WO IST SANTIAGO MALDONADO?

In der argentinischen Verfassung sind indigene Rechte verankert. Anspruch und Wirklichkeit klaffen jedoch weit auseinander: Das Recht der indigenen Bevölkerungen auf Schutz ihrer Territorien wird häufig mit Füßen getreten. Im Süden des Landes schwelt seit Jahren ein Konflikt mit den Mapuche, zu denen sich etwa 100.000 Menschen in Argentinien zugehörig fühlen. Bereits seit ihrer Vertreibung und Dezimierung in der Kolonialzeit fordern die Mapuche ihre Gebiete zurück. Doch erst als in den neunziger Jahren große Ländereien in Patagonien an private Investor*innen verkauft wurden und mit Öl- und Gasbohrungen unter den Regierungen der Kirchners (2003-2015) fortgeschritten wurde, brachen die Konflikte zwischen Mapuche und argentinischem Staat offen aus. Die derzeitige Regierung von Mauricio Macri versucht, die Mapuche als Terrorist*innen und Gefahr für die innere Sicherheit darzustellen. Sie hat sogar nachweislich den argentinischen Geheimdienst mit der Aufgabe betraut, Delikte zu erfinden, die die Indigenen hinter Gitter bringen.

Auch das lof (“Gemeinde” auf Mapudungún) Cushamen gehört zum Konfliktgebiet, da es auf dem 900.000 Hektar umfassenden Grundstück des italienischen Kleiderherstellers und Multimillionärs Luciano Benetton liegt. Nach dem Staat und den Provinzen besitzt Benetton am meisten Land in Argentinien. Mehrmals versuchte die Polizei bereits gewaltsam das lof zu räumen. Ihr lonko (“Anführer”), Facundo Jones Huala, sitzt seit Ende Juni im Gefängnis.

Am 1. August griff die Polizei bei einer Straßenblockade für die Freilassung Hualas erneut hart durch. Laut der Aussage von Zeug*innen ging die Polizei mit Schusswaffen gegen die Mapuche vor und brannte deren Zelte nieder. Auch Santiago Maldonado war vor Ort. Maldonado ist selbst kein Mapuche, solidarisiert sich aber mit ihren Forderungen und war zu diesem Zweck in die Gemeinde gereist. Nach dem Angriff der Polizei floh er mit den anderen Aktivist*innen in Richtung eines Flusses. Da er jedoch nicht schwimmen kann, kehrte er auf halbem Weg wieder um. Maldonado versteckte sich in einem Busch, wo die Polizei ihn aufspürte. Die Polizeibeamt*innen verprügelten den jungen Mann, zerrten ihn in ihr Polizeiauto und verschwanden. Laut der Mapuche leitete Pablo Noceti, die rechte Hand von Innenministerin Patricia Bullrich und Vorsitzender des Kabinetts des Ministeriums für innere Sicherheit, die Operation. Dies konnte später durch Fotos und Filmaufnahmen belegt werden.

Nach dem Verschwinden von Santiago Maldonado machten zahlreiche Gerüchte die Runde. Zuerst äußerte die Regierung Zweifel daran, dass er zum Tatzeitpunkt überhaupt am Ort des Geschehens war. Bald fanden Ermittler*innen jedoch in dem Gebüsch, wo sich der Aktivist laut Zeugenaussagen versteckt gehalten hatte, seine Mütze und Blutspuren. Die Auswertung der DNA ist noch nicht abgeschlossen. Regierungsnahe Medien verbreiteten die Aussagen von Personen, die Maldonado gesehen oder sogar im Auto mitgenommen haben wollten. Tatsächlich handelte es sich jedoch nicht um den Verschwundenen. Innenministerin Bullrich ließ verlauten, dass die Familie Maldonado nicht ausreichend mit der Justiz kooperiere, weshalb die Ermittlungen nur schleppend vorankämen.

Die Regierung kommt zunehmend in Erklärungsnöte.

Die Regierung kommt zunehmend in Erklärungsnöte. Dafür sorgt auch eine Liste der unterlassenen oder verspätet eingeleiteten Maßnahmen durch die Verantwortlichen. Denn inzwischen gibt es Informationen darüber, dass auf dem Grundstück Benettons, nahe Cushamen, ein Posten der Militärpolizei stationiert ist. Von dort aus koordiniert die Polizei Aktionen gegen die Mapuche. Doch trotz der Aussagen einiger Zeug*innen, Maldonado sei dorthin verschleppt worden, ordnete der verantwortliche Richter bislang keine Durchsuchung an. Ebenso wenig wurden die Telefonate von Pablo Noceti mit der Polizei ausgewertet. Die Begründung: Es läge kein Verdacht gegen Noceti vor. Menschenrechtsorganisationen sind überzeugt, dass die Ministerin selbst ein Vorankommen bei der Suche nach Maldonado verhindere. Sie fordern ebenso wie viele andere Argentinier*innen ihren Rücktritt.

Währenddessen haben die Familie Maldonado und eine Reihe sozialer und politischer Organisationen eine Öffentlichkeitskampagne gestartet. “Lebend haben sie ihn mitgenommen, lebend wollen wir ihn zurück – JETZT” lautet das Motto, das jede Aktion begleitet. Das Gesicht des 28-Jährigen und die Frage nach seinem Verbleib haben inzwischen die Grenzen des Landes überschritten. Fotos machen die Runde, auf denen Persönlichkeiten wie Noam Chomsky oder die Fraktion von Podemos im spanischen Parlament Poster mit Maldonados Konterfei hochhalten. Hinzu kommen Solidaritätsaktionen vor der argentinischen Botschaft in unterschiedlichen Ländern – so auch in Berlin am 1. September. Auch Lieder, Gottesdienste und Nachtwachen sind Teil der Kampagne. “Es ist entscheidend, soviel Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen, um Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. Nur so können wir hoffen, dass die Untersuchungen weitergehen, Santiago lebendig auftaucht und niemand ungestraft davonkommt, so wie es leider schon in anderen Fällen geschehen ist”, sagt Roberto Cipriano, Anwalt und Vorsitzender des Exekutivstabs der Gedächtniskommission der Provinz von Buenos Aires, der als Nebenkläger an dem Fall beteiligt ist.

Am 1. September, einen Monat nach dem Verschwinden Maldonados, fand in Buenos Aires eine Demonstration statt. Mehr als 250.000 Menschen versammelten sich auf der zentralen Plaza de Mayo. Am Ende der Demonstration lieferten sich Polizei und Demonstrant*innen Auseinandersetzungen. Mehr als 30 Personen wurden festgenommen. Zahlreiche Hinweise darauf, dass Polizeibeamte den Protestzug infiltriert und Gewalt provoziert hätten, sorgten für Empörung in der Bevölkerung. Die Festgenommenen mussten jedoch nach 48 Stunden freigelassen werden, da es keine Beweise gab und soziale Bewegungen starken Druck ausübten. Ein kleiner Erfolg für die Protestbewegung. Doch von Maldonado fehlt nach wie vor jede Spur…

“WIR PROTESTIEREN WEITER”

„Ich bin 24 Jahre alt – 19 davon habe ich unter der Regierung von Hugo Chávez beziehungsweise seinem Nachfolger Nicolás Maduro gelebt. Chávez und Maduro, das ist eigentlich das Gleiche – nur mit anderem Gesicht. Ich kann mich an das ‘Venezuela von früher’ kaum erinnern, an die Boomjahre des Erdöls, als sie unser Land ‘Saudi-Venezuela’ nannten wegen des ökonomischen Reichtums und der vielen Migranten. Seit einigen Jahren durchleben wir nun schon eine schwere wirtschaftliche und politische Krise. Der Migrationsprozess hat sich umgekehrt: Unser Hauptexportprodukt ist nicht mehr Erdöl, sondern Menschen. Mehr als eine Million Venezolaner hat das Land in den vergangenen Jahren verlassen. Die meisten von ihnen sind gut ausgebildet.

Was mich motiviert, aktiv zu sein und friedlich in jeder mir möglichen Art zu protestieren? Die Angst, etwas zu verpassen. Der Wille, das Venezuela meiner Eltern und Großeltern kennen zu lernen, in dem man mit viel Arbeit auch viel erreichen konnte. Und die Traurigkeit darüber, dass wir als junge Bürger wissen, dass andere Menschen unseres Alters fast überall in der Welt nicht die gleichen existenziellen Probleme haben wie wir: dass sie wieder einen deiner Freunde ermordet haben, dass wieder ein Mitbürger das Land verlassen hat, dass wieder jemand entführt wurde. Und dass dein miserables Gehalt nicht einmal ausreicht, Brot, Käse oder Milch zu kaufen, weil es an fast allem mangelt.

Es ist traurig, beobachten zu müssen, wie unser Land verwelkt.

Es ist traurig, beobachten zu müssen, wie unser Land verwelkt, weil eine Gruppe von Personen entschieden hat, der Bevölkerung das Geld zu stehlen und die Menschen durch Repression einzuschüchtern. Es ist das Land meiner Eltern und Großeltern, meiner ganzen Familie, und ich habe das Gefühl, es wieder aufbauen zu müssen.
Die Studierendenbewegung muss man sich als eine Art abstrakte Masse vorstellen, die in regelmäßigen Abständen viel Bedeutung erhält und bekannte Gesichter hervorbringt. 2007 war die erste massive Mobilisierung und viele von denen, die damals aktiv waren, sind heute Abgeordnete oder Bürgermeister. Die derzeitige Situation im Land hat auch bei der aktuellen Generation zu einer starken Mobilisierung geführt. Studierende aller Universitäten, der privaten und öffentlichen, treffen relevante Entscheidungen in ihren Regionen. Sie rufen zu Demonstrationen auf, an denen ein großer Teil der Zivilbevölkerung teilnimmt, und auch Politiker und Gewerkschafter. An den aktuellen Protesten beteiligen sich mehr Universitäten als in den Jahren zuvor. Auch meine Universität, die Universidad Metropolitana (Unimet), spielt eine sehr wichtige Rolle, vor allem bei Aktionen in Caracas. Die Bewegung organisiert sich durch die sogenannten ‘Inter-U’ (interuniversidades). Das sind wöchentliche Sitzungen, an denen alle studentischen Repräsentanten teilnehmen und Entscheidungen treffen. Durch die derzeitige Krise finden die Sitzungen mittlerweile fast täglich statt, oft nehmen über 100 Studierende teil.

Die Demonstrationen heute gehen auf die Proteste im Jahr 2014 zurück. Die Repression der Regierung hat seitdem stark zugenommen. Traurige Bilanz dieser Entwicklung: Es gibt immer mehr Verletzte. Oft sind bei einer einzigen Demonstration mehrere hundert Verletzte zu beklagen – und das sind nur diejenigen, die wir zählen können, weil sie von den Sanitätsteams der verschiedenen Universitäten behandelt werden. Die Dunkelziffer derjenigen, die durch Tränengas und Bleigeschosse verletzt werden, ist noch viel höher. Eine Tränengasbombe tötete einen Student meiner Universität Ende April. Das hat selbst die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz bestätigt, obwohl Regierungsmitglieder wie Padrino López und Diosdado Cabello öffentlich das Gegenteil behaupteten. In meiner Heimatstadt Maracaibo wurde ein Medizinstudent, der als Sanitäter einem Verletzten helfen wollte, bei einer Demonstration von einem Panzer überfahren.

Die Studierendenbewegung wird nicht aufhören zu protestieren

Die Studierendenbewegung wird nicht aufhören zu protestieren – bis es einen Regierungswechsel gibt. Wir werden nicht zulassen, dass die Proteste, wie im Jahr 2014, gewaltsam erstickt werden. Am Anfang gingen wir auf die Straße, weil die Regierung die Regionalwahlen abgesagt hat. Jetzt protestieren wir, weil die Krise so gigantisch ist, weil der Mangel und die Inflation uns umbringen – und wenn uns das nicht umbringt, dann tun es die Kriminellen, die heute oft uniformiert auftreten. Nicht selten rauben Polizisten und Mitglieder der Nationalgarde Demonstrierende aus, bevor sie sie niederschlagen. Ich habe gesehen, wie eine Freundin von einer Wache geschlagen wurde und sie ihr das Handy, die Gasmaske, den Helm geraubt haben. Ich habe gesehen, wie eine Wache anfing, mit einem Militärwagen Demonstrierende anzufahren. Die Zahl der Schwerverletzten und Toten nimmt immer mehr zu.

Heute Studentin zu sein, ist extrem kompliziert. Der Unterricht an den privaten Universitäten findet zwar statt und es werden weiterhin Leistungen eingefordert und benotet. Das Land geht aber auch auf die Straße und die Proteste überschneiden sich häufig mit den Kursen. Oft stehen wir vor der Wahl: Uni oder Demo. Ich versuche, auf alle Demonstrationen zu gehen, die irgendwie in meinen Zeitplan passen. Es ist mittlerweile Routine geworden, direkt vom Campus zur Demonstration zu gehen. Gasmaske, Helm, Wasser und Snacks habe ich eigentlich immer dabei. Ab und zu auch Medikamente – für alle Fälle. Meistens trage ich ein T-Shirt meiner Universität, falls mir etwas passiert.

Die Studierendenbewegung ist gut organisiert, die Repräsentanten der verschiedenen Universitäten agieren sehr homogen – obwohl die letzten Monate extrem brutal waren. Unter den Toten sind sehr viele Studierende aus der Bewegung. Es sind Menschen, mit denen wir gemeinsam studiert haben. Eines Tages waren ihre Stühle in den Seminarräumen leer. Die Repression hat sie getötet.

Ich wohne in dem Stadtviertel Santa Fe, einem der Hauptschauplätze des ‘Kriegs des Ostens’. In manchen Nächten heizt sich die Situation so sehr auf, dass man das Tränengas bis in den 15. Stock riechen und die Wohnung nicht mehr verlassen kann. Straßen werden blockiert. Überall brennen Gegenstände. Es ist kompliziert.
Ich bin sicher, dass die Berichte stimmen und auch die Opposition Gewalt ausübt. Allerdings waren alle Demonstrationen, auf denen ich bislang gewesen bin, solange friedlich, bis die Nationalgarde anfing, Tränengas und Gummigeschosse einzusetzen. Zum Teil zielen sie sogar mit Schusswaffen auf uns. Nach allem, was ich bislang erlebt habe, geht die Gewalt eigentlich in fast allen Fällen von staatlicher Seite aus.

Die Demonstrierenden verteidigen sich mit selbstgebastelten Waffen, mit Molotov-Cocktails, Schleudern oder Pflastersteinen. Ich habe ein paar Mal gesehen, dass Demonstrierende versucht haben, Gewalt zu provozieren, in dem sie anfingen Steine zu werfen. Allerdings hielten andere Demonstrierende diese Personen immer zurück.
Ich bin sicher, dass auch Mitglieder der Opposition Gewalt anwenden. Aber die große Mehrheit der Protestbewegung unterstützt die Gewalt nicht. Deswegen ist die Methode, die wir Platón nennen, auch so erfolgreich: Menschen blockieren Straßen und sorgen so für einen Stillstand der Stadt. Konkret sieht das so aus: Man geht raus, setzt sich auf einen Stuhl in die Mitte der Straße, liest ein Buch oder spricht mit anderen Demonstrierenden. Bis zum abgesprochenen Zeitpunkt wird der Platz nicht verlassen. Und so waren bisher alle Aufrufe der Opposition friedlicher Protest. Gerade gab es wieder einen Platón im ganzen Land, den ganzen Tag über von 10 bis 20 Uhr.

Es gibt eine Art informativen Blackout.

Jeden Tag wird es schwieriger zu erfahren, was in unserem Land passiert. Es gibt eine Art informativen Blackout. Journalisten wurden bedroht, ihre Ausrüstung konfisziert oder geraubt. Jeden Tag kommt es zu Protesten in Venezuela. Eine schlechte Nachricht wird am nächsten Tag von einer noch schlechteren übertroffen.
Vor wenigen Tagen war ich auf einer Demonstration, die gewalttätig niedergeschlagen wurde. Wir mussten fliehen. Eine ältere Frau, die in einem Haus in der Nähe wohnte, ließ uns – mehr als 30 Unbekannte – in ihrer Garage ausharren. Wir setzten uns verängstigt auf den Boden und hörten zu, wie draußen die Polizei vorbeizog und Tränengasbomben abfeuerte, obwohl alle Demonstrierenden längst geflohen waren. Wir teilten Wasser, Zigaretten und Süßigkeiten unter uns Unbekannten auf – Menschen mit verschiedenen sozialen Hintergründen und politischen Ausrichtungen, die sich sonst wahrscheinlich nie über den Weg gelaufen wären.

Auch das ist seltsam: Wir fühlen uns schuldig, weil das Leben trotzdem irgendwie weitergeht. Die Menschen heiraten, haben Geburtstag, machen ihren Abschluss. Manchmal nach den Protestmärschen treffen wir uns und feiern die wenigen guten Dinge, die es noch gibt. Die Kontraste sind gigantisch. Manchmal läuft man vor der Nationalgarde davon und rennt dabei an Leuten vorbei, die in Restaurants sitzen, als würde nichts passieren.
Neulich wurden 20 Studierende verschiedener Uni­­versitäten hier in Caracas festgenommen, als sie friedlich protestierten. Wir von Apoyo Unimet versuchen vor allem, Studierenden von der Universität Simón Bolívar zu helfen. Im Gegensatz zu den anderen Universitäten in Caracas hat diese Universität nämlich keine juristische Fakultät und somit auch keine juristische Assistenzstelle. Es macht mich unglaublich traurig zu sehen, wie mit den Studierenden umgegangen wird. Gleichzeitig fühle ich mich betroffen, weil es Studierende sind – so wie ich. Die Wachen sperrten die 20 Studierenden in einen Lastwagen ohne Kennzeichen und schmissen dort Tränengasbomben hinein. Die Studierenden sind fast erstickt. In Fällen wie diesen können wir wenig tun, aber wir müssen es dennoch versuchen.

Ende des Monats findet die Verfassunggebende Versammlung (Asamblea Nacional Constituyente, ANC) statt, die alle Hoffnung auf Demokratie, die noch bleibt, auslöschen wird. Mit der ANC lösen sich alle anderen politischen Mächte quasi auf. Sie ist sogar mächtiger als der Präsident selbst. Aber sollte es wirklich zur ANC kommen, dann hört diese Republik im Grunde auf zu existieren.“

„FRAUENSTIMMEN STEHEN IM VORDERGRUND“

Sie sind gerade auf Europatournee. Welche Nachricht möchten Sie mit Ihrer Musik transportieren, was möchten Sie hier bewirken?
Was mich antreibt, ist die Idee der Vernetzung zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern. Berlin als Stadt der Multikulturalität ist dabei eine meiner Lieblingsstädte. Ich habe das Gefühl, dass ein Großteil der Jugendlichen in Berlin Offenheit für Dinge zeigt, die nicht dem Mainstream entsprechen, vor allem auch in der Musik. Dies wird allein durch die Tatsache sichtbar, dass in Berlin so viele Menschen neben Englisch auch Spanisch lernen. Mit meiner Musik erzähle ich Geschichten darüber, was ich persönlich erlebt habe, aber auch welche gemeinsame Vergangenheit ganz Südamerika verbindet und prägt. Oft ist das, was von „latino“-Musik in Europa ankommt, geprägt von Künstler*innen ohne besonderes Erkennungsmerkmal und von einem bestimmten Rhythmus, trivialen Texten und einem Publikum, das nur tanzen will. Mehr nicht. Ich suche eine andere Verbindung, meine Texte haben eine Aussage. Aus Lateinamerika kommt eine kraftvolle Kunst, die mehr ist als die Trivialität des Tanzes und es gibt viele Gruppen, die mit der gleichen Intention Musik machen, wie ich es tue. Das sollen Menschen in Europa und auf der ganzen Welt wissen und spüren.

Ist es ein politisches Statement, dass Sie nie auf Englisch singen?
Nein nein, ich würde sogar gerne auf Englisch singen und habe auch schon einige Texte auf Englisch geschrieben. Nur bin ich ziemlich perfektionistisch. Wenn ich etwas schreibe oder übersetze, möchte ich, dass es so nah wie möglich an die Aussagen im Spanischen herankommt und das ist ziemlich schwierig mit meinen Texten.

Wenn Sie betonen, „latino“ zu sein, persönlich wie auch politisch, wie ist es dann für Sie, in New York zu leben? Wie gehen Sie damit um, an einem Ort zu leben, von welchem so viel Ungerechtigkeit gegenüber Puerto Rico ausgeht, so viel Rassismus gegenüber Menschen aus Lateinamerika geschürt wird?
Zunächst einmal lebe ich ja nicht nur in New York, sondern auch in Argentinien und vor allem in Puerto Rico. Doch es ist spektakulär, in diesen Zeiten in New York zu sein. Aus Armut und Unsicherheit entstehen soziale Bewegungen, täglich gibt es Demonstrationen und Migrant*innen organisieren sich. Das alles gab es schon vorher, aber jetzt werden diese Bewegungen sichtbarer. New York ist eine multikulturelle Stadt, voll von Menschen aus Puerto Rico, Mexiko, generell „latinxs“ und natürlich auch Menschen aus Europa, Afrika, von überall her. Und alle sind gegen die Republikaner, gegen Trump. Diese Tendenz ist spürbar und wirkt sich besonders auch auf die Kunst aus, nicht nur auf die Musik, ich spreche auch von Theater oder Film. In Spanien zum Beispiel wurde durch die „Bewegung des 15. Mai“ (Protestbewegung in Spanien in den Jahren 2011/2012 gegen die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Missständen aufgrund der Finanzkrise, Anm. d. Red.) die Schaffenskraft der Kunstszene unglaublich angefacht und ich glaube, Ähnliches passiert auch gerade in New York oder in Berlin.

In Lateinamerika beobachten wir gerade eher einen allgemeinen Rechtsruck innerhalb der Regierungen. Besonders kompliziert scheint die Situation in Venezuela. Welche Perspektiven und Chancen sehen Sie momentan für den Subkontinent?
In Bezug auf die rechten Regierungen habe ich das Gefühl, dass es da einen ständigen Wechsel gibt. Eine Zeit lang regieren Linke, dann gewinnen wieder Rechte, dann werden die Menschen müde von der Rechten und wählen wieder die Linke. Oder die Rechte benutzt Gewalt und die Linke (in Anführungszeichen) praktiziert ebenfalls Schwachsinn. Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass gerade ein größeres politisches Verständnis entsteht, dass nicht nur Politiker*innen unsere politischen Ideale prägen, sondern viele junge linke Menschen kritisch sind gegenüber ihren eigenen linken Regierungen. Vielleicht gibt es ein ähnliches Phänomen sogar auch innerhalb der Rechten. Früher habe ich diese Art von Selbstreflexion nicht so stark wahrgenommen und heute kann es uns vielleicht zu interessanten politischen Alternativen führen.

Um auf Ihr neues Album zu sprechen zu kommen: In DNA eröffnen Sie globale Perspektiven, und behandeln Themen, die Menschen auf der ganzen Welt, nicht nur explizit in Südamerika, berühren. Zum Beispiel in dem Lied „Guerra“ („Krieg“), das Sie in Armenien aufgenommen haben. Was haben Sie von den Realitäten und Kämpfen von Menschen in anderen Regionen gelernt, was nehmen Sie daraus mit nach Puerto Rico?
Mehr als Dinge nach Puerto Rico zurückzutragen, ging es mir darum, Einblicke in die Situation auf der Insel in die Welt hinauszutragen, damit Menschen anderswo verstehen, was los ist, sich solidarisieren und uns auf die eine oder andere Art auch helfen. Zum Beispiel spreche ich immer, vor jedem Konzert, über Oscar López, einen puertoricanischen Aktivisten der FALN (Nationale Befreiungsarmee), der 35 Jahre in US-Haft verbrachte und im Mai 2017 freigelassen wurde. Es ist wichtig, dass wir selbst, die Puertoriqueñxs, als auch Menschen überall auf der Welt wissen, was in Puerto Rico passiert.

Gibt es eine bestimmte Geschichte von der Reise, die Sie besonders geprägt hat oder ein Zusammentreffen mit einer bestimmten Person, das Sie an dieser Stelle teilen möchten?
Alle Begegnungen dieser Reise waren unglaublich intensiv. Zum Beispiel entstand das Lied „Guerra“ in Armenien und ich traf einen Jungen, der mit seiner Familie vor dem Krieg flüchten musste. Sein Vater blieb jedoch zurück, um zu kämpfen. Diese Geschichte, verbunden mit dem Gefühl, diesem Jungen gegenüberzustehen, war hart für mich und natürlich halfen mir diese Begegnungen, die Songtexte zu schreiben. In Tuwa, Sibirien, lernte ich Frauen kennen, die im Oberton singen, das heißt gleichzeitig zwei Töne, einen hohen und einen tiefen, produzieren. Diese Momente zu erleben, unter diesen Frauen zu sein, mitten im Nichts und gleichzeitig inmitten von allem, das war großartig. Auch meine Zeit in Afrika, in Burkina Faso war einzigartig. Jede Person, jede Musik, die ich kennenlernte, war speziell. Deshalb ist dieses Album so besonders, jeder Ton real, aufgenommen an unterschiedlichen Orten unter verschiedenen sozialen Bedingungen. Das wird in jedem Lied spürbar. Alle Menschen, die die Musik hören, werden all das entdecken und verstehen können.

In der Vergangenheit wurden Sie häufig dafür kritisiert, in Texten und Videos sexistische Stereotype zu reproduzieren. Davon haben Sie sich bereits mehrfach öffentlich distanziert und ich möchte keine alten Diskurse reproduzieren, nur um Sie erneut zu degradieren. Doch fällt mir auf, dass Sie sich auf Ihrer Website und in Songtexten mit verschiedenen sozialen Bewegungen und Studierenden-Netzwerken solidarisieren, nie aber explizit mit feministischen Gruppen. Zum Beispiel gab es mit der feministischen Großdemonstration in Rosario im vergangenen Jahr, oder 2015 mit der Entstehung der Bewegung „Ni una menos“ viele Anschlussmöglichkeiten.
Im neuen Album gab es auf ganz natürliche Art eine Verbindung zu diesem Thema. Im Album wie auch im Dokumentarfilm spielen Frauen eine zentrale Rolle. Frauenstimmen stehen im Vordergrund, in allen Liedern. Es sind Frauen, die den Chor singen, in „Guerra“, in „Apocalíptico“ – beides heftige Lieder und Ausdruck davon, wie Frauen kämpfen, zum Beispiel in Sibirien inmitten des Krieges friedlichen Widerstand zeigen mit ihrem Gesang. Ich weiß, dass es in Lateinamerika nach wie vor einen super starken Machismus gibt, aber ich habe immer versucht, mich mit feministischen Gruppen zu vernetzen, auch mit der LGBTQ*-Bewegung.

Eine letzte Frage in Bezug auf Ihre politische Vernetzung in Deutschland. Ihr Konzert findet am 30. Juni statt, kurz darauf, am 8. Juli, versammeln sich in Hamburg die 20 mächtigsten Staatsoberhäupter, unter anderem auch Donald Trump als Repräsentant für Ihr Land, zum G20-Gipfel. Es gibt viel Mobilisierung gegen dieses Event, haben Sie davon etwas mitbekommen?
Leider nicht, aber ich würde mich gerne vernetzen. Ich kenne viele interessante Menschen in Deutschland, vor allem in Berlin, aber mehr in Verbindung mit Kunst oder sozialen Projekten. Jedoch weiß ich weniger, was politisch passiert. Es gibt so viele Menschen in Berlin, die sich für die Geschehnisse in Südamerika interessieren und damit es alle wissen, möchte ich zum Schluss noch sagen, dass auf dem Konzert im Juni auch die Calle 13 Lieder gespielt werden, nicht nur die Songs des neuen Albums als Residente. Ich habe alle Lieder für Calle 13 selbst geschrieben und sehe sie als Teil des Prozesses, der mich zu den jetzigen Projekten brachte. Calle 13 wird erstmal nicht mehr auftreten und ich denke das wird auch für eine lange Zeit so bleiben. Die einzige Möglichkeit, diese Musik weiterhin zu hören, ist nun bei Residente-Konzerten.

„WILLKOMMEN ZU HAUSE, BRÜDER UND SCHWESTERN!“

Elva Cutz erinnert sich noch gut an die kühle, vorletzte Nacht des Jahres 1996. „Meine Mutter und ich gingen zur Plaza de la Constitución im Zentrum von Guatemala-Stadt und sahen da Teile der Friedensverkündung. Aber ich habe das damals gar nicht verstanden. Ich sah nur Menschen, die weinten, Menschen, die sich vor Glück umarmten, und die vielen Parolen des Friedens dort auf dem riesigen Platz.“ Zwanzig Jahre sind vergangen seit jener Nacht. Auf der Plaza de la Constitución, dem Platz der Verfassung, dem wichtigsten Platz Guatemalas, hatten sich tausende Menschen versammelt. Sie jubeln, als der damalige Präsident Álvaro Arzú verkündet, dass über 35 Jahre Krieg zu Ende seien. Elva war damals noch zu klein, um zu begreifen, was dort passierte und welche Bedeutung dieser Tag für Ihr weiteres Leben haben sollte. Die Erwachsenen hatten es geschafft, für sie, wie für viele Kinder Guatemalas, eine Welt fern der schlimmen Erlebnisse zu schaffen, die sie selbst geprägt hatten. „Ich habe als Kind viele Geschichten gelesen“, erzählt die indigene Aktivistin Andrea Ixchiú. „Eine dieser Geschichten hieß Blutbad im Wald, von Ricardo Falla, einem jesuitischen Priester. Ich wollte wissen, warum die Geschichten der Erwachsenen so traurig und schrecklich sind. Ich erinnere mich, dass mein Vater sich zu mir gesetzt hat und sagte: Das sind keine Märchen, das ist wirklich passiert in Guatemala. Dass es einen Krieg gab, in dem schlimme Sachen passiert seien, aber dass das Land dann begonnen habe, Frieden zu schließen.“

Die, die damals schon älter waren, erinnern sich sehr wohl. Rafael Herrarte, Jahrgang 1959, stammt aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater war Straßenarbeiter, seine Mutter besaß ein kleines Geschäft. Als Jugendlicher war Rafael Mitglied einer Kirchengruppe, später dann Gewerkschafter. „Meine Generation ist gezeichnet durch die Morde an Intellektuellen in den 1970er Jahren. 1980 dann stürmte die Polizei eine nationale Arbeiterversammlung und verschleppte 39 Gewerkschafter – Menschen, für die ich größten Respekt empfinde und die ich nie wieder gesehen habe. Das hat in mir den endgültigen Bruch mit dem ausgelöst.“

Community-Radios im Hochland: Radioaktivist Tino in Aktion (Fotos: Voces Nuestras)

1944 hatten die Guatemalteken den letzten einer langen Reihe von Diktatoren gestürzt. Bis dahin war Guatemala ein Feudalstaat gewesen, in dem Bäuerinnen und Bauern zur Arbeit auf den Kaffee- und Bananenplantagen gezwungen wurden und Arbeiter*innen kaum Rechte hatten. Die folgenden zehn Jahre der beginnenden Demokratie gelten bis heute als der „guatemaltekische Frühling“, eine Zeit des Aufbruchs, der Modernisierung. Nicht nur die Frauen erhielten das Wahlrecht, auch Analphabet*innen und damit ein Großteil des ländlichen und indigenen Guatemalas. Die demokratischen Regierungen machten sich an die Arbeit: Über den Ausbau der Universitäten, den Aufbau eines Gesundheitssystems, durch Bildungsreformen und Infrastrukturprojekte sollte Guatemala in das 20. Jahrhundert katapultiert werden.

Die Pläne für eine Landreform berührten jedoch direkt die Interessen der Großgrundbesitzer und des US-amerikanischen Bananenkonzerns United Fruit, bekannt vor allem durch seine Marke Chiquita. United Fruit kontrollierte damals riesige Ländereien in Guatemala und hatte beste Verbindungen zur US-Regierung des damaligen Präsidenten Dwight D. Eisenhower und zur CIA. Der Putsch gegen den gewählten Präsidenten Jacobo Árbenz kam schließlich im Juni 1954.

Die Militärs ergriffen mit US-Unterstützung für Jahrzehnte die Macht und gingen gegen Widerstand zunehmend brutal vor. In den 1970er Jahren vernichteten politische Morde einen Großteil der intellektuellen Klasse von Guatemalas, in den 1980er Jahren wurde das Land Schauplatz des schlimmsten Völkermordes der westlichen Hemisphäre seit dem Zweiten Weltkrieg – mit über Hunderttausend Toten, Verschwundenen, Vertriebenen.

Gerade auf die indigene Beteiligung am Aufstand reagierte die Militärdiktatur mit brutalster Gewalt. Ilom, Chel, Chisis, Acul, Río Negro, Sacuchum Dolores, San José und San Antonio Sinaché: es sind heute nicht nur Namen von indigenen Dörfern, sie stehen auch für die Massaker, die Guatemalas Armee und Todesschwadronen an der indigenen Bevölkerung begangen haben. Vor allem ein Name steht für die Gräueltaten der jahrzehntelangen Militärdiktatur: Efraín Ríos Montt. Als Junta-Chef von 1982 bis 1983 soll er mindestens elf Massaker an indigenen Dorfgemeinschaften befohlen haben.

Die guatemaltekische Politik hat jedoch bis heute kaum ein Interesse, die Konfliktursachen anzugehen, geschweige denn Verantwortung für die vom Staat begangenen Verbrechen zu übernehmen. Doch ein Staat, der seine Kriegsverantwortung nicht anerkennt, kann kaum den Frieden gestalten. Rafael Herrarte, dessen Jugend durch die Morde der Militärs geprägt war, ist heute Chef des Forensischen Institutes CAFCA. CAFCA hat nach dem Friedensschluss vor 20 Jahren, auch mit europäischer Unterstützung, Dutzende Massengräber aufgespürt und untersucht. Die meisten Massaker hatte die Armee angerichtet, in den Gräbern liegen die Skelette vieler Kinder. Viele Frauen waren vor ihrer Ermordung vergewaltigt worden. Wunden, die nur schwer verheilen.

In den 1990er Jahren änderte sich die Lage. Guatemala war aufgrund der Schreckensmeldungen international zunehmend isoliert. Dies ging der dominierenden Unternehmer- und Großgrundbesitzerkaste, den ehemals großen Unterstützern der Militärdiktatur, zunehmend ans Geld. Um wieder Geschäfte machen zu dürfen, musste der Staat auf internationalem Parkett wieder eine gewisse Legitimität zurückgegeben werden. Dazu musste man den Frieden schließen.

Während die einen zurück zu internationalen Märkten wollten, wollten Hunderttausende andere zurück auf ihr Land, zurück nach Hause, zurück zu ihren Familien. Frieden war in den 1990er Jahren die Antwort für alle. 1991 endlich begann Guatemalas Regierung unter Aufsicht der Vereinten Nationen in Mexiko und Skandinavien mit der URNG-Guerrilla zu verhandeln. Im Dezember 1996 wurden schließlich zwölf Friedensabkommen unterzeichnet. Auch César Saloj kann sich noch gut an jenen Tag erinnern. „Wir wohnten damals an der Interamericana, auf der tausende Flüchtlinge in unzähligen Bussen aus dem mexikanischen Exil zurückkehrten. Wir haben Transparente gemalt, wo drauf stand: ‚Willkommen zu Hause, Brüder und Schwestern!’. Wir haben Mandelmilch und Sandwichs verteilt. Mein Vater war sehr bewegt, er ging stundenlang von Bus zu Bus und hieß alle Willkommen. Aber wir Kleinen wussten nicht mal, warum all diese Menschen weggegangen waren.“

„Das sind keine Märchen, das ist wirklich passiert in Guatemala.“


Die zwölf Friedensabkommen handeln von Menschenrechten, von demokratischen Verfassungsreformen, von der Rückführung der Flüchtlinge und der Wiedereingliederung der Guerillakämpfer in die Gesellschaft. Sie versprechen Landreformen, ländliche Entwicklung und indigene Rechte, um die Ursachen des Konfliktes anzugehen. Eine Wahrheitskommission sollte die im Bürgerkrieg von allen Seiten begangenen Verbrechen aufklären. Unter dem Vorsitz des deutschen Völkerrechtlers Christian Tomuschat kam die Kommission 1999 zu dem Ergebnis, dass 93 Prozent der Gräueltaten von der Armee begangen worden und 83 Prozent der Opfer Indigene waren.

Alberto Ramirez, genannt Tino, stammt aus einer Maya-Familie. Als Tinos Vater Anfang der 1980er Jahre von der Armee verschleppt und ermordet wurde, flohen Mutter und Tino zu der Guerilla in die Berge. Aus dem heranwachsenden Tino wurde ein Guerillero – und kämpfte gegen Rassismus und ungleiche Besitzverhältnisse. Aber Tinos Waffen waren weder Gewehr noch Dynamit, sondern ein Mikrofon und ein Fahrrad. Anfang der 1980er war der Guerilla klar geworden, dass sie ein eigenes Medium brauchte – um aufzuklären, anzuklagen, zu mobilisieren. „Mich hat man über die Grenze nach Mexiko geschickt“, erzählt Tino. „Von dort aus habe ich produziert und die Tonkassetten mit dem Fahrrad nach Guatemala geschmuggelt, die wir dann vom Vulkan gesendet haben“. Neun Jahre lang sendete La Voz Popular von den Hängen des Vulkans Tajumulco. Für Tino war das Guerilla-Radio ein Sprachrohr der Stimmlosen, das von den Mächtigen als Bedrohung empfunden wurde. Mehrere Militäroffensiven am Vulkan waren die Folge. Doch der Friedensschluss 1996 bedeutete das Ende von La Voz Popular. Heute lebt der mittlerweile 50-jährige Tino in der Nähe von Quetzaltenango, der zweitgrößten Stadt Guatemalas. Radio macht er weiterhin. Nach dem Friedensschluss gründete Tino zusammen mit anderen ehemaligen Guerillafunker*innen die NGO Mujb’ab’l Yol. Hier produzieren Jugendliche kulturelle, bildungsorientierte und politische Programme. Dem Senderverbund Mujb’ab’l Yol gehören mittlerweile 26 Community-Radios im Hochland an.

„Es kann keine Demokratie ohne freie Meinungsäußerung geben und ohne freie Medien keine freie Meinungsäußerung“, sagt Tino und fügt hinzu: „Aber Sprachrohre der Stimmlosen, die sind auch in sogenannten Demokratien für die Mächtigen eine Bedrohung.“ In Guatemala gebe es eine herrschende Klasse, die nicht wolle, dass Indígenas ihre eigene Entwicklung gestalten. Community-Radios würden aber einen Beitrag zur lokalen Entwicklung, zur Kultur, zur Bildung, auch zur Mobilisierung der Menschen leisten. Vielleicht auch deshalb haben Guatemalas Regierungen nach Friedensschluss die Legalisierung von indigenen Radios verhindert und sie stattdessen kriminalisiert.

„Gestern, heute und immer“: Wandbild im Senderverbund Mujb abl yol

Die Provinz Zacapa liegt zwar im trockenen, heißen Osten des Landes, aber durch zwei große Flüsse ist Zacapa gleichzeitig wasserreich. In Flussnähe werden Bananen, Ananas, sogar Weintrauben angebaut, dazu Tomaten, Paprika und Maniok, die Viehwirtschaft hat große Bedeutung. Die Flüsse speisen sich aus den Bergen in der Umgebung von Zacapa. In  diesen Bergen arbeitet Pfarrer José Pilar Álvarez Cabrera. Die Gemeinde des 54-jährigen zählt 350 Einwohner*innen, fast alle sind Maya Chort’i, Indígenas aus den Bergdörfern.

Die Bergwälder sind bedroht, durch den Bevölkerungszuwachs, vor allem aber durch die Großgrundbesitzer, die hier seit Jahrzehnten abholzen. Heute sind nur noch 20 Prozent intakt. Das Wasser ist spürbar weniger geworden. Es waren die Chort’i-Gemeinden, die sich als erste gegen die Abholzung organisiert und dann mit der katholischen und der lutherischen Kirche eine „Ökumenische und soziale Koordination zur Verteidigung des Lebens” gegründet haben.

Die Bergwälder sollen endlich unter wirksamen Schutz gestellt werden – zum Nutzen aller. Doch was so einleuchtend erscheint, hat eine Welle von Gewalt ausgelöst, gegen die indigenen Gemeinden, in Form von Morddrohungen auch gegen Pfarrer José Pilar selbst. Profite aus illegalem Holzeinschlag scheinen wichtiger als Wasser für alle. Frieden in Guatemala sehe anders aus, meint José Pilar: „Die Friedensabkommen sollten ja die Ursachen des Konfliktes beseitigen – Diskriminierung, den Rassismus, die äußerst ungleiche Besitzverteilung. Aber das hat man schnell beiseite gelegt und die Regierung hat stattdessen einen neoliberalen Kurs eingeschlagen.“ Heute gebe es mehr gewaltsame Todesfälle als während des Krieges, fügt er hinzu.

„Alle haben ganz bewusst Gewalt gegen Frauen als Machtmittel eingesetzt.“


Die Berglandschaft im Osten Guatemalas ist auch die Region, aus der Lorena Cabnal stammt. Sie ist Xinca-Indígena und Feministin. Schon in vorkolumbianischer Zeit habe sich der Machismo der Vorfahren gegen die Frau gerichtet, urteilt sie. Dann kamen Kolonialisierung und Kirche, später Diktaturen und die Aufstandsbekämpfungspolitik während des Bürgerkriegs. Aus Lorenas Sicht „haben sie alle ganz bewusst Gewalt gegen Frauen als Machtmittel eingesetzt. Der Neoliberalismus nach Kriegsende hat diese Situation sogar noch verschärft.“

Heute zählt Guatemala zu den Ländern mit den meisten Fallen von Femiziden auf der Welt: Fast 1.000 Frauen sind allein im letzten Jahr ermordet worden. Auch Lorena hat mehrfach Todesdrohungen erhalten. Die Friedensverträge haben den Frauen in Guatemala also nicht unbedingt etwas gebracht. Oder, vielleicht doch. Lorena verweist auf die heranwachsende, junge Generation, eine Generation, die wortwörtlich die Schnauze voll habe: „Es gibt neue Formen des Protests und neue künstlerischen Ausdrucksformen, Gesichter eines vielfältigen Widerstandes – und zwar sowohl in den Städten wie auf dem Land, in mestizischen wie indigenen Gemeinschaften. Diese neue Generation hat das Potenzial, in Guatemala tatsächlich etwas zu bewegen.“ Und auch Rafael Herrarte, der Chef des Forensischen Institutes CAFCA, sieht deutlich positive Entwicklungen: Die Wiederherstellung der Meinungsfreiheit, dass es heute viel mehr Raum gebe, sich zu organisieren, und etwas zu bewegen. Er verweist auf die Justiz, die in den letzten Jahren einige Militärangehörige zur Verantwortung gezogen hat.

Aber es ist größtenteils der Zivilgesellschaft zu verdanken, wenn sich in den 20 Jahren nach Friedensschluss etwas bewegt hat. Dazu gehören auch die massiven Proteste gegen die Korruption, die im letzten Jahr den Präsidenten Otto Pérez Molina und seine Vizepräsidentin zuerst aus ihrem Amtssitz und schließlich ins Gefängnis beförderten. Aber wesentlich sozialer und gerechter, weniger rassistisch und sexistisch ist Guatemala bis heute nicht. Sechs von zehn Menschen leben in Armut, vier von zehn Kindern sind unterernährt. Menschen wandern in Scharen in die USA aus, zunächst wegen Armut und Perspektivlosigkeit, mittlerweile aufgrund der Gewalt. Heute sterben in Guatemala mehr Menschen eines gewaltsamen Todes als zu Zeiten des Bürgerkrieges. Vielleicht wäre alles anders gekommen, so denken viele Guatemaltek*innen, hätten die USA nicht den guatemaltekischen Frühling weggeputscht, damals, vor über 70 Jahren.

„WIR GEBEN UNSER LAND NICHT AUF“

Unser Kleinbus schaukelt durch die Schlaglöcher einer Schotterpiste. Ab und zu bricht ein kurzer Regenschauer über uns herein. Je weiter wir uns von der Hauptstadt Tegucigalpa nach Norden Richtung Atlantikküste begeben, desto flacher wird es, umso tropischer werden die Temperaturen. Nach neun Stunden Fahrt sind wir froh, die erste Station unserer dreiwöchigen Reise zu erreichen: Trujillo, die ehemalige Hauptstadt zu frühkolonialen Zeiten. Wir, das sind sechs Menschen aus Honduras, Spanien und Deutschland, die sich in der Solidaritätsbewegung HondurasDelegation engagieren. Wir haben uns für diese Reise zusammengetan, um uns ein Bild von der aktuellen Menschenrechtslage in Honduras zu machen und in Deutschland darüber zu berichten. Seit dem Putsch 2009 ist es bereits die fünfte HondurasDelegation. Aus den Reisen entstanden zahlreiche Berichte, Filme und eine Fülle von Kontakten. Jede Delegation hatte andere Schwerpunkte, wir interessieren uns besonders für den Kampf der indigenen Bevölkerung um ihre Landrechte.

Fotos: Rita Trautmann

In Trujillo erwarten uns blauer Himmel und strahlender Sonnenschein. Das Meer liegt ruhig in der Bucht. Das Städtchen ist auf einer kleinen Anhöhe gelegen und neben einem Denkmal für Christoph Kolumbus, der hier 1502 erstmals den amerikanischen Kontinent betrat, haben wir einen guten Blick über die Bucht. Wir treffen Malvin Morales, Aktivist bei OFRANEH (Organización Fraternal Negra Hondureña), der Bewegung der afro-indigenen Garifuna. Malvin begrüßt uns herzlich und berichtet sofort von den Landkonflikten in der Bucht: „Wir haben als Garifuna seit 1901 kollektive Landtitel, die der damalige Präsident Manuel Bonilla ausstellte. Doch nach und nach hat man uns dieses Landes beraubt.“ Er zeigt auf die gegenüberliegende Landzunge: „Dort befand sich mein Dorf Puerto Castilla. Wir mussten der staatlichen Hafengesellschaft weichen und haben dabei einen guten Teil unseres Landes verloren. Nun wohnen wir südlich vom Hafen und sind wieder von einer Umsiedlung bedroht.“ Wir spähen gegen das Sonnenlicht herüber und können Umrisse der riesigen Container im Hafen erkennen. Von dort werden Bananen von den Plantagen in die USA verschifft.

Die Garifuna sind Nachfahren der karibischen Arawak-Indigenen und afrikanischer Versklavter, die Ende des 18. Jahrhunderts von englischen Kolonisator*innen nach Honduras deportiert wurden. Von dort aus besiedelten sie die Küste Zentralamerikas zwischen Belize und Nicaragua. Die meisten leben in 46 Gemeinden der honduranischen Karibikküste. Seit mehreren Jahren plant die honduranische Regierung in der Bucht von Trujillo eine sogenannte ZEDE (Zona de Empleo y Desarrollo Económico), auch bekannt als „Modellstadt“ oder Sonderwirtschaftszone (LN 466), die zusätzlich Investor*innen anlockt. „Alle Gemeinden sind von diesen Plänen gefährdet. Dazu kommen illegale Landverkäufe an Privatinvestoren“, fährt Malvin fort. „Auf der westlichen Seite der Bucht sind die Gemeinden Santa Fé, San Antonio und Guadelupe von Landraub durch einen kanadischen Investor betroffen“. Was all dies für die Garifuna-Gemeinden bedeutet, wird schnell klar. Sie werden vertrieben und verlieren ihre Lebensgrundlage, die vor allem auf Fischfang und kleinbäuerliche Landwirtschaft basiert. Die Regierung übt Druck auf die Garifuna aus: Während Malvin von den Regierungsplänen zur Schaffung der sogenannten Modellstadt in der Bucht von Trujillo berichtet, patrouillieren ständig Militärs an uns vorbei. Er lässt sich davon allerdings nicht beeindrucken.

Bereit zum Rückerobern: Landaktivist Malvin Morales

Malvin hat sich OFRANEH angeschlossen, um die kollektiven Landrechte der Garifuna zu verteidigen und bereits geraubtes Land zurückzugewinnen. Bevor die Sonne höher steigt und es noch wärmer wird, machen wir uns mit ihm auf den Weg, um zwei der OFRANEH-Projekte zur Landrückgewinnung, sogenannte recuperaciones, zu besuchen. Wir fahren einen malerischen, aber unbefestigten Küstenweg entlang und treffen Carmen Alvarez, ebenfalls Aktivistin bei OFRANEH. Sie erzählt uns, wie die Garifuna-Gemeinden Teile ihres Landes verloren: „Unsere Landwirtschaft funktioniert so, dass wir nicht alles Land gleichzeitig bebauen, sondern immer einen Teil des Landes brachliegen lassen. Die Brachen  wurden nach und nach von anderen besetzt und, wenn wir dort im Folgejahr etwas anbauen wollten, war das Land bereits eingezäunt. Hinzu kommt, dass staatliche Behörden, besonders die Gemeindeverwaltung von Trujillo, korrupt sind. Sie verkaufen Land, das uns gehört, ohne uns zu fragen. Sie erkennen unseren kollektiven Landtitel von 1901 einfach nicht an. So konnte zum Beispiel Randy Jorgensen unser Land kaufen.“

Jorgensen, ein als „Porno-König“ bekannter Kanadier, nutzt seine Nähe zu konservativen Politikern in Honduras, um sich im großen Stil Land für Tourismusprojekte anzueignen. „Er versprach den Gemeinden, dass sie vom Tourismus profitieren würden. Und der einzige, der verdient, ist Randy“, berichtet Carmen. Auf dem Weg zur recuperación des Dorfes Guadelupe kommen wir an mehreren neuen Luxus-Altersresidenzen für Rentner aus dem globalen Norden vorbei, die sich in seinem Besitz befinden. In direkter Nachbarschaft zu einer dieser Residenzen, die hinter Mauern und mit Sicherheitspersonal gut vor Blicken von außen abgeschirmt ist, liegt das Gelände des Projektes. Ein großes Banner mit der Aufschrift: „Unsere Kultur und unser Land sind nicht zum Verkauf! – OFRANEH“ kündigt es an. Wir werden bereits von einer Gruppe junger Menschen aus Guadelupe erwartet. Einige Frauen haben in einer provisorischen, mit Plastikplanen überdachten Küche Essen zubereitet. Auf dem Grundstück der recuperación stehen fünf fertige Häuser, an weiteren wird gebaut.

Tatort Landraub: Puerto Castilla

Von den rund 30 jungen Menschen, die sich an diesem OFRANEH-Projekt beteiligen, hatten viele den Traum vom großen Glück in den USA. Sie wurden deportiert oder kamen nie bis zur Grenze. Ohne Besitz und ohne Aussicht auf Arbeit kehrten sie zurück und schlossen sich den Landprojekten an. Einer von ihnen, Darwin Arriola, erzählt von seiner Motivation: „Ich kam bis Mexiko, hatte kein Geld mehr und wusste nicht mehr weiter. Ich hatte Hunger und Durst und hoffte darauf, dass mir jemand etwas geben würde, ich habe geweint. Es war ein furchtbar entwürdigender Moment. So etwas möchte ich nie mehr erleben. Ich bin froh wieder hier zu sein und möchte arbeiten, deshalb habe ich mich der recuperación angeschlossen.“ Die meisten Menschen in diesem Projekt haben zuvor nicht in der Landwirtschaft gearbeitet. Wir sind beeindruckt, wie viel Kraft und Arbeit sie in die Nutzbarmachung des Landes stecken. Ausführlich zeigen uns einige aus der Gruppe das Gelände: Hier eine kleine Pflanzung von Bananen, dort Maniok. Sie wissen, dass das Land ihnen die einzige Chance bietet, um zu überleben. Deshalb gehen sie die Risiken ein, die damit verbunden sind.

Malvin erzählt uns, dass OFRANEH und die Aktivist*innen, die bei den recuperaciones dabei sind, kriminalisiert, verfolgt und eingeschüchtert werden. Alle Projekte in der Bucht haben bereits Räumungsversuche der Polizei erlebt, auch wenn es rechtlich dafür keine Grundlage gibt. Medelín David Hernández, eine der Aktivist*innen aus Guadelupe, wurde im November von der Polizei unrechtmäßig verhaftet und misshandelt. Dennoch lässt sie sich nicht einschüchtern: „Wir haben Gruppen gebildet und wechseln uns hier auf der recuperación ab, so dass eine Gruppe im Dorf ist und die andere hier arbeitet, so ist immer jemand auf diesem Grundstück. Es ist unser Land und wir werden es nicht aufgeben.“ Medelín David Hernández wurde wegen Landbesetzung angezeigt. Während sie erzählt, hält sie ihren kleinen Sohn an der Hand. Er ist für Medelín eine große Motivation, das Land zu verteidigen. Bei den Gesprächen mit den Aktivist*innen merken wir kaum, wie schnell die Zeit vergeht. Aber da der Weg von Guadelupe nach Trujillo nicht beleuchtet ist, müssen wir noch vor der Dämmerung aufbrechen.

Gemeinsam stark: OFRANEH-Aktivistin Medelín David Hernández mit ihrem Sohn 

Am folgenden Tag besuchen wir Puerto Castilla auf der Landzunge, die sich östlich von Trujillo um die Bucht erstreckt. Die nicht weit entfernten Bananenplantagen und der Hafen machen das Garifuna-Land attraktiv für Investitionen verschiedenster Art. Wir fahren durch das Dorf und wir ahnen, wie dringend für die Bewohner*innen die Rückgewinnung ihres Landes ist. Die Häuser stehen dicht gedrängt, es gibt keinen Platz für Hausgärten, manchmal nicht einmal Platz, um Wäsche hinter dem Haus aufzuhängen. Malvin, der selbst aus Puerto Castilla stammt, bestätigt dies: „Wir alle haben Kinder, aber wir haben nicht genug Häuser und wir haben nicht einmal mehr ein kleines Stück Land, um Maniok anzubauen. Was sollen wir unseren Kindern geben? Und das, obwohl wir die Landtitel für viel größere Flächen besitzen.“ *Es bleibt noch viel zu tun, bis diese Titel und das Recht der Garifuna auf Land wieder respektiert werden

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