„Ich bin 24 Jahre alt – 19 davon habe ich unter der Regierung von Hugo Chávez beziehungsweise seinem Nachfolger Nicolás Maduro gelebt. Chávez und Maduro, das ist eigentlich das Gleiche – nur mit anderem Gesicht. Ich kann mich an das ‘Venezuela von früher’ kaum erinnern, an die Boomjahre des Erdöls, als sie unser Land ‘Saudi-Venezuela’ nannten wegen des ökonomischen Reichtums und der vielen Migranten. Seit einigen Jahren durchleben wir nun schon eine schwere wirtschaftliche und politische Krise. Der Migrationsprozess hat sich umgekehrt: Unser Hauptexportprodukt ist nicht mehr Erdöl, sondern Menschen. Mehr als eine Million Venezolaner hat das Land in den vergangenen Jahren verlassen. Die meisten von ihnen sind gut ausgebildet.
Was mich motiviert, aktiv zu sein und friedlich in jeder mir möglichen Art zu protestieren? Die Angst, etwas zu verpassen. Der Wille, das Venezuela meiner Eltern und Großeltern kennen zu lernen, in dem man mit viel Arbeit auch viel erreichen konnte. Und die Traurigkeit darüber, dass wir als junge Bürger wissen, dass andere Menschen unseres Alters fast überall in der Welt nicht die gleichen existenziellen Probleme haben wie wir: dass sie wieder einen deiner Freunde ermordet haben, dass wieder ein Mitbürger das Land verlassen hat, dass wieder jemand entführt wurde. Und dass dein miserables Gehalt nicht einmal ausreicht, Brot, Käse oder Milch zu kaufen, weil es an fast allem mangelt.
Es ist traurig, beobachten zu müssen, wie unser Land verwelkt.
Es ist traurig, beobachten zu müssen, wie unser Land verwelkt, weil eine Gruppe von Personen entschieden hat, der Bevölkerung das Geld zu stehlen und die Menschen durch Repression einzuschüchtern. Es ist das Land meiner Eltern und Großeltern, meiner ganzen Familie, und ich habe das Gefühl, es wieder aufbauen zu müssen.
Die Studierendenbewegung muss man sich als eine Art abstrakte Masse vorstellen, die in regelmäßigen Abständen viel Bedeutung erhält und bekannte Gesichter hervorbringt. 2007 war die erste massive Mobilisierung und viele von denen, die damals aktiv waren, sind heute Abgeordnete oder Bürgermeister. Die derzeitige Situation im Land hat auch bei der aktuellen Generation zu einer starken Mobilisierung geführt. Studierende aller Universitäten, der privaten und öffentlichen, treffen relevante Entscheidungen in ihren Regionen. Sie rufen zu Demonstrationen auf, an denen ein großer Teil der Zivilbevölkerung teilnimmt, und auch Politiker und Gewerkschafter. An den aktuellen Protesten beteiligen sich mehr Universitäten als in den Jahren zuvor. Auch meine Universität, die Universidad Metropolitana (Unimet), spielt eine sehr wichtige Rolle, vor allem bei Aktionen in Caracas. Die Bewegung organisiert sich durch die sogenannten ‘Inter-U’ (interuniversidades). Das sind wöchentliche Sitzungen, an denen alle studentischen Repräsentanten teilnehmen und Entscheidungen treffen. Durch die derzeitige Krise finden die Sitzungen mittlerweile fast täglich statt, oft nehmen über 100 Studierende teil.
Die Demonstrationen heute gehen auf die Proteste im Jahr 2014 zurück. Die Repression der Regierung hat seitdem stark zugenommen. Traurige Bilanz dieser Entwicklung: Es gibt immer mehr Verletzte. Oft sind bei einer einzigen Demonstration mehrere hundert Verletzte zu beklagen – und das sind nur diejenigen, die wir zählen können, weil sie von den Sanitätsteams der verschiedenen Universitäten behandelt werden. Die Dunkelziffer derjenigen, die durch Tränengas und Bleigeschosse verletzt werden, ist noch viel höher. Eine Tränengasbombe tötete einen Student meiner Universität Ende April. Das hat selbst die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz bestätigt, obwohl Regierungsmitglieder wie Padrino López und Diosdado Cabello öffentlich das Gegenteil behaupteten. In meiner Heimatstadt Maracaibo wurde ein Medizinstudent, der als Sanitäter einem Verletzten helfen wollte, bei einer Demonstration von einem Panzer überfahren.
Die Studierendenbewegung wird nicht aufhören zu protestieren
Die Studierendenbewegung wird nicht aufhören zu protestieren – bis es einen Regierungswechsel gibt. Wir werden nicht zulassen, dass die Proteste, wie im Jahr 2014, gewaltsam erstickt werden. Am Anfang gingen wir auf die Straße, weil die Regierung die Regionalwahlen abgesagt hat. Jetzt protestieren wir, weil die Krise so gigantisch ist, weil der Mangel und die Inflation uns umbringen – und wenn uns das nicht umbringt, dann tun es die Kriminellen, die heute oft uniformiert auftreten. Nicht selten rauben Polizisten und Mitglieder der Nationalgarde Demonstrierende aus, bevor sie sie niederschlagen. Ich habe gesehen, wie eine Freundin von einer Wache geschlagen wurde und sie ihr das Handy, die Gasmaske, den Helm geraubt haben. Ich habe gesehen, wie eine Wache anfing, mit einem Militärwagen Demonstrierende anzufahren. Die Zahl der Schwerverletzten und Toten nimmt immer mehr zu.
Heute Studentin zu sein, ist extrem kompliziert. Der Unterricht an den privaten Universitäten findet zwar statt und es werden weiterhin Leistungen eingefordert und benotet. Das Land geht aber auch auf die Straße und die Proteste überschneiden sich häufig mit den Kursen. Oft stehen wir vor der Wahl: Uni oder Demo. Ich versuche, auf alle Demonstrationen zu gehen, die irgendwie in meinen Zeitplan passen. Es ist mittlerweile Routine geworden, direkt vom Campus zur Demonstration zu gehen. Gasmaske, Helm, Wasser und Snacks habe ich eigentlich immer dabei. Ab und zu auch Medikamente – für alle Fälle. Meistens trage ich ein T-Shirt meiner Universität, falls mir etwas passiert.
Die Studierendenbewegung ist gut organisiert, die Repräsentanten der verschiedenen Universitäten agieren sehr homogen – obwohl die letzten Monate extrem brutal waren. Unter den Toten sind sehr viele Studierende aus der Bewegung. Es sind Menschen, mit denen wir gemeinsam studiert haben. Eines Tages waren ihre Stühle in den Seminarräumen leer. Die Repression hat sie getötet.
Ich wohne in dem Stadtviertel Santa Fe, einem der Hauptschauplätze des ‘Kriegs des Ostens’. In manchen Nächten heizt sich die Situation so sehr auf, dass man das Tränengas bis in den 15. Stock riechen und die Wohnung nicht mehr verlassen kann. Straßen werden blockiert. Überall brennen Gegenstände. Es ist kompliziert.
Ich bin sicher, dass die Berichte stimmen und auch die Opposition Gewalt ausübt. Allerdings waren alle Demonstrationen, auf denen ich bislang gewesen bin, solange friedlich, bis die Nationalgarde anfing, Tränengas und Gummigeschosse einzusetzen. Zum Teil zielen sie sogar mit Schusswaffen auf uns. Nach allem, was ich bislang erlebt habe, geht die Gewalt eigentlich in fast allen Fällen von staatlicher Seite aus.
Die Demonstrierenden verteidigen sich mit selbstgebastelten Waffen, mit Molotov-Cocktails, Schleudern oder Pflastersteinen. Ich habe ein paar Mal gesehen, dass Demonstrierende versucht haben, Gewalt zu provozieren, in dem sie anfingen Steine zu werfen. Allerdings hielten andere Demonstrierende diese Personen immer zurück.
Ich bin sicher, dass auch Mitglieder der Opposition Gewalt anwenden. Aber die große Mehrheit der Protestbewegung unterstützt die Gewalt nicht. Deswegen ist die Methode, die wir Platón nennen, auch so erfolgreich: Menschen blockieren Straßen und sorgen so für einen Stillstand der Stadt. Konkret sieht das so aus: Man geht raus, setzt sich auf einen Stuhl in die Mitte der Straße, liest ein Buch oder spricht mit anderen Demonstrierenden. Bis zum abgesprochenen Zeitpunkt wird der Platz nicht verlassen. Und so waren bisher alle Aufrufe der Opposition friedlicher Protest. Gerade gab es wieder einen Platón im ganzen Land, den ganzen Tag über von 10 bis 20 Uhr.
Es gibt eine Art informativen Blackout.
Jeden Tag wird es schwieriger zu erfahren, was in unserem Land passiert. Es gibt eine Art informativen Blackout. Journalisten wurden bedroht, ihre Ausrüstung konfisziert oder geraubt. Jeden Tag kommt es zu Protesten in Venezuela. Eine schlechte Nachricht wird am nächsten Tag von einer noch schlechteren übertroffen.
Vor wenigen Tagen war ich auf einer Demonstration, die gewalttätig niedergeschlagen wurde. Wir mussten fliehen. Eine ältere Frau, die in einem Haus in der Nähe wohnte, ließ uns – mehr als 30 Unbekannte – in ihrer Garage ausharren. Wir setzten uns verängstigt auf den Boden und hörten zu, wie draußen die Polizei vorbeizog und Tränengasbomben abfeuerte, obwohl alle Demonstrierenden längst geflohen waren. Wir teilten Wasser, Zigaretten und Süßigkeiten unter uns Unbekannten auf – Menschen mit verschiedenen sozialen Hintergründen und politischen Ausrichtungen, die sich sonst wahrscheinlich nie über den Weg gelaufen wären.
Auch das ist seltsam: Wir fühlen uns schuldig, weil das Leben trotzdem irgendwie weitergeht. Die Menschen heiraten, haben Geburtstag, machen ihren Abschluss. Manchmal nach den Protestmärschen treffen wir uns und feiern die wenigen guten Dinge, die es noch gibt. Die Kontraste sind gigantisch. Manchmal läuft man vor der Nationalgarde davon und rennt dabei an Leuten vorbei, die in Restaurants sitzen, als würde nichts passieren.
Neulich wurden 20 Studierende verschiedener Universitäten hier in Caracas festgenommen, als sie friedlich protestierten. Wir von Apoyo Unimet versuchen vor allem, Studierenden von der Universität Simón Bolívar zu helfen. Im Gegensatz zu den anderen Universitäten in Caracas hat diese Universität nämlich keine juristische Fakultät und somit auch keine juristische Assistenzstelle. Es macht mich unglaublich traurig zu sehen, wie mit den Studierenden umgegangen wird. Gleichzeitig fühle ich mich betroffen, weil es Studierende sind – so wie ich. Die Wachen sperrten die 20 Studierenden in einen Lastwagen ohne Kennzeichen und schmissen dort Tränengasbomben hinein. Die Studierenden sind fast erstickt. In Fällen wie diesen können wir wenig tun, aber wir müssen es dennoch versuchen.
Ende des Monats findet die Verfassunggebende Versammlung (Asamblea Nacional Constituyente, ANC) statt, die alle Hoffnung auf Demokratie, die noch bleibt, auslöschen wird. Mit der ANC lösen sich alle anderen politischen Mächte quasi auf. Sie ist sogar mächtiger als der Präsident selbst. Aber sollte es wirklich zur ANC kommen, dann hört diese Republik im Grunde auf zu existieren.“