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Wie ist die aktuelle Situation des gewaltsamen Verschwindenlassens in Lateinamerika?
Graciela Martínez (GM): Das gewaltsame Verschwindenlassen ist eine schwere Menschenrechtsverletzung, die seit Jahrzehnten in Lateinamerika geschieht, auch wenn sie international wenig Aufmerksamkeit bekommt. Als Amnesty International hielten wir es für wichtig, dieses Thema zu behandeln und haben deshalb letztes Jahr die Kampagne Buscar sin Miedo (dt.: Suchen ohne Angst) gestartet. Sie soll insbesondere Frauen unterstützen, die in den Amerikas nach verschwundenen Personen suchen, damit sie dies ohne Angst vor Repressalien und in Würde tun können. Unser Fokus liegt vor allem auf Mexiko und Kolumbien, da die beiden Länder besonders emblematisch für die Situation der Suchenden sind. Das bedeutet aber nicht, dass das Problem nur dort existiert.
Wie sieht die Lage konkret in Mexiko und Kolumbien aus?
Mariano Machain (MM): Das Verschwindenlassen begann in Mexiko in den 60er, 70er und 80er Jahren als Repressionsmittel gegen aufständische Bewegungen. Ab 2006, mit der starken Militarisierung der öffentlichen Sicherheit und dem so genannten Krieg gegen die Drogen stieg die Zahl der Verschwundenen massiv an. Heute gibt es in Mexiko offiziell mindestens 120.000 verschwundene oder nicht lokalisierte Personen und jedes Jahr etwa 10.000 neue Fälle. Das sind nur die offiziellen Zahlen, es gibt Hinweise darauf, dass die tatsächliche Zahl höher ist. Gleichzeitig gibt es lediglich 36 Verurteilungen wegen des Verbrechens des gewaltsamen Verschwindenlassens. Zudem befinden sich über 72.000 nicht identifizierte Verstorbene in den forensischen Diensten Mexikos.
GM: Auch in Kolumbien ist das gewaltsame Verschwindenlassen trotz des Friedensabkommens nach wie vor traurige Realität.
Warum verschwinden so viele Menschen? Was trägt dazu bei?
MM: Früher war es vor allem politische Repression, die zum Verschwindenlassen führte. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden auch heute weiterhin ermordet und durch das Verschwindenlassen zum Schweigen gebracht, aber das hat zum Glück abgenommen. Was dagegen stark zugenommen hat, ist das Chaos in der öffentlichen Sicherheit und die Militarisierung im Land. Viele Menschen verschwinden, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Klar, es gibt starke Zellen der organisierten Kriminalität, die über die Mittel, die Waffen und die Logistik verfügen, um Menschen verschwinden zu lassen. Das ist möglich, aber unserer Erfahrung nach gibt es in den meisten Fällen eine gewisse Komplizenschaft des Staates.
GM: Ein weiterer Aspekt, auf den wir in unserem Bericht hinweisen, hat mit der Straflosigkeit zu tun. Sie ist eine Konstante und es gibt im Allgemeinen kaum Fortschritte bei den Ermittlungen zu verschwundenen Menschen. Das heißt, wenn die für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen Personen nicht bestraft werden, gibt es keine Möglichkeit, ihnen Einhalt zu gebieten.
Wer sind die Suchenden und welchen Gefahren sind sie bei ihrer Suche ausgesetzt?
MM: 99 Prozent der Suchenden sind Frauen und sie sind massiven Übergriffen ausgesetzt. Die Suche nach verschwundenen Familienangehörigen wird immer gefährlicher. Seit 2019 wurden in Mexiko 14 Suchende ermordet, darunter 9 Frauen.
GM: Frauen spielen historisch eine zentrale Rolle bei der Suche. Sie übernehmen Aufgaben, die der Staat erfüllen sollte. Es gibt verschiedene Menschenrechtsverletzungen, die mit der Suche einhergehen: Die Suchenden werden ausspioniert, diffamiert und manchmal sogar selbst verschleppt. Sie erhalten nicht den Schutz, den sie benötigen und oft setzen sie große Teile ihrer ohnehin geringen finanziellen Mittel für die Suche ein.
Am 15. und 16. Januar fand in Genf der erste Weltkongress gegen das gewaltsame Verschwindenlassen statt. Was wurde dort diskutiert?
MM: Der Kongress brachte ein Vielzahl von Akteuren zusammen: Opferkollektive, Regierungsvertreter und zivilgesellschaftliche Organisationen aus mehr als 80 Ländern, sowie die Interamerikanische und die Afrikanische Menschenrechtskommission und die UN-Organe, die sich mit dem gewaltsamen Verschwindenlassen befassen. Ziel war es, herauszufinden, was auf internationaler Ebene getan werden kann, damit das Thema für möglichst viele Regierungen – darunter auch die deutsche und die mexikanische – zu einer Priorität wird.
Konkret kam der Kongress zu sechs zentralen Schlussfolgerungen und Aktionspunkten. Ein wichtiger Punkt ist zum Beispiel die stärkere Vernetzung und Zusammenarbeit von suchenden Frauen weltweit. Eine weitere globale Verpflichtung ist die Stärkung der Zivilgesellschaft und eine engere Zusammenarbeit zwischen Basisorganisationen, betroffenen Familien und der UN. Auf lateinamerikanischer Ebene würde ich sagen, braucht es mehr Solidarität und Unterstützung zwischen Angehörigenorganisationen und zivilgesellschaftlichen Gruppen, um gemeinsame Maßnahmen voranzutreiben.
Welche Bedeutung haben internationale Foren wie das in Genf und dieses hier in Berlin für die Bekämpfung des gewaltsamen Verschwindenlassens?
GM: Solche Foren sind sehr wichtig, um Fortschritte in den verschiedenen Ländern zu teilen. Zum Beispiel hat Andrea Torres von der Fundación Nydia Erika Bautista auf dem Weltkongress in Genf über das Gesetz für suchende Frauen berichtet, das letztes Jahr in Kolumbien verabschiedet wurde. So konnten Frauen aus anderen Ländern von diesem einzigartigen Gesetz erfahren und die Bemühungen um die Rechte von suchenden Frauen vorangetrieben werden.
MM: Mit Veranstaltungen wie dieser hier in Berlin wollen wir die deutsche Gesellschaft und Regierung mobilisieren. Es kann nicht sein, dass Mexiko ein hochkarätiger Handelspartner Deutschlands ist und gleichzeitig so gravierende Menschenrechtsverletzungen begeht. Freundschaft und Partnerschaft bedeuten, gemeinsame Werte zu teilen und für dieselben Anliegen zu kämpfen – dazu gehört auch, schwere Menschenrechtsverletzungen nicht zu tolerieren.
Juan Carlos und Andrea, von euch beiden sind Familienmitglieder gewaltsam verschwunden. Könnt ihr uns mehr darüber erzählen?
Juan Carlos Lozada (JCL): Mein Vater Juan Carlos Lozada Mahuem verschwand 2009 im Bundesstaat Hidalgo, Mexiko. Seitdem kämpfe ich darum, ihn zu finden. Mein Vater ist nun seit 15 Jahren verschwunden. Die Suche wurde damals von unseren Großmüttern und Müttern begonnen und nun liegt es an uns Kindern, das fortzusetzen, was unsere Mütter begonnen haben.
Andrea Bautista (AB): Ich bin die Nichte von Nydia Erika Bautista, die am 30. August 1987 durch das kolumbianischen Militär gewaltsam verschwand. Ich war Zeugin davon. Es war an dem Tag, an dem ich meine Erstkommunion feierte. Seit ihrem Verschwinden widmet sich meine Familie der Suche nach ihr und versucht herauszufinden, was damals passiert ist.
Wie sieht euer Aktivismus heute aus, welche Ziele verfolgt ihr?
JCL: Ich habe die Gruppe Juntos por Hidalgo („Gemeinsam für Hidalgo“) gegründet. Als mein Vater verschwand, gab es in Mexiko keine Mechanismen oder rechtlichen Schutzmaßnahmen für die Angehörigen von Verschwundenen. Es gab keine Institution, die sich speziell mit der Suche, Untersuchung oder Identifizierung befasste. Daher begannen wir als betroffene Familien, uns zusammenzuschließen, um politischen Einfluss zu nehmen, Institutionen zu mobilisieren und öffentliche politische Maßnahmen zum Thema durchzusetzen. Wir kämpften für das Gesetz gegen das Verschwindenlassen, das 2017 in Mexiko verabschiedet wurde. Wir kämpfen für eine besondere Abwesenheitsfeststellung wegen Verschwindens und fordern Gesetze, die uns besser schützen.
AB: Meine Mutter hat mit einem Menschenrechtspreis, den sie damals in Deutschland gewann, die Fundación Nydia Erika Bautista gegründet. Die Arbeit der Stiftung bestand zunächst darin, humanitäre Hilfe für Familien bereitzustellen, die von Verschwindenlassen betroffen waren, insbesondere, um sie in ihren Grundbedürfnissen zu unterstützen. Denn eine der schlimmsten Folgen des Verschwindenlassens ist die Verarmung der Familien. Später haben wir die Arbeit der Stiftung ausgeweitet. Sie umfasst nun auch eine juristische Begleitung der Betroffenen sowie Lobbyarbeit bei staatlichen Institutionen und Regierungen, um politische Maßnahmen zur Verhinderung des Verschwindenlassens voranzutreiben. Wir haben auch eine Schule ins Leben gerufen, in der wir Angehörigen Werkzeuge zur Selbstermächtigung an die Hand geben.
Gibt es Fortschritte, auf die ihr besonders stolz seid?
JCL: Unser größter Erfolg war die Verabschiedung eines Gesetzes gegen das Verschwindenlassen im Bundesstaat Hidalgo. Das war ein enormer Fortschritt für uns, weil dieses Gesetz Mechanismen und Instrumente vorsieht, die die Suche nach Verschwundenen erleichtern.
AB: Wir waren an der Schaffung aller Gesetze beteiligt, die es in Kolumbien zur Prävention und Bekämpfung des Verschwindenlassens gibt – von der ersten rechtlichen Definition des Verbrechens, dem Gesetz 589 von 2000, bis hin zum jüngsten Gesetz über suchende Frauen, das 2024 verabschiedet wurde. Am Anfang gab es viel Widerstand vonseiten der Regierung, weshalb wir auf internationale Unterstützung angewiesen waren. So konnten wir das Thema auf die politische Agenda setzen. Jetzt stehen wir vor der Herausforderung der Umsetzung des Gesetzes. Die schlechte Umsetzung stellt derzeit die größte Hürde dar.
Wie können Suchenden bei ihrer gefährlichen Aufgabe besser unterstützt und geschützt werden? Was sind eure Wünsche für die Zukunft?
JCL: Was wir in Mexiko am meisten brauchen, ist politischer Wille. Die rechtlichen Instrumente existieren bereits, aber sie müssen konsequent angewendet werden. Länder wie Deutschland können uns dabei helfen. Viele unserer größten Erfolge wurden durch internationale Kooperation möglich.
AB: Unser größter Wunsch ist es, das Verschwindenlassen zu beenden − aber im Moment nimmt es weiter zu. Besonders beunruhigend ist, dass die meisten Verschwundenen heute Jugendliche und Kinder sind. Kolumbiens Zukunft verschwindet. Wir träumen davon, dass die ordentliche Justiz und die neuen Übergangsgerichte, die mit dem Friedensabkommen geschaffen wurden, effizient, gewissenhaft und konsequent gegen die Verantwortlichen ermitteln.
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