„WIR SIND IN EINER DREIFACHKRISE“

DR. WALTON WEBSON
ist Botschafter von Antigua und Barbuda bei den Vereinten Nationen. Zudem ist er 2021 und 2022 turnusmäßiger Vorsitzender der Allianz der kleinen Inselstaaten (AOSIS), der 39 Inselstaaten angehören, darunter auch größere wie Kuba oder gar das auf dem Festland liegende Guyana. Alle sind wegen ihrer geografischen Lage besonders vom Klimawandel betroffen.
(Foto: Martin Ling)

Kleine Inselstaaten wie Ihr Heimatland Antigua und Barbuda waren bereits vor der Covid 19-Pandemie aufgrund ihrer wenig diversifizierten Wirtschaft und ihrer besonderen Bedrohung durch Klimawandel mit zunehmenden extremen Wetterereignissen wie Hurrikanen besonders anfällig für Überschuldung. Wie hat sich die Pandemie ausgewirkt?
Um es mit einem Wort zu sagen: zerstörerisch. Die Pandemie hat die schwierige Lage der Inselstaaten, in der sie bereits zuvor waren, weiter verschärft. Durch die Pandemie sind die Inselstaaten nun einer Dreifachkrise ausgesetzt: Zur Klima- und Schuldenkrise hat sich eine Krise im Gesundheitssektor hinzugesellt. Außerdem haben sich durch zusammenbrechende Lieferketten infolge der Pandemie viele Güterpreise auf dem Weltmarkt stark erhöht, was für die stark importabhängigen Inselstaaten verheerend ist. Und eine der Haupteinnahmequellen, der Tourismus, ist zusammengebrochen und hat sich bis heute nur ansatzweise erholt. Und unabhängig davon drohen durch den Klimawandel jeder Insel immer verheerende Wirbelstürme, die immense Schäden hervorrufen können, die in der Vergangenheit teils an einem einzigen Tag mehr als die jährliche Wirtschaftsleistung vernichtet haben! Bahamas traf es 2019, Dominica und Antigua und Barbuda 2017, um nur die verheerendsten der vergangenen Jahre zu nennen.

Die AOSIS, der Sie vorstehen, hat am 29. Juni 2020 in der ersten Welle der Pandemie mit einer bemerkenswerten öffentlichen Erklärung auf diese Probleme aufmerksam gemacht. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, forderten Sie von der internationalen Gemeinschaft konkrete Antworten: eine Ausweitung des bestehenden Schuldenmoratoriums auf alle kleinen Inselentwicklungsstaaten (SIDS), die Einbeziehung aller Gläubiger in das Moratorium und, was noch wichtiger ist und über die vorübergehende Aussetzung der Zahlungen hinausgeht, die Schaffung eines ganzheitlichen Entschuldungsmechanismus. Was war die bisherige Antwort?
Die Antwort fiel sehr zögerlich aus. In den Internationalen Finanzinstitutionen (IFIS) werden verschiedene Optionen diskutiert. Mal geht es einen Schritt voran, mal einen zurück. In der ersten Runde konnten nur wenige SIDS von den Sonderziehungsrechten des Internationalen Währungsfonds (IWF) profitieren und sich so zu niedrigen Zinsen Liquidität verschaffen. Die meisten SIDS müssen sich bei kommerziellen Banken Kredite verschaffen und das zu Zinssätzen, die weit über denen liegen, die große europäische Staaten zu zahlen haben. Das Entgegenkommen ist sehr begrenzt. Aber wir bleiben dran, weil wir dranbleiben müssen, wir machen weiter Druck, denn wir bleiben hoch verschuldet, wir bleiben verletzlich wegen unserer exponierten geografischen Lage.

Wie gehen Sie vor?
Wir arbeiten an der Milderung der Probleme und suchen nach Partnern, die uns dabei helfen. Die Schuldenkrise ist lösbar abhängig von den Beziehungen zwischen den Gläubigerstaaten zu den kleinen Inselstaaten. Unsere Verletzlichkeit muss anerkannt werden. Wir können nichts für den Klimawandel, wir können nichts für unsere geografische Lage und wir können sie auch nicht ändern. Wir können nur mit ihr umgehen und das ist auch unser Plädoyer: Lasst uns zusammenarbeiten. Wir sind in einer Dreifachkrise. In einer Krise darf man nicht langsam reagieren, man muss schnell reagieren, man muss den Betroffenen schnell helfen.

Dass es möglich ist, zeigt sich beim Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, oder? Da wurde schnell mit Hilfen für die Ukraine reagiert.
Sehr guter Punkt. Das zeigt, dass es gemacht werden könnte, auch im Falle der kleinen Inselstaaten. Es ist offensichtlich, dass wir noch mehr Druck machen müssen. Die Reaktion auf den Krieg ist überwältigend: Zig Milliarden Dollar wurden in kürzester Zeit mobilisiert. In der Ukraine spielt sich ein humanitäres Desaster ab. Aber das spielt sich abgesehen vom Krieg auch in den Inselstaaten ab. Ich sage das jeden Tag.

In Ihrem Vorschlag zur Bewältigung der Schuldenkrise sprechen Sie von einem ganzheitlichen Entschuldungsmechanismus. Was verstehen Sie darunter?
Nun, wir haben die bestehenden Strukturen von Schuldenerlassen unter die Lupe genommen, weil sie überarbeitet werden müssen. Dabei ist uns klar geworden, dass alle Gläubiger in die Schuldenerlassinitiativen einbezogen werden müssen, auch die Geschäftsbanken, nicht nur die multilateralen Institutionen und die staatlichen Gläubiger, sondern eben auch die privaten. Alle Beteiligten müssen an einen Tisch, Schuldner und alle Gläubiger. Sonst wenden Gläubiger unterschiedliche Strategien an, die Privaten kassieren rücksichtslos weiter, die Öffentlichen erlassen nur teilweise nach eigenem Ermessen. Das ist der erste Schritt. Und danach muss dann überlegt werden, bei welchem Land reicht ein Moratorium, bei welchem Land muss es einen Schuldenerlass geben. Die Schuldentragfähigkeit muss Land für Land untersucht werden. Wo handelt es sich nur um eine zeitweise Krise und wo müssen grundsätzlich die Schulden umstrukturiert werden, weil das Land sonst keine Chance hat? Dann muss entschieden und schnell gehandelt werden. Aber das Wichtigste ist: Alle an einen Tisch, ein Abkommen, an das alle Gläubiger gebunden sind.

Ein All-Inclusive-Ansatz für Gläubiger wie sonst im Tourismus?
Ja, genau.

Sie haben Ihre Forderungen im Prozess der Entwicklungsfinanzierung auf der Ebene der Vereinten Nationen vorgetragen. Deutschland kommt hier durch seine derzeitige G7-Präsidentschaft eine besondere Rolle und Verantwortung zu, auch im Rahmen der Vereinten Nationen. Kann Deutschland mit der G7-Präsidentschaft Impulse setzen?
Wir würden es sehr begrüßen, wenn Deutschland seinen Einfluss geltend machen würde, damit die SIDS stärker in Schuldenmoratoriums- und Schuldenerlassinitiativen eingebunden werden würden. Wir brauchen zur Bewältigung unserer Dreifachkrise starke Partner. Deutschland ist potenziell einer. Deswegen führen wir hier Gespräche mit der Bundesregierung. Wir wünschen, dass sich die Bundesregierung in ihrer G7-Präsidentschaft und darüber hinaus für die Belange der kleinen Inselstaaten stark macht. Die internationale Gemeinschaft steht in der Pflicht, darauf zu achten, dass niemand zurückgelassen wird. Sie steht in der Pflicht, den kleinen Inselstaaten zu helfen, die den Klimawandel nicht verursachen, aber am stärksten unter ihm zu leiden haben. Die Verletzlichsten müssen geschützt werden.

Gibt es ein europäisches Land, das sich bereits besonders um die Belange der Inselstaaten verdient macht?
Wir haben bilaterale Partnerschaften mit einer Reihe von Ländern. Deutschland gehört da leider noch nicht dazu. Deutschland sollte sich einreihen, auch bei den Vereinten Nationen. Dort wird mit den SIDS an der Entwicklung eines Multidimensionalen Verletzlichkeits-Index (MVI) gearbeitet. Damit sollen die besonderen Bedürfnisse der kleinen Inselstaaten erfasst werden, die vom Pro-Kopf-Einkommen nicht zu den ärmsten Staaten der Welt gehören, aber besonders den Folgen des Klimawandels und externen Schocks ausgesetzt sind, die außerhalb ihrer Verantwortung liegen. Von den Änderungen der EU-Marktpräferenzen für Afrika-Karibik-Pazifik-Staaten über die globale Rezession nach der Lehmann-Pleite 2008 bis hin zum Klimawandel und zu COVID-19 sind die externen Schocks stets von anderen verursacht, beziehungsweise andernorts ausgelöst worden. Ein MVI mit globaler Beteiligung soll mehr Daten und ein besseres Verständnis für das Klimarätsel liefern, das wir alle zu lösen versuchen. Die MVI-Expertengruppe hat das Mandat des UN-Generalsekretärs António Guterres und wird vom Ministerpräsidenten von Antigua und Barbuda, Gaston Browne, geleitet, zusammen mit der ehemaligen norwegischen Regierungschefin Erna Solberg. Also Norwegen ist ein echter Partner für die kleinen Inselstaaten, Deutschland noch nicht. Wir sind auf der Suche nach mehr Partnern.

Wenn es um die Schuldenfrage geht, sitzen Sie nicht mit am Tisch. In der G7, der G20 oder dem Pariser Club hat die AOSIS keinerlei Stimme, im IWF und der Weltbank ist Ihr Einfluss minimal. Wie wollen Sie Ihren Einfluss stärken?
Prinzipiell sehe ich zwei Wege. Die demokratisch repräsentativste Organisation sind die Vereinten Nationen. Dort haben wir wenigstens eine Stimme, weil wir dort vertreten sind. Dort werden wir auch gehört. Wir haben die Frage der Folgen des Klimawandels dort mit auf den Tisch gebracht. Seit der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio sind wir eine einflussreiche Stimme. Die Aufmerksamkeit für den Klimawandel wurde durch uns gestärkt, nicht so schnell, wie wir es gewünscht hatten, aber es gab einen Wandel. Es wurden auch Verpflichtungen eingegangen, nicht voll umgesetzt, aber immerhin aufgrund unseres Druckes eingegangen. Wir werden diesen Weg fortsetzen und in den Vereinten Nationen auf einen Wandel drängen und wirken. Der zweite Weg sind bilaterale Partnerschaften wie hoffentlich auch bald mit Deutschland. Es ist ein langer Weg, aber wir arbeiten an diesem Wandel. Im Moment verdrängt der Ukraine-Krieg den Klimawandel und die Schuldenproblematik aus der globalen Aufmerksamkeit. Das können wir uns nicht dauerhaft erlauben. Die großen globalen Herausforderungen müssen gemeinsam bewältigt werden.

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