EIN SIEG IM RÜCKEN UND MIT DER BEWEGUNG ALS HORIZONT

Verónica Gago ist Aktivistin, Journalistin und Mitglied im Kollektivverlag Tinta Limón. Gago lehrt als promovierte Sozialwissenschaftlerin an den öffent­lichen Universitäten UBA und UNSAM in Buenos Aires (Foto: Florencia Trincheri)

Mit der Konjunktur des Feminismus in den vergangenen Jahren ist auch wieder ein liberaler Feminismus in Mode gekommen. Die breite Bewegung in Argentinien führt Diskussionen, die über die zur „gläsernen Decke“ hinausgehen und eine Klassenanalyse miteinschließen. Kannst du diesen Charakter der argentinischen Bewegung etwas beschreiben?

Die feministische Bewegung in Argentinien ist eine rebellische Bewegung. Sie hat das Ziel wirklich etwas zu verändern. Sie ist eine Bewegung, die sich gegen Ungerechtigkeit, Missbrauch und Ausbeutung auflehnt. Wir sehen es in den Slogans, die sie hervorgebracht hat, die anti-neoliberale, anti-patriarchale und anti-koloniale Fragen zusammenbringen: „Keine einzige weniger!“, „Wir wollen frei und schuldenfrei leben!“, „Gegen die Prekarität des Lebens!“, „Wir zahlen die Krise nicht mit unseren Körpern und Territorien!“, „Wir Frauen gegen Verschuldung!“, um nur einige zu nennen. In diesen Slogans liegt eine Diagnose davon, woher die Gewalt kommt, die Feminizide und Vergewaltigungen zulässt, strukturellen Rassismus ermöglicht, prekäre Arbeitsbedingungen und institutionelle Gewalt von Sicherheitskräften legitimiert. Anders gesagt, wenn wir über rassistische Gewalt sprechen, wenn wir „Nicht eine weniger ohne Wohnung“ fordern, wenn die Auslandsschulden zu einem feministischen Slogan auf der Straße werden, dann machen wir die Materialität dessen deutlich, was man Gewalt nennt. Ihre radikalste Form findet diese Gewalt in Feminiziden, aber sie existiert auch als alltägliche Gewalt, die ein würdevolles und freies Leben verhindert.

Wie ist es gelungen, diese gesellschaftlichen Herausforderungen zu akuten Themenfeldern der feministischen Bewegung zu machen?

Das ist gelungen, indem der Feminismus als politische Bewegung aufgebaut wurde, in der verschiedene Konflikte und Protagonist*innen dieser Konflikte miteinander in Beziehung gesetzt werden. Das erfordert Koordination zwischen Gewerkschaften, Basisorganisationen, Studierenden, Migrant*innenkollektiven, Sexarbeiter*innen, prekär Beschäftigten, Sorgenetzwerken, Organisationen von Kleinbäuer*innen und Arbeiter*innen in der solidarischen und informellen Wirtschaft, Fridays For Future, den Kollektiven von Travestis, trans und nicht-binären Personen, den Kampagnen für das Recht auf Abtreibung und indigenen Frauenorganisationen. Die Tatsache, dass die feministische Bewegung in dieser politischen Zusammensetzung existiert, ermöglicht ihr eine praktische Interpretation der Aktualität, die sozioökonomisch, klassenbezogen und anti-extraktivistisch ist – die mit verschiedenen Sprachen spricht und mit sehr diversen Strategien.

Was ist deine Analyse zu den liberalen Tendenzen, die wir heute an vielen Stellen beobachten?

Natürlich gibt es Versuche, die Bewegung zu vereinnahmen und zu einer Mode zu machen, sie auf Themen zu reduzieren, die „ungefährlich“ für den Neoliberalismus sind. Aber ich glaube, die Mobilisierungsfähigkeit und der Wunsch nach Veränderung sind stärker, denn die feministische Bewegung geht auf eine Reihe sozialer Kämpfe zurück, die sich immer schon gegen den Status quo gestellt haben. Ich sehe den liberalen Feminismus ganz klar als konterrevolutionäre Aktion. Es ist ein Versuch, die Kraft dieser queerfeministischen Transformation, die jetzt seit einigen Jahren schon eine beispiellose Präsenz auf globaler Ebene erreicht hat, zu begrenzen und sie in eine andere Richtung zu lenken. Es ist der Versuch, die Veränderung zu neutralisieren, die sich zeitgleich auf verschiedenen Ebenen vollzieht: in unserer Sensibilität, in der Art und Weise, unsere Körper und unser Begehren zu erleben, in der Fähigkeit, kollektive Forderungen zu stellen und in der Stärkung von Organisations- und Protestformen. Die feministische Bewegung ist eine Praxis des Ungehorsams, der täglichen Auflehnung, die gleichzeitig die Fähigkeit hat, strukturelle Gewalt zu hinterfragen und zu bekämpfen. Diese simultane zweifache Ebene ist es, die als Bedrohung empfunden wird. Das ist der Grund, warum ein Faschist wie Bolsonaro seine Präsidentschaft mit einer Rede gegen die „Gender-Ideologie“ beginnt. Oder warum versucht wird, Feminismus auf die Forderung nach Quoten zu reduzieren, ohne die bestehenden Hierarchien anzutasten. Und warum versucht wird, den Feminismus von anderen sozialen Forderungen abzukoppeln, weil es das ist, was wirkliche politische Bündnisse schafft. Es gibt daher viele Versuche, ihn zu spalten und mit dem Neoliberalismus kompatibel zu machen.

Mit der Legalisierung der Abtreibung in Argentinien vor einem Jahr habt ihr ein lang gefordertes Recht erkämpft – ein Riesenerfolg. Die Kampagne war jahrzehntelang Motor der Bewegung und auch identitätsstiftendes und verbindendes Element zwischen den Generationen. Was kommt jetzt, wo der Kampf gewonnen wurde?

Dass wir diesen Sieg errungen haben, ist fundamental. Das hat klargemacht, wie wichtig ein unermüdlicher Kampf ist, in dem Demonstrationen mit Lobbyarbeit im Parlament verbunden werden. Wie wichtig es ist, dabei eine feministische Pädadogik zu betreiben, um überhaupt diskutieren zu können, was Selbstbestimmung schwangerer Körper bedeutet. Das hat eine „grüne Welle“ losgetreten, die über Grenzen hinausging. Es wurde das öffentliche Gesundheitssystem diskutiert, die Sexualerziehung an Schulen, Schwangerschaftsabbrüche von Schuld gelöst und Mutterschaft entromantisiert. Die Diskussion wurde an Orten in Gang gebracht, an denen sie vorher tabuisiert war. Dieser Kampf war von zentraler Bedeutung, weil er sowohl eine sehr konkrete Forderung enthielt, als auch ein Türöffner zu vielen weiteren Problematiken war. Das Recht auf Abtreibung steht außerdem im Mittelpunkt neokonservativer Angriffe nicht nur in unserer Region: das ist so in den USA, bei der neu gewählten Präsidentin des EU-Parlaments und bei den Rückschritten in Polens Gesetzgebung. Mit der Verabschiedung des Gesetzes in Argentinien ist der Kampf noch nicht beendet, er ändert nur seine Form. Jetzt müssen wir uns für die effektive Umsetzung des Gesetzes einsetzen, gegen medizinische und juristische Manöver, die vielerorts den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen blockieren und für die Verbreitung des Gesetzes selbst, da die Informationen nicht überall ankommen. Und obwohl das Gesetz bereits vor einem Jahr verabschiedet wurde, feiern wir es immer noch.

Es stimmt jedoch, dass das verbindende Moment dieser Forderung auf irgendeine Weise ersetzt werden muss. Wir sind gerade dabei, neu darüber nachzudenken, was wir wollen, wohin wir unterwegs sind und wie wir nach zwei Jahren Pandemie wieder Räume für Gespräche und Austausch schaffen können. Wir reden von einer Zeit, in der es viel schwieriger war, sich zu treffen, und in einer Zeit, in der ein „Ende“ der Pandemie mit einer brutalen Wirtschaftskrise einhergeht. Es ist also an uns, mit diesem Sieg im Rücken – aber auch mit dem als Horizont, was die Bewegung bereits erreichen konnte – zu überdenken, wie wir uns den kommenden Herausforderungen stellen können.

Was sind die Themen, die den Feminismus in Argentinien derzeit bewegen?

Im Fall von Argentinien ist die Frage der Schulden als ökonomische Gewalt ein Thema. Im Laufe der Jahre haben wir viel mit dem Slogan „La deuda es con nosotres” (Die Schulden habt ihr bei uns) gearbeitet. Es ist wichtig, dass der Feminismus das Thema Verschuldung wieder aufgreift, denn er hat es auf den Tisch gebracht und dabei öffentliche und private Schulden und Sparmaßnahmen miteinander in Verbindung gebracht. Wir bestehen darauf: ohne ökonomische Unabhängigkeit gibt es keine Möglichkeit, die machistische Gewalt zu stoppen. Dies bezieht sich auf die Auslandsverschuldung seit dem IWF-Kredit 2018 und auch darauf wie die Verschuldung der Haushalte angesichts einer immer schneller zunehmenden Verarmung „obligatorisch“ wird. Hier ist für die antineoliberale Dynamik des Feminismus und seine Fähigkeit zur konkreten Intervention wichtig, die soziale Situation neu zu diskutieren, die durch die Verschuldung und die vom IWF auferlegten Bedingungen hervorgebracht wurde: Gas, Strom- und Telefontarife, Lebensmittelpreise und Mieten, die in Folge der erzwungenen Kürzungen der öffentlichen Mittel erhöht wurden. Sie fördern Spekulation und lassen die Bevölkerung in beschleunigtem Tempo verarmen.

Der feministische Streik als Instrument der Bewegung ist in den vergangenen Jahren sehr wichtig gewesen. Jetzt ist es stiller geworden um den Streik als Aktionsform. Warum? Welche Rolle spielt der Streik bei den diesjährigen Mobilisierungen?

Wir beginnen gerade, die Rolle des Streiks und andere Strategien für diesen 8. März zu diskutieren. Ich habe den Eindruck, dass es schwieriger geht, weil die Pandemie die Prekarität beschleunigt hat. Die Care-Arbeit hat zugenommen, die Arbeitszeiten haben sich verlängert und es gibt eine gewisse psychische Erschöpfung, wenn es darum geht, wieder rauszugehen und die Straßen einzunehmen. Es gibt aber ein gemeinsames Bedürfnis danach, dass die feministische Bewegung wieder eine führende Rolle auf der Straße einnimmt. Wir diskutieren hier sehr viel über diese Idee: Wir müssen zurückkehren und sind gleichzeitig nie weg gewesen. Auch in der Pandemie haben wir die Krise entprivatisiert, nur auf andere Art und Weise, aber auf jeden Fall in einem kollektiven Kraftakt. All dies müssen wir berücksichtigen, wenn wir über den Streik in der gegenwärtigen Situation nachdenken wollen. Das ist wichtig, weil, wie wir wissen, hat es der feministische Streik geschafft, die verschiedenen Formen der Arbeit, der Prekarität und der Gewalt in den Fokus zu nehmen.

Mein Eindruck ist, dass sich Streik und Demonstration verbinden werden, an manchen Orten wird die eine Dynamik stärker ausgeprägt sein als die andere, aber klar ist, dass der 8. März ein Kampftag ist, ein Datum, das wir nicht „hergeben“ werden, weil er ein Moment der Begegnung, des Austausches und der Arbeit am Programm der Bewegung ist.

SCHULDENDEAL SPALTET ARGENTINIENS REGIERUNG

 

Der Termin steht: Am 21. März werden 2,8 Milliarden Dollar an argentinischen Zins- und Tilgungszahlungen beim Internationalen Währungs-
fonds (IWF) fällig. Insgesamt stehen 2022 sogar 19 Milliarden Dollar an Schuldendienst beim IWF an. Die erneute Zahlungsunfähigkeit Argentiniens war damit programmiert, denn die schwindenden Devisenreserven geben eine solche Belastung nicht her. Der Ausweg: Umschuldung mit dem IWF. Das hat Argentiniens Regierung geschafft. Mehr als ein erster, wichtiger Schritt ist es nicht.

Bis zum 21. März hat die argentinische Regierung noch alle Hände voll zu tun. Das technische Abkommen mit dem IWF muss in seinen Details festgezurrt werden und vor allem bedarf es parlamentarischer Mehrheiten im Abgeordnetenhaus und im Senat, die nicht sicher sind. „Ich bin mäßig optimistisch. Ich denke, wir werden die erforderliche Mehrheit erreichen”, ließ Fernando „Chino“ Navarro verlauten, der als Sekretär für parlamentarische Beziehungen im Kabinettsbüro arbeitet und dort Mehrheiten im Regierungslager der Frente de Todos (Bündnis von allen, FdT) organisieren soll. Dass das im Abgeordnetenhaus nicht einfach wird, zeigte sich nach der Einigung mit dem IWF am 28. Januar 2022 auf einen Grundsatzdeal schnell.

Bereits am 31. Januar verkündete Máximo Kirchner seinen Rücktritt. Ausgerechnet der FdT-Fraktionsvorsitzende trat zurück und dies explizit unter Berufung auf das Abkommen mit dem IWF. Er teile weder „die Verhandlungsstrategie” mit dem IWF noch ihre Ergebnisse, erklärte der 44-Jährige in einem Kommuniqué. Máximo Kirchner ist Sohn des verstorbenen früheren Präsidenten Néstor Kirchner (2003-2007) und Ex-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner (2007-2015), die derzeit Vizepräsidentin ist und dem Senat vorsteht.

In viereinhalb Jahren soll mit der Rückzahlung begonnen werden

Máximo Kirchner ist Mitgründer und Anführer der innerparteilichen Gruppe La Cámpora, der weitere 16 Abgeordnete der Regierungsfraktion angehören. Schon mit La Cámpora verfügt die FdT nur über 118 Stimmen im Parlament – mindestens 119 Stimmen werden aber für die Billigung des Abkommens mit dem IWF benötigt. Die entscheidenden Stimmen könnten vom wichtigsten Oppo-
sitionsbündnis um Ex-Präsident Mauricio Macri (2015-2019) kommen, der diesen Rekordkredit von 57 Milliarden US-Dollar 2018 unter dubiosen Umständen aufgenommen hatte, um seine Wiederwahl 2019 zu begünstigen, was bekanntlich misslang. Sein Bündnis Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wandel) bezeichnete die Einigung mit dem IWF als positiv und „ersten Schritt, um nicht weiterhin Unsicherheit zu erzeugen”. Juntos por el Cambio wollte aber keinen Blankoscheck für die Zustimmung ausstellen, sondern die Einzelheiten der endgültigen Vereinbarung mit Blick auf die Parlamentsdebatte abwarten.

In Argentinien wird gespannt erwartet, wie Präsident Alberto Fernández am 1. März persönlich dem Parlament versuchen wird, das Abkommen mit dem IWF zu verkaufen. Mit ihm wurden Schulden in Höhe von 44 Milliarden Dollar umgeschuldet. Auf die Auszahlung der letzten Kredittranche hatte die Regierung Fernández nach Regierungsübernahme im Dezember 2019 sofort verzichtet, um das geerbte Schuldenproblem nicht noch weiter zu verschärfen. Bekannt ist, dass Argentinien mehr Zeit für die Rückzahlung eingeräumt wird und dadurch mit der Streckung der Zahlungen die jährliche Belastung gesenkt werden würde. Das Prinzip ist ein Altbekanntes: Mit neuen IWF-Krediten werden die Zins- und Tilgungsraten des alten bedient. Das Problem: Am Ende des Programms wird Argentinien immer noch die 44 Milliarden Dollar schulden, die Macri 2018 erhalten hat. In viereinhalb Jahren soll dann mit der Rückzahlung dieser Schulden real begonnen werden. Bis dahin ist es ein Nullsummenspiel, das Zeit bringt in der Hoffnung, dass Argentiniens Wirtschaft bis dahin Rezession und Corona-Pandemie überwunden hat.

Inzwischen leben 42 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze

Argentinien muss auch sein Haushaltsdefizit bis 2024 reduzieren und die Inflation senken. Außerdem verpflichtet es sich dazu, die staatlichen Energiesubventionen abzubauen. Letzteres könnte die privaten Haushalte besonders treffen.

Die Inflation, die durch die hohen, nicht durch Rücklagen gedeckten Staatsausgaben angeheizt wurde, stieg 2021 wieder in Richtung 50 Prozent, nachdem der Wirtschaftseinbruch infolge der Corona-Pandemie sie 2020 auf 36 Prozent gedrückt hatte − begleitet von steigender Arbeitslosigkeit und Armut. Inzwischen leben 42 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze. Vor allem die steigenden Lebensmittel- und Kraftstoffpreise drücken auf das Realeinkommen und die Kaufkraft vor allem derjenigen, die einen Großteil ihres Einkommens für Essen und Transport ausgeben müssen. Es sind nicht nur Menschen aus dem informellen Sektor, die betroffen sind, sondern mehr als in vergangenen Krisen kommt es zu einer Verarmung von Beschäftigten in regulären Arbeitsverhältnissen, die unter anderem wegen Kurzarbeit nicht mehr ihren Lebensunterhalt über der Armutsschwelle sichern können. Die Zeiten, in denen die Armutsrate stark zurückging, als sie unter den Mitte-links Regierungen von Néstor Kirchner (2003-2007) und Cristina Kirchner (2007-2015) unter 30 Prozent gedrückt werden konnte, sind lange vorbei.

Was Cristina Kirchner vom Vorpreschen ihres Sohnes Máximo denkt, ist öffentlich nicht bekannt. Die Regierung von Alberto Fernández geht davon aus, dass Cristina Kirchner das Abkommen mitträgt. Der Minister für Öffentliche Arbeiten, Gabriel Katopodis, ist der Ansicht, dass „das Abkommen die Unterstützung von Cristina, eines großen Teils der Abgeordneten der Frente de Todos und sicherlich auch eines wichtigen Teils der Opposition haben wird”. Im März wird sich herausstellen, ob es sich bei seiner Einschätzung um begründeten Optimismus gehandelt hat. Wird das Abkommen mit dem IWF scheitern, steht die Regierung Fernández vor der Zahlungsunfähigkeit und dem politischen Offenbarungseid. Doch auch wenn sie das Abkommen durch den Kongress bekommt, werden die meisten Argentinier*innen weiterhin in Armut leben.

Von Trap bis Tango

Julieta Laso in Terminal Norte, Berlinale 2022 (Foto: © Rei Cine SRL)

Bewertung: 4 / 5

Musik aus Argentinien – das ist Tango, das ist Buenos Aires. Diese unumstößliche Wahrheit muss spätestens nach der Kurzdoku Terminal Norte der argentinischen Regisseurin Lucrécia Martel (La ciénaga) durch das Wörtchen „auch“ ergänzt werden. Denn die Vielfalt des Landes bringt ebenso diverse wie faszinierende Musikstile hervor, wie in diesem Film zu sehen und vor allem zu hören ist.

Terminal Norte entstand als spontanes Projekt von Lucrécia Martel und der Tangosängerin Julieta Laso. Letztere kaufte während der Pandemie ein malerisches, wenn auch renovierungsbedürftiges Landhaus bei Salta im Norden Argentiniens und lud einige bekannte Künstler*innen ein, dort mit ihr zu feiern und Musik zu machen. Die Region ist bekannt für die Copla, einen traditionellen Musikstil, bei dem die Sänger*innen Verse vorsingen und das Publikum einladen, sie zu wiederholen. Einige der bekanntesten Copleras treten auch im Film auf, so zum Beispiel Mariana Carrizo oder die trans* Künstlerin Lorena Carpanchay. Aber auch die Trap-Sängerin B Yami, die Pianistin Noelia Sinkunas oder das Elektronik-Projekt Whisky sind mit dabei.

Der Film entstand so spontan wie die Musikdarbietungen auf dem Treffen. Es gibt deshalb keine ausführliche Vorstellung der Künstler*innen, auch die technische Ausstattung (nur zwei Scheinwerfer standen zur Verfügung) und die Drehzeit (4 Tage, von denen einer wegen Regens nicht genutzt werden konnte) waren limitiert. Angesichts dessen ist wirklich bemerkenswert, was am Ende herausgekommen ist. Die Musikperformances, man muss sie Auftritte nennen, sind ohne Ausnahme großartig – ganz gleich, ob B Yami am Lagerfeuer mit Trap loslegt oder beim Spaziergang durch den Wald coplas zelebriert werden. Das Highlight sind aber die vom Piano begleiteten Tangostücke von Julieta Laso, deren fantastische Stimme außerhalb Argentiniens noch weitgehend unbekannt ist. Das könnte sich nach diesem Film ändern. Auch die Kameraarbeit von Mauricio Asial, die den Rhythmus der Performances gekonnt untermalt, trägt ihren Teil zum Gelingen des Films bei. So bleibt nach viel zu kurzen 37 Minuten nur ein – allerdings schwerwiegender – Kritikpunkt: Dieser Jam-Session fehlt die Zugabe! Gerne hätte man noch viel mehr über die Künstler*innen erfahren und ihnen mit Vergnügen noch mindestens eine Stunde beim Musikmachen, Feiern und Philosophieren zugesehen. Director‘s Cut nachlegen, bitte!

Lorena Carpanchay in Terminal Norte, Berlinale 2022 (Foto: © Rei Cine SRL)

Trap-Sängerin B Yami in Terminal Norte, Berlinale 2022 (Foto: © Rei Cine SRL)

Erzählte Topographie

Camuflaje, Berlinale 2022 (Foto: © Alina Films and Off The Grid)

Bewertung: 3 / 5

Félix Bruzzone läuft. Er läuft und läuft. Kein Jogger, sondern ein Langstreckenläufer. Sein tägliches Training führt ihn immer entlang des Zauns, der den Campo de Mayo – Argentiniens größte Militärbasis – umgibt. Ein tragischer Ort, in dem sich während der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 vier geheime Folterzentren befanden. In einem davon, El Campito, starb Bruzzones Mutter, als er erst drei Monate alt war.

Bruzzone ist die Hauptfigur und Co-Autor des Dokumentarfilms Camuflaje von Jonathan Perel. Im wirklichen Leben ist er nicht nur Langstreckenläufer, sondern auch argentinischer Schriftsteller, der bereits mehrere Romane, Kurzgeschichten und auch ein Kinderbuch veröffentlicht hat. Seine Bücher wurden ins Französische, Schwedische und Deutsche übersetzt; 2010 erhielt er den internationalen Anna Seghers-Preis. Über den Campo de Mayo hat er 2019 ein Buch geschrieben, das er in den folgenden Jahren auch als Performance-Lesung im Theater inszenierte. Und nun der Film Camuflaje, in dem er sich ein weiteres Mal mit dem Militärgelände auseinandersetzt.

In einer Art erzählter Topographie lässt sich Bruzzone (und das Filmteam) von ganz unterschiedlichen Menschen in den Campo de Mayo mitnehmen, während sie von ihrer Geschichte mit und auf dem Gelände erzählen. Obwohl der Zutritt der noch aktiven Militärbasis eigentlich verboten ist (und Autos die beiden großen Verbindungsstraßen durch das Gelände zwar befahren, dort aber nicht anhalten dürfen), sind überall im Zaun große und kleine Löcher, die von Besucher*innen genutzt werden.

1901 gegründet, ist der Campo de Mayo heute in weiten Teilen eine Wildnis am Rande der Stadt. Dort finden sich viele alte Gebäude, die nur noch teilweise für militärische Übungen genutzt werden, wie vergessene Relikte einer vergangenen Zeit. Bruzzone trifft hier einen Naturschützer, der das Gelände am liebsten in ein offizielles Naturreservat umwandeln würde. Oder eine Gruppe von drei Künstlerinnen, die in klandestinen „Begehungen“ Material für ihre künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Gelände sammeln. Ein Extremsportler schätzt die verschiedenen Geländeformationen, wenn er dort mit dem Mountainbike unterwegs ist. Nur ein kleiner Teil des Geländes ist als 3-D-Ausstellung erschlossen und dokumentiert die grausamen Geschehnisse während der Diktatur. Absurder Höhepunkt der Begegnung von Freizeitkultur und militärischer Geschichte ist Bruzzones Teilnahme am „Killer Race“, eine Art Hindernislauf durch das Gelände, dessen beängstigende Momente den Autor immer langsamer und nachdenklicher werden lassen.

Unbearbeitet, ungeordnet und nahezu unsichtbar erscheinen das Gelände des Campo de Mayo und seine Geschichte. So wie auch das Militär als sein eigentlicher Nutznießer fast unbeobachtet ist – nur ein einziges Mal begegnet das Filmteam beim Dreh einer Gruppe Soldaten. Regisseur Jonathan Perel hat sich seit seinem Dokumentarfilm über das Folterzentrum der ESMA 2008 auf „verschiedene Orte der Erinnerung, besonders solche, die als geheime Haftzentren funktionierten“ spezialisiert. „Orte, die schwierig zu filmen sind – entweder wegen der Schwierigkeit, zu ihnen Zugang zu erhalten, oder die schwierig zu durchqueren sind, weil sie von Geistern bewohnt werden“, erklärt er zum Film. Obwohl sich Argentinien stärker als andere Länder auch offiziell mit den Verbrechen der Militärdiktatur auseinandergesetzt hat, offenbart sich in Camuflaje im Zustand des Campo de Mayo ein noch immer ungeklärtes Verhältnis zum Militär und seiner Rolle in der Geschichte des Landes.

Ein schwer zu öffnendes Päckchen

Angeliki Papoulia und Carmen Chaplin in A little love package, Berlinale 2022 (Foto: © Little Magnet Flims / Filmy Wiktora)

Bewertung: 2 / 5

Es ist eine Krux mit der Wohnungssuche. Sogar wenn frau viel zu viel Geld hat, so wie Angeliki im Film A little love package, der auf der Berlinale 2022 in der Sektion Encounters seine Weltpremiere feiert. Mal knarzt in den attraktiven Wiener Altbauten der Parkettboden, dann liegt wieder ein potenziell streng riechendes Restaurant unter dem Wunschdomizil oder im Badezimmer sind statt dem gewünschten Marmor nur schnöde Fliesen. So treibt die anspruchsvolle Griechin ihre Luxus-Innenarchitektin Carmen, die sie auf Schritt und Tritt begleitet, fast in den Wahnsinn. Wer so viel Geld hat, der muss es doch irgendwann auch ausgeben wollen!

Der Argentinier Gastón Solnicki ist auf internationalen Filmfestivals von Toronto bis Venedig ein gern gesehener Gast. A little love package, auf einer Geschichte des mexikanischen Schriftstellers Mario Bellatin basierend, aber ohne Drehbuch gefilmt, ist bereits sein fünfter Kinofilm. Was Solnicki mit seinem jüngsten Werk vermitteln will, bleibt allerdings höchst unklar. Die beiden Damen flanieren mit ihrem Luxusproblem durch die Stadt, treffen dabei auf eine koreanisch-österreichische Klavierlehrerin, zwischendrin sieht man Menschen bei der Schuh- und Käseherstellung, beim Massieren oder Eierkochen zu. Das sieht alles auch ganz nett aus (Wien ist halt einfach fesch), hat aber oft überhaupt keinen erkennbaren Zusammenhang, von einem stringenten Narrativ ganz zu schweigen. Völlig abstrus wird es, als der Film wie aus dem Nichts erst zu Bildern einer Salzwüste und dann zur ausgiebigen Beobachtung einer andalusischen Ziegenherde übergeht, die (Überraschung, Überraschung) Carmens Familie gehört. Im Anschluss werden ausgiebig Familienprobleme diskutiert, das alles selbstverständlich auf Englisch. Am Ende geht es dann zwar zurück an die schöne blaue Donau, aber was das nun alles miteinander zu tun hat – jo mei. Diesen Film kann man wohl nur Hardcore-Fans der österreichischen Hauptstadt ans Herz legen. Alle anderen brauchen schon einen speziellen Humor, um Solnicki auf diesem doch recht wirren Trip zu folgen.

Wahnsinn mit Methode

La Edad Media, Berlinale 2022

La Edad Media, Berlinale 2022 (Foto: © El Pampero Cine)

Bewertung: 4 / 5

Argentinien hat sich während der Corona-Pandemie die zweifelhafte Auszeichnung erworben, einen der unerbittlichsten Lockdowns weltweit durchgeführt zu haben. Je nach Region musste bis zu einem Jahr komplett auf den Gang zu Schule, Universität, Restaurants oder Kulturveranstaltungen verzichtet werden, rigide überwacht von der Polizei. Im Land, dessen Hauptstadt Buenos Aires gerüchteweise ohnehin schon die höchste Dichte an Psychotherapeut*innen weltweit hat, lagen die Nerven zeitweise ganz schön blank. Allerdings gab es auch einen positiven Nebeneffekt:  Die mit Galgenhumor schon in normalen Zeiten reichlich gesegneten Argentinier*innen liefen bei der Produktion sarkastischer Memes und Videos zum Thema COVID zu Hochform auf. Die lange Version dieses ungewollten kreativen Outputs ist mit der absurden Komödie La Edad Media nun im Kino zu bewundern. Der Film ist ein Versuch, den Wahnsinn des endlos erscheinenden Zusammenlebens auf engstem Raum gleichzeitig festzuhalten und ins Groteske zu steigern.

Die Filmemacher Alejo Moguillansky und Luciana Acuña sowie ihre Tochter Cleo sind die Hauptfiguren in diesem speziellen Experiment. Denn sie spielen sich in La Edad Media selbst – und doch auch wieder nicht. Der Film wurde komplett innerhalb der vier Wände ihres eigenen Hauses gedreht, die Szenen von ihrem Alltag im Lockdown inspiriert und dennoch inszeniert, übersteigert, verzerrt. Als theoretisches Gerüst dienen die Theaterstücke Samuel Becketts (Warten auf Godot), aus denen im Laufe des Films immer wieder zitiert wird.

Alejo und Luciana (oder Lu) sind in La Edad Media als Kulturschaffende (er Filmregisseur, sie Tänzerin) hart von der Pandemie getroffen. Daher versuchen sie, durch hyperaktives Aufgehen in recht seltsamen Online-Projekten ihren Mangel an Selbstverwirklichung auszugleichen. Auf der Strecke bleibt die 8-jährige Cleo, die dem merkwürdigen Treiben der Eltern verwundert bis genervt zusieht. Als Ausweg aus der Lockdown-Langeweile fasst sie den Plan, sich ein Teleskop zuzulegen, um die Sterne zu beobachten. Doch diese im Grunde vernünftige Idee wird von den Eltern ignoriert, das mit Mühe von ihnen erbettelte Geld reicht hinten und vorne nicht für einen Kauf. Und so sieht Cleo keine andere Möglichkeit, als unternehmerisch tätig zu werden: Gemeinsam mit „Moto“, dem Motorradkurier vom Lieferdienst, beginnt sie hinter dem Rücken ihrer Eltern Teile des Hausstandes zu verkaufen (und lernt dabei ganz nebenbei Prozentrechnen). Doch die Inflation in der Pandemie lässt das Teleskop auf dem Online-Marktplatz immer teurer werden, und Cleo muss das Risiko erhöhen, um sich ihren Traum zu erfüllen.

La Edad Media ist eine gelungene Lockdown-Komödie, die auf mehreren Ebenen funktioniert und mit absurdem Witz und genauer Beobachtung ihrer Figuren punktet. Realität und Fiktion verschwimmen dabei nicht nur für die sich selbst filmende Familie (man könnte den Film also fast als Mockumentary bezeichnen), sondern auch für die Zuschauer*innen. Diese dürften sicher so manche Situation aus ihrem eigenen ganz normalen Lockdown-Wahnsinn wiedererkennen, wobei das Lachen auch mal im Hals steckenbleiben kann. Großartig ist die Szene, in der Cleo beim Versuch, die roboterhaften Fragen eines Englisch-Lernprogrammes zu beantworten, immer mehr abschweift, während daneben ihre Mutter wie verrückt auf einen Boxsack einprügelt. Oft wirft der Film aber auch relevante Fragen auf, wie zum Beispiel die, warum die Kunst auf die veränderten Lebensbedingungen seit Corona kaum reagiert hat, sondern sie einfach nur ignoriert – in wie vielen Kinofilmen tragen Menschen Masken? Ein weiterer Aspekt, der La Edad Media zu einem absolut lohnenswerten Kinoerlebnis macht, jetzt und vielleicht auch über die Pandemie hinaus.

Harmonie statt Ecken und Kanten

Sublime, Berlinale 2022Sublime (Foto: © Tarea Fina)

Bewertung: 3 / 5

„Ein ganzes Bier trinken ohne zu atmen? Oder mit drei Kakerlaken im Bett aufwachen?“ Manu muss nicht lange überlegen: „Das mit dem Bier natürlich! Obwohl das eigentlich gar nicht geht.“ Es ist ein Spiel, das der introvertierte 16-Jährige und sein bester Freund Felipe bei fast allen ihren Treffen im Film Sublime spielen: Für welche von zwei Scheußlichkeiten würde man sich wohl eher entscheiden? Zum Glück müssen sich die beiden damit nur in ihrer Fantasie beschäftigen. Denn so schlecht ist das Leben der Teenager in ihrem kleinen argentinischen Küstenort nicht: Die Schule läuft so vor sich hin, in ihrer Freizeit spielen sie Fußball am Strand oder jammen in einer Rockband, die ihren Lebensmittelpunkt bildet. Und auch beziehungstechnisch ist eigentlich alles im grünen Bereich, beide haben eine Freundin. Als Felipe aber von seinem Vater einen alten Van geschenkt bekommt und ihn zum Rückzugsort für ihre Dates umbaut, beginnen die Probleme: Denn Manu bemerkt immer mehr, dass er dort statt mit seiner Freundin Azul viel lieber mit Felipe alleine wäre  …

Regisseur Mariano Biasin hat sich mit einem Film über Jugendliche an der Schwelle zwischen erster Liebe und Erwachsenwerden schon einmal einen Namen gemacht: Bereits 2016 gewann er mit El inicio de Fabrizio (Fabrizios erstes Mal)  bei der Berlinale den Preis für den besten Kurzfilm in der Kinder- und Jugendsektion Generation. Mit Sublime hat es nun sein erster Langfilm ebenfalls ins Programm des Festivals geschafft. Auch hier legt Biasin wieder eine vor allem atmosphärisch gelungene Coming-of-Age-Geschichte vor, die sich um eine Gruppe heranwachsender Jungen und deren Gefühlswelt dreht. Homosexualität spielt in ihren Gesprächen höchstens in Witzen und Randbemerkungen eine Rolle. Manu fühlt sich aufgrund seiner Gefühle für Felipe deshalb zwar nicht ernsthaft bedroht, aber eben auch nicht ermutigt, sich dazu zu bekennen. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine ganze Emotionalität in die Songtexte für die gemeinsame Rockband zu legen.

Musik ist ein tragendes Element von Sublime. Die qualitativ durchaus hochwertigen Rocksongs der Jungs-Band (einer klingt vermutlich nicht von ungefähr verdächtig nach „Boys Don‘t Cry“ von The Cure) geben dem Leben der Jugendlichen, und damit auch dem Film insgesamt, ein Gefühl von Größe, das über den Alltag in dem recht verschlafenen Örtchen am Meer hinausgeht. Mariano Biasin lässt die Kamera dabei meist ganz nah an seine Protagonist*innen und die Intimität ihrer Gefühle heran. Allerdings mag der Regisseur und Drehbuchautor seine Figuren offenbar so sehr, dass er sich scheut, ihnen wirklich wehzutun. Durch diesen Verzicht auf Ecken und Kanten kommt der Film etwas arg harmonisch und nicht mehr so ganz realistisch daher. Eine*n richtige*n Bad Guy gibt es in Sublime genauso wenig wie offene Homophobie. Und auch die Eltern sind (im Gegensatz zu Biasins preisgekröntem Kurzfilm) alle liebe-und verständnisvoll, ihre angedeuteten Probleme untereinander fallen nicht ins Gewicht und Konflikte lösen sich (oft abseits der Kamera) wie von selbst. Das alles ändert nichts daran, dass Sublime ein sehr warmer, einfühlsamer und gut beobachteter Feelgood-Film über das Erwachsenwerden ist, der sich prima ansehen lässt. Für das nächste Mal würde man Mariano Biasin aber trotzdem wieder ein bisschen mehr Mut zum Dissens wünschen.

Hölzerner Spionagethriller

Iosi, el espía arrepentido, Berlinale 2022

Iosi, el espía arrepentido (Foto: © Amazon)

Bewertung: 2 / 5

Buenos Aires, 1992. Originale Filmaufnahmen zeigen die nach einem Bombenanschlag zerstörte israelische Botschaft, Zeug*innen und Polizist*innen versuchen, den Verletzten zu helfen, Rettungswagen rasen herbei. Fast unmerklich gehen die Originalaufnahmen in den Film über. Ein elegant gekleideter Mann stolpert durch die Trümmer, sein Blick bleibt an zerstörten Gegenständen hängen, an leblosen Körpern. Mit dieser drastischen Szene beginnt die für Amazon Prime Videos produzierte achtteilige Serie „Iosi, el espía arrepentido“ (Iosi, der reumütige Spion) des argentinischen Regisseurs Daniel Burman. Er basiert auf dem gleichnamigen Buch von Miriam Lewin und Horacio Lutzky.

Schon mit „El abrazo partido“ (2004) und „El rey de Once” (2016) drehte Burman Filme in und über den von der jüdischen Diaspora geprägten Stadtteil Once in Buenos Aires, in dem er selbst aufgewachsen ist. Nun also zeigt er jüdisches Leben in Argentinien durch die Augen eines jungen Geheimpolizisten in einer actiongeladenen Aufarbeitung zweier traumatischer Ereignisse der jüngeren Geschichte Argentiniens: dem Anschlag auf die israelische Botschaft in Buenos Aires 1992 und auf die jüdische Organisation Asociación Mutual Israelita Argentina (AMIA) 1994. Beide Anschläge wurden nie wirklich aufgeklärt.

Ob Iosi die Aufklärung gelingen wird, der in Folge der Ereignisse untertaucht und seine Jahre auf der Flucht – auch vor seinen ehemaligen Auftragsgebern – verbringt, bleibt in den ersten Folgen der Serie unklar. Seine Geschichte beginnt 1985, zwei Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur. Iosi heißt da noch José Perez und ist Auszubildender einer Spezialeinheit der argentinischen Bundespolizei. Während um ihn herum sehnsuchtsvoll über den nächsten Staatsstreich spekuliert wird, fällt Perez durch eine kritische Bemerkung zu antisemitischen Kommentaren auf. Daraufhin wird er zum Schein aus der Einheit geworfen und auf geheime Mission nach Buenos Aires geschickt. Das Ziel: Die Unterwanderung der jüdischen Community, um Informationen über den „Plan Andinia“ zu sammeln, eine angebliche Konspiration zur Aneignung weiter Teile Patagoniens, um dort einen eigenen jüdischen Staat zu errichten. Beweise dafür findet Iosi keine, doch er infiltriert erfolgreich eine linke jüdische Gruppe.

Dort wird Iosi, obwohl er stets sehr wortkarg, verschlossen und gleichzeitig neugierig auftritt, schnell aufgenommen und wird ein immer beliebteres Mitglied der jüdischen Community. Deren Traditionen, Vielschichtigkeit und auch inneren Konflikte, beispielsweise zur Siedlungspolitik Israels, werden in der Serie leider nur angedeutet. Die Aufmachung als Spionagethriller lässt kaum Zeit zum Innehalten; auch wenn manche Szenen liebevoll detailliert ausgestaltet sind, bügelt der mit Klischees überfrachtete Spionageplot darüber hinweg. Das ist schade, denn die Auseinandersetzung mit dem völlig undurchsichtigen postdiktatorischen argentinischen Polizeiapparat, dem allgegenwärtigen Antisemitismus und weiteren historischen Ereignissen, wie den Protesten gegen die Amnestiegesetze für Verbrecher*innen der Militärdiktatur, gerät dabei zu kurz.

Neben der rasanten Erzählung ist es durch hektische Zeitsprünge in das Jahr 2007 stellenweise schwer, der Geschichte zu folgen. 15 Jahre nach dem Anschlag auf die Botschaft schlägt sich Iosi, nun selbst verfolgt, auf eigene Faust durch. Immer bleibt er dabei erstaunlich charakterlos, und begegnet sogar Ausbrüchen extremer Gewalt mit stoischem Gleichmut. Das tut der Spannung der Serie keinen Abbruch, macht sie aber weniger mitreißend. Zumal die Szenen expliziter, auch sexualisierter Gewalt, der Handlung wenig geben, aber schwer anzuschauen sind. Dabei bieten die unklaren Hintergründe der Anschläge, internationale Verstrickungen, politische Intrigen und die Beteiligung verschiedener Geheimdienste wirklich Stoff für einen Thriller – aber Iosi, el espía arrepentido bleibt hölzern an der Oberfläche und wirkt deshalb fast unangenehm spekulativ.

FÜR EIN MEER OHNE ÖL

Laut und entschlossen Gegen die Ölförderung im nordargentinischen Becken (Foto: Asamblea Mar Libre de Petroleras Mar Del Plata)

„Un Mar Libre de Petroleras“ (Ein Meer frei von Ölfirmen) – so schallte es an vielen nördlichen Küstenstädten Argentiniens Anfang Januar durch die Straßen. Die Versammlung für ein Meer ohne Ölfirmen (Asamblea Por un Mar Libre de Petroleras) und das Koordinationsbündnis Schluss mit Scheinlösungen (Coordinadora Basta de Falsas Soluciones) hatten zu einem Protesttag aufgerufen, um gegen die Vergabe von Ölförder-Lizenzen im argentinischen Meer zu mobilisieren. Kurz vor Jahresende 2021, am 30. Dezember, hatte die Regierung von Fernández Lizenzen für die Erkundung von Öl-Lagerstätten im Meer vor Mar del Plata in der Provinz Buenos Aires vergeben. In drei Offshore-Abschnitten, ungefähr 300 Kilometer von der Küste entfernt, dürfen der norwegische Konzern Equinor, die staatseigene Gesellschaft YPF und die multinationale Firma Shell nun seismische Untersuchungen durchführen, um eine mögliche Ölförderung vorzubereiten. Der größte dieser Abschnitte, der sogenannte CAN-100 Block (Cuenca Argentina Norte-Nordargentinisches Becken), ist etwa 75-mal so groß wie die Stadt Buenos Aires. Die Ausschreibungen der Lizenzen hatte schon 2018 unter der Vorgängerregierung von Mauricio Macri stattgefunden, wurden aber jetzt abschließend unterzeichnet.

Eine Ölflut wäre eine Katastrophe für das Seebad

Das Vorgehen stößt bei Umweltschützer*innen auf Kritik: Sie weisen auf die Auswirkungen der bei den seismischen Untersuchungen entstehenden starken Unterwasser-Schallwellen für die Meereslebewesen hin, allen voran für die dort beheimateten Wale und Delfine. Tatsächlich war das Gebiet im nordargentinischen Becken 2014 aufgrund seiner Bedeutung für die marinen Ökosysteme als Meeresschutzzone im Gespräch. Aber nicht nur Umweltschützer*innen lehnen die neuen Pläne zur Ölförderung im argentinischen Meer ab: Im Badeort Mar del Plata leben die Einwohner*innen vom Tourismus und von der Fischerei. Sie haben sich auch den Protesten angeschlossen. Denn eine Ölflut, wie kürzlich vor der peruanischen Küste, deren Wahrscheinlichkeit von den beteiligten Konzernen heruntergespielt wird, wäre eine Katastrophe für das Seebad. „Wenn dort Ölförderfirmen tätig sind, wird es auch Öllecks geben“, so Luisina Vueso, Ozean-Campaignerin von Greenpeace Argentina. Selbst Guillermo Montenegro, Bezirksbürgermeister von Mar Del Plata, ist auf Seite der Protestler*innen und kündigte eine gerichtliche Untersuchung der Lizenzvergabe an.

Die Atlanticazo-Protestbewegung erhält ebenfalls Aufwind von den Erfolgen in Chubut. In der patagonischen Provinz verteidigen die Menschen immer wieder das dort geltende Verbot von Großtagebauen, zuletzt im Dezember 2021, als die Provinzregierung das Gesetz unerwarteterweise kippte. Nach fünf Tagen massiver Mobilisierung, die mit starker Repression beantwortet wurde, wurde das Gesetz wieder in Kraft gesetzt. „Wir versuchen, die Kämpfe des Atlanticazo mit denen des Chubutazo zu verbinden, da das Volk von Chubut schon seit fast zwanzig Jahren erfolgreich gegen die Großbergbauprojekte in Patagonien Widerstand leistet“, erklärt Juliana Orihuela von der Asamblea Mar Libre de Petroleras in Mar Del Plata. Genau wie in Chubut gründen die Protestler*innen asambleas, selbstverwaltete Versammlungen, um ihren Widerstand zu organisieren.

Das Ausbeuten der Ölreserven generiert eine Profitsumme von 35 Milliarden US-Dollar

Währenddessen stellte die Regierung am 18. Januar einen Plan für ein halbstaatliches Unternehmen vor, das den Ausbau der erneuerbaren Energien vorantreiben soll. Dabei dementiert der Minister der produktiven Entwicklung Matías Kulfas, dass die „grüne wirtschaftliche Entwicklung“ im Widerspruch zum Extraktivismus steht. Dieser wird von der Regierung unter dem Stichwort „nachhaltiger Bergbau“ weiterhin massiv vorangetrieben. Aktuell steht sie wegen der immensen Schulden beim Internationalen Währungsfonds (IWF) stark unter Druck. Viele Regierungspolitiker*innen argumentieren deswegen, dass die Einnahmen aus der Ölförderung auch für die ausstehenden Rückzahlungen an den IWF dienen können. Die argentinische Finanzzeitung ámbito zitiert ein vertrauliches Papier, demzufolge ein erfolgreiches Ausbeuten der Ölreserven des CAN-100 Blocks eine Profitsumme von 35 Milliarden US-Dollar generieren würde – ganze 70 Prozent der Schuldensumme beim IWF. Durch die von der Regierung herabgesetzten Abgaben für Mineralöl blieben davon allerdings nur knapp 5 Milliarden US-Dollar in den Staatskassen. Zusammen mit der Lizenz-Vergabe hat die Fernández-Regierung nämlich ein Dekret erlassen, das den beteiligten Firmen YPF, Shell und Equinor eine bedeutende Senkung der Abgaben für das CAN-100 Gebiet zusichert. Das Argument der Profitmaximierung zur Schuldentilgung steht also auf sehr wackeligen Beinen.

Die Kosten der Ölförderung für die Umwelt lassen sich nur erahnen. Schon jetzt werden die Folgen der Klimakrise auch in Argentinien immer sichtbarer: Erst Anfang Januar wurde der Norden des Landes von einer starken Hitzewelle mit Temperaturen von über 40 Grad Celsius heimgesucht, während derer die Strom- und Wasserversorgung an vielen Orten über mehrere Tage hinweg ausfiel. Der Wasserpegel des Flusses Chubut in Patagonien erreichte einen historischen Tiefstand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1944, ebenso wie der des Flusses Paraná im Norden. Waldbrände in elf Provinzen haben den Minister für Umwelt und Nachhaltige Entwicklung Juan Cabandié dazu veranlasst, Ende Dezember 2021 für zwölf Monate den Feuer-Notstand auszurufen. Dass die Regierung trotz dieser deutlich spürbaren Folgen der Klimakrise im eigenen Land an ihrem Extraktivismus-Kurs festhalten will, wirkt dabei wie ein schlechter Witz – mit absehbar drastischen Folgen.

FAST ALLE BIS AUF HITLER

Die Aussage ist ein Fakt: „Am 8. Februar 1949 sagte Peter Baumgart, ehemaliger Flugkapitän der Deutschen Luftwaffe, vor einem polnischen Gericht aus, er habe Hitler und seine frisch angetraute Ehefrau Eva Braun kurz vor dem Ende des Dritten Reiches nach Dänemark ausgeflogen. Er nehme an, dass beide dort ein U-Boot bestiegen hätten.“ Fakt ist auch, dass Baumgart in einer polnischen psychiatrischen Anstalt landete. Beide Begebenheiten finden sich in dem ungemein detailreichen Buch Rattennest – Argentinien und die Nazis von Hannes Bahrmann, der sich seit mehr als 40 Jahren mit dem Thema Nazis in Lateinamerika beschäftigt. Das merkt man dem profunden Buch an, in dem die meisten Abbildungen aus dem Privatarchiv des Autors stammen, darunter Juan Domingo Péron als Kadett mit Pickelhaube oder ein Faksimile der Einwanderungs­papiere von Adolf Eichmann.

Das Buch zeichnet deutsch-argentinische Geschichte mit einem Schwerpunkt auf die Nazis und ihre Emigration nach. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf der Zeit der ersten Ära von Juan Domingo Perón, die er als Vizepräsident 1943 begann, bis ihn 1955 als Präsident ein neuerlicher Militärputsch ins spanische Exil zwang – der dritte seit der Unabhängigkeit 1810

Argentinien zielte seit Beginn der Republik auf eine „weiße Gesellschaft“ ab. Das legte schon die Verfassung von 1853 fest, in der Artikel 25 besagte: „Die Bundesregierung hat die europäische Einwanderung zu fördern.“

Präsident Domingo Faustino Sarmiento brachte das im 19. Jahrhundert auf die Formel „ni gauchos, ni negros, ni pobres“ (Weder Gauchos, noch Schwarze, noch Arme). Auf diesen Grundsätzen beruhte die argentinische Einwanderungspolitik, die bis in die 30er Jahren auch Jüdinnen und Juden offenstand. Erst nach dem Putsch 1930 von „germanophilen“ Militärs wurde es ihnen Zug um Zug immer schwerer gemacht, noch in Argentinien Aufnahme zu finden.

Perón selbst ging undogmatisch vor, oder wie es der von Bahrmann zitierte Schriftsteller Ernesto Sabato auf den Punkt brachte: „Er hat Juden und Araber, Rabbiner und Antisemiten mit demselben Lächeln empfangen.“

Unter den Antisemiten fanden sich jede Menge Hochkaräter. Dem Prominentesten, Adolf Eichmann, dem Organisator der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, widmet Bahrmann ein eigenständiges Kapitel. Die illustre Liste des Schreckens ist lang, vom KZ-Arzt Josef Mengele, der zeitweise sogar unter Klarnamen in Argentinien lebte, über den Flugzeugkonstrukteur Professor Kurt Tank bis hin zum Massenmörder Erich Priebke, der erst 1995 nach Italien ausgeliefert wurde. Wie so viele kam Priebke über die sattsam bekannte „Rattenlinie“ mittels eines Reisepasses des Internationalen Roten Kreuzes via Italien nach Argentinien.

Das Buch von Bahrmann geht aber über sattsam Bekanntes weit hinaus und macht klar, worum es Perón bei seiner Politik der offenen Türen für Nazis vor allem ging: Er wollte mithilfe deutscher Wissenschaftler Argentinien neben der Sowjetunion und den USA zu einer dritten Weltmacht entwickeln. Hat nicht ganz geklappt. So wenig wie die Flucht von Hitler.

DEKOLONIALER FEMINISMUS

Anthropologie und Aktivismus Rita Laura Segatos Analyse deckt die vielschichtigen Dimensionen geschlechtsspezifischer Gewalt auf (Foto: Universidade de Brasilia CC BY 2.0)

Die leidvolle Realität geschlechterspezifischer Gewalt an Frauen und Queers und die dagegen gerichteten Kämpfe lateinamerikanischer Feminismen sorgen auch im hiesigen Kontext für immer größere Aufmerksamkeit. Ende 2019 ging etwa das Video der Performance des chilenischen Kollektivs LasTesis „Un violador en tu camino“ (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) viral und wurde weltweit nachgeahmt (Interview in den LN 547). LasTesis klagen an: „Der repressive Macho-Staat vergewaltigt uns mit jeder Tat!“ Dabei beziehen sie sich explizit auf die Theorien der argentinischen Anthropologin Rita Laura Segato (LN 553/554, Interview in den LN 525). Die Übersetzung ihres ursprünglich 2018 erschienenen Buches Wider die Grausamkeit zeigt nun erstmals einer deutschsprachigen Leser*innenschaft eine akademische Perspektive auf das Thema auf. Segato verwebt die Kerngebiete ihres Schaffens – den Feminismus und die Dekolonialität – miteinander. Darüber hinaus stellt sie ihr Werk der Dominanz des eurozentristischen Systems der Wissensproduktion entgegen.

Die Analyse folgt ihrem Werdegang als Anthropologin, sowie ihrem aktivistischen Kampf für Rechtsgrundlagen in verschiedenen lateinamerikanischen Kontexten, so etwa ihre Schlüsselrolle bei der Durchsetzung der Quote für Schwarze und Indigene Studierende an den brasilianischen Universitäten Anfang der 2000er Jahre. Das Buch greift auch die zentralen Gedanken ihrer wichtigsten Publikationen auf.
Eine der ersten Stationen ist dabei ihre Auseinandersetzung mit der zunehmenden geschlechterspezifischen Gewalt im öffentlichen Raum in Brasília Anfang der 1990er Jahre. Ethnographische Gespräche mit verurteilten Vergewaltigern im Gefängnis bringen sie zur Annahme, dass Vergewaltigungen für die Täter keine „instrumentelle“ Funktion erfüllen, also nicht der Befriedigung ihres sexuellen Triebes dienen: Mit dem Akt der Vergewaltigung kommuniziert der Angreifer auf einer Ebene komplizenhaft mit anderen Männern, um das „Mandat der Männlichkeit“ zu erfüllen, das vom Mann das Eintreiben eines „Tributs“ von der „weiblichen Position“ fordert.

Bei einem Forschungsaufenthalt im mexikanischen Ciudad Juárez im Jahr 2004 sucht Segato nach Antworten auf das massenhafte Verschwindenlassen, Vergewaltigen und Ermorden von meist jungen Fabrikarbeiterinnen in der Zeit nach der Verabschiedung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens. Segato stellt die politische These auf, dass para-staatliche Akteure der organisierten Kriminalität ihre „Fähigkeit zur Grausamkeit“ in den entstellten und willkürlich entsorgten Körpern der ermordeten Frauen mit der stillen Billigung des Staates „einschreiben“ und somit ihre Macht über ein „Körper-Territorium“ demonstrieren. Diese Feminizide, die Segato in ihrem Ausmaß auch als „Femigenozid“ einstuft, sind kein bloßes Mittel, sondern der Höhepunkt einer kriegerischen Strategie.

Zentral ist auch Segatos Verständnis der Kategorie Geschlecht als in seiner strukturellen Entstehung parallel zu „Raza“ (race). Im Kern werden biologische Unterschiede festgeschrieben, um Ungleichheit zu zementieren. Sie folgt dabei der Theorie der „Kolonialität der Macht“ des peruanischen Soziologen Aníbal Quijano, der die historische Entstehung des Systems Rassismus zu Beginn der Conquista verortet. Anders als Raza sei Geschlecht laut Segato aber so alt wie die Menschheit selbst. Sie geht davon aus, dass selbst vor der Kolonisierung und bis heute, in autochthonen Gesellschaften ein „Patriarchat niedriger Intensität“ besteht. Hier beobachtet sie einen schleichenden Prozess der Verdrängung eines „pluralistischen Dualismus“ der Geschlechter, in dem die Existenz von trans und nicht-binären Identitäten selbstverständlich ist, durch einen eurozentristischen „modernen Binarismus“, der die Frau immer als „das Andere des Mannes“ konstruiert.

In Anlehnung an Quijano bevorzugt Segato den dekolonialen in Abgrenzung zum postkolonialen Begriff, um das Fortwirken von kolonialen Beziehungen zwischen Lateinamerika und dem globalen Norden zu betonen. Hier merkt sie auch an, dass viele „afroindigene“ Pueblos sich dieser Dynamik bewusst entziehen und sich ihre Zukunft durch ein eigenes „historisches Projekt“ erhalten. Aufgrund ihrer „Scharnierposition zwischen zwei Welten“ sind Männer dieser Gesellschaften jedoch korrumpierbarer hinsichtlich des eurozentristischen „Projekts der Dinge“, einschließlich weißer Männlichkeit. Daher tragen hier Frauen die Verantwortung und Chance eines lebensbejahenden „historischen Projekts der Bindungen“, wozu auch der Kampf gegen die Entpolitisierung des häuslich-familiären Kontextes mit der damit einhergehenden Angreifbarkeit ihrer Körper gehört.

Segato hat in Wider die Grausamkeit eine Kompilation von Vorlesungen mit anschließenden Gesprächsrunden zusammengestellt – unkonventionell und nahbar. Sandra Schmidt liefert eine gelungene Übersetzung und Aufbereitung für die deutschsprachige Leser*innenschaft, mitsamt hilfreichen editorischen Einordnungen emischer Begriffe. Segatos Stil – eine Mischung aus „mäandernder“ Analyse und sprachlicher Direktheit – bleibt in der Übersetzung ebenfalls erhalten. Es entsteht das Gefühl, mit ihr im Hörsaal zu sitzen.

Leider beantwortet Segato die intersektionale Frage danach, warum und wie rassifizierte, prekarisierte und dadurch mehrfach marginalisierte Frauen und Queers besonders von geschlechterspezifischer Gewalt betroffen sind, nur unzureichend. So findet etwa der alarmierende Anstieg von Transfeminiziden in Lateinamerika nicht ausreichend Beachtung.

Die Erwartungshaltung bezüglich eines neuen feministischen Gesellschaftsentwurfes von Segato sollten die Leser*innen zurückschrauben. Denn Lösungsansätze reißt sie nur als Gegenüberstellung zur „Pädagogik der Grausamkeit“ an. Eigentlich lässt ihre Profession als Anthropologin, deren Methode das Forschen mit den Menschen darstellt, aber gerade die Beleuchtung handfester Strategien erhoffen, die die Erfahrungen von widerständigen Gemeinschaften und Aktivist*innen ausmachen. Doch Segato erwähnt nur flüchtig die Gesprächspartner*innen ihrer Feldforschungen und konzentriert sich mehr auf analytische Schärfe und klare Thesen. Sie sieht ihre Verantwortung als Wissenschaftlerin vielmehr darin, so viele Fäden wie möglich zu einer „wirkmächtigen Rhetorik“ zusammenzuweben, nutzbar für das historische Projekt der Bindungen.

So ist Rita Laura Segatos Werk zu einem theoretischen Fundament für Aktivist*innen der Vierten Feministischen Welle in Lateinamerika geworden. Ihr „Vokabular“ vermag es auch hierzulande, ungehorsame Gedanken und Aktionen sowie die weitere transnationale Verbindung feministischer Kämpfe anzustiften.

„WIR NUTZEN DIE REALITÄT ZU UNSEREN GUNSTEN!“

Kommunikation ohne Worte Clementina Folmer als Ema (© Betania Cappato & Iván Fund)

Una escuela en Cerro Hueso basiert auf der Geschichte Ihres Bruders Lucio. Was bedeutet es für Sie, so eine persönliche Geschichte auf die Leinwand zu bringen?
Betania Cappato: Da es nicht nur eine wahre, sondern auch eine persönliche Geschichte ist, hat sie die Besonderheit, dass ich sie sehr gut kannte. Ich wollte mich in diese Welt hineinbegeben, in die Schule von Lucio, auf die ich selbst nie gegangen war. Und dadurch, dass ich dort viel Zeit mit seiner Lehrerin und seinen Klassenkameraden verbracht habe, wollte ich etwas über sein Universum, seine persönlichen Erfahrungen herausfinden. Ich wollte mich so an ihn annähern und versuchen, ihn ein bisschen mehr zu verstehen. Für mich war es auch wichtig, diese Geschichte bekannt zu machen, damit sie andere Familien inspirieren kann, die ähnliche Situationen erleben.

Betania, Sie haben bislang viel mit Dokumentarfilm gearbeitet. Was hat Sie zur Entscheidung geführt, einen Spielfilm zu machen?
BC: Das Fiktionale hat mir mehr Freiheiten gegeben: Es hat mir erlaubt, nicht nur eine Geschichte zu erzählen, sondern auch über andere Themen zu sprechen, die mich interessieren, die mit dem Ort, den Figuren, dem Muttersein zu tun haben. Aber es ist eine Fiktion, die sehr nah am Dokumentarfilm verortet ist und aus diesem Hybrid entstehen Momente von starkem Realismus. Denn die Hauptfiguren werden zwar von den Schauspielern Mara Bestel, Pablo Seijo und Clementina Folme gespielt, aber bei allem, was im Kontext der Schule passiert, ist das anders. Hier haben wir versucht, uns so unsichtbar wie möglich zu machen und unsere Geschichte mit dem, was dort passierte, zusammenzuführen: Mit den Kindern, ihrer Welt, den Spielen und der Arbeit der Lehrerinnen, die unglaublich ist. Weil es nicht nur darum geht, Lesen und Schreiben beizubringen, sondern ein Umfeld der Menschlichkeit herzustellen, das alle Grenzen überschreitet.

Im Film wird Lucios Geschichte erzählt, aber die Hauptfigur ist Ema. Warum haben sie sich für eine weibliche Protagonistin entschieden?
BC: Iván und ich haben ein Prinzip: Die Realität zu unseren Gunsten zu nutzen. Zuerst dachte ich auch daran, einen Jungen zu nehmen. Aber dann haben wir Clementina kennengelernt und es war sofort alles klar. Es gab nicht einmal ein Casting für den Film. Wir haben Clementina getroffen, eine Kameraprobe bei ihr zu Hause gemacht und wussten, dass sie es sein musste.

Haben Sie mit einem fertigen Drehbuch gearbeitet oder es während des Drehs noch verändert?
BC: Wir hatten eine fertige Geschichte, wir wussten, was passieren sollte, aber wir waren nicht total darauf festgelegt. Wir sind wieder auf dieses „die Realität für uns nutzen“ zurückgekommen. Darauf, uns nicht zu sehr emotional an unser Material zu binden, sondern im Prozess herauszufinden, was das Beste ist. Das ist eine ziemlich experimentelle Herangehensweise. Wir arbeiten nicht so sehr mit einem Drehbuch, sondern mehr so, als ob es eine Geschichte wäre, die wir in einzelne Szenen untergliedern. Also wir wissen in etwa, was an einem Drehtag passiert und dann improvisieren wir einige Sachen. Denn während des Filmens passieren Dinge, die unsere Neugier wecken. Die Kinder haben zum Beispiel ihre eigenen Persönlichkeiten und unvermittelt haben sich einige zu wichtigen Figuren entwickelt. Da kamen Dinge zusammen, die viel Lebendigkeit und Eigenständigkeit eingebracht haben. Für mich ist es wichtig, jeden Tag zu beginnen, als wäre er der erste.

Sie haben über Motivation und Zufriedenheit gesprochen. Was war die größte Herausforderung dabei, diesen Film zu machen?
BC: Das ist mein erster Film dieser Art, so dass für mich die größte Schwierigkeit darin bestand, mir erst einmal zuzutrauen, Regie in einem Spielfilm zu führen, Schauspielern Anweisungen zu geben. Das auf persönlicher Ebene. Und danach war jeder Schritt für sich schwierig!

Iván Fund: Vielleicht war die Schwierigkeit hier, das Leben des Films und das eigene Leben zusammenzubringen. Außerdem ist das Durchhalten schwierig, weil es wirklich eine jahrelange Beziehung mit dem Film ist. Man kommt ihm näher, entfernt sich, freundet sich mit ihm an, ärgert sich über ihn. Die ganze Zeit ist das eine lebendige Beziehung!

BC: Absolut! Gleichzeitig ist das Verrückte, dass das Kino unser Leben ist. Für mich sind das Kino und mein Leben ziemlich untrennbar verbunden. Vom erzählerischen Gesichtspunkt war es die größte Herausforderung, Ema darzustellen. Eine Figur, die nicht spricht, aber dann plötzlich viel ausdrücken kann.

Stille durchzieht den ganzen Film. Es werden andere Formen der Kommunikation eingesetzt…
IF: Die Figur selbst hat dieses Vorgehen ermöglicht. Es ging um ein Mädchen, das nicht spricht, und das war der Ausgangspunkt, von dem man die Dynamiken verstehen musste. Der Film ist von diesem Standpunkt aus entwickelt und die Idee war nicht, dass Ema stumm ist und alle um sie herum mit ihr sprechen …
BC: Oder für sie sprechen!

IF: Genau! Die Idee war, an die ganze Situation von einer anderen Seite heranzugehen. Und das ist etwas, über das wir viel nachgedacht haben: Wie nähern wir uns an? Wie stellen wir eine Figur dar, mit der man sich nicht verständigen kann?

BC: Es war von wesentlicher Bedeutung, zu verstehen, was die Perspektive des Films sein sollte: Können wir uns in Ema hineinversetzen und für sie sprechen, oder eine Interpretation ihrer Gefühle versuchen, der Art, wie sie die Welt sieht? Auf der anderen Seite war aber auch der Blickwinkel der Eltern wichtig.

Der Film hatte keine aufwändige Produktion. Was sind die Vor- und Nachteile bei der Arbeit mit einem so kleinen Team?
BC: Ich glaube, jedes Projekt ist wie ein eigenes Universum und jeder muss die Herangehensweise finden, die am besten zu dem passt, was man machen will. Ich finde es angenehm, mit wenigen Leuten zu filmen, weil die Kommunikation und die Organisation viel einfacher sind. Bei diesem Film waren wir fünf oder höchstens mal sieben Personen an einem Tag. Wir haben uns morgens zusammengesetzt und konnten darüber sprechen, was wir filmen werden. Die Freiheit, die das Filmen auf diese Weise bedeutet, ist unbezahlbar. Natürlich hat uns die Postproduktion auch viel Zeit gekostet. Wir haben gefilmt wie eine Art Kino-Guerrilla, aber danach muss dieses Material durch viele Nachbearbeitungsprozesse und es steckt viel Arbeit dahinter, bis alles so aussieht und sich anhört wie ein richtiger Film. Und es ist auch teuer. Da sind dann die Koproduzenten gefragt.

IF: Dann sind da natürlich auch noch die Risiken, die Anspannung und der Stress, eine Finanzierung zu bekommen, nur damit man überhaupt anfangen kann. Denn den ganzen Rest musst du dann selbst finanzieren. Und alle, die einsteigen, schreiben sich den Film auf ihre Fahne, denn viel mehr können wir ihnen nicht bieten. Warum macht man so was? Also fürs Geld bestimmt nicht.

Una escuela en Cerro Hueso war der einzige lateinamerikanische Film in dieser Sektion der Berlinale. Was bedeutet das für Sie?
BC: Natürlich macht es mich glücklich, bei den ganzen Schwierigkeiten, in Argentinien Filme zu machen, einen Film hierher zu bringen.

IF: Und uns hierherzubringen, was genauso schwierig ist! Wir sind superglücklich! Obwohl ich nicht weiß, ob es die Exklusivität ist, die uns glücklich macht. Es wäre gut, wenn die Sektion voller lateinamerikanischer Filme wäre! Hoffentlich setzt der Fakt, dass wir hier sind, dass der Film hier ist und Auszeichnungen bekommen kann, einige Hebel in Bewegung, damit die Produktion und Postproduktion lateinamerikanischer Filme einfacher wird. Ich kann mir vorstellen, dass es überall sehr schwierig ist, Kino zu machen. Aber ich glaube, wir drehen wirklich mit dem Budget, mit dem man bei anderen Filmen den Kaffee bezahlt.

 

SCHONUNGSLOS SUBTIL

Azor aus Argentinien Sektion Berlinale Encounters (Foto: Berlinale)

„Glauben Sie, Sie sind hier in Roland Garros?“, begrüßt der Schweizer Geschäftsmann Lombier zu Beginn von Azor den Privatbankier Yvan van der Wiel (Fabrizio Rongione) in Buenos Aires. Sollte dieser sich Illusionen hingegeben haben, was ihn in Argentinien im Jahre 1980 erwartet, sind diese spätestens nach der Frage seines Landsmanns passé. Mit der entspannt-versnobbten Atmosphäre des Pariser Tennisturniers Roland Garros hat die argentinische High Society trotz des luxuriösen Ambientes nicht viel gemeinsam. Denn auch in dem Metier, in dem er seit Jahrzehnten erfolgreich tätig ist, kann sich niemand mehr den Machenschaften und der Gewalt der in Argentinien herrschenden Militärjunta entziehen. In dieses Spiel wird Van der Wiel, der millionenschwere Spross einer Dynastie von Privatbankiers, nun unvermittelt geworfen, weil ein gewisser Keys, der bisherige örtliche Vertreter seiner Bank, wie vom Erdboden verschluckt ist. Verschwunden? Oder geflohen? Niemand weiß oder sagt etwas Genaues, obwohl sein Name in der argentinischen Oberschicht ein Begriff zu sein scheint. Vorsichtig abwägend versucht Van der Wiel nun, Keys‘ Luxuskunden weiter an die Bank zu binden. Dabei muss er sich schnell in der äußerst unsicheren politischen Gemengelage zurechtfinden. Denn jeder Fauxpas kann auch für ihn tödliche Konsequenzen haben.

Es ist kein Geheimnis, dass Schweizer Privatbanken jahrelang eine tragende Rolle bei der Finanzierung und Geldwäsche für die argentinische Militärjunta gespielt haben. Doch während viele filmische Verarbeitungen der Diktatur die Unterdrückung und das Leid der Zivilbevölkerung thematisieren, lief ihre Finanzierung durch Schweizer Bankiers bislang filmisch so geräuschlos und diskret ab wie in der Realität. Mit Andreas Fontanas Film Azor ändert sich das nun. Der Protagonist trifft bei seiner Besuchstour durch den goldenen Käfig auf Jäger und Gejagte: Eine Elite, die – changierend zwischen Skrupellosigkeit und Angst – an nichts anderes denkt als ihre Besitztümer zu wahren oder zu vergrößern. Dabei sind einige mittlerweile selbst schon im Visier der Junta. So gibt es auch bei den politisch weniger konformen Superreichen schon die ersten Verschwundenen. Weil die Konkurrenz droht, wichtige Kunden auszuspannen, steht Van der Wiel bald vor der Entscheidung, ob er für seine Geschäftsinteressen auch die letzten Skrupel aufgeben soll.

Andreas Fontanas Langfilmdebüt Azor ist ein beeindruckender Einblick in die Welt der Superreichen und ihrer Bankiers während der dunkelsten Jahre Argentiniens. Eine falsche Bemerkung, ein falscher Kontakt, und wichtige Türen schließen sich für immer. Der Zynismus und die korrumpierte Moral der Militärs bricht sich in den oberflächlichen Gesprächen ebenso Bahn wie die Bereitschaft der Banken, über immer größere Ungeheuerlichkeiten hinwegzusehen. Azor steht in der codierten Sprache der Bankiers für die Fähigkeit, zum richtigen Zeitpunkt nichts zu sagen. Diese Fähigkeit lässt Fontana seine Figuren im Laufe des Films perfektionieren, so dass der Aufenthalt der Schweizer Delegation sich zunehmend zu einer Reise ins Herz der Militärdiktatur entpuppt. Ständige Begleiter*innen Van der Wiels sind dabei seine so weltgewandte wie abgebrühte Ehefrau Inés (Stéfanie Cléau) und vor allem das Phantom des verschollenen Keys. Dessen Geheimnisse entfalten eine Sogwirkung, der sich Van der Wiel irgendwann nicht mehr entziehen kann. Referenzen zu Francis Ford Coppolas Vietnam-Epos Apocalypse Now sind oftmals so überdeutlich, dass sie als gewolltes Augenzwinkern verstanden werden sollten. Doch der mit einem durchweg großartigen Schauspielensemble besetzte Film ist für sich selbst gesehen ein kleines Meisterwerk, so dass er dieser Querverweise gar nicht nötig hätte. Azor ist ein bislang fehlendes, glänzendes Mosaiksteinchen in der filmischen Aufarbeitung der argentinischen Militärdiktatur. So subtil und gleichzeitig schonungslos wie Fontana haben nur wenige die Abgründe hinter deren polierter Fassade aufgezeigt.

Männliches Ökosystem

Fotoquelle: WarnerMedia

Die Geschichte beginnt mit einer Orgie, organisiert von einem Senator, einem Richter und dem Vertreter einer ausländischen Bank, die sich zwei Transfrauen und eine minderjährige Prostituierte über ihren Kontakt zum „Milieu“ besorgen. Der Sex ist hart und das Koks wird im Minutentakt geschnupft. Dumm nur, dass der Minderjährigen zuviel davon in die Nase gerieben wird und sie inmitten des Geschehens stirbt.

Der Tod von Yiyi setzt im Laufe des kurzen Zeitraums zwischen dem 2. März und dem 20. April 1996 eine ganze Reihe von Kettenreaktionen in Gang – mit verhängnisvollen Folgen für ihre Kolleg*innen, den Zuhälter Tucu und viele andere Figuren. Dabei treiben  krimitypische Elemente wie ein Comisario und sein Sergeant, die Beseitigung der Leiche, ein heimlich aufgenommenes Video von der Orgie und die Suche nach diesem die Handlung voran. Doch „Entre Hombres“ verlässt recht schnell das Genre des Whodunit. Statt Aufklärung interessiert  von Anfang  an nur die Vertuschung des Verbrechens, das sich im Laufe der Handlung multipliziert.

Regisseur Pablo Fendrik entführt uns in eine Zeit und ein Milieu, in dem jede Interaktion gewalttätig ist. Hier kämpft nicht Gut gegen Böse, hier kämpft jeder für sich allein – manchmal in Begleitung von anderen. Korrupt sind alle, angefangen von den Organisatoren der Orgie über die Polizei bis hin zu den „Kriminellen“, bei denen für jede Transaktion zwischen Leben und Tod nur der Preis zählt. So preist  ein Waffenhändler in bester Verkaufsshowmanier die Vorteile der verschiedenen Schnellfeuerwaffen (einschließlich seiner Sonderangebote) an, während der Sergeant auf den nicht vorhandenen Waffenschein eines Fleischers ganz selbstverständlich mit der (kostenfreien) Bestellung von Fleisch für einen Grillabend für vier Personen reagiert. Immer mit dabei das Koks, das „Gesetzeshüter“ wie „Kriminelle“ fast ununterbrochen konsumieren und  in der Folge bei allen anderen Handlungen leise vor sich hinschnüffeln.

Er habe ein „männliches Ökosystem“ zeigen wollen, in dem „es keinen Platz für irgendetwas gibt, das nicht gewalttätig ist“, sagte Regisseur Pablo Fendrik im Interview mit der Berlinale. Das ist ihm ganz unbestreitbar gelungen. In Abwesenheit eines Helden wird die Gewalt in keiner Weise abgemildert oder gerechtfertigt, eine positive Gegenerzählung existiert unter diesen Männern nicht. Frauen spielen nur als Prostituierte eine Rolle. Dabei habe ihn, so Fendrik weiter, das spezielle Mindset interessiert, das ständig Gewalt reproduziere. Damit wolle er Männern „auf die brutalste und dunkelste Weise einen Spiegel vorhalten“ und sie so dazu anregen „über uns heutzutage nachzudenken“.

Es ist sicher kein Zufall, dass diese Serie im Argentinien von Carlos Menem angesiedelt ist, der Argentinien von 1989 bis 1999 als Präsident regierte, ein gnadenloses neoliberales Programm durchsetzte und bis heute für Waffenhandel und Korruption steht. Buchautor Germán Maggiori, der gemeinsam mit Fendrik das Skript für den Film entwickelt hat, lebte nach eigenen Angaben monatelang im Selbstversuch im kriminellen Milieu von Buenos Aires, bevor er 2001 „Entre Hombres“ veröffentlichte. Das Resultat dieses Selbstversuchs geht unter die Haut – Triggerwarnung bezüglich expliziter Sex- und Gewaltszenen eingeschlossen.

Subtil und zärtlich

© Betania Cappato & Iván Fund

Eine Frau untersucht Fische in ihrem Labor. Mal von ihr umarmt, mal an ihrer Seite, begleitet sie ein Mädchen, das aufmerksam und still jede ihrer Bewegungen beobachtet. Die Frau ist Julia (Mara Bestelli) und das Mädchen ist ihre Tochter Ema (Clementina Folme).

Ema ist im Alter, in dem sie eingeschult werden sollte. Verschiedene Schulen lehnen sie jedoch ab. Alle bis auf eine. Eine kleine, einfache Schule, die in Cerro Hueso, einem Ort am Ufer des Flusses Paraná, einige Kilometer von Santa Fé entfernt, liegt. Und so verlassen Ema und ihre Eltern Julia und Antonio (Pablo Seijo) die Stadt, um sich am Flussufer einzurichten.

Una escuela en Cerro Hueso, inszeniert von der argentinischen Regisseurin Betania Cappato, basiert auf einer wahren Geschichte. Emas Figur ist inspiriert vom Bruder der Regisseurin und Drehbuchautorin Betania Cappato, bei dem als Kind autistische Züge diagnostiziert wurden. Dieser Hinweis auf den biografischen Charakter des Films geschieht nicht in der Absicht, den Parallelen zwischen Fiktion Realität auf den Grund zu gehen. Vielmehr soll er die Genauigkeit und das Einfühlungsvermögen hervorheben, mit der Cappato die Figur der Ema entwirft. Im Film wird die spezielle Situation des Mädchens zu keinem Zeitpunkt explizit benannt, sondern sie zeigt sich in fragmentierter Form, in der Aneinanderreihung von Details. So wie im zwanghaften Umfahren des Randes von Gegenständen, dem Hin- und Herlaufen von einer Seite des Raumes zur anderen, der Schwierigkeit, sich anzuziehen oder in der Tendenz, die Handlungen anderer nachzuahmen. Es sind ihre Obsessionen und Verhaltensweisen, die zu verstehen geben, dass wir es mit einem Menschen zu tun haben, der die Welt auf andere Weise wahrnimmt. Das, und ihr Schweigen.

In Una escuela en Cerro Hueso ist Schweigen Gold. In vielen Szenen hört man nur  die Geräusche der Natur, vor allem des Wassers, das eines der Hauptmotive der Geschichte ist. Denn die Verschmutzung des Flusses und die Wasserprivatisierung sind als Themen omnipräsent. Eine subtiler politische Fingerzeig und ein strukturierendes Element der Erzählung. Denn im Sterben einiger Fischarten und im Überleben anderer spiegelt sich die Geschichte von Ema und ihrer Familie, in einem erzählerischen Raum, der als Tragödie zu beginnen scheint und mit einem Fest endet.

Es gibt nicht allzu viele Dialoge im Film, dafür aber umso mehr Gesten. Denn Ema spricht nicht. Nicht mit ihren Lehrerinnen, nicht mit ihren Freund*innen in der Schule, nicht mit ihren Eltern Julia und Antonio. Die leiden darunter, aber auch das wortlos. Nur ihre Augen verraten Kummer und Verzweiflung. Oder Freude, denn trotz allem gibt es im Film mehrere helle Momente, die Hoffnung schenken.

© Betania Cappato & Iván Fund

Bei Ema bemisst sich der Weg von der totalen Entfremdung zum Glücklichsein in ihrem Lächeln. Auf diesem Weg spielen ihre Lehrerinnen und Klassenkamerad*innen in der Schule, vor allem Irene (Irene Zequín), eine entscheidende Rolle. Das Verhalten der Kinder ist vielleicht einer der berührendsten Aspekte des Films. Cappato gelingt es, die Unschuld, Unkompliziertheit und die Zärtlichkeit einzufangen, die so nur Kinder haben können. Man könnte einwerfen, dass der Blick darauf, wie die Kinder mit bestimmten Situationen umgehen, ein idealisierter ist. Dennoch ist die Warmherzigkeit, mit der sie sich Ema nähern und Unverständnis und Verlorenheit in liebevolle Gesten verwandeln, unbestreitbar bezwingend.

Ema ist nicht die einzige, die in Cerro Hueso den Ausweg aus einer schwierigen Situation findet. Für Julia und Antonio ist die Unterstützung und das Engagement der  Gemeindemitglieder sehr wichtig für die Eingewöhnung im Ort und den neuen Lebensabschnitt, den sie beginnen müssen. Die bestehende Solidarität und Gemeinschaft unter den Bewohner*innen ist ein anderer wesentlicher Aspekt.

In Una escuela en Cerro Hueso behandelt Betina Cappato ein komplexes und schmerzvolles Thema mit extremem Feingefühl und Sensibilität und taucht so mit uns in Emas Universum ein, in ihre Art, die Welt zu sehen. Ohne Zweifel ist dieser Film eine der großen Entdeckungen der diesjährigen Berlinale-Sektion Generation und wurde deshalb auch zu Recht von der Jury mit einer lobenden Erwähnung bedacht.

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