation?
Die schwerwiegendste Folge ist der Mangel an finanziellen Mitteln. Vorher gingen die Leute aus den abgelegenen Gemeinden der Region für eine Zeit lang an die Küste, um Arbeit zu suchen. Aber jetzt können wir uns aufgrund der Ausgangssperren nicht aus der Region bewegen, um ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten. Es ist sehr schmerzhaft, denn es geht darum, mit dem zu überleben, was man ernten kann, aber oft ist es nicht genug. Für die Fortsetzung unserer Bildungsprojekte zu Ernährungssouveränität im ökologischen Landbau und für die weitere Ausbildung der Jugendlichen fehlen uns auch die Mittel.

Was sollte sich in Zukunft ändern, um diese Art von Katastrophen zu verhindern?
Es ist schwierig, weil diese Region immer von Regenfällen betroffen sein wird, die eigentlich ein Segen für das Land sind. Das Problem ist, dass viele gewaltsam vertriebene Gemeinden keine andere Möglichkeit hatten, als sich in Regionen anzusiedeln, die sich nicht zum Leben eignen und hohe Risiken bergen. Die Lösung wäre, dass die Menschen dorthin ziehen, wo das Land besser standhält und sicherer ist. Aber die Regierung müsste dafür die Menschen unterstützen, damit sie Land kaufen und sich anderswo niederlassen können. Hier obliegt dem Staat die Verpflichtung.

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