LEBEN IN SCHWARZ-WEIß UND ROT

Ob gegen Kosaken, das Gefängnis in Ushuaia oder spanische Faschist*innen – immer kämpfte Simón Radowitzky für sich und die Freiheit. So gab er Anarchist*innen in Argentinien und weltweit Hoffnung und Kraft.

Agustín Comottos Graphic Novel Simón Radowitzky – Vom Schtetl zum Freiheitskämpfer, 2016 auf Spanisch erschienen und endlich ins Deutsche übersetzt, ist eine besondere Biografie des berühmten Anarchisten. 1891 wird Radowitzky in Štěpanice, einem jüdischen Dorf in der heutigen Ukraine, geboren. Antisemitische Pogrome vertreiben ihn in die nächste Großstadt, aus der er nach Argentinien fliehen kann. Simón sieht, wie die Arbeiter*innen unterdrückt werden und wie mit Gewalt versucht wird, die ungerechten Verhältnisse zu stabilisieren. In Buenos Aires findet er schnell Kontakte zu Anarchist*innen und erlebt die „Rote Woche“ nach dem 1. Mai 1909 mit, in der rund 100 Arbeiter*innen den Waffen der Polizei zum Opfer fielen. Er beschließt, den verantwortlichen Polizeichef Ramón Falcón mit einer Granate zu töten, wird gefasst, zu lebenslanger Haft verurteilt und ins Gefängnis am „Ende der Welt“ gesteckt.

Weil er zu seiner Tat stand und sie nie bereute, wurde Simón Radowitzky zu einem Symbol der anarchistischen Bewegung – obwohl er das Märtyrertum ablehnte. Mit Hilfe von Gefährt*innen gelang ihm schließlich die Flucht. Er kehrte zurück nach Europa und kämpfte in Spanien mit den Internationalen Brigaden gegen Franco. Nachdem die Faschist*innen Barcelona eingenommen hatten, floh er nach Frankreich und von dort nach Mexiko-Stadt, wo er 1956 als einfacher Fabrikarbeiter starb.

Agustín Comotto zeichnet diese beeindruckende Biografie in den passenden Farben. Radowitzkys Leben war schwarz, weiß und rot: schwarz und weiß, weil entbehrlich und prekär, aber immer mit klaren Fronten. Rot wegen der Gewalt, die es sein Leben lang nicht geschafft hat, das Menschliche in ihm zu brechen. Manchmal liegt sie schon vorher in der Luft, manchmal ist sie strukturell. Dazu kommen die rauen Formen und die kantigen Gesichter der Unterdrückten. Besonders die Darstellungen des Gefängnisses in Ushuaia beschreiben mit schroffen Formen den brutalen Alltag zwischen der sogenannten Eiszelle und Zwangsarbeit. Schwarz und Rot stehen gleichzeitig für Radowitzkys politische Überzeugung: den Anarchosyndikalismus.

Auch – oder gerade – auf Leser*innen, die mit Graphic Novels nicht vertraut sind, entwickelt das großformatige Buch eine unfassbare Sogwirkung. Die Comiczeichnungen lassen einen ganz in Simóns Freiheitskampf eintauchen und verdeutlichen die Kluft zwischen menschlichem Willen und unterdrückender Gegenwart. Allein die einfachen Dialoge des Genres bringen beim Lesen und Staunen manchmal kleine Hindernisse in Form fehlender Überleitungen zwischen den einzelnen Bildern und Szenen. In jedem Fall ist die Graphic Novel aber ein starkes Werk, das uns die Probleme und Kämpfe vergangener Tage vor Augen führt und gleichzeitig Kraft schenken kann, die eigene Unterdrückung auch in unserer Zeit nicht weiter hinzunehmen.

ERINNERUNGSSPLITTER

Dass Bolivien ein wichtiges Einwanderungsland nach dem zweiten Weltkrieg war, ist relativ bekannt. Weniger verbreitet ist allerdings, welche Beziehungen zwischen den heterogenen Gruppen von deutschen Immigrant*innen bestanden. Dieser Frage widmet sich das Buch „Transnationale Spurensuche in den Anden“ von Juliana Ströbele-Gregor.
Die Autorin, die als Kultur- und Sozialanthropologin unter anderem am Lateinamerika-Institut der FU Berlin forschte, ist Wissenschaftlerin, doch zugleich auch Zeitzeugin: Mit 9 Jahren kam sie 1952 als Tochter des ersten deutschen Botschafters nach dem zweiten Weltkrieg nach Bolivien. Ströbele-Gregors „Erinnerungssplitter“, die die dokumentarische Spurensuche leiten, sind subjektive Anknüpfungspunkte für eine detaillierte Darstellung des sozio-politischen Gefüges im Bolivien der 50er und 60er Jahre. Anhand von Einzelschicksalen, darunter ihr eigenes, beschreibt die Autorin die Erfahrungen der Emigrant*innen aus Nazi- und Nachkriegsdeutschland. Zitate aus den vielen Interviews, die sie mit Kindheitsfreund*innen in den 2000er Jahren führte, verschmelzen mit Archivquellen, diplomatischen Berichten und zeitgenössischen Artikeln zu einer „multiperspekt­ivischen Geschichtserzählung“.
Dabei fokussiert sich Ströbele-Gregor auf die Perspektiven der drei völlig verschiedenen deutschen Einwanderungswellen: Da war zunächst die alteingesessene deutsche Kolonie, die schon seit Ende des 19. Jahrhunderts in Bolivien existierte und deren Bewohner*innen oftmals antisemitisch eingestellt waren. Während des zweiten Weltkrieges, als Bolivien zunächst noch eine sehr großzügige, wenn auch interessengeleitete Migrations- politik verfolgte, kamen zudem geschätzte 10.000 Jüd*innen ins Land. Sie suchten Zuflucht vor den Nazis, von denen einige nach Kriegsende ebenfalls nach Bolivien flüchteten, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Die Clubs und Schulen, in denen die Deutschen ihr sozio-kulturelles Leben organisierten, bestehen zum Teil bis heute. Die Lebensräume der Juden und Jüdinnen waren davon stark abgegrenzt. Die Autorin kritisiert, dass die nationalsozialistischen Tendenzen der deutschen Kolonie in der (Nach-)Kriegszeit bis heute nicht ausreichend aufgearbeitet wurden.
Nicht zuletzt durch den Beruf ihres Vaters kam Ströbele-Gregor mit den sehr unterschiedlichen Kreisen in Kontakt. Dabei hörte sie viele Fluchtgeschichten, die für sie diffus blieben; erst später kam das Verstehen und damit „die Scham, Deutsche zu sein“. So stellte sich 1972 etwa heraus, dass der Vater einer Schulfreundin Klaus Barbie war, der „Schlächter von Lyon“. Die Autorin widmet ihm und Monika Ertl, einer weiteren Schulfreundin und der angeblichen Mörderin von Che Guevara, jeweils ein ganzes Kapitel. Zwei der drei Kapitel sind also personenbezogen und relativ kurz. Eine Gliederung anhand der drei Gruppen von Migrant*innen wäre eventuell schlüssiger gewesen. Nichtsdestotrotz besticht das Buch durch seine Detailliertheit, die nur selten trocken wirkt. Die „Erinnerungssplitter“ bleiben aufgrund der kindlichen Perspektive eher schwammig; dennoch sind sie eine interessante Ergänzung, die die Fülle an Fakten auflockert. So gelingt es Ströbele-Gregor, die Forschungslücken hinsichtlich der Beziehungen von geflüchteten Jüd*innen und alteingesessenen Deutschen in Bolivien mit einem persönlichen Werk über ihre „emotionale Heimat“ zu verkleinern.

 

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