REVOLUTIONÄRE KOMMUNISTIN, ANTIFASCHISTIN, MUTTER

(Bild: Verbrecher Verlag)

„Am 27. November 1936 gebar Olga auf der Krankenstation des Gefängnisses Barnimstraße ihre Tochter Anita Leocádia“. Auf so nüchterne Art und Weise beschreibt die brasilianische Historikerin Anita Leocádia Prestes hier ihre eigene Geburt in Berlin. In Olga Benario Prestes. Eine biografische Annäherung erforscht die heute 86-Jährige die Lebensgeschichte ihrer Mutter, der deutschen Kommunistin und Revolutionärin Olga Benario Prestes, die 1936 hochschwanger von Brasilien an die Nazis ausgeliefert wurde. Anita Leocádia selbst kommt im Alter von zwei Jahren aus dem Gefängnis frei und wächst bei der Familie ihres Vaters Luís Carlos Prestes auf, der in Brasilien im Gefängnis sitzt. Ihre Mutter sieht Anita Leocádia nie wieder: Olga Benario Prestes wird im April 1942 nach jahrelanger Haft in Berlin und im Konzentrationslager Ravensbrück in der Tötungsanstalt von Bernburg ermordet.

Die Perspektive, aus der sich Prestes dieser facettenreichen Lebensgeschichte nähert, ist vor allem die einer Historikerin, die der Tochter bleibt zunächst untergeordnet. Die Autorin wertet teilweise neu entdeckte Geheimdokumente der Gestapo aus, schreibt sachlich, zitiert Originalquellen. Von sich selbst spricht sie in der dritten Person, von ihrer Mutter – an die sie sich selbst nicht erinnern kann – nur als Olga. Neben diesen Texten versammelt das kürzlich im Verbrecher Verlag erschienene kurze Buch eine Handvoll Fotos sowie ausgewählte Briefwechsel zwischen Olga Benario Prestes und dem brasilianischen Revolutionär Luís Carlos Prestes. Dass die zwischen ihnen geschlossene Ehe nie offiziell anerkannt und Olga die brasilianische Staatsangehörigkeit nie gewährt wurde, hatte ihre Auslieferung an die Nazis erst ermöglicht. Abgeschlossen wird die kleine Sammlung von einem sehr gelungenen Interview mit LN-Redakteurin Caroline Kim. Erst hier spricht Anita Leocádia Prestes aus persönlicher Perspektive über die Beziehung zu ihren Eltern und das Andenken an Olga Benario Prestes in Brasilien.

Die im Untertitel formulierte „Annäherung“ trifft gut, was dem Buch gelingt: Statt einen ohnehin unerfüllbaren Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben – schließlich füllt alles, was über die Biografie von Olga Benario Prestes bekannt ist, jetzt schon ganze Bände – versteht Prestes ihr Werk als Ergänzung und Aktualisierung der bisher vorhandenen Literatur. Die so entstandene Sammlung konzentriert sich vor allem auf die letzten Lebensjahre von Olga Benario Prestes im Frauengefängnis in der Berliner Barnimstraße und im Konzentrationslager Ravensbrück.

Dabei rücken bisher weniger behandelte Aspekte in den Vordergrund: die internationale Solidaritätskampagne für die Freilassung von Mutter und Tochter, die Rolle der Familien von Olga Benario und Luís Carlos Prestes sowie die akribisch geführte Bürokratie der Nazis, die ihre menschenverachtenden Machenschaften minutiös dokumentiert. Dabei war die Gefangene „Olga Sara Benario“ – unter diesem Namen findet sich ihre Akte – den Nazis gleich doppelt ein Dorn im Auge: als Jüdin und „gefährliche Kommunistin“.

Als Reaktion auf die zahlreichen öffentlichkeitswirksamen Forderungen nach einer Ausreise in die Sowjetunion oder nach Mexiko wäre eine Freilassung trotz bürokratischer Hürden zwar denkbar gewesen, jedoch unter einer Bedingung: Olga Benario Prestes hätte ihre Aktivitäten als Kommunistin gegenüber den Nazis gestehen und damit auch ihre Gefährt*innen verraten müssen. Dieser Bedingung beugte sie sich nie: „Wenn andere zum Verräter geworden sind, ich werde es jedenfalls nicht“ ist ein Satz, der diese Standhaftigkeit auf den Punkt bringt. Bis zum Schluss zeigte sich Olga Benario Prestes als mutige Antifaschistin und unterstützte ihre Mitgefangenen. Noch auf dem Lastwagen nach Bernburg hinterließ sie den Hinweis: „Die letzte Stadt war Dessau. Wir wurden aufgefordert, uns auszuziehen. Nicht misshandelt. Auf Wiedersehen.“

Besonders beeindruckend zeigt das Buch, welch persönliches Leid Olga Benario Prestes während der Haft für ihre Vehemenz in Kauf nahm: die Trennung von ihrer Tochter, die räumliche Distanz zu Luís Carlos Prestes, die täglichen Entwürdigungen durch die Gestapo. Der Briefwechsel zwischen Olga und Luís Carlos führt Leser*innen nicht nur vor Augen, unter welchen Ungewissheiten sich die Kommunikation von Gefängnis zu Gefängnis gestaltete, sondern auch, in welches Verhältnis die beiden ihr Privatleben zum größeren politischen Weltgeschehen setzten: „Aber angesichts des grossen Leidens unserer Zeit, wage ich kaum wieder mit dem persönlichen Schicksal zu hadern, das uns nun schon so lange von unserem Kinde trennt.“ Im Jahr 1941 erreichten diese Zeilen von Olga Benario Prestes in einem letzten Brief Luís Carlos in Brasilien, danach blieb es still. „Meine Kindheit war ein ständiges Warten auf Briefe“, erinnert sich die Historikerin Anita Leocádia Prestes im Interview. Denn erst 1945 erfährt die Familie, dass Olga Benario Prestes das Konzentrationslager Ravensbrück nicht überlebt hat.

Mit dem Buch will Anita Leocádia Prestes die Geschichte ihrer Mutter im Gedächtnis behalten und an alle Opfer des Faschismus erinnern. „Es ist wichtig, dass neue Generationen sie kennen. (…) Der Kulturkampf der Reaktionären und Bürgerlichen [ist] sehr groß. Und man muss sich dem entgegensetzen. Man muss den jungen Menschen die historische Wahrheit näherbringen“, sagt sie im Interview. Diese wichtige Aufgabe erfüllt das kleine Buch auf jeden Fall, daher ist es erfreulich, dass die Sammlung auch auf Deutsch erschienen ist. Hoffentlich finden die darin enthaltenen kurzen und sehr lesenswerten Texte weite Verbreitung, auch bei jungen Menschen. Denn in Zeiten, in denen Rechtsextreme und rechte Verschwörungsideolog*innen mit Umsturzfantasien Parlamente stürmen, ist das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus ebenso dringend nötig wie jede andere antifaschistische Praxis.

FEST AN DER SEITE DER BEVÖLKERUNG

Misstrauen gegenüber Parteien Das Lebensmotto von Victor Pey (Foto: Nils Brock)

Victor Pey wurde im August 1915 in Madrid geboren. Er wuchs in einem anti-autoritären Ambiente und einem Elternhaus voller kritischer Ideen auf. Sein Vater Segismundo war Schriftsteller und antiklerikaler Priester, der zivilen Ungehorsam predigte und die Soutane irgendwann ganz an den Nagel hing. Von seinem Sohn Víctor wissen wir, dass er sich während des spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) den Anarchosyndikalist*innen anschließt und am 24. Juli 1936 mit der “Kolonne Durruti” von Barcelona los zieht, um die Stadt Zaragoza aus den Händen der frankistischen Truppen zu befreien. Später ist er für die republikanische Regierung in Barcelona aktiv, um die zivile Industrie Kataloniens auf die Kriegsproduktion umzustellen. Als Barcelona fällt, flüchtet er mit seinem Bruder Raúl zu Fuß über die Pyrenäen. „Zum Glück hatten wir einen Kompass mit“, erinnert sich Pey in einem Interview mit dem Rechercheprojekt Allendes Internationale. „Aus Angst vor Bombenangriffen war auf spanischer Seite nachts alles abgedunkelt. Als wir eines Tages Lichter sahen, war uns klar, dass wir französischen Boden erreicht hatten.“
Die Familie Pey wird eine Zeit lang im Konzentrationslager Rivesaltes, in der Nähe von Perpiñán interniert. Französische Freimaurer erreichen ihre Freilassung und bringen sie nach Lyon, von wo aus Víctor heimlich nach Paris weiterreist. Abends arbeitet er für die Exilregierung der spanischen Republik in der Rue Salazar, tagsüber sucht er fieberhaft nach einem persönlichen Ausweg.

Pablo Neruda als Fluchthelfer

Beim Spazierengehen liest er eines Nachmittags an einem Zeitungskiosk die Nachricht, der Dichter Pablo Neruda halte sich als Sonderbeauftragter Chiles in Paris auf, um spanische Flüchtlinge auszuwählen, die in seinem Land politisches Asyl erhalten würden. Unverzüglich sucht Pey das Gespräch mit ihm. Neruda notiert seinen Namen, verspricht aber nichts. Monate später, am 4. August 1939, legen Pey und seine Familie an Bord des Ozeandampfers Winnipeg in Bordeaux ab. “Ich erinnere mich an diesen Moment, als die Winnipeg den Anker lichtete und sich in Bewegung setzte”, erzählt Pey. “Auf dem Achterdeck hatte sich ein Chor aus Katalonen gebildet und intonierte das Lied „L’Emigrant“. Mich hat das tief beeindruckt, das ist unvergesslich.“ Einige Tage später trifft das Schiff in Valparaiso ein und noch während der Begrüßung der spanischen Flüchtlinge lernt Pey den damaligen Gesundheitsminister Salvador Allende kennen – der Beginn einer großen Freundschaft, die erst mit dem gewaltsamen Tod Allendes am 11. September 1973 endet. Pey findet eine Beschäftigung als Landvermesser und ermöglicht so seiner Familie eine gesicherte Existenz. Noch in den 1940er Jahren beginnt er Artikel für die Zeitschrift La Hora zu schreiben. Während dieser Zeit freundet er sich mit dem Journalisten Darío Sainte-Marie an, der in den 1950er Jahren die Tageszeitung Clarín gründen wird. Dieses Blatt erlangt sehr bald große Beliebtheit. Nicht nur aufgrund seiner gewagten Sprache, sondern auch wegen seiner teils reißerischen Schlagzeilen und Aktfotos (mitunter begleitet von machistischen und homophoben Kommentaren). In den 1960er Jahren hatte die Auflage bereits 150.000 Exemplare erreicht. Das Motto des Clarín lautete: “firme junto al Pueblo”, was soviel heißt wie “fest an der Seite der Bevölkerung”.Dem Clarín gelingt es, die Hegemonie der rechten Unternehmer-Blätter zu brechen. Die Zeitung repräsentierte die Aufstiegsambitionen der breiten Masse und unterstützte ab 1969 die Präsidentschaftskandidatur von Allende. Pey war es dann, der den Clarín 1972 kaufte und damit fortan “beständig und schlagkräftig” die Politik der Regierung bis zum letzten Tag verteidigte. “Jeden Tag, wenn ich gegen halb acht abends aus der Druckerei kam, brachte ich dem Präsidenten das neueste Exemplar”, erzählt Pey. So auch am 10. September 1973. Am nächsten Morgen jedoch, um 4 Uhr verhindern Armeeeinheiten die Auslieferung der aktuellen Ausgabe. Wenige Tage später konfisziert die Militärjunta den Sitz des Clarín. Nach Herausgeber Pey wird gefahndet und einmal mehr ist er gezwungen, um Asyl zu bitten, diesmal in der Botschaft Venezuelas, von wo aus er zuerst nach Caracas und später nach Paris reiste.

In den 1990er Jahren gründet Pey gemeinsam mit seinem Freund, dem spanischen Anwalt Joan Garcés, der in Chile als Berater der Regierung der Unidad Popular gewirkt hatte, die Stiftung “Fundación española Salvador Allende”. Die Institution hat 1998 entscheidenden Anteil an der Verhaftung von Augusto Pinochet in London und dem darauf folgenden Prozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Bereits einige Jahre vorher, nach Ende der Diktatur, war Pey nach Chile zurückgekehrt und beteiligte sich aktiv am Kampf für die Menschenrechte sowie an der Erinnerungsarbeit für die Unidad Popular. 2015 ehrte ihn die Universität von Chile zu seinem 100. Geburtstag mit der “Medaille des Rektorats”. Bei der Verleihung sagte Pey: “Für uns bedeutet Chile Freiheit, wir fanden eine Beschäftigung, hier arbeitete ich, hier verliebte ich mich […], hier unterstütze ich die Regierung von Salvador Allende, den Anführer eines Sozialismus ohne Blutvergießen, den chilenischen Weg zum Sozialismus, mit Empanadas und Rotwein [und] hier stehe ich jetzt vor euch, bei dieser Hommenage die mir so viel bedeutet.”

Eine Entschädigung für die Enteignung der Zeitung Clarín erreicht Pey bis zuletzt nicht

Bis zu seinem Tod am 5. Oktober 2018 versuchte Pey das Grundstück vom Clarín zurückzubekommen und von Chile eine Entschädigung für die Enteigung zu erwirken – ohne Erfolg. Dabei hatte eine internationales Schiedsgericht der Weltbank (Ciadi) die Rückgabe angeordnet und den chilenischen Staat zur Zahlung von 10 Millionen Dollar verurteilt. Doch der Fall konnte nie abgeschlossen werden, da sich ausnahmslos alle Regierungen nach Ende der Diktatur weigerten, dem Schiedspruch nachzukommen.
Im Alter von 103 Jahren erinnert sich Pey besonders gern an seine Zeit als Professor für Industrieingenieurwesen an der Staatlichen Technischen Universtität (UTE) und die langen, schlaflosen Nächte, in denen er Allende beriet. Über die revolutionären Zeiten die Pey mitgestaltete, sagte er: “Meine Position allem gegenüber war stets eine misstrauische Haltung gegenüber politischen Parteien. Das ist meine libertäre Essenz, die ich mir immer bewahrt habe.”

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