KEINE GERECHTIGKEIT FÜR FIDEL

Ort des Widerstands Fidel Heras an der Brücke im Tal von Paso de la Reyna (Foto: Jonathan Treat)

„Unser compañero Fidel Heras Cruz wurde am 23. Januar 2021 in seinem Pick-up am Eingang zum Dorf La Esperanza in der Gemeinde Santiago Jamiltepec in Oaxaca erschossen. Sein Leben wurde ihm auf grausame und feige Weise genommen“, klagen lokale Menschenrechtsverteidiger*innen in einem offenen Brief vom 23. Februar. „Wir können nicht zulassen, dass noch mehr Menschenrechtsverteidiger*innen in den Gemeinden ermordet werden. Der Mord an unserem compañero darf nicht ungestraft bleiben“, fordert der Rat der Vereinigten Dörfer zur Verteidigung des Río Verde (COPUDEVER).

Symbol des friedlichen Widerstands gegen Großprojekte

Das im Bundesstaat Oaxaca nahe der Pazifikküste gelegene Paso de la Reyna, das der Río Verde majestätisch langsam umfließt, ist in den letzten Jahren zum Symbol des friedlichen Widerstands gegen Großprojekte geworden. Flussaufwärts, nur wenige hundert Meter vom Dorf entfernt, hatte die staatliche Energiekommission CFE seit 2009 geplant, einen 190 Meter hohen Staudamm zu errichten und so den Río Verde zur vermeintlich ökologischen Energieerzeugung zu nutzen. Der COPUDEVER, in dem rund 40 betroffene Dörfer organisiert sind, wehrte sich erfolgreich gegen die Pläne. Von 2009 bis 2014 organisierten die Dörfer ein Widerstandscamp und sperrten mit einer Kette die Brücke eines Zuflusses des Río Verde. In das Tal von Paso de la Reyna kam nur, wer dort wohnte. Vetreter*innen des ethnologischen Instituts CIESAS, das mit den technischen und sozialen Machbarkeitsstudien des Projekts beauftragt worden war, wurde der Zugang verwehrt. So wurde das Megaprojekt zwar schon in der Planungsphase gestoppt, hat aber trotzdem Spuren hinterlassen. Eva Castellanos, eine junge Aktivistin aus Paso de la Reyna, kommentiert den erfolgreichen friedlichen Widerstand mit nachdenklichen Worten: „Auch wenn wir das Kraftwerk stoppen konnten, sind wir alle von diesem Großprojekt betroffen. Wir organisieren uns, streiten mit Nachbarn, die nicht mit uns einig sind, denken ständig an das Projekt.”

Alternativen zum Entwicklungsnarrativ

Als Fidel Heras Cruz 2008 davon erfuhr, dass sein Dorf von dem Projekt bedroht wird, kehrte er nach 15 Jahren Migration aus den USA zurück. Im Jahr 2012 erhielt der geschätzte Gemeindevertreter und Familienvater erstmals Drohungen von der Familie Iglesias: „Wir werden ja sehen, wann ihr endlich diese verdammte Kette entfernt”, schüchterte ihn Gabriel Iglesias Meza alias „Chulindo“, fast allmächtiger Großgrundbesitzer und Gemeindepräsident von Santiago Jamiltepec, ein. Den gefürchteten Lokalpolitiker erzürnte die Brückensperrung, mit der der COPUDEVER das Territorium gegen den Bau des Megastaudamms verteidigte. Wenige Tage später konfrontierte eine 30-köpfige Delegation des COPUDEVER Iglesias mit seiner Drohung und übergab ihm ein Dutzend offizieller Schreiben anderer Gemeindevorstände, die ihren friedlichen Widerstand unterstützten. Gegenüber den Staudammgegner*innen bestritt Iglesias die Drohung und ließ den Fall ruhen. Als er keine zwei Jahre später verstarb, übernahmen seine Witwe und seine beiden Söhne die Macht in der Region.

Seit 2018 ist der Río Verde durch zwei neue Staudammprojekte der mexikanischen Firma Generación Enersi bedroht – doch nicht ohne den organisierten Widerstand der Gemeinden. Der COPUDEVER organisiert regelmäßig gut besuchte kulturelle Veranstaltungen, um Alternativen zum Entwicklungsnarrativ weiterzutragen. Am 14. März 2020, dem internationalen Aktionstag für die Flüsse und gegen die Staudämme, fand ein solches Treffen in Paso de la Reyna statt. Bis in die Nacht zelebrierten die Gemeinden am Ufer des Río Verde ihr weitgehend harmonisches Zusammenleben mit Fluss und Natur. Schon kurze Zeit später wurden das Leben und die gesellschaftliche Organisierung in Oaxaca durch die Ausbreitung des Coronavirus beeinträchtigt.

Pandemie und Straflosigkeit

Inmitten der zweiten Welle der Pandemie, die vor allem den ländlichen Raum betraf und im Januar 2021 auch Paso de la Reyna mit voller Wucht erreichte, wurde Fidel Heras ermordet. Der COPUDEVER und die ihn begleitenden Organisationen machten anschließend öffentlich, dass Heras kurz zuvor erneut Morddrohungen von der Familie Iglesias erhalten hatte. Seit August 2020 hatte Celia Rivas Márquez, Witwe von „Chulindo“ und heute Gemeindepräsidentin von Santiago Jamiltepec, den Druck auf Paso de la Reyna erhöht und gefordert, die Gemeinde müsse einer verstärkten Ausbeutung des Flusses zur Gewinnung von Sand und Stein zustimmen. Angesichts der gewalttätigen Geschichte der Familie Iglesias versuchte die Gemeinde zu verhandeln. Doch die Verhandlungen zwischen Fidel Heras als Vorsitzendem des Gemeinderats und „Chulindos“ Sohn Manuel Iglesias, der ohne Bewilligung des Umweltamtes im Flussbett Sand und Schotter abbaute, scheiterten. Als die Baumaschinen im Dezember 2020 kleinere Schäden erlitten, bedrohte Iglesias Fidel Heras. Zwei Tage vor seiner Ermordung lag eine anonyme, schriftliche Morddrohung in den Einrichtungen des Landrats von Paso de la Reyna.

Trotz dieser Indizien wurde bisher kein Mitglied der Familie Iglesias polizeilich vernommen. Die Pandemie ist die perfekte Rechtfertigung für den mexikanischen Staat, noch weniger als sonst zum Schutz der Bevölkerung zu unternehmen. Einen einzigen Patrouillenbesuch stattete die bundesstaatliche Polizei der Gemeinde seit dem Mord an ihrem Gemeindevertreter ab. In die Ecke gedrängt von Pandemie und Straflosigkeit, versuchen die Menschenrechtler*innen, wieder handlungsfähig zu werden. Doch das ist einfacher gesagt als getan. Ana María García, Mitarbeiterin der Nichtregierungsorganisation EDUCA, die COPUDEVER seit der Gründung 2007 begleitet, formuliert das so: „Das Selbstverständnis dieser mächtigen Familien in Oaxaca ist, dass sie nicht nur Herrscher mit wirtschaftlicher und politischer Macht sind, sondern sogar über das Leben der Menschen bestimmen.“ Die regionale gesellschaftliche Organisierung in den Dörfern wurde zu einem Gegengewicht zu den autoritären Machtstrukturen. Der Mord an Fidel Heras als gewalttätige Reaktion auf den Widerstand sei von hoher symbolischer Bedeutung, so García: „Fidel ist ein Symbol, weil er ein Verteidiger der Gemeinschaft und Vorstand einer Gemeinschaft war, die gegen diese Macht rebellierte“.

CREANDO, CRIANDO Y REVOLUCIONANDO

Illustrationen: Manai Kowii, @narymanai

Ich möchte ausgehend von mir und meinem Leben als Mutter, Frau, Indigene und Filmemacherin erzählen. In anderen Zeiten war das für viele eine undenkbare Kombination, denn die Filmbranche ist ein exklusiver und elitärer Raum, bestimmt für weiße Männer und „bestenfalls” für mestizos.

Seit etwa 30 Jahren haben wir als audiovisuelle Medienschaffende aus indigenen Gemeinden in Ecuador unsere Selbstdarstellung und -bestimmung selbst in die Hand genommen. Wir wollen die Logik zerstören, die uns als Studienobjekte behandelt und uns auf der Basis von externen Interpretationen darstellt.

Wir sollten meinen, dass es im 21. Jahrhundert nicht mehr notwendig sei, unsere Rechte einfordern zu müssen, aber die Realität ist eine andere. Ich kenne keine Filme, in denen professionelle indigene Filmemacher*innen ausgewählt wurden, das Filmteam zu leiten. In vielen Filmen tauchen indigene Figuren im besten Fall als Statist*innen auf. Und wenn als Protagonist*innen, dann aus einer Perspektive, die uns zu Objekten macht. Wir glauben, dass es notwendig ist, die nicht erzählte Geschichte sichtbar zu machen, jene andere Seite, die wir alle aus Bequemlichkeit oder Nachlässigkeit „vergessen” haben, zu erwähnen.

Mit meinen Filmen zeige ich einen Teil von dem, was wir indigenen Gemeinden erleben. In Wahrheit sind es universelle Geschichten. Abseits der romantisierenden Sichtweise, mit der manche uns sehen und behandeln, versuche ich Gefühle und Empfindungen zu erzeugen, die Erzählungen, Diskurse, Ästhetiken und Narrative stören und bekämpfen sowie die Objektifizierung in Frage stellen, der wir durch die patriarchale Dynamik unterworfen wurden.

Diese Linse, durch die wir betrachtet und dargestellt werden, hat uns dazu veranlasst, selbst Schauspielerinnen und Regisseurinnen unserer eigenen Geschichten zu werden. Wir lassen es nicht zu, dass die Medien uns weiterhin folklorisieren, infantilisieren oder jeglicher Menschlichkeit berauben. Obwohl sich die Zeiten geändert haben und mit ihnen die Wahrnehmung von Frauen, ist die machistische Crux immer noch die selbe: Wir werden verzerrt, voller Hass und homogenisierend betrachtet. Das Patriarchat ist die Wurzel aller anderen Formen von Diskriminierung und Unsichtbarmachung, mit denen indigene Frauen behandelt werden.

Sie haben versucht, uns unsere Stimme auf verschiedene, auf subtile und auf brutale Art und Weise, wegzunehmen. Sie haben uns auf alle erdenklichen, vorstellbaren und unvorstellbaren Weisen umbringen wollen, denn die indigenen Gemeinden und Frauen verkörpern den Ungehorsam und die Rebellion gegen die etablierte Ordnung, die auf patriarchalen und kolonialen Strukturen beruht.

Hierzu möchte ich eine Erfahrung teilen: Vor etwa zehn Jahren erzählte ich einer indigenen Autoritätsperson, dass ich einen Dokumentarfilm über indigene Schwule und Lesben machen wollte. Der compañero schaute mich ungläubig an und sagte: „Wie wollen Sie einen Dokumentarfilm über dieses Thema machen, wenn es doch in unseren Gemeinden gar keine Schwulen oder Lesben gibt?” Ich erklärte ihm, dass in den indigenen Gemeinden von Abya Yala (indigene Bezeichnung für den amerikanischen Kontinent, hier: Amerika vor der Kolonialisierung, Anm. d. Red.) jene, die sich ihrer sexuellen Vielfalt seit ihrer Kindheit bewusst waren, nicht isoliert wurden, sondern ihnen eine größere Wertschätzung und Respekt zuteil wurde. Er wollte mir nicht glauben und bezweifelte, dass meine Worte wahr seien. In mir brodelt immer noch das Bedürfnis diese und andere Geschichten zu erzählen.

Ich spreche das an, weil in diesem compañero, wie in vielen anderen, unsere Familien eingeschlossen, das patriarchale Erbe immer noch festsitzt. Es ist notwendig, die Vorstellung nicht zu romantisieren, dass alles, was wir indigenen Gemeinden tun, richtig ist. Wir sind lebendige Kulturen, die sich in ständiger Bewegung und Veränderung befinden. Wir sind Menschen, die – wie alle anderen auch – ihr Leben und ihre Beziehung zu anderen und der Umwelt auf der Grundlage einer strukturellen Herrschaft entwickelt haben. Wir sind nicht von der realen Welt und ihrer Komplexität isoliert. Deshalb müssen wir Gewalt identifizieren und hinterfragen, wo auch immer sie herkommt.

Ein anderes Bild, das ich in meinem Herzen und meinem Verstand als Zeugnis der verbreiteten Existenz patriarchaler und kolonialer Muster trage, ist die Oktoberrebellion. Im Oktober 2019 erlebte Ecuador eine der stärksten sozialen Mobilisierungen des letzten Jahrzehnts. Sie wurde von der Unzufriedenheit der Bevölkerung über das Dekret 883 ausgelöst, das die Abschaffung der Subventionen für Treibstoffe anstrebte, wodurch das Leben aller Ecuadorianer*innen teurer geworden wäre.

In den elf Tagen, die der Aufstand dauerte, waren wir Frauen zentrale politische Akteurinnen. Meine persönliche Erfahrung wurde durch unzählige Gefühle und Empfindungen gelenkt. Nicht nur, weil ich die Ereignisse inmitten der Brutalität der Polizei auf Audio und Video aufnehmen musste, sondern auch, weil die Widerstandskämpferin in mir das Bedürfnis verspürte, die Organisation der Aktionen zu unterstützen. Hinzu kam die Tatsache, dass ich als Mutter besorgt um meinen jugendlichen Sohn war, der zum ersten Mal an einem Aufstand teilnahm. An vorderster Front verhinderte er als matalacri, dass uns das Tränengas vollständig erstickte (matalacris sind die Personen, die für andere Demonstrant*innen Trängengasattacken neutralisieren, Anm. d. Red.).

Alles in mir brach in Empörung, Angst, Wut und Zorn aus, als ich sah, dass nicht unterschieden wurde, gegen wen sich die Repression richtete. Egal, ob du eine Frau, ein Kind oder eine ältere Person warst – mit demselben Hass warfen sie Gasbomben nach links und nach rechts. Die übliche Praxis der Gemeinden ist die Arbeit im Kollektiv, die darauf abzielt, die eigene Identität und die Organisationsprozesse zu stärken. Wenn es zum Beispiel notwendig ist, eine minka (kommunitäre Gemeinschaftsarbeit, Anm. d. Red.) zu machen, nehmen wir alle daran teil, Männer, Frauen, Kinder. Diese Praxis gibt es mittlerweile weniger als früher, aber sie besteht weiterhin. In diesem Fall war es der Oktoberaufstand, der Frauen, Kinder und ältere Menschen zusammenführte, die bei den politischen Aktionen blieben und die gleiche oder noch brutalere staatliche Polizeigewalt erleben mussten, obwohl sie sich in „friedlichen Bereichen” aufhielten.

Die Mutter in mir wollte meinen Sohn nicht nur vor den Bomben und den Kugeln, sondern auch vor dem Ausnahmezustand und der Ausgangssperre schützen. Aber die Widerstandskämpferin in mir wollte, dass er etwas von alledem erlebt, was unsere Mütter und Großmütter erlebt haben, damit seine Erinnerungen, sein Körper, seine Knochen wissen, dass wir alles, was wir jetzt haben, der Macht entrissen haben. Uns ist nichts geschenkt worden. Und diese Erkenntnis hätte durch Gespräche nicht erlangt werden können, sondern nur durch die Erfahrung dessen, dem wir die Stirn boten. Obwohl der Staat uns daran hinderte, frei zu berichten, versuchte die Filmemacherin in mir alles aufzuzeichnen, was passierte. Nicht nur, um das was geschah und was die großen Medien zu verbergen versuchten, anzuklagen, sondern auch, um es als Werkzeug für unsere Erinnerung zu nutzen.

Indigene Frauen werden willkommen geheißen, wenn wir Teil eines kulturellen Aktes sind, wie beim Tanz oder beim Essen. Aber wir werden kriminalisiert und vergewaltigt, wenn wir unsere politische Handlungsmacht ergreifen und es wird versucht, unseren Handlungsspielraum auf den häuslichen oder kulturellen Bereich zu reduzieren. Es ist unerlässlich, all jenes zu dekonstruieren, was sie durch Gesetze und weiß-mestizische Legitimität, die uns in jeglichem Sinne auszulöschen sucht, normalisieren wollten.

Aber wir sind hier, wir sind zurückgekommen und wir sind Millionen. Unsere Lebensenergie hat es verstanden, sich zu widersetzen. Und wir sind stärker und geeinter. Unsere Stimme, die zum Schweigen gebracht wurde, hallt zwischen Flüssen, Bergen und Wäldern, erklingt wie ein tiefes Echo, das aus dem Innersten der Erde, dem Leben, geboren wird.

KAMPF UMS ÜBERLEBEN

Miriam Miranda
ist eine prominente Menschenrechtsaktivistin in Honduras. Sie ist Koordinatorin der Garífuna-Organisation OFRANEH. Im November 2019 erhielt sie den Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie setzt sich seit 30 Jahren für die Rechte der Garífuna ein. Neben der unermüdlichen Arbeit, Fälle von Landraub, Menschenrechtsverletzungen und Korruption anzuzeigen und diesen nachzugehen, arbeitet sie an der Verwirklichung einer Vision vieler Garífuna mit. Gemeinsam haben sie das selbstverwaltete Dorf Vallecito, Dpto. Colón inmitten von Ölpalmenplantagen aufgebaut. Für sie ist die Arbeit in Vallecito eine konkrete Strategie, Land zu verteidigen und zum Erhalt der Kultur der Garífuna beizutragen.
Im Sommer 2020 findet eine Solidaritätsreise nach Vallecito statt. Interessent*innen finden weitere Informationen auf der Webseite der HondurasDelegation. (Foto: HondurasDelegation)


Mirna Teresa Suazo wurde am 8. September 2019 von Unbekannten in ihrem Restaurant in Masca (Dpt. Cortés) erschossen. Die Täter flohen mit einem Motorrad. Suazo war Gemeinderatspräsidentin in Masca. Die Gemeinde hatte sich zweimal erfolgreich dem Bau von Wasserkraftwerken am gleichnamigen Fluss entgegengestellt.

María Digna Montero war Lehrerin und Mitglied des Komitees für interkulturelle zweisprachige (Spanisch und Garífuna) Bildung bei OFRANEH (Organización Fraternal Negra Hondureña). Am 12. Oktober 2019 saß sie vor ihrem Haus in der Gemeinde Cusuna (Dpt. Colón), als Unbekannte auf sie schossen und mit einem Motorrad flohen. Die Morde liefen nach ähnlichem Muster ab; genau wie bei den anderen 15 Opfern waren es Ortsfremde, die die Taten ausübten.

„Für die Regierung existieren wir nicht“

„Das ist ein Plan, uns Garífuna auszurotten“, sagt Miriam Miranda, Koordinatorin der Organisation OFRANEH. Die afro-indigenen Garífuna leben seit ihrer Deportation von St. Vincent in der Karibik im Jahre 1797 durch England an der Atlantikküste von Zentralamerika, die meisten von ihnen in 46 Gemeinden in Honduras. Ihre Lebensgrundlage, das Land, die natürlichen Ressourcen und das Meer, wird jedoch immer stärker bedroht und die, die sie verteidigen, werden umgebracht.

Auch Miriam Miranda lebt mit ständigen Bedrohungen und Einschüchterungen, vor allem seitdem sie vor 10 Jahren Koordinatorin von OFRANEH geworden ist.

Das Territorium der Garífuna in Honduras ist von großem wirtschaftlichem Interesse von in- und ausländischem Kapital. Die Garífuna bewohnen das für Investor*innen attraktive Land an der karibischen Küste mit schönen Stränden und fruchtbarem Boden. Weiter im Landesinneren gibt es etliche Naturschutzgebiete, um den einzigartigen Waldbestand und die Biodiversität zu schützen.

Doch die neoliberalen Pläne der Regierung vertreiben die Garífuna von ihrem angestammten Land. OFRANEH klagt auf Grundlage der an die Garífuna vergebenen Landtitel, diese werden jedoch von korrupten Behörden meist missachtet.

Tourismusprojekte wie in der Bucht von Tela und der Bucht von Trujillo, Bergbauvorhaben und die geplante Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen (sogenannten Charter Cities nach einem Modell des Harvard-Ökonomen Paul Romer, siehe LN 535), in Honduras unter dem Namen ZEDEs (Zonas Especiales de Desarollo y Empleo) bekannt, stellen ernsthafte Bedrohungen für das Land dar. „Für die Regierung existieren wir nicht. Wenn die Regierung die ZEDEs im Ausland anpreist, sagen sie, dass die Gebiete unbesiedelt seien. Aus diesem Grund ist jedes Projekt für uns eine Gefahr“, so Miriam Miranda.

Unter den Mordopfern sind viele Frauen

Es ist kein Zufall, dass sechs Frauen unter den Ermordeten sind. Frauen kommt eine große Bedeutung bei der Verteidigung des Garífuna-Territoriums zu. „Frauen haben eine enge Bindung ans Land, sie sind der Erde verbundener als Männer, denn sie bauen Maniok an und schützen die Saat. Frauen kennen aus erster Hand die Notwendigkeit, das Land und die Natur zu schützen“, führt Miranda aus.

Doch auch wenn Frauen bei den Garífuna eine starke Position haben, sind auch sie von der dominanten Machismo-Kultur in Honduras betroffen, denn das Rechtssystem ist von patriarchalen Strukturen geprägt. Miranda sagt, dass Frauen per se erst einmal schuldig sind, egal, was vorgefallen ist. Frauen, die sich für die Rechte der Garífuna einsetzen, müssen sich anhören, dass sie besser am Herd stehen sollten. Sie seien selbst schuld, dass sie vor Gericht stehen, wenn sie sich in „Männerangelegenheiten“ einmischten.

Deshalb ist es für OFRANEH wichtig, sich neben der Verteidigung des Landes auch mit Genderfragen und frauenspezifischen Bedürfnissen auseinanderzusetzen. „Wir Frauen müssen uns selbst schützen und heilen, heilen vor allem vom Schuldgefühl, mit dem wir permanent konfrontiert sind, wir brauchen unsere Organisationsformen und unseren Platz für Heilung, der Selbstentdeckung; und vor allem müssen wir uns bewusst machen, dass die Gewalt nicht normal ist, auch wenn sie in einem Land voller Gewalt als normal erscheint“, erklärt Miranda die Arbeit von OFRANEH in Bezug auf Frauen.

„Wir beziehen das Recht am eigenen Körper genauso in die Arbeit ein wie das Recht auf eine intakte Natur.“ Dies ist für OFRANEH wichtig, da es Frauen sind, die vor allem durch die Kindererziehung die kulturelle Identität prägen und hierbei mit dem patriarchalen Schulsystem in Konkurrenz stehen. „Wenn Frauen selbst Land bebauen, erziehen sie ihre Kinder anders.“

Denn die landwirtschaftliche Praxis der Garífuna, so Miranda, stehe im Widerspruch mit der hegemonialen Wirtschaftslogik, die an Gewinnmaximierung orientiert ist, während die Garífuna Flächennutzung mit Brachzeiten abwechseln, damit sich das Land während der Brache regenerieren kann. Diese kulturelle Praxis wird durch die Gesetzgebung unterlaufen, die besagt, dass brach liegendes Land von den Personen in Besitz genommen werden kann, die es bebauen. Nach drei Jahren Landnutzung können die Landtitel dann geändert werden.

Bedrohung durch staatliche Interessen

Die Garífuna können sich bei der Verteidigung ihres Landes nur auf das von Honduras ratifizierte ILO Abkommen 169 berufen. Doch auch dieses soll untergraben werden.

Ein Entwurf für ein nationales Konsultationsgesetz ist mit Unterstützung internationaler Institutionen, wie dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), erarbeitet worden. Der Entwurf sieht kein Vetorecht für indigene Gemeinden vor. Momentan liegt das Gesetz jedoch auf Eis.

Miranda führt diesen Umstand auch auf die Arbeit von OFRANEH zurück, die Beschwerdebriefe an die ILO geschrieben hat. In Anbetracht anderer neu erlassener Gesetze in Honduras ist die ILO Konvention 169 für Indigene extrem wichtig.

So räumt das 2017 erlassene Gesetz zur Tourismusförderung die Möglichkeit ein, für Tourismusprojekte die Ausdehnung von Naturschutzgebieten bis zu ihren Kernzonen zu verkleinern. Miranda fürchtet, dass auf Tourismusvorhaben später Bergbauprojekte folgen, für die Naturschutzgebiete reduziert werden, wie es bisher auch schon in Guapinol im Departamento Colón für ein Bergbauprojekt und in der Garífuna-Gemeinde Sambo Creek für ein geplantes Wärmekraftwerk geschehen ist.

Viele Garífuna- Gemeinden grenzen an Schutzgebiete und sehen ihr Territorium durch diese Gesetzgebung zusätzlich gefährdet.

Die Ermordung von María Montero in Cusuna geschah ausgerechnet am lateinamerikaweiten Tag des Widerstandes, am 12. Oktober – eine Warnung an alle, die sich der aktuellen Regierung und deren Politik widersetzen.

Die Gemeinde Masca hat dies 2019 besonders deutlich zu spüren bekommen: Das Jahr endete mit zwei Attentaten in Masca gegen Amada Martínez, Vorstandsmitglied von OFRANEH und spirituelle Führerin der Garífuna, am 12. Dezember, dem Tag des Schutzheiligen von Masca, und am 29. Dezember.

Amada Martínez blieb zwar unbeschadet, zwei ihr nahstehende Personen wurden jedoch zum Teil schwer verletzt. Die Zeichen sind deutlich. Die Morde an den Menschenrechtsverteidiger*innen und Umweltaktivist*innen unter den Garífuna haben im Jahr 2019 einen traurigen Rekord erreicht. Doch aufgeben werden die Garífuna und vor allem die Frauen nicht.

„UNSERE STIMME NACH EUROPA BRINGEN“

Indigenes Protestcamp 2019 Jedes Jahr findet mit dem Acampamento Terra Livre die größte indigene Versammlung mit tausenden Teilnehmer*innen in Brasilia statt // Foto: Edu Marin / Flickr (CC BY 2.0)

Es sind nun sechs Monate vergangen, seitdem Jair Bolsonaro die Präsidentschaft übernommen hat – hat sich in dieser Zeit die Lebenssituation der Guarani Kaiowá verändert?
Alenir Ximendes: Diese Veränderung findet seit der Regierung des vorherigen Präsidenten Temer statt. Temer hat begonnen, was Bolsonaro jetzt fortsetzt. In den sechs Monaten, in denen Bolsonaro an der Macht ist, haben wir das Gefühl, dass er die Rechte der Guarani Kaiowá zerstört. Und nicht nur unsere Rechte, sondern auch die Rechte der ganzen Gesellschaft mit seinen präsidialen Initiativen zu Bildung, Gesundheit und Altersversorgung.
Janete Ferreira: Die brasilianische Politik war gegenüber indigenen Angelegenheiten niemals wohlwollend. Um etwas zu erreichen, mussten wir indigenen Völker immer Druck auf die Regierungen ausüben und auf die Straße gehen. Auch wenn wir nicht parteipolitisch orientiert sind, sind wir doch ein Volk, das wählt, wir haben Ideen, wir schaffen Neues und wir verteidigen, was uns wichtig ist. Wir machen unsere Politik, die unserer Art zu leben entspringt. Wir sind nicht verpflichtet, die Politik anzunehmen, die von den brasilianischen Politikern kommt, wir haben unsere eigene. Und meistens wird das, was wir wollen, von der brasilianischen Politik nicht akzeptiert, für sie ist das ohne Bedeutung: das Recht auf Land, die Verteidigung der Natur. Sie übersehen dabei, dass wir die Humanität verteidigen, das Leben. Weil ihnen das nichts bedeutet.

Was ist das Ziel Ihrer Reise durch Europa?
A.X.: Wir können uns mit unseren Anliegen nicht an die politischen Repräsentanten wenden, sei es der Präsident, der Gouverneur oder lokale Abgeordnete. Im April sind wir zum jährlichen Protestcamp Acampamento Terra Livre nach Brasília gefahren, wir haben demonstriert, Gespräche mit Politikern geführt und ein gemeinsames Dokument übergeben. Bisher haben wir keine Antwort erhalten, nichts hat sich geändert.
Ende letzten Jahres hat uns eine Delegation der Euopäischen Union besucht. Seitdem haben wir nichts mehr von der EU gehört und es ist kein Bericht erschienen, der unseren Präsidenten unter Druck setzen könnte. Es beunruhigt uns sehr, dass dieser Prozess so langsam ist, denn während wir warten, bleiben die großen Landbesitzer nicht untätig. Wir wollen die Stimme der Indigenen nach Europa bringen, um zu erreichen, dass das Ausland sich ebenfalls dafür verantwortlich fühlt, dass die Rechte der Indigenen in Brasilien respektiert werden.

Denken Sie da zum Beispiel an einen Boykott von brasilianischem Soja, solange die Rechte der Indigenen verletzt werden?
A. X.: Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, aber deutsche Firmen exportieren Pestizide in unsere Region, die in Deutschland verboten sind. Sie sagen, dass sie für den Einsatz nicht verantwortlich sind, aber das stimmt nicht. Denn immerhin geht es um die Gesundheit von Menschen. Sie verkaufen in Mato Grosso, was sie in der EU nicht mehr verkaufen dürfen.
J.F.: Die Politik der Regierung Bolsonaro, jetzt noch mehr Pestizide zu erlauben, wird viele Indigene aus unseren Gemeinden töten. Schon jetzt verursachen die Pestizide viele Krankheiten, auch in meiner Familie: Hautausschläge, Übelkeit und Erbrechen, verschiedene Formen von gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Und wir wissen nicht, welche Heilmittel gegen die Vergiftungen helfen, deshalb müssen wir dann ins Krankenhaus. Gleichzeitig ist unser Land durch die Ackergifte wie eine Wüste, so dass wir gar keine Heilkräuter mehr sammeln können. Also müssen wir auch bei anderen Krankheiten ins Krankenhaus. Und es gibt in unseren sieben Gemeinden nur ein einziges Auto, das Kranke dorthin bringen kann. Es dauert lange, bis es kommt, wenn wir es brauchen, denn die Gemeinden liegen alle zehn Kilometer von einander entfernt.

Foto: Wolfgang Günzel, Weltkulturen Museum Frankfurt

ALENIR XIMENDES TEHOKÁ UND JANETE FERREIRA
Alenir Ximendes Tehoká (rechts) ist Repräsentantin der vier Versammlungen der Guarani Kaiowá in Mato Grosso do Sul und Lehrerin in der Gemeinde Antonio João. Jenete Ferreira (links) ist eine der Führungspersönlichkeiten der Kaiowá aus Guapo’Y Amombai in Mato Grosso do Sul. Beide sind in der Frauenorganisation Kuñangue Aty Guasu aktiv. 

 

Hat die Repression gegen die indigenen Gemeinden in ihrer Region in den letzten sechs Monaten zugenommen?
A.X.: Die Situation war schon vorher sehr schlecht, es gibt sehr viel Gewalt in unserer Region. Viele Guarani Kaiowá werden ermordet und es wird als „Unfall“ getarnt. Meistens sind es Viehtransporter, die die Menschen auf der Straße einfach überfahren. Das ist wirklich sehr schmerzhaft für die Familien, weil sie die Körper ihrer Angehörigen meistens nicht einmal mehr sehen können und die Blutflecken auf den Straßen nicht beseitigt werden. Sie werden getötet wie Tiere. Und wir haben niemanden, an den wir uns wenden und um Hilfe bitten können.
J.F.: Das sind keine „Unfälle“, in den retomadas (s. Infokasten, Anm. d. Red.) werden viele Menschen aus Hass oder Wut getötet. Wenn sie alleine auf der Straße sind – umso besser. In den Medien heißt es dann, die Opfer wären betrunken gewesen oder hätten Drogen genommen. Aber wenn wir uns die Fälle anschauen, dann ist das sehr unwahrscheinlich. Und die staatlichen Organe interessiert das überhaupt nicht. Ohne konkrete Fakten wie ein Foto oder ein Handyvideo können wir gar nichts machen. Die Polizei untersucht die Fälle nicht, denn meistens sind sie Familienangehörige, Freunde oder sonstwie mit den Mördern verbandelt.

Sie sind beide in der Frauenorganisation Kuñangue Aty Guasu aktiv, wie ist die Situation der Frauen der Guarani Kaiowá in Mato Grosso do Sul?
J. F.: Es ist für Frauen besonders schwierig an den Orten, an denen sie keinen Zugang zu irgendetwas haben, zu Nahrungsmitteln, Gesundheitsversorgung oder Bildung. Dort, wo sie keine Form der Unterstützung erhalten, auch nicht für ihre Kinder. Oft werden sie auch in Krankenhäusern nicht richtig behandelt und sterben. Indigene Frauen aus den retomadas werden als Invasorinnen betrachtet, sie verdienen keine Aufmerksamkeit und keine Unterstützung.
Und viele Frauen verstehen es nicht, für sich zu sprechen, zu diskutieren und für ihre Rechte zu kämpfen. Sie bleiben in ihrer vertrauten Umgebung, in ihrem Haus, sie sprechen nicht öffentlich. Kuñangue Aty Guasu ist eine Gruppe von Frauen, die andere Frauen dabei unterstützt, lauter zu sprechen, Mut zu haben und mit allem fertig zu werden.

Sie leben in zwei unterschiedlichen Regionen, die rund 200 Kilometer von einander entfernt sind. Wie verläuft jeweils in Ihrer Region der Prozess der Anerkennung der indigenen Territorien? Welche Erwartungen haben Sie in Bezug auf die Politik von Bolsonaro, wird er alle Demarkierungen stoppen können?
A.X.: Der Prozess der Demarkierung ist in unserer Region doch schon gestoppt worden! Seit 2005 passiert gar nichts. Und in vielen indigenen Gemeinden ist es genauso. Insofern erwarten wir gar nichts von diesem Präsidenten. Bolsonaro hat ja sehr deutlich gemacht, dass er nicht vorhat, irgendetwas zu tun. Aber das kann sich auch ändern – durch Druck aus dem Ausland. Wenn sie in den ausländischen Medien darüber berichten, wie er die Indigenen behandelt, wie er die Guarani Kaiowá in ihrem eigenen Bundesstaat abwertet, dann ist das schlecht für ihn. Deshalb bitten wir hier um Hilfe.
J.F.: Wir erwarten keinen guten Willen von Bolsonaro, um unser Land zu demarkieren. Die Anerkennung der indigenen Territorien war immer ein sehr langsamer Prozess und so haben sie uns dazu gebracht, selbst die Demarkierung durchzuführen. Eigentlich haben sie die retomadas provoziert. Sie sprechen über „Eindringen in Privatbesitz“, aber eigentlich hätten die Behörden die Probleme mit den lokalen Landbesitzern lösen  müssen. In vielen Fällen haben die Behörden die Konflikte zwischen den Indigenen und den lokalen Landwirten erst entstehen lassen. Sie nähren Streit und Hass in allen nicht-indigenen Familien. Das Interesse an den Demarkierungen ist indigen, es ist kein staatliches Interesse. Das Land sichert unser Überleben, wir nehmen uns nur das, was uns gehört. Wir fordern von diesem Präsidenten, dass er uns endlich die Dokumente über unser traditionelles Land ausstellt.

 

NUESTRO VIEJO

(Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl)

Seit einigen Wochen bereits hatte Osvaldo das Bedürfnis gehabt aufzubrechen. Er hielt es nicht mehr aus, in seinem Häuschen „El Tugurio“ im Stadtviertel von Belgrano, in Buenos Aires, zu sitzen und nichts tun zu können. Er wollte seine Koffer packen. Er wachte morgens in dem Glauben auf, zu einem Menschenrechtskongress reisen zu müssen. Oder mit der Vorstellung, dass man ihn in einem entlegenen indigenen Dorf in der Pampa erwartete, um über eine Namensänderung einer Straße zu diskutieren, die nach einem Völkermörder benannt war, dessen Namen keine Straße je mehr tragen sollte. Oder dass er zu einer kleinen Schule in der weit entfernten Hochebene von Jujuy gerufen worden sei, wohin sich nie jemand verirrt hatte – aber er durfte nicht fehlen, um über die Rechte der indigenen Bevölkerung zu sprechen. Er wurde gleichzeitig an der Berliner Universität erwartet und auf einer Gewerkschaftssitzung in Patagonien. Er musste einfach da sein. So wie er es immer gewesen ist.
Er fragte nach seinem Koffer, ob sein Reisepass und die Flugtickets bereit lägen. Mit Claudia, der großartigen Compañera, die ihn die letzten Jahre pflegte, hatten wir Codes entwickelt, um ihn davon zu überzeugen, die Reise aufzuschieben.

Als guter alter Anarchist wollte er uns alle, die wir Kerzen an einem grünen Baum anzünden wollten, nochmal mit einem Grinsen ärgern

Jetzt hat er keinen Aufschub mehr akzeptiert. Er hatte sich entschieden abzureisen. Als guter alter Anarchist wollte er uns alle, die wir Kerzen an einem grünen Baum anzünden wollten, nochmal mit einem Grinsen ärgern: Er suchte sich das passende Datum aus, den 24. Dezember. Seine Enkeltöchter in Hamburg stellten unter Tränen fest: Der Opa hat wieder sein Ding gemacht. Er ging nicht, ohne der Kirche auf seine Art noch mal eins auszuwischen. Ich bin davon überzeugt, dass der Grund für seine Eile in der aktuellen Realität dieses Landes, Argentiniens, liegt. Eigentlich hatte er vor gehabt, weiter zu nerven, wie er es nannte, bis er 100 Jahre alt würde. Ein Jahr weniger als seine geliebte Tante Griselda aus Santa Fe. Er respektierte ihr Alter. Aber die Realität hat ihn eingeholt. Er hatte keine Erklärung mehr für das, was er in den Zeitungen las und auf der Straße hörte. Jetzt drängte es ihn, andere Wahrheiten zu entdecken. Die hiesigen hatte er bereits aufgedeckt. Jetzt wollte er mit jenen diskutieren, mit denen er keine Gelegenheit gehabt hatte.  Mit Severino (Di Giovanni) über die Frage der Gewalt sprechen, über den Tyrannenmord, für den er (Osvaldo), der Pazifist war, trotzdem eine Erklärung fand. Di Giovanni war der Anarchist gewesen, dessen Leben Osvaldo in seinem ersten Buch neu entdeckt hatte. Mit dem Anführer der „Patagonia Rebelde“, Antonio Soto, über die grundsätzliche Frage diskutieren, ob man Mehrheitsbeschlüsse einer Versammlung ausnahmslos akzeptieren müsse, auch wenn diese den sicheren Tod bedeuten würden.

Mit Simón Radowitzky wollte er sich treffen und mit Kurt Gustav Wilckens, diese Persönlichkeit die ihn so fasziniert hatte, geboren (in Bad Segeberg) wenige Kilometer von hier entfernt, wo ich diese eiligen Zeilen schreibe (Hamburg). Auf seiner Tagesordnung stand ein Treffen mit dem indigenen Anführer Arbolito ganz oben, einem der ersten Gerechtigkeitssuchenden der jungen Republik.
Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Er will jetzt mit seinem Kumpel Rodolfo (Walsh) einen Kaffee trinken, mit seinem Freund Haroldo (Conti), mit Paco (Urondo). Und außerdem muss er ja noch die Geschichte der Entführung und Ermordung von Klaus (Zieschank) aufschreiben, denn die von Elizabeth (Käsemann) hatte er bereits entdeckt und aufgeklärt. Aber vor allem ging er, um all die anonymen Helden und Heldinnen zu treffen, die für eine gerechtere Welt auf dieser Erde kämpften, jene, die sich nicht brechen ließen, und all die Namenlosen, die auch heute täglich ihre Kämpfe führen, ohne in der Zeitung aufzutauchen. Ihnen hörte Osvaldo immer zu und gab ihnen eine Stimme.

Viejo querido, geliebter Alter, danke für all das, was du uns beigebracht hast – als deine Kinder, als Kämpfende, als Bürger und Bürgerinnen, als Menschen.

Lass dich noch einmal umarmen, so wie wir das zuletzt vor kaum einer Woche getan haben.

Erinnerungen an Osvaldo Bayer Im FDCL, Januar 2019 (Foto: FDCL)

 

„WIR WISSEN NICHT, OB WIR NOCH IM LAND ARBEITEN KÖNNEN.”

Darci Frigo, Gründer undKoordinator der Organisation Terra de Direitos und Vizepräsidentdes brasilianischen Nationalen Rates für Menschenrechte (Foto: Cleia Viana_Câmara dos Deputados)

Ihre Organisation Terra de Direitos leistet juristische Unterstützung in Landkonflikten. Insbesondere ist sie im Bundesstaat Pará aktiv, wo es die meiste Gewalt im ländlichen Raum gibt. Der rechtsradikale Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro hat angekündigt, dass er die Aktionen der Landlosenbewegung MST wie terroristische Taten behandeln wird. Am Sonntag vor der Wahl hat er erklärt, dass er das Land von linken Aktivist*innen „säubern“ will. Wie bewerten sie die Situation ihrer Organisation, Terra de Direitos, und der Menschen, die sie verteidigen, sollte Bolsonaro gewinnen?
Die Drohungen Bolsonaros gegen alle linken Aktivisten sind sehr ernst zu nehmen. Er hat ja schon einzelne Organisationen benannt, gegen die er vorgehen will. Er will die zivilgesellschaftlichen Kräfte isolieren, um Wirtschaftsprojekten, die gegen die Verfassung und die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte verstoßen, Tür und Tor zu öffnen. Insgesamt ist das eine sehr beunruhigende Situation, die alle Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen im Land betrifft. Es handelt sich um einen Angriff, der in der brasilianischen Demokratie noch vor zwei oder drei Jahren unvorstellbar war. Mit dem Impeachmentverfahren gegen Dilma Rousseff kamen diese Kräfte auf und wurden immer stärker. Durch die Korruptionsskandalen der letzten Jahre haben die traditionellen rechten Politiker ihre Glaubwürdigkeit verloren. Angesichts der sozialen, ökonomischen und politischen Krise, die Brasilien durchlebt, will die Bevölkerung einen Kandidaten, der verspricht, alles anders zu machen. Und so hat sich Bolsonaro immer präsentiert: Als der Kandidat, der es anders machen wird. Aber was er anbietet ist eine schreckliche Veränderung: Er hat mehrfach erklärt, dass er die demokratischen Institutionen nicht respektiert. Wir in den Menschenrechtsorganisationen sind nun sehr besorgt, sowohl um das Leben der Menschen, die sich in Konfliktsituationen befinden, als auch um das Fortleben unserer Organisationen.

Gewalt gegen linke Aktivist*innen und in Landkonflikten gab es in Brasilien ja auch in den letzten Jahrzehnten. Was ist das Neue an der Gewalt, die nun mit Bolsonaro droht?
Seit dem Impeachment von Dilma versucht das Agrobusiness jede Politik, die weitere Territorien von indigenen und andere traditionellen Bevölkerungsgruppen anerkennt, zu verhindern. Nach der Absetzung von Dilma Rousseff hatten die Farmer weniger Hemmungen, um im Landkonflikten Gewalt einzusetzen. In den Jahren 2012 und 2013 gab es pro Jahr um die 30 Morde im Kontext von Landkonflikten; also Morde an Aktivisten, Gemeindeanführern und so weiter. Im Jahr 2017 waren es 70 Morde. Mit dem Impeachment hat sich also die Gewalt auf dem Land praktisch verdoppelt. 80 bis 85 Prozent dieser Morde fanden im südlichen Teil Amazoniens statt, in den Bundesstaaten Rondônia, dem Norden von Mato Grosso, Pará und Tocantins, also dort, wohin die Agrarindustrie expandiert, dort wo es viele ungelöste Landkonflikte gibt und die meisten Rodungen stattfinden.
Die Gewalt in dieser Region ist bereits jetzt sehr extrem. Aber Bolsonaro beschimpft die staatlichen Kontrollbehörden wie das Umweltministerium IBAMA als linke Extremisten, die nur die Agrarindustrie behindern. Er behauptet, sie würden die Farmer und die Leute, die Wald roden, verfolgen. Bolsonaro will der Agrarindustrie die totale Freiheit geben, um den Amazonas-Regenwald zu zerstören.

Brasiliens Wirtschaft hängt zu 49 Prozent vom Export von Rohstoffen ab. Hauptsächlich handelt es sich um Erze und Soja: Das sind ja auch die Waren, die Amazonien am meisten bedrohen. Die geplanten Staudämme am Fluss Tapajós sollen ja auch eine Wasserstraße herstellen, um diese Rohstoffe aus dieser Region besser abtransportieren zu können. Ende 2016 wurde ja der Bau des größten dort geplanten Staudamms, São Luiz do Tapajós, durch das Umweltministerium IBAMA und die Indigenenbehörde FUNAI verhindert. Glauben Sie, dass diese Pläne mit Bolsonaro wieder auf den Tisch kommen?
Es reicht schon, wenn das Wirtschaftswachstum in Brasilien wieder anzieht, und diese Pläne kommen erneut auf den Tisch. Dann steigt wieder der Energiebedarf und dann kann das Thema wieder aktuell werden. Derzeit wird ja weiterhin die Fernverkehrsstraße BR-163 asphaltiert, die von den Sojaanbaugebieten in Mato Grosso zum Hafen Miritituba am Río Tapajós im Bundesstaat Pará führt. Von dort können die Rohstoffe aus dem Süden Parás und Mato Grosso über den Hafen Santarém verschifft werden. Man sagt, das sei der beste logistische Knotenpunkt für das Landesinnere, weil man über diese Route besser die Absatzmärkte in Nordamerika, Asien und Europa erreicht, als über die bisherige Route, über den Hafen von Santos in São Paulo. Diese ganzen Pläne fußen aber auf der Vorstellung, dass die brasilianische Wirtschaft Rohstoffe exportieren muss, um sich zu entwickeln, anstatt die Binnennachfrage anzukurbeln. Und dieses Entwicklungsmodell führt zu massiver Gewalt bei Landkonflikten und der Zerstörung des Regenwaldes in dieser Region. Insbesondere der Bergbau in dieser Region ist die größte Bedrohung für die ländliche Bevölkerung dort, für Indigene und andere traditionelle Bevölkerungsgruppen. Diese Pläne sehen praktisch vor, die ganze Region in einen einzigen Tagebau zu verwandeln, so viele Projekte liegen bereits vor. Dieser relativ kleine, aber sehr weit verbreitete Bergbau ist meines Erachtens eine größere Gefahr als die großen Wasserkraftwerke, denn er breitet sich auf dem ganzen Territorium aus.

Was denken Sie, wie sieht Brasiliens Zukunft mit Bolsonaro als Präsidenten aus?
Wie sich Bolsonaro konkret als Präsident verhalten wird, kann keiner sagen. Er nimmt an keinen Debatten teil, seine Forderungen sind sehr allgemein gehalten. Er erklärt nicht, wie er sie konkret umsetzen will. Er propagiert einen Antikommunismus wie aus Zeiten des Kalten Kriegs und predigt Hass, damit mobilisiert er die Leute. Dass er damit Erfolg hat, ist auch dem Versagen der bisherigen demokratischen Regierungen geschuldet, die die Verbrechen der Militärdiktatur, die militärische Struktur der Polizei und so weiter aufgearbeitet haben. Es scheint so, als ob sich diese alten Kräfte dafür rächen wollen, dass es eine Redemokratisierung gab und die Armen auf einmal mehr gesellschaftlich teilhaben. Die Armen werden als Feinde dargestellt, und man weiß nicht mal, Feinde von was oder wem sie sein sollen. Die Demokratisierung war in Brasilien abgeschlossen. Die Armen wurden der Gnade des organisierten Verbrechens überlassen. Und die Mafias, wie Comando Vermelho und Primeiro Comando da Capital, drängen immer mehr aus ihren angestammten Gebieten, in Rio de Janeiro und São Paulo, in den Norden des Landes. Die arme Bevölkerung wird so praktisch zu Geiseln dieser Verbrecher. Und diese Bevölkerung wählt dann Bolsonaro, denn der verspricht ihnen einen leichteren Zugang zu Waffen und dass er mit Gewalt gegen diese Kriminellen vorgehen wird. Aber jetzt redet Bolsonaro kaum noch davon, mit Gewalt gegen das Verbrechen vorzugehen. Er redet nur noch über die Gewalt, die er gegen linke Aktivisten anwenden will. Das ist ernst zu nehmen! Auf Whatsapp verabreden sich bereits Bolsonaro-Anhänger, um nach der Wahl Aktivisten zu terrorisieren.

Wenn er wirklich gegen den Drogenhandel vorgehen wollte, müsste er gegen die Farmer*innen vorgehen…
Da besteht ein eindeutiger Widerspruch bei Bolsonaro. Sein Sohn hat sich mehrfach mit Politikern in Rio de Janeiro getroffen, die mit der Mafia in Zusammenhang stehen. Und auf dem Land ist die Situation schon dramatisch. Viele Farmer haben bereits Milizen, die in Landkonflikten die arme Landbevölkerung terrorisieren. Bolsonaro möchte ihnen den Zugang zu Waffen noch erleichtern und verspricht ihnen, mit totaler Freiheit zu agieren. Keine Polizei der Welt tötet mehr Menschen im Einsatz, als die brasilianische und Bolsonaro will der Polizei noch die Lizenz zum Töten erteilen. Er will die Möglichkeit abschaffen, dass ein Polizist, der im Einsatz jemanden tötet, dafür belangt wird. Das alles zusammen ergibt eine explosive Mischung für Brasilien.

Wenn man das alles berücksichtigt, wie bewerten Sie die Möglichkeit für einen effektiven Widerstand gegen Bolsonaro? Und wie können wir hier in Deutschland Solidarität leisten?
Wir haben sehr wenig Zeit, um uns darauf vorzubereiten. Wir können nicht bis Januar abwarten, wenn Bolsonaro das Amt übernimmt. Alles weist darauf hin, dass die zu erwartende Explosion der Gewalt früher beginnt. Die jetzige Regierung ist sehr schwach. In Wirklichkeit wird sie von General Sergio Etchegoyen aufrecht erhalten.
Wir haben sehr wenig Zeit, um zu überlegen, wie wir Menschenrechtsverteidiger schützen können. In den letzten Tagen haben wir den Führungspersönlichkeiten von sozialen Bewegungen mitgeteilt, dass sie nicht mehr alleine herumlaufen sollen, dass sie darauf acht geben müssen, welche Informationen sie von sich preisgeben und so weiter. Der ganze zivilgesellschaftliche Aktivismus ist gefährdet. Am Sonntag vor der Wahl hatte Bolsonaro in einer Rede ja angekündigt, „mit dem Aktivismus Schluss zu machen“. Die Zivilgesellschaft in Brasilien mobilisiert schon den Widerstand dagegen, aber die Gefahr für einzelne Personen ist groß. Wir haben bereits die UNO und die Organisation Amerikanischer Staaten über die besorgniserregende Situation informiert. Es besteht die Gefahr, dass wir wieder in die Militärdiktatur zurückfallen. Wir werden auf jeden Fall sehr viel internationale Solidarität brauchen. Die internationalen Menschenrechtsorganisationen müssen Komitees für Nothilfe gründen, um Menschen zu unterstützen, die Angriffen ausgesetzt sind. Die Drohung Bolsonaros, alle auszuweisen, die anderer politischer Ansicht sind als er, ist nicht rhetorisch zu verstehen. Es ist eine reale Bedrohung. Sie könnte sogar schlimmer werden, als in der Rhetorik. Es droht die physische Auslöschung der Aktivisten. Deshalb bin ich ja gerade in Berlin, um die hiesigen Hilfsorganisationen über diese Bedrohung zu informieren, damit diese Nothilfemaßnahmen einrichten.

DER RUF DES WALDES

Fotos: Pororoca.red

Es ist Donnerstagabend. Morgen früh beginnt das achte Panamazonische Sozialforum (FOSPA) auf dem Gelände der Universität von Tarapoto, einer mittelgroßen Stadt im Nordosten Perus. Auf dem Campus wird noch eifrig gewerkelt: Bühnenbauer*innen verlegen Drainagen, streuen säckeweise Sägespäne und schimpfen auf den Klimawandel. Nach zwei Tagen tropischem Dauerregen steht im großen Veranstaltungszelt knöcheltief das Wasser. Techniker*innen verlegen trotzdem mutig Internetkabel. Internationale Freiwillige rücken Plastikstühle zurecht und machen die Scheinwerfer der Hauptbühne wasserdicht. Nun kann es eigentlich losgehen.
Doch bevor die Veranstaltung beginnt, müssen noch die Geister des Dschungels beschwichtigt werden. Es darf auf keinen Fall wieder regnen! Wie gut, dass das diesjährige FOSPA mit einem spirituellen Eröffnungsritual beginnt. Dieses findet nicht im doch recht lauten Tarapoto statt, sondern im benachbarten Dörfchen Lamas. Hier versammeln sich am Freitagvormittag etwa zweihundert Menschen. Die Aktivist*innen kommen aus Peru, aber auch aus den Nachbarstaaten Bolivien oder Brasilien. Und manch einer hat sogar eine weite Reise auf sich genommen und ist aus dem Kongo oder Haiti zum Forum angereist, um den internationalen Erfahrungsaustausch anzuregen. Europäer*innen sieht man hingegen kaum.

Langsam setzt sich die Menge in Bewegung, zu der parkähnlichen Plaza, auf der die Zeremonie stattfindet. Es geht einen Hügel hinab und einen anderen wieder hinauf, mit spektakulärem Ausblick auf die nebelverhangenen Bergketten von Lamas. Als alle Kinder der Pachamama (Quechua: Mutter Erde) angekommen sind, werden sie herzlich begrüßt, um dann der Erde ihren Dank auszusprechen. Verbunden natürlich mit der Bitte, für gute Energie und gutes Wetter in den kommenden Tagen zu sorgen.

„Die Politiker sollten den Begriff ‚Gutes Leben‘ nicht mal in den Mund nehmen dürfen!“

Und das hat gut geklappt! Auf dem Universitätsgelände von Tarapoto, dem Ort des eigentlichen Geschehens, strahlt am nächsten Morgen die Sonne vor einem wolkenlosen Himmel. Unter dem grünen Blätterdach eines großen Baumes steht ein weißes Zelt. Hier befindet sich das mobile Studio von La Nave Radio, einem Zusammenschluss von Medienmachenden aus dem Amazonasgebiet. In den Sendungen sollen Besucher*innen und Akteur*innen des Forums frei und ehrlich erzählen: was ihnen politisch wichtig ist, warum sie überhaupt hier sind oder welche Konflikte sich gerade in ihren Dörfern und Städten abspielen. La Nave Radio sendet live vom Forum, ist aber auch im Internet zu hören.

Gerade moderieren der Musiker Lucho und der Geschichtenerzähler Leonardo. Beide kommen aus Peru. Ihre Gemeinden Nieva und Nauta liegen am gleichen Fluss, dem Río Marañón, einem Quellfluss des Amazonas. Mit dem Mikrofon kämpfen sie seit Jahren gegen Ölförderung, Holzeinschlag und Infrastrukturprojekte in ihren Gebieten. Themen, die auch ihren heutigen Studiogästen Domingo und Elvia vom ecuadorianischen Indigenen-Dachverband CONFENIAE unter den Nägeln brennen: „Wir entwickeln gerade das Projekt ‚Cuencas Sagradas‘“, verrät Domingo dem Publikum. Übersetzt heißt das die ‚Heiligen Quellflüsse‘. Für ihren Schutz setzt sich CONFENIAE ein. Denn im Río Napo und Río Marañón liege der Ursprung der gesamten Artenvielfalt der Region. „Alle Bodenschätze dort müssen unangetastet bleiben!“, fordert Domingo. So neu klingt das nicht, sondern eher nach Yasuní. Bereits im Jahr 2010 erklärte sich Ecuador dazu bereit, kein Erdöl im Yasuní-Nationalpark zu fördern. Wenn, so die Bedingung, die internationale Staatengemeinschaft dafür Kompensationszahlungen leistete. Doch am Ende fehlte es an willigen Spendern, um die 3,5 Milliarden Euro zusammenzubekommen. Und die ecuadorianische Regierung vollzog eine Kehrtwende: Zwar wird offiziell weiter das „Buen Vivir“ gepredigt, das „Gute Leben“, bei dem Mensch und Natur im Einklang miteinander leben. Tatsächlich verkauft der Staat jedoch seit 2013 auch Förderlizenzen im Yasuní-Park. Die Indigenen sind nicht länger Verbündete. Domingos Mitstreiterin Elvia ist empört: „Von welchem Guten Leben spricht die Regierung, wenn Mutter Erde zerstört wird? Die Politiker sollten diesen Begriff nicht mal in den Mund nehmen dürfen!“

Vor dem Radio-Zelt von La Nave hat sich eine Menge gebildet, die gebannt zuhört. Auch nach der Sendung diskutieren die Zuhörer*innen mit Elvia und Domingo noch lange auf der Straße über den Vorschlag weiter: Würde sich China wirklich auf einen Schuldenschnitt mit Ecuador einlassen und so der Regierung Handlungsspielraum verschaffen? Was ist der im vergangenen Jahr von der UNO geschaffene Klima-Topf wert, wenn am Ende doch niemand einzahlt? Alles Fragen, über die in den kommenden Tagen noch zu reden sein wird.

Starke Frauen: Die Teilnehmerinnen verschaftten sich lautstark Gehör

Rund 1.500 Aktivist*innen, in der Mehrzahl Indigene, haben es zum Sozialforum nach Tarapoto geschafft. Auf die Beine gestellt wird das FOSPA von Vertreter*innen der Basisgruppen und NGOs aus allen teilnehmenden Ländern. Sie schicken Hilfskräfte und bringen so gut wie möglich ihre finanzielle Unterstützung ein. Wen man hier wenig sieht, sind Vertreter*innen aus den größeren Medien. Mitorganisatorin Leslie bedauert das. Zur FOSPA-Pressekonferenz, die im Vorfeld in Lima stattgefunden hat, seien wieder nur die „üblichen Verdächtigen“ gekommen: „Es ist sehr schwer, andere Medienvertreter für unsere Sache zu gewinnen,“ sagt sie und hofft, dass die peruanische Presse vielleicht in Zukunft auch mal gesellschaftspolitisch ambitioniertere Themen auf die Titelseite bringt, als den täglichen Einheitsbrei aus Korruption und Gewalt in den Städten. Doch bis es soweit ist, bleibt die Berichterstattung des FOSPA vor allem in den Händen von Community-Medien, allen voran La Nave Radio, mit ihren Moderator*innen aus dem Amazonasgebiet.

Im weißen Radiozelt macht derweil die Kolumbianerin Dora Muñoz von den indigenen Nasa die Situation in der südwestlichen Provinz Cauca zum Thema. Dora, selbst seit fünfzehn Jahren Medienmacherin, unterstreicht, wie wichtig es sei, dass Indigene selbst über ihre Realitäten berichteten – denn nur so würden Zusammenhänge klarer. Für die Nasa etwa habe sich seit den Friedensverträgen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla vieles geändert: „Einerseits wurde es ruhiger: Man hört keine Flugzeuge mehr, keine Bomben und keine Schießereien.“ Allerdings sei es zu früh, um von einem wirklichen Frieden zu sprechen. Für Dora handelt es sich eher um eine fragile Art von Befriedung. „Es gibt immer noch Morde und Morddrohungen. Auch in diesem Jahr sind bereits fünfzehn soziale Aktivisten ums Leben gekommen. Vertretern von Menschenrechtsorganisationen werden bedroht. Für die Regierung sind das Einzelfälle; doch es steckt ein System dahinter”.

Starke Frauen wie Dora sind auf dem Forum überall präsent.

Erst Mitte April ist Gerson Acosta, ein Sprecher der Nasa, an seinem Wohnort erschossen worden. Seine Gemeinde war bereits 2001 von Paramilitärs angegriffen und vertrieben worden. Es gibt Hinweise, denen zufolge diese bei ihrer Aktion von der kolumbianischen Armee unterstützt wurden. Und die Armee wiederum soll von rechten Unternehmer*innenkreisen dafür bezahlt worden sein. Alles, um sich das ressourcenreiche Gebiet der Indigenen unter den Nagel zu reißen: ein in Kolumbien nicht unüblicher Vorgang. Aktivist Acosta, der immer wieder Ermittlungen zu den Drahtzieher*innen gefordert hatte, war schon mehrfach mit dem Tod bedroht worden. Schließlich hatte er sogar Personenschutz von der Regierung erhalten – und bezahlte doch mit dem Leben. Radiomacherin Dora Muñoz erzählt anschaulich von der Lage in den zuvor von den FARC (der größten kolumbianischen Guerilla) kontrollierten Gebieten, in denen sich jetzt Paramilitärs und Rebellen-Splittergruppen ungehindert breit machen. Doch die indigenen Nasa seien jetzt dabei, eine Gegenstrategie zu entwickeln. Im April hat eine Vollversammlung in Corinto stattgefunden. Dort haben die indigenen Gemeinden und Bäuerinnen und Bauern die Guardia Indígena wieder aktiviert, „mit dem Ziel, keine bewaffneten Gruppen mehr auf ihr Gebiet zu lassen“.

Starke Frauen wie Dora – sie sind auf dem FOSPA überall präsent. Am dritten Tag des Forums findet diesbezüglich noch mal ein Höhepunkt statt: „El Tribunal de las mujeres“ – das Tribunal der Frauen. Auf dem Podium in dem voll besetzten Hörsaal sitzen vier Feministinnen. Heute sind sie Richterinnen. Sie hören sich die Geschichten von kämpferischen lateinamerikanischen Frauen an, die ermordet wurden, deren Täter aber straflos bleiben – wie im Fall der honduranischen Umwelt-Aktivistin Berta Cáceres. Oder die akut vom Tode bedroht sind – wie die Kleinbäuerin Máxima Acuña. Ihre Ackerfläche liegt in der Provinz Cajamarca, im Nordwesten Perus. Mitten in einem Gebiet, in dem die Mega-Goldmine Conga entstehen soll. Wäre da nicht Máxima, die sich weigert zu gehen und ihr Land den Interessen des Extraktivismus zu opfern. Die Gewalt, der sie seitdem unterworfen ist, hat viele Gesichter: Zerstörung ihres Hauses und ihrer Anbauflächen, körperliche Angriffe auf sie und ihre Familie, sexualisierte Gewalt, Hetzkampagnen in der Presse und den sozialen Medien, und schließlich juristische Prozesse, die sie mürbe machen sollen. Zwar haben alle Instanzen bislang zugunsten der Campesina Máxima entschieden. Und für die Richterinnen des Tribunals ist klar: Der Staat muss Máxima vor den Interessen des Unternehmens schützen. Ob die Entscheidungsträger*innen das gehört haben? Vielleicht. Jedenfalls entschied der Oberste Gerichtshof einige Tage nach Ende des Forums im Interesse der Kleinbäuerin. Conga Ade! (siehe Kurznachricht in dieser Ausgabe) Vorerst jedenfalls.

Überzeugend: Interview mit indigener Aktivistin

Am 1. Mai ist Tag der Arbeit und zugleich der letzte Tag des Panamazonischen Sozialforums. Geregnet hat es in den ganzen Tagen kaum einen Tropfen, und auch die Energie der Teilnehmenden ist weiterhin gut. Im Hauptzelt werden vormittags die Beschlüsse der einzelnen Arbeitsgruppen vorgestellt und die „Charta von Tarapoto“ verlesen. Darin steht, dass der Kapitalismus, welcher sich aktuell in rücksichtslosem Rohstoffabbau und „grüner Ökonomie“ ausdrücke, im Amazonas die Rechte der Bevölkerung und der Natur in Frage stelle. Er bedrohe die Nachhaltigkeit indigener Territorien und die Ernährungssicherheit der Bevölkerung. In dem Abschlussdokument des diesjährigen FOSPA wird einmal mehr das „Gute Leben“ als neues Paradigma des Zusammenlebens angepriesen. In mehr als zwanzig Unterpunkten werden konkrete Ideen und ehrgeizige Forderungen formuliert: vom Ende der Monokulturen, über die bessere Verwirklichung von Minderheiten- und Frauenrechten bis hin zu einer neuen Beziehung zwischen ländlichen und urbanen Räumen.

Bei den Besucher*innen und auch bei La Nave Radio stehen die Uhren auf Abschied. Die letzten Sendungen werden gefahren, dann soll das Zelt abgebaut und eingepackt werden, bis zum nächsten Jahr. Dann soll das Forum in Kolumbien stattfinden. Da taucht Domingo von der CONFENIAE noch mal auf. Er lächelt für ein Gruppenfoto. Und erzählt von den Schritten, die er in den letzten Tagen unternommen hat, um das Schutzprojekt der Cuencas Sagradas auf die Beine zu stellen: „Wir haben hier mit vielen peruanischen Basisgruppen gesprochen. Anfang Juli werden wir uns in San Lorenzo, Peru, noch einmal alle zusammenfinden.“ Und bereits vorher soll es ein Treffen mit der ecuadorianischen Regierung geben. Im Herbst, bei dem Weltklimagipfel in Bonn, wird dann auch in Deutschland von den heiligen Quellflüssen und dem Schutz der Amazonas-Region die Rede sein. Gerade wegen der vielfältigen Probleme sei es unerlässlich, Ideen und Perspektiven zu entwickeln, die über nationalstaatliche Initiativen hinausgingen, sagt Domingo: “Wir müssen unsere Kräfte vereinen, uns die Hände reichen und endlich die Grenzen zwischen den Ländern vergessen. Das ist das Wichtigste.”

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