Gegen die Monokulturen des Agrobusiness

Damit Mato Grosso leben kann Kultivieren gegen die tödliche Leere der Monokultur (Foto: Anuk Polnik)

Es ist heiß und trocken. Drei Stunden fährt man über die Verbindungsstraße von Cuiabá, Hauptstadt des Bundesstaats Mato Grosso in die 100.000 Einwohner*innen zählende Kleinstadt Cáceres, die an der Schnittstelle von drei Ökosystemen liegt: dem Sumpfgebiet Pantanal, der Savanne des Cerrado und dem Amazonas-Regenwald. Dem Blick aus dem Fenster offenbart sich eine monotone Landschaft mit steppenartigem Bewuchs. Auf einer Seite erstreckt sich weites Land mit Rinderweiden, auf der anderen undurchdringlicher Sumpf, der sich an die Windungen des Flusses Río Paraguay schmiegt. Seit Ende Mai, also schon fast vier Monate lang, hat es nicht mehr geregnet. Dabei beginnt die Trockenzeit gerade erst. Vegetationsbrände gibt es hier jedes Jahr, aber im Vergleich zu 2023 verzeichnet die Region eine Zunahme der Brände um rekordverdächtige 1024 Prozent. Drei Mal größer als Deutschland ist der Bundesstaat, in dem mehr als 20 Millionen Hektar land- und viehwirtschaftlich genutzt werden. Damit wird eine Bruttowertschöpfung von jährlich über 50 Milliarden Euro erzielt. Mit 16,4 Prozent des gesamten brasilianischen BIP ist Mato Grosso damit Spitzenreiter im nationalen Vergleich. 2022 wurden 51 Prozent der produktiven Fläche für Sojaanbau genutzt. Auf weiteren 10 Prozent wurden gleichzeitig Mais- und Zuckerrohr für die Herstellung von 5,7 Milliarden Liter Kraftstoff angebaut. Und mit 34 Millionen geschlachteten Rindern pro Jahr ist der Staat auch hier brasilienweit führend.

Der Großteil des Fleisches werden nach Europa und China exportiert, genauso wie das Soja-Kraftfutter als Nahrung für das „zukünftige Fleisch“ von Schweinen, Hühnern und Rindern. Nur auf einem verschwindend geringen Anteil, nämlich 2,5 Prozent der gesamtbrasilianischen Fläche werden mit Reis und Bohnen alltägliche Grundnahrungsmittel der Menschen im Land angebaut. Dieser Anbau in Monokultur funktioniert nur mit intensivem Einsatz von transgenem Saatgut, chemischen Düngemitteln und Agrargiften, allen voran das in Deutschland streng beschränkte Glyphosat. In Brasilien gibt es pro Jahr eine durchschnittliche Neuzulassungsquote von 545 Agrarchemikalien. Allein während der Amtszeit Bolsonaros verzeichnete Brasilien einen Rekord von 2.182 Zulassungen. Bei den Herstellern dieser Pestizide stehen auch die Namen der deutschen Unternehmen Bayer und BASF weit oben auf der Liste. Flugzeugen versprühen das Gift über den Plantagen und treffen auch anliegende Gebiete, die Chemikalien fließen in Flüsse und Grundwasser und tötet Bodenlebewesen.

Das trifft vor allem vier Gemeinschaften in Mato Grosso, die ihre Lebensweise trotz der überwältigenden Dominanz des Agrobusiness nach dem Bestellen ihres Landes oder dem Fischfang ausrichten: die kleinbäuerlichen Camponêses, die indigenen Gemeinschaften der Chiquitanos, Riberinhos, die Bewohner*innen der Flussufer des Rio Paraguay und Quilombolas (siehe Kasten auf Seite 45). Ihren Widerstand gegen das Agrobusiness organisieren sie mal aktiv durch Vernetzung mit anderen politischen Bewegungen, mal durch ihre bloße Existenz auf umstrittenem Land.

Nicht nur die Marktmacht des Agrobusiness ist immens, auch die politischen und sozialen Strukturen sind davon durchzogen. Sogar der Kultursektor spiegelt das wider: Die Country-­Musik-Stars besingen romantisierte Bilder des Landlebens. In Musikvideos wird die Monokultur als ästhetisch und fortschrittlich dargestellt, traditionelle, kleinbäuerliche Landwirtschaft dagegen als dreckig, rückschrittlich und sogar kriminell. Diese manipulierenden hat großen Einfluss auf das Konsumverhalten. Im Gegensatz zu Deutschland sehen sich Biobäuer*innen sogar gezwungen, ihre Produkte billiger zu verkaufen als konventionelle, um Konsument*innen damit zum Kauf zu „überreden“. Nur ein Beispiel von vielen, inwiefern die Macht des Agrobusiness das Überleben der Kleinbauern und -bäuerinnen gefährdet.

Camponêses

Dona Miraçi und Seu Luiz sind Kleinbäuer*innen, sogenannte camponêses. Auf ihrem Feld, etwa eine Stunde von Cáceres entfernt, wächst Maniok, Sesam, Mais und verschiedene Bohnenarten. Fünf Reihen die eine Kultur, danach die nächste. Dazwischen Bananenbäume als Windbrecher und höhere Obstbäume als Schattenspender. An den Rändern zieht sich ein Band von stachligen Ananaspflanzen entlang, die als natürlicher Zaun gegen Ameisenbären, Wildschweine und andere die Ernte gefährdenden Tiere dient. Nahe beim Haus dann Süßkartoffel, Kräuter, Zitronengras, Heilpflanzen. Die Blätter des Ora-pro-nobis-Strauchs haben dreimal so viel Protein wie ein Steak und Miraçi kann noch 50 weitere Pflanzen nennen, die eine entzündungshemmende Wirkung haben, gut gegen Magenschmerzen oder Schlafprobleme sind. Das Ehepaar, das in der Landlosenbewegung MST organisiert ist, hat sich das Land vor 22 Jahren über die in der Verfassung verankerte Agrarreform erstritten. Beide haben die fortschreitende Invasion des Agrobusiness mitverfolgt und leisten mit ihrer naturnahen Form der Bewirtschaftung Widerstand. „Jedes Jahr werden die Niederschläge rarer und die Hitzetage mehr“, beklagt Miraçi. Der ohnehin schon große Arbeitsaufwand wird durch den trockenen Boden und die brennende Sonne nicht weniger. Die Zukunft sieht Miraçi mit Sorgen: Ohne Kinder und Enkel*innen ist das Paar abhängig von ihrer körperlichen Verfassung. Ein Teil von dem, was die zwei jetzt schon nicht stemmen können, wird in Kollektivarbeit geschafft. In der Regionalen Vereinigung der agrarökologisch Produzierenden (ARPA) sind sie mit 70 weiteren Familien genossenschaftlich organisiert. Gelder aus dem „Amazonienfonds“, an dem auch Deutschland und Norwegen finanziell beteiligt sind, wurden in Bewässerungs- oder Biogasanlagen und eine Fruchtsaftkeltereig. Das System des „produktiven Waldes“ ist Grundpfeiler von ARPA und den Camponêses. Die Flugzeuge mit Pestiziden sollen eigentlich nur über die Zuckerrohrfelder der anliegenden Großgrundbesitzer*innen fliegen, aber auch über den Feldern von Luiz und Miraçi drehen sie hin und wieder ihre Schleifen. Erst kürzlich brach Feuer auf der benachbarten Zuckerrohrplantage aus, das auch auf dem Gebiet der ARPA große Zerstörung hinterließ. „Die fazendeiros (Großgrundbesitzer, Anm. d. Red.) legen Feuer, aber wir werden weiter pflanzen!“, sagt Miraçi. Jetzt ziehen sie vor Gericht.

Chiquitanos

Die Chiquitanos sind eine von knapp 300 indigenen Gemeinschaften Brasiliens. Die Dorfgemeinschaft Acorizal in Mato Grosso ist eine der wenigen Chiquitano-Gemeiden, die sich auf brasilianischer Seite befinden. Als die bolivianisch-brasilianische Grenze gezogen wurde, durchschnitt sie das Gebiet der Chiquitanos. 5000 Hektar Land umfasst Acorizal mit anliegendem Feld und Wald im Moment. Knapp 40.000 stünden den Chiquitanos laut der indigenen Behörde FUNAI zu Seit den 1960er-Jahren ist der Großteil dieses Landes von Großgrundbesitzer*innen mit ihren Rinderfarmen besetzt worden. Seit 1988 kämpfen die Indigenen Brasiliens um die damals in der Verfassung festgelegte „Demarkation“ ihres Gebiets. 14 Demarkierungen wurden letztes Jahr in ganz Brasilien realisiert, sieben sollen es 2024 sein, darunter auch, wenn alles gut läuft, das Land der Chiquitanos. „All das hat keine Bedeutung, wenn der Fluss austrocknet“, sagt Alexandra, eine der Wortführerinnen des Dorfes, im Gespräch mit LN. Frustration liegt in ihrer Stimme. All die Konflikte über Land und Kulturverlust rücken in den Hintergrund, sollte der Fluss Rio Tarumã, der durch Acorizal fließt, vollends austrocknen. Verantwortlich dafür sind laut Alexandra die großen Höfe flussaufwärts. Sie leiten das Wasser teils in künstliche Fischbecken, teils in die riesigen Rinderweiden oder nutzen es zur Bewässerung von Zuckerrohr- oder Sojafelden. Durch Abholzung oder Brandrodung des Waldes für die endlosen Weideflächen wird der Boden weniger von Wurzelwerk zusammengehalten. Sand wird in den Fluss geschwemmt und der Wasserfluss verhindert. „Wenn er austrocknet, dann trocknet alles aus“ sagt Alexandra mit bitterer Stimme. Der Rio Tarumã sei nicht nur Lebensgrundlage für die vielfältige Flora und Fauna vor Ort. Für die Chiquitano ist der Fluss Nahrungsgrundlage, ein Ort zum Baden, Waschen und nicht zuletzt Teil ihrer Spiritualität. Ribeirinhos „Baixinho“, „der Kleine“, wird Carlos von allen gerufen. Er ist im Pantanal aufgewachsen. Eine Fläche von circa 50 mal 50 Metern ist sein Territorium, direkt am Flussufer des Río Paraguay unter lichten Bäumen. Dahinter beginnt das dichte Sumpfgebiet. Baixinho lebt genauso wie die anderen Bewohner*innen des Flusses, Ribeirinhos genannt, mit dem Rhythmus des Pantanals: Abhängig von Trocken- und Regenzeit, von Wasserständen und Regenfällen. Baixinho spürt Veränderungen in diesem komplexen Ökosystem: Die jährlichen Brände hätten überproportional stark zugenommen, die Fischbestände seien dominiert von Piranhas, der beliebte Fisch Pacú werde immer seltener und das Wasser immer weniger. Das Sumpfgebiet, das mit der stetigen Dynamik aus Überschwemmung und Trockenheit lebt, sei aus dem Gleichgewicht. Ziel der großen Agro-Unternehmen ist die Umgestaltung des Río Paraguay zu einer Wasserstraße für Frachtschiffe. Die Erträge der Monokulturen aus Soja, Mais und Rohrzucker könnten so direkt durch das Pantanal zum Atlantischen Ozean bei Buenos Aires verschifft werden und von dort aus zu den Haupt-Absatzmärkten in Europa, Asien und den USA gelangen. Vierzig unabhängige wissenschaftliche Studien bestätigen, dass der Bau einer solchen Wasserstraße die vollkommene Zerstörung des Pantanals bedeuten würde. Jedes Jahr am 14. November nimmt Baixinho mit anderen Fischern deshalb an einer Bootsdemonstration teil. Über den Río Paraguay fahren sie mit Transparenten und Plakaten in die Stadt Cáceres, Darauf ist zu lesen „Die traditionellen Gemeinschaften verteidigen das Pantanal“ oder: „Sagt nein zum Hunger, sagt nein zur Cota Zero“. Das 2023 verabschiedete Gesetz mit dem Namen „Cota Zero“ soll die private Fischerei verbieten, die die Regierung dafür verantwortlich macht, dass die Fischbestände so stark zurückgehen – den Studien zum Trotz, die zeigen, dass die eigentlichen Verursacher Agrarchemikalien und Wasserwerke sind.

Quilombolas

Am Geburtstag des Flusses Jauquara kommen viele Menschen zusammen im Quilombo Vão Grande, drei Stunden von Cáceres entfernt. Der Kampf um den Rio Jauquara hat eine besondere Geschichte: 2018 wurde das Land, auf dem das Quilombo Vão Grande seit über 100 Jahren liegt, als unbewohnt ausgeschrieben und damit potenzielles Gebiet für eine Wasserkraftanlage. Ihr Bau würde das Ende des Fischreichtums bedeuten. Mit Hilfe der „Escola de Ativismo“ haben die Bewohner*innen des Tals gegen dieses Vorhaben ihren Widerstand organisiert. Drei wichtige Instrumente des Protests haben sich dabei herauskristallisiert: Eine sehr große Menge an gesammelten Unterschriften und ein Video beweisen, dass im Gegensatz zur Ausschreibung von 2018 über tausend Menschen in Vão Grande leben, traditionell an diesen Ort gebunden sind und dort ihre Kultur bewahren. Entscheidend war die Veröffentlichung eines protocolo popular: Eines kleinen Buchs, in dem Struktur, Geschichte und Widerstand der Gemeinschaft dokumentiert werden. Sie waren erfolgreich damit: das Land ist unter offiziellem Schutz und die Wasserkraftanlage am Río Jauquara das erste erfolgreich verhinderte Großbauprojekt in ganz Mato Grosso.

Die Hoffnung in Mato Grosso war groß, als im Oktober 2022 Luiz Inácio Lula da Silva (Lula), die neue Regierungsperiode in Brasilien einläutete. Doch im Nationalkongress ist das Mitte-Rechts-Lager in der Mehrheit, es fehlt an Unterstützung der Senator*innen für die Regierung. Viele öffentliche Ämter besetzen noch immer Personen aus dem Bolsonaro-Lager. In Mato Grosso schaffen die andauernden Konflikte und die fortschreitende Monokultur – landwirtschaftlich wie gesellschaftlich – einen Nährboden für Rechtes Denken und Autoritarismus. Aber im Gegenzug auch für eine Intensivierung des selbstorganisierten Widerstands.


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AGGRESSIVER KAMPFHUND STATT LAHME ENTE

Die Lage bleibt unübersichtlich in Brasilien. Aber eines wird deutlich: Die Opposition gegen die Regierung von Michel Temer gewinnt an Kraft und erobert die Straße zurück. Deutliches Signal dafür war der Generalstreik am 28. April (siehe Kasten), der einen der erfolgreichsten Ausstände in der jüngeren Geschichte des Landes darstellte. Aber es ist nicht nur der Generalstreik: Im ganzen Lande flammen diverse Proteste auf. In unglaublich kurzer Zeit hat die durch ein umstrittenes Impeachmentverfahren an die Macht gekommene Regierung Temer jegliche Unterstützung in der Bevölkerung verspielt.

Gründe dafür gibt es mehr als genug. Nach zwei Jahren schwerer Rezession kommt die Wirtschaft immer noch nicht in Schwung. Die Regierung hat es immer schwerer, für diese Wirtschaftsmisere nur das Vermächtnis der vorangegangenen Regierungen verantwortlich zu machen. Insbesondere die Zunahme der Arbeitslosigkeit trifft die Bevölkerung hart. Nichtsdestotrotz versucht die Regierung Temer eine „Reformagenda“ durchzusetzen, die aus dem kleinen Einmaleins des Neoliberalismus zu stammen scheint. Staatsausgaben sind bereits für eine langen Zeitraum gedeckelt und die Tertiärisierung – also die Verlagerung von Arbeitskräften auf den Dienstleistungssektor – erleichtert worden.

Nun werden zwei entscheidende Elemente der Reformagenda im Parlament verhandelt: eine Reform des Arbeitsrechtes und eine Rentenreform. So soll ermöglicht werden, dass in Tarifverträgen im Einverständnis von Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen auch Vereinbarungen getroffen werden können, die unterhalb der rechtlichen Rahmenbedingungen liegen, also etwa bei Regelungen für Urlaub oder Überstunden. Angesichts einer zersplitterten und fragmentierten Gewerkschaftsbewegung würde diese perverse Auslegung von Tarifautonomie dem Sozialabbau Tür und Tor öffnen. Auch bei der Rentenreform geht es um das übliche: Erhöhung des Rentenalteres und verschärfte Bedingungen für den Erhalt einer Rente, die insbesondere Landarbeiter*innen hart treffen würde. Beide Reformen sind – wie Umfragen zeigen – in der Bevölkerung extrem unbeliebt.

Die Regierung Temer hat kein demorkatisches Mandat solche Reformen durchzuführen.

Insbesondere die Rentenreform sieht die Bevölkerung als Angriff auf Rechte, die Teil der gesellschaftlichen Kultur Brasiliens sind. Die Regierung Temer hat kein demokratisches Mandat, solche umstrittenen Reformen durchzuführen. Temer ist als Vize einer Präsidentin gewählt worden, die zumindest im Wahlkampf eine neoliberale Wende in Brasilien als Antwort auf die Wirtschaftskrise entschieden ablehnte.

Trotz fehlender Legitimierung, einer kurzen Amtszeit von maximal etwa zweieinhalb Jahren und katastrophalen Umfragewerten ist die Regierung Temer alles andere als eine „lahme Ente“, sie erweist sich immer mehr als aggressiver Kampfhund für eine extrem reaktionäre Wende.

Diese Wende zeigt sich nicht nur in der angestrebten Arbeits- und Rentenreform, sondern auch in der Umweltpolitik. Der Etat des zuständigen Ministeriums ist um um die Hälfte gestrichen worden, internationale Gelder des Amazonasfonds mussten eingesetzt werden, um eine Minimum von Kontrolle in Amazonien zu ermöglichen. Und dies alles in einer Zeit, in der der Anstieg der Entwaldung in Brasilien wieder für internationale Schlagzeilen sorgt.

Besonders hart trifft es auch die indigene Bevölkerung und traditionelle Gemeinschaften. Im Parlament werden eine Reihe von Gesetzesvorhaben verhandelt, die deren Rechte fundamental einschränken. So soll der Bau von Straßen und die Ausbeutung von Bodenschätzen in indigenen Territorien oder anderen Schutzgebieten erleichtert werden.

Dabei geht es nicht nur um einzelne Maßnahmen. Durch die Regierung Temer fühlen sich reaktionäre Kreise und insbesondere das Agrobusiness ermuntert. Die Wahl des Großgrundbesitzers und Sojaproduzenten Blairo Maggi zum Landwirtschaftsminister ist ein deutliches Signal an diese Klientel. Ein ganz anderes Signal haben die indigene Völker erhalten. Die für sie zuständige Behörde FUNAI wurde nicht nur finanziell ausgetrocknet, sondern auch der extrem reaktionären und und von evangelikalen Gruppen dominierten Christlich-Sozialen Partei PSC zugeschlagen. Diese ernannte prompt zuerst einen Militär als Präsidenten der Behörde, und dann einen Priester – doch auch der musste bald zurücktreten. Indigene Völker haben daher eine historische einmalige Mobilisierung gegen die Regierung Temer auf die Beine gestellt: Ende April versammelten sich bis zu 3.000 Vertreter*innen indigener Völker und Unterstützer*innen in Brasilia zu einem Zeltlager, das sie „Terra Livre“ nannten.

Mitten in diese komplizierten und unruhigen Zeit platzte eine weitere politische Bombe: Im Rahmen des nicht enden wollenden Korruptionsskandals, der Brasilien nun seit geraumer Zeit erschüttert, wurden die Aussagen der Chefs des größten brasilianischen Baukonzerns Odebrecht veröffentlicht. Dazu kam eine Liste des Untersuchungsrichters Fachin mit den Politiker*innen, die unter Anklage gestellt werden. Nun wurde offensichtlich, was schon lange vermutet worden war: Das gesamt politische System ließ sich von dem Baugiganten schmieren, Politiker*innen fast aller Parteien finden sich auf der Liste, einschließlich der bisherigen Präsidentschaftskandidaten der wichtigsten Oppositionspartie PSDB. Die Aussagen und die Liste belasten führende Politiker*innen der Arbeiter*innenpartei PT schwer, sie werden beschuldigt illegale Parteispenden in dreistelliger Millionenhöhe entgegengenommen zu haben. Aber dasselbe trifft auch auf führende Oppositionspolitiker*innen zu, Odebrecht war zu allen Seiten hin spendabel. Dabei beschränkt sich der Aktionskreis des Konzerns nicht auf Brasilien: Nach eigenen Angaben hat der Konzern in zwölf Ländern illegale Zahlungen in Höhe von 788 Millionen US-Dollar getätigt (siehe LN 513).

Indigene Völker haben eine historische Mobilisierung gegen die Regierung aufgestellt.

Die Regierung Temer ist zentral von den Ermittlungen betroffen, acht Minister stehen nun unter Anklage. Temer selbst entkommt der Anklageerhebung nur, weil er durch das Präsidentenamt eine erweiterte Immunität genießt. Die bittere Tragödie des Impeachmentverfahrens ist nun für alle sichtbar: Durch die Amtsenthebung Dilma Rousseffs (die nicht auf der Liste erscheint!) im August vergangenen Jahres ist die wohl korrupteste Regierung Brasiliens in das Amt gelangt – unter dem Vorwand des Kampfes gegen Korruption.

Im Kern der strafrechtlichen Ermittlungen stehen nicht deklarierte und damit illegale Zuwendungen an Parteien und einzelne Politiker. Aber die Aussagen von Firmenchef Marcelo Odebrecht enthüllen noch ein andere Dimension der Geschichte: die quasi symbiotische Beziehung zwischen Lula und den Odebrechts. Die Geschichte begann schon vor der Zeit Lulas als Präsident (2003 – 2010). Eine Episode in dieser langen Beziehung wirft ein Schlaglicht darauf, wie sich die Interessen des Unternehmens mit dem Handel der Regeirung und Präsident Lula direkt vermischen. Unter der Lula-Regierung wurden der lange unterbrochene Bau von Großstaudämmen in der Amazonasregion wieder aufgenommen. Jirau und Santo Antonio im Bundestaat Rondonia waren die Bahnbrecher dafür. Als es Schwierigkeiten mit der Umweltlizenz für den von Odebrecht übernommenen Staudamm von Santo Antonio gab, mischte sich Lula direkt ein und beschwerte sich sinngemäß: „Nun muss ich mich auch noch um die Welse kümmern“. Der Satz und die Welse (bagre) wurde berühmt als Ausdruck von Lulas ostentativer Missachtung von ökologischen Fragen. Lulas Einmischung war nicht ohne Folgen: Der Chef der Umweltbehörde IBAMA musste den Hut nehmen, die Lizenz wurde erteilt und der Staudamm gebaut. Nun erfahren wir von Marcelo Odebrecht die ganze Geschichte: „Wenigstens einmal traf ich mit dem damaligen Präsidenten Lula um zu fordern, dass nicht zu einer Verzögerung bei der Finanzierung von Santo Antonio durch die (staatliche Entwicklungsbank) BNDES kommen dürfe. Ebenso bat ich um eine spezielle Unterstützung, damit es nicht zu einer Verzögerung bei der Erteilung der Umweltlizenzen komme, was auch den gesamten engen Zeitplan gefährdet hätte. Lula hat dann unsere Unzufriedenheit mit dem berühmten Satz ausgedrückt: ‚Jetzt kann wegen des Wels‘ nicht gebaut werden, sie haben den Wels in meinen Schoss geworfen. Was habe ich damit zu tun?‘“

Insgesamt hat Odebrecht nach eigenen Angaben etwa 80 Milllionen Reais (circa 25 Millionen US-Dollar) spendiert, um den Bau von Santo Antonio zu erleichtern.

Die politische Bewertung der Beziehung zwischen Lula und Odebrecht steht aber nicht im Mittelpunkt der aktuellen Debatte. Es geht in erste Linie um die Frage der strafrechtlichen Relevanz der Vorwürfe. Und da beteuert Lula – wie alle anderen Beschuldigten – seine völlige Unschuld.

Der politische Effekt der jüngsten Wendungen scheint paradox: Nach einer Ende April veröffentlichten Befragung durch das Institut Datafolha würde Lula bei Präsidentschaftswahlen deutlich vorne liegen. Das war schon bei den letzten Umfragen so, aber Lula hat noch einmal zugelegt und würde jetzt alle bekannteren Oppositionspolitiker*innen auch in einer Stichwahl klar besiegen. Nur gegen eine Person liegt er knapp zurück: gegen den untersuchenden Richter Moro, der zur Personifizierung der Ermittlungen der Operation Lava Jato geworden ist. Die Umfragen zeigen ein zutiefst gespaltenes Land. Gut 40 Prozent der Befragten würden Lula wählen und praktisch eben so viele den erklärten Widerpart und das Idol aller Lula- und PT-Hasser, den smarten Richter Moro. Aber Moro ist kein Kandidat und würde er es, dann müsste er sich in die Tiefen des von ihm angeblich bekämpften politischen Systems begeben und könnte leicht an Glaubwürdigkeit und Zustimmung verlieren.

Ein weitere neue Entwicklung in den Umfragen ist der Aufstieg Jair Bolsonaros, des erklärt rechtsextremen Politikers, der die Folterer der Militärdiktatur feiert und Homosexuelle verfolgen will (siehe LN 503). Mit 15 Prozent der Stimmen liegt er bei den Umfragen für den ersten Wahlgang auf Platz zwei. Im Zug der politischen Auseinandersetzungen formiert sich also in Brasilien eine rechtsradikale Strömung und versucht zunehmend Einfluss auf die Politik zu gewinnen.

Natürlich lassen solche Umfragen noch keine Schlussfolgerungen auf das Ergebnis der Wahlen zu, die planmäßig im Oktober 2018 stattfinden werden. Aber sie markieren eins: die wiedergewonnene Zentralität der Person Lulas im Brasilien der Gegenwart. Für das PT-Lager aber auch wohl für viele andere, die zuletzt mit der PT-Regierung unzufrieden waren, stellt nun Lula die einzige politisch aussichtsreiche Alternative zu einer reaktionären Wende da. Große Teile der Linken unterstützen die Kandidatur Lula 2018 – auch aus völligen Mangel an Alternativen und dem Eindruck, welchen Schaden eine reaktionäre Regierung wie die von Temer anrichten kann. Gleichzeitig wird die Linke damit aber auch in großem Maße abhängig von der Person Lulas und dessen politischen Perspektiven.

Für das rechte Lager hingegen wird die politische Vernichtung Lulas im Mittelpunkt stehen. Eine Karte ist dabei ausgespielt: die Korruption. Denn in einer weiteren Umfrage von Datafolha sehen die Befragten in Lula den korruptesten aller Präsidenten seit 1989, dem Jahr der ersten Wahlen nach dem Ende der Militärdiktatur. Die resignierende Ansicht, dass Korruption ein unvermeidlicher Teil des politischen Systems sei, kommt offenbar vor allem Lula zugute.

Für die Rechte bleibt die juristisch Verfolgung Lulas, um zu verhindern, dass dieser überhaupt kandidieren kann. Damit haben sich aber die juristische und politische Dimension zu einem unentwirrbaren Knäuel verwickelt. Lula nun auf juristischen Wege kalt zustellen hieße, zu verhindern, dass der zurzeit populärste Politiker Brasiliens bei den Wahlen antreten darf. Dies würde eine heftige Reaktion der sozialen Bewegungen und großer Teile der Bevölkerung provozieren. Der Generalstreik war ein Auftakt für weitere unruhige Zeiten in Brasilien.


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