STOCKENDE REFORMEN

Steht vor großen Herausforderungen Petro bei seiner Amtseinführung (Foto: Raúl Ruiz-Paredes via Flickr, CC BY-SA 2.0)

„Der kürzlich veröffentlichte Index für ungewöhnliche Arbeitsbedingungen bezüglich der Arbeitszeiten in den OECD-Ländern (Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) zeigt bedauerlicherweise, dass Kolumbien zusammen mit der Türkei auf dem letzten Platz liegt. Im Vergleich zu den anderen Ländern in der OECD sind wir Gesellschaften, die ihre Arbeitnehmer am meisten ausbeuten, obwohl sie den Reichtum produzieren“ – sagte Präsident Petro vom Balkon des Regierungspalast aus, in einer langen Rede am 14. Februar.

In seiner Rede versuchte er die Menge seiner Anhänger*innen zu begeistern, und somit seiner Arbeitsreform breite Unterstützung zu verschaffen. Seine Absicht ist es, einen Großteil der Maßnahmen zur Flexibilisierung der Arbeit umzukehren, die von Präsident Álvaro Uribe im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ergriffen wurden. Damit soll die Prekarisierung der Arbeit bekämpft und Arbeit würdevoller gestaltet werden.

Obwohl der Entwurf der Reform noch nicht vorliegt, hat die Regierung bereits begonnen, erste Schritte in diese Richtung zu unternehmen. Ende 2022 schlug Petro vor, den öffentlichen Dienst in Rekordzeit zu professionalisieren. Sein Plan sieht vor, die Verträge zur Erbringung von Dienstleistungen – kurzzeitige Werkverträge – im öffentlichen Dienst abzuschaffen. Mit diesen Verträgen kann eine Person nur für ein paar Monate eingestellt werden, also nur für eine kurze Zeit ohne Anrecht auf soziale Leistungen. Dadurch erspart sie dem Arbeitgeber, Urlaub zu bezahlen oder das Gehalt aufgrund von Betriebszugehörigkeit zu erhöhen. Wenn diese Regelung abgeschafft wird, müssen Arbeitskräfte nicht befürchten, ihren Job nach einigen Monaten zu verlieren, wenn sie sich einer Gewerkschaft anschließen oder Urlaub fordern.

Laut dem Plan der Regierung sollen alle Staatsangestellten innerhalb weniger Monate eine feste Anstellung bekommen. Allerdings haben Stimmen innerhalb derselben Regierung diesen Plan in Frage gestellt. Zum Beispiel glaubt César Manrique, Direktor der Verwaltungsabteilung des öffentlichen Dienstes, dass dieser Wechsel sehr viel langsamer sein wird, da sechs von zehn öffentlichen Angestellten über diese Form der Anstellung verfügen – fast eine Million Arbeiter*innen. „Außerdem werden viele dieser Werkverträge verwendet, um politische Gefälligkeiten zu bezahlen“, sagte Manrique dem Magazin Cambio. Die Arbeitsministerin Gloria Inés Ramírez, ehemalige Gewerkschafterin und Mitglied der kommunistischen Partei, sagte ebenfalls, dass die Reform in wenigen Monaten „unmöglich umzusetzen ist“ und warnte davor, dass Eile in dieser Angelegenheit zu einer Lähmung des Staates führen kann. Trotzdem teilt auch Ramírez Petros Ambitionen. Im Februar sagte sie der Zeitung El Tiempo: „Alle Verträge müssen unbefristet und mit Sozialversicherung sein. Wir müssen die Prekarisierung der Arbeit beenden.“ Verträge mit befristeter Laufzeit sollten nur in Ausnahmefällen abgeschlossen werden, so die Ministerin. In Kolumbien arbeiten rund 2,5 Millionen Menschen, etwa 20 Prozent der Arbeitskräfte des Landes (laut dem staatlichen Statistikamt DANE), im Rahmen dieser Regelung.

Darüberhinaus begeisterte Petro in seiner Ansprache die Menge mit der Forderung, dass „der Arbeitstag um 18 Uhr enden sollte, nicht um 22 Uhr.“ So wird erwartet, dass Arbeitskräfte ab 18 Uhr Nachtzuschläge erhalten. Dies würde auch für die Arbeit an Samstagen oder Sonntagen gelten, Tage, die laut Petro „als Ruhezeit betrachtet werden sollten.“ Diese Maßnahmen würden auch Änderungen rückgängig machen, die Uribe vor 20 Jahren einführte, welche die Arbeitgeber*innen von Überstundenzahlungen bis 21 Uhr befreite. Außerdem soll die Reform unter anderem die Beschäftigung bei digitalen Plattformen wie Uber reglementieren. Voraussichtlich sind dadurch keine großen Maßnahmen zur Lösung der informellen Beschäftigung zu erwarten. Denn 58,2 Prozent der kolumbianischen Arbeitnehmer*innen haben keinen Arbeitsvertrag oder ein festes Gehalt, und zahlen auch keine Sozialabgaben. Dabei handelt sich meistens um Menschen wie beispielsweise Straßenverkäufer*innen und Schwarzarbeitende.

Das Reformpaket stellt Petro und seine VErbündeten vor Herausforderungen

Die Arbeitsreform ist nur eine von vielen Reformen, die die Regierung in der ersten Hälfte des Jahres 2023 vorlegen will. Eine Reform des Gesundheitssystems soll die enormen Korruptionsprobleme der privaten Krankenkassen (Empresa Prestadora de Servicios, EPS) angehen. Eine Reform des Rentensystems soll das private individuelle Sparmodell reduzieren, und ein öffentliches, solidarisches System stärken.

Am Tag von Petros Rede wurde dem Kongress auch der Entwurf für die Gesundheitsreform vorgelegt. Diese Reform sieht vor, dass der Staat die Verwaltung des Gesundheitsbudgets wieder übernimmt. Die Kritik sowohl aus der Regierungskoalition als auch von der Opposition ließ nicht lange auf sich warten. Einen Tag nach Petros Rede sprach sich die Opposition mit Demos gegen die Reformen aus. Sogar Roy Barreras, der Präsident des Kongresses und ein Verbündeter von Petro, hat den Vorschlag der Ministerin heftig kritisiert: der Staat habe nicht die Kapazität, eine Milliarde Vorgänge wie Arztbesuche und Rezepte pro Jahr zu kontrollieren und zu verwalten, deshalb sei ein privater Vermittler notwendig.

Dieser Entwurf hat auch die erste Krise im Kabinett verursacht, denn Alejandro Gaviria, zwischen 2012 und 2018 Gesundheitsminister und heute Bildungsminister unter Petro, hat in zwei vertraulichen Dokumenten die Reform unter scharfe Kritik gestellt. Diese Dokumente wurden geleakt, was das Misstrauen des Präsidenten Gaviria gegenüber weckte. Am 27. Februar, nach etwa einem Monat Krise, kündigte Petro den Rücktritt Gavirias an. Auch die geplante Rentenreform hat zu Konflikten zwischen dem Präsidenten und seinem Finanzminister José Antonio Ocampo geführt. Die Dissonanz beruht darauf, dass Petro will, dass nur Personen mit hohen Einkommen privat für ihr Alter sparen. Ocampo hingegen ist der Meinung, dass individuelles Sparen nicht zu sehr eingeschränkt werden sollte. Laut Ocampo könnten durch die Gesetzesänderung und den Wegfall ihrer jetzigen Klient*innen, die Privatfonds gefährdet werden. Nicht zu vergessen ist hierbei, dass die privaten Rentenfonds zu den größten Kreditgebern des Staates gehören. Petro und Ocampo sind sich jedoch darin einig, dass Geringverdiener*innen in einem öffentlichen und solidarischen Rentensystem besser geschützt wären.

Es wird Regierbarkeit benötigt, aber es ist Wahlzeit

Petro plant, dieses umfangreiche Reformpaket vor Mitte des Jahres zu verabschieden. Aber die Kongresskoalition, die er zu Beginn seiner Regierung aufgebaut hat und die sich gegen die extreme Rechte durchsetzen konnte, besteht nicht nur aus Sympathisant*innen. Auch die Konservativen und die Liberalen gehören dazu: etablierte Parteien, die bis zum letzten Jahr auf einer anderen Seite als Petro standen. Diese fragile Allianz scheint zuweilen zu schwanken. Einerseits hat die Konservative Partei eine neue Führung gewählt: Efraín Cepeda, der ein harter Kritiker von Petro war. Andererseits hat der Präsident der Liberalen Partei, Cesar Gaviria, ein umfangreiches Dokument veröffentlicht, in dem er das von der Regierung vorgeschlagene Reformpaket kritisiert.

Vielleicht liegt hier der Grund, warum die Regierung es mit ihrem Reformpaket so eilig hat: Sie will um jeden Preis vermeiden, dass die Debatten im Kongress mit den im August beginnenden Wahlkämpfen zusammenfallen. Im Oktober 2023 werden in ganz Kolumbien Bürgermeister*innen und Gouverneur*innen gewählt. Es ist vorhersehbar, dass die Parteien der Koalition versuchen könnten, sich im Wahlkampf voneinander abzugrenzen, um ein gutes Ergebnis bei den Wahlen zu erzielen.

Laut Umfragen verliert Petro an Popularität, da im Februar nur noch 39 Prozent der Kolumbianer*innen seine Regierung unterstützten, während es im Oktober noch etwa 51 Prozent waren. Wenn die Beliebtheit von Petro weiter sinkt, ist ungewiss, was für seine Koalitionsparteien wie die Konservativen und die Liberalen wichtiger ist: die Zukunft der Reformen oder sich von der Regierung zu distanzieren, um bei den lokalen Wahlen im Oktober gut abzuschneiden.

Bei all diesen Risiken ist es immer noch zu früh, zu beurteilen, was mit den geplanten Reformen passieren wird. Bisher hat die Regierungskoalition in den vergangenen Monaten trotz schlechter Aussichten solide Mehrheiten für andere wichtige Gesetze sichern können, wie zum Beispiel beim „Gesetz des totalen Friedens” (LN 584) und für eine progressive Steuerreform. Schon bald wird der Ball erneut auf Seiten des Kongresses sein. Dort scheint es ein grundsätzliches Verständnis für die Notwendigkeit der Reformen zu geben. So hat es zumindest der Präsident des Kongresses, Roy Barreras, deutlich gemacht, indem er sagte, dass die Reformen verabschiedet werden müssen¸ weil „der Wandel nicht aus Reden besteht, Wandel besteht aus Reformen.“ Sicher ist eines: Zum Erfolg der Reformen wird Petro jetzt – mehr denn je – sein kompromissbereitestes Gesicht zeigen müssen.

AGGRESSIVER KAMPFHUND STATT LAHME ENTE

Die Lage bleibt unübersichtlich in Brasilien. Aber eines wird deutlich: Die Opposition gegen die Regierung von Michel Temer gewinnt an Kraft und erobert die Straße zurück. Deutliches Signal dafür war der Generalstreik am 28. April (siehe Kasten), der einen der erfolgreichsten Ausstände in der jüngeren Geschichte des Landes darstellte. Aber es ist nicht nur der Generalstreik: Im ganzen Lande flammen diverse Proteste auf. In unglaublich kurzer Zeit hat die durch ein umstrittenes Impeachmentverfahren an die Macht gekommene Regierung Temer jegliche Unterstützung in der Bevölkerung verspielt.

Gründe dafür gibt es mehr als genug. Nach zwei Jahren schwerer Rezession kommt die Wirtschaft immer noch nicht in Schwung. Die Regierung hat es immer schwerer, für diese Wirtschaftsmisere nur das Vermächtnis der vorangegangenen Regierungen verantwortlich zu machen. Insbesondere die Zunahme der Arbeitslosigkeit trifft die Bevölkerung hart. Nichtsdestotrotz versucht die Regierung Temer eine „Reformagenda“ durchzusetzen, die aus dem kleinen Einmaleins des Neoliberalismus zu stammen scheint. Staatsausgaben sind bereits für eine langen Zeitraum gedeckelt und die Tertiärisierung – also die Verlagerung von Arbeitskräften auf den Dienstleistungssektor – erleichtert worden.

Nun werden zwei entscheidende Elemente der Reformagenda im Parlament verhandelt: eine Reform des Arbeitsrechtes und eine Rentenreform. So soll ermöglicht werden, dass in Tarifverträgen im Einverständnis von Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen auch Vereinbarungen getroffen werden können, die unterhalb der rechtlichen Rahmenbedingungen liegen, also etwa bei Regelungen für Urlaub oder Überstunden. Angesichts einer zersplitterten und fragmentierten Gewerkschaftsbewegung würde diese perverse Auslegung von Tarifautonomie dem Sozialabbau Tür und Tor öffnen. Auch bei der Rentenreform geht es um das übliche: Erhöhung des Rentenalteres und verschärfte Bedingungen für den Erhalt einer Rente, die insbesondere Landarbeiter*innen hart treffen würde. Beide Reformen sind – wie Umfragen zeigen – in der Bevölkerung extrem unbeliebt.

Die Regierung Temer hat kein demorkatisches Mandat solche Reformen durchzuführen.

Insbesondere die Rentenreform sieht die Bevölkerung als Angriff auf Rechte, die Teil der gesellschaftlichen Kultur Brasiliens sind. Die Regierung Temer hat kein demokratisches Mandat, solche umstrittenen Reformen durchzuführen. Temer ist als Vize einer Präsidentin gewählt worden, die zumindest im Wahlkampf eine neoliberale Wende in Brasilien als Antwort auf die Wirtschaftskrise entschieden ablehnte.

Trotz fehlender Legitimierung, einer kurzen Amtszeit von maximal etwa zweieinhalb Jahren und katastrophalen Umfragewerten ist die Regierung Temer alles andere als eine „lahme Ente“, sie erweist sich immer mehr als aggressiver Kampfhund für eine extrem reaktionäre Wende.

Diese Wende zeigt sich nicht nur in der angestrebten Arbeits- und Rentenreform, sondern auch in der Umweltpolitik. Der Etat des zuständigen Ministeriums ist um um die Hälfte gestrichen worden, internationale Gelder des Amazonasfonds mussten eingesetzt werden, um eine Minimum von Kontrolle in Amazonien zu ermöglichen. Und dies alles in einer Zeit, in der der Anstieg der Entwaldung in Brasilien wieder für internationale Schlagzeilen sorgt.

Besonders hart trifft es auch die indigene Bevölkerung und traditionelle Gemeinschaften. Im Parlament werden eine Reihe von Gesetzesvorhaben verhandelt, die deren Rechte fundamental einschränken. So soll der Bau von Straßen und die Ausbeutung von Bodenschätzen in indigenen Territorien oder anderen Schutzgebieten erleichtert werden.

Dabei geht es nicht nur um einzelne Maßnahmen. Durch die Regierung Temer fühlen sich reaktionäre Kreise und insbesondere das Agrobusiness ermuntert. Die Wahl des Großgrundbesitzers und Sojaproduzenten Blairo Maggi zum Landwirtschaftsminister ist ein deutliches Signal an diese Klientel. Ein ganz anderes Signal haben die indigene Völker erhalten. Die für sie zuständige Behörde FUNAI wurde nicht nur finanziell ausgetrocknet, sondern auch der extrem reaktionären und und von evangelikalen Gruppen dominierten Christlich-Sozialen Partei PSC zugeschlagen. Diese ernannte prompt zuerst einen Militär als Präsidenten der Behörde, und dann einen Priester – doch auch der musste bald zurücktreten. Indigene Völker haben daher eine historische einmalige Mobilisierung gegen die Regierung Temer auf die Beine gestellt: Ende April versammelten sich bis zu 3.000 Vertreter*innen indigener Völker und Unterstützer*innen in Brasilia zu einem Zeltlager, das sie „Terra Livre“ nannten.

Mitten in diese komplizierten und unruhigen Zeit platzte eine weitere politische Bombe: Im Rahmen des nicht enden wollenden Korruptionsskandals, der Brasilien nun seit geraumer Zeit erschüttert, wurden die Aussagen der Chefs des größten brasilianischen Baukonzerns Odebrecht veröffentlicht. Dazu kam eine Liste des Untersuchungsrichters Fachin mit den Politiker*innen, die unter Anklage gestellt werden. Nun wurde offensichtlich, was schon lange vermutet worden war: Das gesamt politische System ließ sich von dem Baugiganten schmieren, Politiker*innen fast aller Parteien finden sich auf der Liste, einschließlich der bisherigen Präsidentschaftskandidaten der wichtigsten Oppositionspartie PSDB. Die Aussagen und die Liste belasten führende Politiker*innen der Arbeiter*innenpartei PT schwer, sie werden beschuldigt illegale Parteispenden in dreistelliger Millionenhöhe entgegengenommen zu haben. Aber dasselbe trifft auch auf führende Oppositionspolitiker*innen zu, Odebrecht war zu allen Seiten hin spendabel. Dabei beschränkt sich der Aktionskreis des Konzerns nicht auf Brasilien: Nach eigenen Angaben hat der Konzern in zwölf Ländern illegale Zahlungen in Höhe von 788 Millionen US-Dollar getätigt (siehe LN 513).

Indigene Völker haben eine historische Mobilisierung gegen die Regierung aufgestellt.

Die Regierung Temer ist zentral von den Ermittlungen betroffen, acht Minister stehen nun unter Anklage. Temer selbst entkommt der Anklageerhebung nur, weil er durch das Präsidentenamt eine erweiterte Immunität genießt. Die bittere Tragödie des Impeachmentverfahrens ist nun für alle sichtbar: Durch die Amtsenthebung Dilma Rousseffs (die nicht auf der Liste erscheint!) im August vergangenen Jahres ist die wohl korrupteste Regierung Brasiliens in das Amt gelangt – unter dem Vorwand des Kampfes gegen Korruption.

Im Kern der strafrechtlichen Ermittlungen stehen nicht deklarierte und damit illegale Zuwendungen an Parteien und einzelne Politiker. Aber die Aussagen von Firmenchef Marcelo Odebrecht enthüllen noch ein andere Dimension der Geschichte: die quasi symbiotische Beziehung zwischen Lula und den Odebrechts. Die Geschichte begann schon vor der Zeit Lulas als Präsident (2003 – 2010). Eine Episode in dieser langen Beziehung wirft ein Schlaglicht darauf, wie sich die Interessen des Unternehmens mit dem Handel der Regeirung und Präsident Lula direkt vermischen. Unter der Lula-Regierung wurden der lange unterbrochene Bau von Großstaudämmen in der Amazonasregion wieder aufgenommen. Jirau und Santo Antonio im Bundestaat Rondonia waren die Bahnbrecher dafür. Als es Schwierigkeiten mit der Umweltlizenz für den von Odebrecht übernommenen Staudamm von Santo Antonio gab, mischte sich Lula direkt ein und beschwerte sich sinngemäß: „Nun muss ich mich auch noch um die Welse kümmern“. Der Satz und die Welse (bagre) wurde berühmt als Ausdruck von Lulas ostentativer Missachtung von ökologischen Fragen. Lulas Einmischung war nicht ohne Folgen: Der Chef der Umweltbehörde IBAMA musste den Hut nehmen, die Lizenz wurde erteilt und der Staudamm gebaut. Nun erfahren wir von Marcelo Odebrecht die ganze Geschichte: „Wenigstens einmal traf ich mit dem damaligen Präsidenten Lula um zu fordern, dass nicht zu einer Verzögerung bei der Finanzierung von Santo Antonio durch die (staatliche Entwicklungsbank) BNDES kommen dürfe. Ebenso bat ich um eine spezielle Unterstützung, damit es nicht zu einer Verzögerung bei der Erteilung der Umweltlizenzen komme, was auch den gesamten engen Zeitplan gefährdet hätte. Lula hat dann unsere Unzufriedenheit mit dem berühmten Satz ausgedrückt: ‚Jetzt kann wegen des Wels‘ nicht gebaut werden, sie haben den Wels in meinen Schoss geworfen. Was habe ich damit zu tun?‘“

Insgesamt hat Odebrecht nach eigenen Angaben etwa 80 Milllionen Reais (circa 25 Millionen US-Dollar) spendiert, um den Bau von Santo Antonio zu erleichtern.

Die politische Bewertung der Beziehung zwischen Lula und Odebrecht steht aber nicht im Mittelpunkt der aktuellen Debatte. Es geht in erste Linie um die Frage der strafrechtlichen Relevanz der Vorwürfe. Und da beteuert Lula – wie alle anderen Beschuldigten – seine völlige Unschuld.

Der politische Effekt der jüngsten Wendungen scheint paradox: Nach einer Ende April veröffentlichten Befragung durch das Institut Datafolha würde Lula bei Präsidentschaftswahlen deutlich vorne liegen. Das war schon bei den letzten Umfragen so, aber Lula hat noch einmal zugelegt und würde jetzt alle bekannteren Oppositionspolitiker*innen auch in einer Stichwahl klar besiegen. Nur gegen eine Person liegt er knapp zurück: gegen den untersuchenden Richter Moro, der zur Personifizierung der Ermittlungen der Operation Lava Jato geworden ist. Die Umfragen zeigen ein zutiefst gespaltenes Land. Gut 40 Prozent der Befragten würden Lula wählen und praktisch eben so viele den erklärten Widerpart und das Idol aller Lula- und PT-Hasser, den smarten Richter Moro. Aber Moro ist kein Kandidat und würde er es, dann müsste er sich in die Tiefen des von ihm angeblich bekämpften politischen Systems begeben und könnte leicht an Glaubwürdigkeit und Zustimmung verlieren.

Ein weitere neue Entwicklung in den Umfragen ist der Aufstieg Jair Bolsonaros, des erklärt rechtsextremen Politikers, der die Folterer der Militärdiktatur feiert und Homosexuelle verfolgen will (siehe LN 503). Mit 15 Prozent der Stimmen liegt er bei den Umfragen für den ersten Wahlgang auf Platz zwei. Im Zug der politischen Auseinandersetzungen formiert sich also in Brasilien eine rechtsradikale Strömung und versucht zunehmend Einfluss auf die Politik zu gewinnen.

Natürlich lassen solche Umfragen noch keine Schlussfolgerungen auf das Ergebnis der Wahlen zu, die planmäßig im Oktober 2018 stattfinden werden. Aber sie markieren eins: die wiedergewonnene Zentralität der Person Lulas im Brasilien der Gegenwart. Für das PT-Lager aber auch wohl für viele andere, die zuletzt mit der PT-Regierung unzufrieden waren, stellt nun Lula die einzige politisch aussichtsreiche Alternative zu einer reaktionären Wende da. Große Teile der Linken unterstützen die Kandidatur Lula 2018 – auch aus völligen Mangel an Alternativen und dem Eindruck, welchen Schaden eine reaktionäre Regierung wie die von Temer anrichten kann. Gleichzeitig wird die Linke damit aber auch in großem Maße abhängig von der Person Lulas und dessen politischen Perspektiven.

Für das rechte Lager hingegen wird die politische Vernichtung Lulas im Mittelpunkt stehen. Eine Karte ist dabei ausgespielt: die Korruption. Denn in einer weiteren Umfrage von Datafolha sehen die Befragten in Lula den korruptesten aller Präsidenten seit 1989, dem Jahr der ersten Wahlen nach dem Ende der Militärdiktatur. Die resignierende Ansicht, dass Korruption ein unvermeidlicher Teil des politischen Systems sei, kommt offenbar vor allem Lula zugute.

Für die Rechte bleibt die juristisch Verfolgung Lulas, um zu verhindern, dass dieser überhaupt kandidieren kann. Damit haben sich aber die juristische und politische Dimension zu einem unentwirrbaren Knäuel verwickelt. Lula nun auf juristischen Wege kalt zustellen hieße, zu verhindern, dass der zurzeit populärste Politiker Brasiliens bei den Wahlen antreten darf. Dies würde eine heftige Reaktion der sozialen Bewegungen und großer Teile der Bevölkerung provozieren. Der Generalstreik war ein Auftakt für weitere unruhige Zeiten in Brasilien.

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