ARGENTINIEN LIEGT AUF DER INTENSIVSTATION

Notenpresse läuft auf Hochtouren Argentiniens Zentralbank (Foto: bennylope, Gemeinfrei / Wikimedia Commons)

„Wir liegen auf der Intensivstation!“ Argentiniens Mitte-links-Präsident Alberto Fernández sagte dies bereits Anfang Februar bei seiner Deutschlandvisite, als die Covid-19-Pandemie in Argentinien noch kein Thema war. Die argentinische Wirtschaft steckte schon damals tief in einer Rezession. Fernández war auf Europatour, um für internationale Unterstützung für die Umschuldung der Verbindlichkeiten Argentiniens zu werben. Die neoliberale Vorgängerregierung von Mauricio Macri hatte Fernández im Dezember 2019 ein schweres Erbe hinterlassen: In vier Jahren hatte sie die Auslandsschulden um mehr als 100 Milliarden Dollar auf 323 Milliarden Dollar hochgetrieben. Selbst der Internationale Währungsfonds (IWF) hat diese Schuldenlast im Frühjahr 2020 für nicht tragfähig erklärt. Ebendieser IWF hatte Macri auf Betreiben von US-Präsident Donald Trump noch 2018 einen Rekordkredit von 57 Milliarden Dollar gewährt. So sollte Macri Vertrauen bei der argentinischen Bevölkerung für die Präsidentschaftswahlen 2019 verschafft werden. Macri wurde trotzdem abgewählt, die Schulden aber blieben.

Die Neuverhandlung der Staatsschulden sollte eigentlich bis Ende März dieses Jahres abgeschlossen werden. Die Covid-19-Pandemie hat das verhindert. Ende Mai hatte Argentinien Zinsforderungen in Höhe von 503 Millionen US-Dollar nicht beglichen und war dadurch in einen begrenzten Zahlungsausfall gerutscht.

Seit dem 20. März ist Argentinien in Quarantäne. Am 28. August verlängerte Alberto Fernández die Maßnahmen gegen die Pandemie erneut bis zum 20. September. “Die Pandemie hat uns eingeschlossen, und wir mussten gleichzeitig mit etwa 30 Fonds über Zoom verhandeln”, schilderte Wirtschaftsminister Martín Guzmán das komplexe Szenario. Bis Ende März war es vollkommen unmöglich, unter diesen Umständen zu einer Einigung zu kommen. Die Frist wurde ein ums andere Mal verlängert, zuletzt bis zum 28. August. Deswegen kam die Nachricht in der Nacht vom 3. auf den 4. August völlig überraschend: Es gebe eine Einigung im Grundsatz, der die unterschiedlichen Gläubigergruppen bis zum 28. August ihr Plazet geben müssten. Das verkündete Wirtschaftsminister Guzmán vor der Presse. Die Regierung und ausländische Privatgläubiger hätten sich darauf geeinigt, eine Schuld von mehr als 65 Milliarden Dollar umzuschulden, um aus der Zahlungsunfähigkeit herauszukommen. “Jetzt haben wir einen klaren Zeithorizont”, verkündete Präsident Fernández. Auf 30 Milliarden Dollar weniger Schuldendienst in den kommenden zehn Jahren bezifferte er das Entgegenkommen der Gläubigerfonds.

Selbst sein Vorgänger Mauricio Macri, der in Frankreich Urlaub machte, äußerte sich positiv. “Wir haben es zu Ende gebracht”, sagte er gegenüber dem Portal Infobae und verwies auf den langen Prozess. Luis Caputo, der unter Macri Finanzminister und Präsident der Zentralbank war, sprach von einer “großen Übereinstimmung” und sandte “Glückwünsche” an den Präsidenten, Minister Guzmán und “alle Beteiligten”. Soviel Einigkeit zwischen Regierung und Opposition ist in Argentinien selten, wenn man vom weitgehenden Konsens in der Bekämpfung von Covid-19 absieht.

93,5 Prozent der Gläubiger*innen haben das Angebot der argentinischen Regierung bis Ende August angenommen. Bei Lichte betrachtet hat Argentiniens Regierung wohl herausverhandelt, was in der jetzigen Lage möglich war. Eine harte Haltung wie sie die Regierung von Néstor Kirchner ab 2003 bei den Verhandlungen an den Tag legte – Alberto Fernández nahm damals als Kabinettsleiter teil – konnte sich die Regierung dieses Mal wegen der Pandemie nicht leisten. Kirchner war seinerzeit als »Insolvenzverwalter« tätig, nachdem Argentinien 2001 zum achten Mal in der Landesgeschichte zahlungsunfähig geworden war. Als er zwei Jahre später sein Amt als Präsident antrat, bot er 2005 und 2010 nach dem sonst nur vom IWF bekannten Mottos »Friss oder stirb« den privaten Anleger*innen an, entweder auf 75 Prozent ihrer Forderungen zu verzichten oder ganz leer auszugehen. 93 Prozent nahmen zähneknirschend an. Der Rest klagte in New York, wo die argentinischen Dollar-Staatsanleihen ausgegeben worden waren, um Investor*innen mit Rechtssicherheit zu locken. Die Kläger*innen wurden von der Regierung Macri 2016 schließlich großzügig belohnt: An vier Fonds wurde insgesamt 4,65 Milliarden Dollar gezahlt, 75 Prozent der ursprünglich geforderten Summe und damit 50 Prozentpunkte mehr als an alle anderen.

2020 ging Argentiniens Regierung unter Guzmáns Verhandlungsleitung vorsichtiger vor. „Unser Angebot umfasst eine dreijährige tilgungsfreie Zeit, eine 5,5-prozentige Reduzierung des Anleihekapitals und eine 62-prozentige Reduzierung der Zinszahlungen. Es belässt den Gläubigern einen durchschnittlichen Anleihekupon von 2,3 Prozent gegenüber ihrem derzeitigen Durchschnittskupon von 7 Prozent, der angesichts des derzeitigen Zinsumfelds nicht niedrig ist. Kurz gesagt, wir verlangen von unseren Gläubigern nicht, dass sie verlieren, sondern dass sie weniger verdienen“, schrieb der politische Quereinsteiger in einem Gastbeitrag der Financial Times. Der 37-jährige Guzmán hatte vor seinem Wechsel in die Politik bis 2019 als Mitarbeiter des Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph E. Stiglitz an der Columbia University in den USA nach Lösungen für die Schuldenkrisen von Staaten geforscht. „Die Zeit der Illusionen ist vorbei. In der neuen Covid-19-Welt können wir nicht weiterhin 20 Prozent der Staatseinnahmen oder mehr für die Schuldentilgung ausgeben – wie es einige Gläubiger effektiv gefordert haben. Es ist einfach unmöglich“, hatte Guzmán in seinem Artikel die Forderung nach Umschuldung begründet.

Doch aus den ursprünglich von Buenos Aires geforderten 62 Prozent Forderungsverzicht sind dem Vernehmen nach nur 45 Prozent geworden. Und selbst das hört sich nach mehr an, als es ist ­– auf dem Sekundärmarkt werden argentinische Staatsanleihen unter 40 Cent pro Dollar gehandelt, sprich gut 60 Prozent unter dem Nominalwert.

Eine nachhaltige Lösung des Schuldenproblems ist das Ergebnis nicht

Argentinien hat sich mit der Einigung vor allem Zeit gekauft: Es muss in den nächsten drei Jahren mit etwa 4,5 Milliarden Dollar nur einen vergleichsweise geringen Teil der in diesem Zeitraum eigentlich fälligen 41 Milliarden Dollar Schuldendienst begleichen. Das verschafft dem Land in der derzeitigen Wirtschaftskrise womöglich eine Atempause. Eine nachhaltige Lösung des Schuldenproblems ist das Ergebnis nicht: Argentinien zahlt weiter, soviel es eben kann, nur eben später.

Wie ernst die Finanznöte der argentinischen Regierung sind, zeigte sich wenige Wochen nach der Einigung mit den privaten Gläubiger*innen. „Wir bitten um finanzielle Hilfe“, hieß es am 26. August in einem Schreiben von Wirtschaftsminister Guzmán und Notenbankchef Miguel Pesce an_IWF-Direktorin Kristalina Georgiewa. „Ohne einen wirtschaftlichen Wiederaufbau kann es keine Stabilisierung geben“, sagte Guzmán. Ziel des neuen Kredites und einer Zahlungsrestrukturierung sei, die Rückzahlung von 44 Milliarden US-Dollar zu ermöglichen, die Argentinien vor zwei Jahren vom IWF erhielt.

Dass ausgerechnet der IWF um Hilfe gebeten wird, sorgt für Erstaunen, hatte Fernández doch bei Amtsantritt im Dezember 2019 angekündigt, keinen zusätzlichen Cent aus dem 57-Milliarden-Dollar-Kredits seines Vorgängers Macris in Anspruch zu nehmen. Das war allerdings, bevor die Folgen der Pandemie die Wirtschaft zusätzlich massiv schädigten. “Die Arbeitslosigkeit und die Armut sind massiv angestiegen”, erklärt der Politanalyst Rosendo Fraga. Die Wirtschaft ist in freiem Fall, mehr als 42.000 kleine und mittlere Unternehmen mussten seit März schließen. Mindestens 300.000 Arbeiter*innen verloren seit dem Quarantänebeginn ihren formellen Job. Und das in einem Land, das sich schon seit 2018 im wirtschaftlichen Sturzflug befindet und mit der Umschuldung die neunte Staatspleite im letzten Moment noch verhindern konnte._Um mindestens zwölf Prozent wird die Wirtschaftsleistung nach bisherigen Prognosen 2020 einbrechen.

In der gegenwärtigen Rezession brechen die Steuer- und Exporteinnahmen ein, während die Staatsausgaben aufgrund der Coronakrise massiv steigen. Da der Zugang zum internationalen Kapitalmarkt wegen des Zahlungsstopps auf den Schuldendienst seit Mai blockiert ist, finanziert sich die Regierung über die einheimische Notenpresse rund um die Uhr: 1,3 Billionen Pesos (etwa 18 Milliarden Dollar zum offiziellen Wechselkurs) wurden 2020 schon gedruckt. Die Inflationsrate betrug zuletzt mehr als 50 Prozent. “Dies ist eine Notsituation, es gab keine Alternative”, sagt Guzmán. Bis jetzt wurde ein großer Teil dieser Geldmenge vom Markt durch den Kauf von Staatsanleihen in Pesos absorbiert. Reiche, anlagesuchende Argentinier*innen gibt es offenbar noch.

Vor dem Beginn der Verhandlungen zur Umschuldung sagte Guzmán: „Auf dem Spiel steht das wirtschaftliche Schicksal von 45 Millionen argentinischen Bürgern. Mehr als 35 Prozent unserer Bevölkerung und 52 Prozent der Kinder leben bereits in Armut. Keine demokratische Regierung kann noch mehr Härten auferlegen oder die Forderungen der Anleihegläubiger über eine Wirtschaftspolitik stellen, die darauf abzielt, die katastrophalen Auswirkungen der Pandemie zu lindern.“

Im Kern sind Guzmáns Aussagen immer noch richtig. Nur die Zahlen verschlechtern sich weiter drastisch. Bis zum Jahresende werden voraussichtlich sechs von zehn Argentinier*innen in Armut leben.

ADIÓS, RÍO PARANÁ

Foto: Flickr, Tractatus Fotogalería, CC BY-NC 2.0

Adiós, adiós, me voy („Leb wohl, ich gehe“), singt Rosario Bléfari im dem Fluss Rio Paraná gewidmeten Lied, das dessen Namen trägt. Nun ist Bléfari, die in zahlreichen Nachrufen als emblematische Figur, Ikone oder gar Königin des Indie-Rocks charakterisiert wird, selbst gegangen – viel zu früh. Das Lied über den Rio Paraná veröffentlichte sie mit der avantgardistischen Alternative-Rock / Noise-Pop-Band Suárez, als deren Frontfrau sie in den 90er Jahren bekannt wurde. 1965 in Mar del Plata geboren, wuchs die Künstlerin zwischen den eisigen Winden Bariloches, denen sie mit „Viento Helado“ einen ihrer bekanntesten Songs schrieb, auf.

Zahlreiche Weggefährt*innen, Musiker*innen und Schriftsteller*innen erinnern sich an Bléfari als immer offene und nahbare Person, die unermüdlich unabhängige Projekte vorantrieb und in entfernten Provinzen des Landes auftrat, fernab aller Klischees der Rockmusikerin oder Schauspielerin. Schon bei Suárez vermischten ihre Texte die ausgefeilten Beobachtungen von Alltagsszenen zwischen Pop und Philosophie, so erinnert sich die Schriftstellerin Cecila Pavón. Eben dies – den kleinen Szenen des Alltags so viel abzugewinnen und in nicht immer einfach zugängliche, aber eindringliche Songs zu fassen – charakterisiert ihr kreatives Schaffen. Im Jahr 2001 dann löste sich Suárez nach vier Alben auf. Bléfari veröffentlichte zunächst unter eigenem Namen fünf Alben, ehe sie die Gruppen Sué Mon Mont und Los Mundos Posibles gründete.

Zur gleichen Zeit begann sie, Bücher, Gedicht- und Erzählbände und Tagebücher zu veröffentlichen. Ihr erster Gedichtband Poemas en Prosa vereint poetische Möglichkeiten, Buenos Aires zu sehen und zu beschreiben. Ihre weiteren Werke La música equivocada (2009), Las reuniones (2018), Antes del rio (2016) und Poemas de los 20 en los 80 (2019) versammeln unter anderem auch Liedtexte, die nie Musik geworden waren. Ihr letztes Werk Diario del Dinero wurde erst posthum veröffentlicht. Es ist eine Sammlung von Tagebucheinträgen, veröffentlicht in zufälliger Reihenfolge, als sei „ein Wind durch das Fenster gekommen und hätte die Blätter durcheinandergewirbelt“, so Bléfari im Vorwort. Wie der Titel „Tagebücher des Geldes“ erahnen lässt, spielt das Geld und das Leben in der so oft und vor allem für eine unabhängige Künstlerin wie Bléfari chaotischen wirtschaftlichen Situation Argentiniens eine wichtige Rolle. Doch geht es in den Tagebucheinträgen nicht nur um das schnöde Überleben: Die zwischen den 80er Jahren bis 2019 gesammelten Einträge zeichnen Rosario Bléfaris künstlerische Laufbahn nach, ihren Blick auf die Details des täglichen Lebens und Reflexionen über die Liebe und das Land.

Bekannter jedoch wurde Bléfari als Schauspielerin: Im Film Silvia Prieto von Martín Rejtmann (siehe LN 296 & 308), der 1999 in die Kinos kam, spielt sie die gleichnamige Protagonistin. Diese beschließt, mit 27 Jahren ihr Leben zu ändern und sich einen Job zu suchen. Als sie jedoch erfährt, dass es in Buenos Aires eine weitere Frau gleichen Namens gibt, wird sie davon besessen. Der minimalistisch gehaltene Film ist gleichzeitig eine subtile Kritik auf den Menemismus und nimmt in gewisser Weise die katastrophale Wirtschaftskrise von 2001 vorweg. Silvia Prieto gilt als einer der wichtigsten Filme des nuevo cine argentino, des neuen argentinischen Kinos. Die Bewegung fand in den 90er Jahren ihren Höhepunkt und entwickelte eine sich von der Last der Diktaturjahre und der Zensur zu befreien beginnende Art des Filmemachens. Silvia Prieto thematisiert so auch Identitätskonflikte in einer Gesellschaft, in der sich wegen der Verschwundengelassenen der Diktatur niemand mehr seiner Identität wirklich sicher sein kann. Weitere Rollen hatte Bléfari beispielsweise in Los dueños (2013) von Ezequiel Raduzky und Agustín Toscana aus Tucumán. Dort spielt sie eine der Hausangestellten, die in der Abwesenheit der Eigentümer*innen das Haus besetzen und eine Art Klassenwechselszenario erträumen. Auch im zweiten und bisher unveröffentlichten Film von Raduzky, Plante Permanente, spielt sie an der Seite ihrer Tochter Nina Suárez Bléfari eine der Hauptrollen.

Ihre schauspielerische Tätigkeit blieb jedoch nicht nur auf das Kino beschränkt. So arbeitete sie auch an einigen Theaterproduktionen mit und mit namhaften Regisseur*innen wie Raúl de la Torre, María Luisa Bemberg und Albertina Carri zusammen. Ein anderes multiartistisches Projekt, Los Cartógrafos, schuf Bléfari gemeinsam mit der Journalistin Romina Zanellato und dem audiovisuellen Künstler Nahuel Ugazi. Dabei las ein*e Schauspieler*in einen Auszug eines zeitgenössischen Werkes argentinischer Autor*innen vor, ein*e Musiker*in schuf zu der Geschichte passende oder auch mit ihr konkurrierende Klanglandschaften. Das zunächst als Podcast begonnene und auf Soundcloud kostenlos nachzuhörende Projekt mündete in eine Tour, in der die drei gleich einer Rockgruppe auf die Bühnen stiegen, um dann statt Musik Literatur zu präsentieren.

Rosario Bléfari starb an den Folgen einer Krebserkrankung in Santa Rosa, wohin sie gereist war, um ihren ebenfalls kranken Vater zu pflegen. Ihr aus der Hauptstadt angereister Partner und ihre Tochter waren da noch in Quarantäne. Pandemiebedingt konnte auch keine Trauerfeier stattfinden. Am 6. August, einen Monat nach Bléfaris Tod, schufen Freund*innen, Kolleg*innen und Fans unter dem Hashtag #CelebramosARosario der Künstlerin ein virtuelles Andenken. Sie spielten ihre Lieder, lasen Gedichte oder teilten Anekdoten. Losgelöst vom Schock über ihren dann doch plötzlichen Tod verbreiteten sie so ihr Werk und damit ihr Vermächtnis weiter, welches sich wirklich zu entdecken lohnt.

“WIR SIND DIE LUNGE DER NACHBARSCHAFTEN”

Enteignung jetzt! Argentinien ist einer der Hauptgläubiger des klammen Agrarunternehmens Vicentin
(Foto: Organización Corriente Clasista Renee Salamanca)

Alles ist still in der Tiefe der Peripherie von Buenos Aires. Die normalerweise belebten Straßen sind wie ausgestorben. Nur einige Lebensmittelgeschäfte haben geöffnet, aber sie verkaufen aus den Fenstern heraus oder von improvisierten Theken in den Türeingängen. Keine Cumbia-Musik ist zu hören, ein unverkennbares Signal, dass sich die Stimmung in der Bevölkerung verändert hat.

Nach mehr als 100 Tagen Quarantäne, spürt man die Müdigkeit und die Verzweiflung von Tausenden, die nicht wissen, was am nächsten Tag passieren wird. Die Mehrzahl der Corona-Infektionen (93 Prozent) konzentriert sich auf die Bundeshauptstadt und die Provinz Buenos Aires, zwei dicht besiedelte Regionen.

Für Menschen, die im informellen Sektor arbeiten, stellt diese neue Situation eine immense Belastung dar. „Bleib zu Hause“ war das Motto der Kampagne, die von der Regierung initiiert wurde. Wer aber sind diejenigen, die tatsächlich zu Hause bleiben können? In einer Wirtschaft, die nach vier Jahren neoliberaler Politik unter der Vorgängerregierung von Mauricio Macri quasi am Boden liegt. Mehr als drei Millionen Menschen sind auf ihre Arbeit im informellen Sektor angewiesen.

In vielen informellen Siedlungen in der Peripherie von Buenos Aires, aber auch in der Hauptstadt selbst, gibt es große Infrastrukturmängel, häufig gibt es kein Leitungswasser und keine Kanalisation. Viele Familien leben auf engem Raum, was im Krankheitsfall eine Isolierung zu Hause unmöglich macht. Die große Sorge, dass sich die Pandemie in diesen Armenvierteln rasch ausbreitet, scheint sich zu bewahrheiten. Darüber hinaus durchlebte Argentinien in den letzten Jahren regelmäßig eine weitere Epidemie: Das von Mücken übertragene Denguefieber.

Die in Argentinien seit vielen Jahren strukturell bedingte Prekarität, wird historisch von den sozialen Bewegungen bekämpft. Territoriale Organisationen haben in Argentinien besonders seit Ende der 90er Jahre eine enorme Bedeutung. Volksküchen, die Verteilung von Lebensmitteln und Spendenkampagnen sind in solchen Krisenmomenten entscheidend für das Überleben in den barrios, wo staatliche Hilfe nicht ausreichend oder erst sehr verspätet ankommt. „Seit vier Jahren organisieren wir uns in der Vereinigung der Bauern von Varela. Jetzt, in der Zeit der Pandemie, spenden wir Gemüse an unsere compañeros in den Suppenküchen”, erzählen Horacio Navarro und seine Genoss*innen, welche die Bauerngewerkschaft Florencio Varela vertreten. Die Vereinigung setzt sich hauptsächlich aus bolivianischen Migrant*innen zusammen, die eine große Gemeinschaft in einer ländlich geprägten Region im Süden der Provinz Buenos Aires bilden.

Mehr als drei Millionen Menschen arbeiten im informellen Sektor

Der Organisationsgrad der Stadtviertel im Ballungsraum Buenos Aires ist erstaunlich hoch. Die historische Erfahrung mit der Konfrontation verschiedener neoliberaler Experimente, hat sich in Argentinien politisch niedergeschlagen. Insbesondere in Buenos Aires, der bevölkerungsreichsten Region Argentiniens, sind es die kollektiven Organisationen, die in Krisensituationen die am stärksten gefährdete Bevölkerung in den Vierteln unterstützt. In einem Artikel in der Internetzeitung El Salto schreibt die Soziologin Veronica Gago: „Der Zusammenbruch wird durch das Gesundheitspersonal und die Netzwerke und Volksorganisationen eingedämmt, die vom Mundschutz bis zur Verteilung von Lebensmitteln alles organisieren. Heute ist es mehr denn je möglich, die Klassensegmentierung anhand des Zugangs zur Gesundheitsversorgung in Frage zu stellen.“ Die Pandemie der Ungleichheit müsse gestoppt werden, sagen auch die Bewohner*innen des Armenviertels Villa 21 (Zavaleta). „Wir sind die Lunge der Nachbarschaften” sagen die Nachbarn und Nachbarinnen, die die Verantwortung für die Suppenküchen übernommen haben, die sich zu Hunderten vermehren. Es sind die Frauen, die am stärksten betroffen und zugleich die Trägerinnen der Selbsthilfe sind. Zusammen mit den Kindern sind die Frauen durch die obligatorische Quarantäne erheblich belastet − oft mit ihren Angreifern eingesperrt. Angst und Unsicherheit sind offensichtlich, die häusliche Gewalt nimmt rapide zu. In zehn Tagen Ausgangssperre wurden elf Frauen und ein Kind ermordet. Auf der anderen Seite sind es vor allem die Frauen, die der Krise mit größter Kraft begegnen, eine Kraft, die ihre Wurzeln in der Geschichte der argentinischen Frauenbewegung hat.

„Politisch gesehen gibt die Gesellschaft vor, dass man schwächer ist, als man ist. (…) Ich verlange nicht mehr als meinen Anteil. Manchmal will ich mich nicht aufregen, wenn ich für ein Recht schreie oder trete, aber ich habe das Gefühl, dass es nicht falsch ist, es zu tun, wenn es notwendig ist. Heute verstehe ich, dass man nicht gehört wird, wenn man nicht rausgeht und schreit.“, erzählte Ramona Medina in einem Interview mit der Zeitschrift La Garganta Poderosa. Ramona war Sozialreferentin der Villa 31 (Padre Mugica). Das Viertel ist ein informeller Stadtteil im Herzen von Buenos Aires und aktuell einer der Brennpunkte der Infektionen mit dem Coronavirus. Dort leben rund 60.000 Menschen in sehr prekären Verhältnissen mit fehlender Infrastruktur und vielen Tagen ohne Zugang zu Wasser. Ramona war auch das Gesicht des Protests gegen den Wassermangel inmitten der Corona-Pandemie. Die Hauptstadt ist eine Bastion der vorherigen Macri-Regierungskoalition und wird auch von ihr regiert. Entgegen aller Warnungen vor den katastrophalen Folgen eines Ausbruchs der Pandemie an diesem dicht besiedelten Ort, wurde nichts unternommen, stattdessen die ständige Forderung nach ausreichend hygienischen Bedingungen und Wasserversorgung ignoriert. Ramona starb am 17. Mai an den Folgen des Coronavirus. Ihr Tod wurde bekannt, weil sie einige Tage zuvor im Fernsehen zu sehen war, um von der Hauptstadtregierung eine Lösung für die prekäre Situation zu fordern und weil viele Menschen der Villa 31 seit Jahren politisch aktiv sind und Strukturen geschaffen haben, um ihre Lage sichtbar zu machen. Nach Ramona folgten weitere Tote unter den Sozialreferent*innen, die in diesem ungleichen Kampf gegen das Virus an vorderster Front standen, indem sie in Suppenküchen kochten oder Lebensmittel verteilten.

Die Frauen sind die treibende Kraft der Selbsthilfe

Das Leben in den barrios während der Quarantäne hat auf brutale Weise die endemische Situation der Ungleichheit gezeigt, unter der Argentinien leidet. Die weitgehend positiven Maßnahmen der Landesregierung reichen daher bei weitem nicht aus. Auch wenn der Lockdown viele selbstorganisierte Räume schwächt, gibt es auch Antworten auf die soziale Isolierung von unten, wie Nelson Santacruz, ein Bewohner eines barrios, in der Onlinezeitschrift Critica schreibt. „Wir konnten psychologische Hilfe bekommen, es gibt Nachbarn, die andere anrufen, die geschlechtsspezifische Gewalt erleiden,“ führt Nelson als nur ein Beispiel an.

Auf dem Höhepunkt der Pandemie mit Hunderten von Infizierten in den ärmsten Vierteln von Buenos Aires veröffentlichten konservative Kreise einen offenen Brief mit dem Titel „Die Demokratie ist in Gefahr“ und prangerten die „infectocracia“ (Diktatur der Infektiologen) der Regierung an. Interessanterweise sind es dieselben Intellektuellen, die für den freien Markt und minimale staatliche Interventionen in Bereichen wie Bildung, Gesundheit oder Wohnen eintraten und somit die Katastrophe, insbesondere im Gesundheitssystem, hervorgerufen haben: Die neoliberale Politik hat Millionen in die Armut getrieben. Sie haben keinen Zugang zu Gesundheit, Bildung und Arbeit.

Häufig gibt es kein Leitungswasser und keine Kanalisation

Mit ähnlichen Parolen haben sich diverse Gruppen in der Hauptstadt und der Provinz Santa Fe mobilisiert als am 8. Juni 2020 die argentinische Regierung beschloss, „Vicentin“, einen der größten Nahrungsmittelproduzenten Argentiniens, zum nationalen öffentlichen Interesse zu erklären. Das ehemalige Familienunternehmen wurde zum Hauptmonopolist im Bereich der Sojaverarbeitung und Brennstoffherstellung. Obwohl ihm unter der Regierung Macri Kredite in Millionenhöhe gewährt wurden, steht das Unternehmen vor der Insolvenz. Gegen leitende Mitarbeiter und den ehemaligen Manager der argentinischen Nationalbank wird wegen Betrugs ermittelt.

Der Schritt der Regierung löste ein großes Spektakel in allen Medien aus, die mit der ehemaligen Macri-Regierung in Verbindung stehen. Sie starteten eine Kampagne, in der sie der Regierung von Fernández Populismus und Kommunismus vorwarfen. Die Ankündigung der Verstaatlichung des Unternehmens traf ins Herz eines Landes mit einem starken Agrarexportmodell, das sich in den Händen von Oligopolisten befindet, die das Eindringen ausländischen Kapitals in den vergangenen Jahrzehnten noch begünstigt haben. Die argentinische Verfassung sieht eine Enteignung zugunsten öffentlicher Versorgungsleistungen gegen Entschädigung vor. Einer der Hauptgläubiger von „Vicentin“ ist der argentinische Staat (Es wird also günstiger, weil der Staat sich selbst entschädigt, Anm. d. Red.). Der Fall „Vicentin” wäre in einem Post-Pandemie-Szenario sehr nützlich. Die Enteignung würde einen Präzedenzfall auf dem Weg zur Ernährungssouveränität und zur Lösung des Problems des Hungers in Argentinien darstellen. Für die nahe Zukunft wird prognostiziert, dass 52,2 Prozent der Haushalte von Armut betroffen sein werden.

Die entscheidende Frage ist, wer für die Krise bezahlt. Werden es die großen Unternehmen wie „Vicentin”, internationale Oligopole und Großgrundbesitzer sein, die von den vier Jahren der Vorgängerregierung Mauricio Macris profitiert haben? Das ist die große Diskussion und die Schlacht, die jetzt in Argentinien geschlagen wird.

Zu Beginn der Pandemie handelte die Regierung schnell und ergriff konkrete und restriktive Maßnahmen. Die Wachstumskurve der Infektionen flachte ab. Die konservative Opposition nutzt die Situation, um die neue Regierung von Alberto Fernández zu schwächen. Auch seitens der Märkte und von Wirtschaftsvertreter*innen geht ein sehr großer Druck aus, die obligatorische Quarantäne zu beenden. Zudem stellen sie die Maßnahmen der Regierung in Frage. Der Druck zahlt sich aus, die Regierung scheint geneigt, auf eine Steuer auf große Vermögen zu verzichten.

Der Fall „Vicentin” wäre in einem Post-Pandemie-Szenario sehr nützlich

Die Pandemie hat die historischen Widersprüche der ökonomisch abhängigen Länder dramatisch verschärft. Diese Situation bringt auch der Autor Carlos Villalba in einem Artikel in der Onlinezeitung Rebelión auf den Punkt: „Für die überwiegende Mehrheit der Länder Lateinamerikas und der Karibik bedeutet die Analyse der aktuellen sozio-gesundheitlichen Situation die Erkenntnis, dass die Pest, Epidemie, Pandemie oder wie auch immer das Phänomen genannt wird, nicht durch SARS-CoV2 hervorgerufen wurde. Sie war das Produkt einer Wirtschaftspolitik, die von den Machtzentren der Weltwirtschaft aufgezwungen wurde.”

Das Virus diskriminiert nicht, aber der Neoliberalismus tut es. Die prekären Voraussetzungen, die schon vor dem Ausbruch der Pandemie geschaffen wurden, sorgen jetzt dafür, dass Orte wie die Villa 31 zum Brennpunkt der Pandemie in Argentinien werden.

VERRATEN, VERSCHWINDEN, VERLIEREN, VERGESSEN

„Aber dann war da noch irgendetwas, das nicht dazu passte“, erzählt Manuel Gluckstein über seine Eltern. „Nichts Konkretes. Mehr ein Gefühl. Es war mir immer als ob es unter dieser Oberfläche der normalen Familie eine versteckte Wahrheit gäbe, die ich nicht kannte“. Wenn sie auf Treffen mit anderen Familien aus Ungarn gingen, war von den gemeinsamen Bekanntschaften immer in der Vergangenheitsform die Rede. Und sie erzählten von ihnen „ohne ein Lächeln, ohne eine lustige Anekdote, immer mit diesen ausdruckslosen Gesichtern, in die sich in manchen Momenten ein Anflug von Trauer mischte“.

Erst später versteht Manuel, dass „Mautauzen“, dieses unverständliche Wort, welches seine Erinnerung prägt und wie ein Fluch über diesen Treffen hing, das KZ Mauthausen meint, aus dem seine Eltern befreit wurden, bevor sie nach Argentinien auswanderten. Manuel war damals drei Jahre alt, geboren im Flüchtlingslager Bindemichel bei Linz.

Mauthausen und andere eingebrannte Worte und Orte aus der Vergangenheit tauchen immer wieder wie Versatzstücke der Erinnerung in der Geschichte auf. In Manuels wiederkehrenden Träumen ebenso wie auf Fotos aus der Kindheit, in Dokumenten der Eltern, Gesprächsprotokollen nach der Befreiung aus dem KZ, ärztlichen Gutachten oder behördlicher Vernehmungen. Und so verwebt sich auch die Geschichte von Manuels Eltern irgendwann mit seiner eigenen, dieses diffuse Gefühl dieser versteckten Wahrheit legt sich wie ein Schleier über die gesamte Erzählung nach seiner eigenen „Befreiung“ aus dem Pozo, einem argentinischen Folterzentrum während der Militärdiktatur.

Die Befreiung oder Marcelos Ende erzählt die Geschichte ihres Protagonisten Manuel Gluckstein, wechselt zwischen Ich-Erzähler und Beobachter, Träumen und Dokumenten, springt zwischen Zeiten und Erinnerungen. Es wirkt wie ein Puzzle, das sich erst langsam zusammensetzt, dabei schwingt stets eine dunkle Vorahnung mit. Die erzählten Passagen sind dabei eine Aneinanderreihung von kurzen, nüchternen Sätzen, schlicht aber präzise, so dass Ereignisse beim Lesen fast wie ein Film vor dem Auge vorüberziehen.

Manuel, der Sohn nach Argentinien eingewanderter KZ-Überlebender aus Ungarn, politisiert sich an der Uni im Argentinien der 70er Jahre, tritt einer peronistischen Studierendenvereinigung bei, emanzipiert sich aus seinem tristen Elternhaus und unterhält Kontakte zu den Montoneros, dem bewaffnetem Widerstand gegen die Militärdiktatur. Eines Tages wird er entführt und landet im berüchtigten Folterlager Olimpo. Nach Wochen, die auch Monate oder Jahre sein konnten, wird Manuel plötzlich freigelassen, hinausgespuckt in ein Leben, das keine Möglichkeit für ein Zurück mehr bereithält. Er gehört zu den „wiederaufgetauchten Verschwundenen“, denen, die nicht wie 30.000 andere ermordet oder lebend ins Meer geworfen wurden, sondern denen, die überleben sollten, um ein Beweis des Terrors und zugleich eine Warnung zu sein. Die ihr Leben lang leiden unter der quälenden Frage, warum gerade sie überlebt haben, unter der Schuld des Verrats, unter dem Schweigen, unter dem Vergessen, unter dem Erinnern.

Es wird klar, dass es keine Befreiung nach der Freilassung gibt

Die Zeit im Folterschacht nimmt nur zwei der dreißig nummerierten Abschnitte ein, ist aber darüber hinaus omnipräsent. Man spürt die Enge zwischen den Zeilen, die Unmöglichkeit des Verstandes, zu begreifen. Melancholisch, grau und schwer lastet die Zeit auf dem Protagonisten und überträgt sich auf die Lesenden. Es wird klar, dass es keine Befreiung nach der Freilassung gibt. Die psychische Folter, der perfide Terror der Folterer geht weiter. Nicht selten suchten sie wie alte Freunde ihre Opfer auch nach der Freilassung auf, unterhielten Beziehungen zu deren Familien, kontrollierten sie weiter. So auch Marcelo, Manuels Folterer. Auf einmal sitzt er mit Kaffee am Küchentisch des Vaters und sagt: „Hallo Manuel, lange her.“

Manuel selbst löst sich nach seiner Freilassung fast auf, er verliert sich selbst und es wird klar, wie das systematische Auslöschen von Subjektivität durch die Gewalt der Folter in Manuels Körper ihr Ziel erreicht hat. Er vereinzelt, er redet nicht. Wenn Marcelo ruft, gehorcht er. Die Szenen, in denen Marcelo Manuel gönnerhaft zum Essen einladen will, gehören zu den Schlimmsten des Buches. Auch dreißig Jahre später, als unter der Kirchner-Regierung die gesellschaftliche und juristische Aufarbeitung der Militärdiktatur beginnt, übt Manuels ehemaliger Folterer Macht über ihn aus. Manuel wirkt wie sein eigener Zuschauer: tatenlos, lethargisch, ergeben. Der Schleier der Passivität steht im Kontrast zur gefühlten Abscheu und Wut gegenüber einem reuelosen Militär, der noch stolz ist, sich für die Verteidigung des Vaterlandes „aufgeopfert“ zu haben, aus der man sich am liebsten mit einem Befreiungsschlag des Protagonisten befreien würde. Dieser kommt dann umso überraschender und lässt uns mit vielen Fragen zurück.

Melancholisch, grau und schwer lastet die Zeit auf dem Protagonisten

 Die Befreiung oder Marcelos Ende ist die fiktionale Version von Christian Dürrs Buch Verschwunden (Metropol, 2016), in dem er Verfolgung und Folter unter der argentinischen Militärdiktatur untersucht und das Foltersystem der Junta in Bezug zum System nationalsozialistischer Konzentrationslager setzt. Auch hier widmet er sich dem Verschwinden- und Wiederauftauchenlassen als Teil des Machtkalküls der Folterer, durch die Überlebenden die Logik der Gewalt nach außen zu tragen – und sie durch ihre Erzählungen oder durch ihre Körper selbst in den gesellschaftlichen Diskurs zu übertragen. Aus den Erzählungen von Überlebenden analysiert der Kurator der Gedenkstätte Mauthausen die Folter, das Dispositiv des Verschwindenlassens, die Kontrolle und das Weiterleben und bringt es in seinem beim feinen bahoe books erschienen Erstlingsroman sehr eindrucksvoll und auf schlichte Weise tief berührend in eine literarische Form.

AM TISCH MIT MARADONA

Foto: (Unbekannt)

Die Abstandsregel wurde ausgesetzt: Covid-19-Pandemie hin oder her, wenn ein Großer des argentinischen Fußballs geht, sind die Emotionen schwer einzuschränken. Die Fans von Central Córdoba, der dritten Nummer in Rosario, hörten nicht auf, im Stadion Gabino Sosa für ihr größtes Idol zu singen: Tomás Felipe Carlovich, von allen nur „El Trinche“ (die Gabel) genannt, warum weiß keiner. Der 74-Jährige, dem im Februar Diego Maradona bei ihrem einzigen direkten Aufeinandertreffen ein Trikot schenkte mit der Widmung: „Für El Trinche, der besser war als ich“, erlag den Folgen eines Raubüberfalls, bei dem versucht wurde, ihm sein neues Fahrrad zu entwenden. „Wie zuvor schon vier ältere“, sagte sein Sohn Bruno. Nach zwei Tagen im künstlichen Koma starb„El Trinche“ am 8. Mai im Krankenhaus.

Mit dem Fahrrad war „El Trinche“ oft in seinem Viertel unterwegs. Er war nach dem Tod von Eltern und Geschwistern in sein Elternhaus zurückgezogen und seine lokale Verwurzelung war neben dem Talent des schlampigen Genies ein Grund für die abgöttische Verehrung, die Carlovich zuteil wurde und wird. Obwohl er es auf gerade einmal vier Erstligaspiele brachte und bei den letzten dreien, für Atlético Colón de Santa Fé, verletzt ausgewechselt wurde.

Es gibt kaum Videos von „El Trinche“, Zeitungsberichte und mündliche Überlieferungen allein begründen seinen Ruhm. Und ein legendäres Spiel im Jahre 1974 vor der in Deutschland anstehenden Fußballweltmeisterschaft. Argentiniens Nationalmannschaft reiste zum Testspiel nach Rosario, trat gegen eine Stadtauswahl an, die sich aus jeweils fünf Spielern der Erstligisten Newell’s Old Boys und Rosario Central zusammensetzte plus „El Trinche“, der beim damaligen Zweitligisten Central Córdoba seine Stiefel schnürte.

Der Mann des Spiels: „El Trinche“, der aus dem defensiven Mittelfeld die Fäden zog und spielte wie auf dem Bolzplatz: Hacke, Spitze, eins, zwei, drei. Beim Stand von 3:0 für Rosario und nachdem Argentiniens Nationaltrainer der Legende nach um Auswechslung von „El Trinche“ gebeten hatte, ging dieser nach 60 Minuten unter stehenden Ovationen vom Platz, zog sich um und war schon in der Stammkneipe in seinem Viertel bevor der Schlusspfiff ertönte.

Nationaltrainer Luis César Menotti soll „El Trinche“ vor der Weltmeisterschaft in Argentinien 1978 in ein Trainingslager eingeladen haben. Mitspieler erzählen, dass er stattdessen am Río Paraná fischen ging. Ganz genau wusste es „El Trinche“ 2019 als er in einem Interview danach gefragt wurde, nicht mehr. Auf einer Stufe mit Maradona stellte er sich nicht: „Man kann Maradona nicht mit mir vergleichen, von ihm kann man viel lernen.“ „El Trinche“ dürfte so in Erinnerung bleiben, wie er sich das gewünscht hat: „Ich möchte so geliebt werden, wie ich jetzt geliebt werde, von den Bussen begrüßt oder angehupt werden, wie sie es jetzt tun, weil ich hier in Rosario überall mit dem Fahrrad fahre. Das macht mich glücklich.“ Zwei Bücher, Dokumentationen und ein Theaterstück wurden „El Trinche“ gewidmet. Es hatte am 5. April in Buenos Aires mitten auf der Avenida Corrientes im Centro Cultural de la Cooperación Premiere: „El Trinche, el mejor futbolista del mundo” (El Trinche, der beste Fußballer der Welt). Jorge Eines, Regisseur des Stücks, sagt, dass Carlovich „der perfekte Aufhänger war, um viele Dinge aus der Welt des Fußballs und der Gesellschaft zu erzählen“.

DER MATE KREIST NICHT MEHR

Das Gedenken an die Verschwundenen der Militärdiktatur fand dieses Jahr auf den Balkonen, nicht auf der Plaza de Mayo statt. Foto: Andrea López Castaño

So voll wie sie am 9. März war, wird die Avenida de Mayo so bald nicht mehr sein: Auf der Strecke zwischen dem Regierungsgebäude Casa Rosada, der Plaza de Mayo und dem Kongressgebäude im Herzen von Buenos Aires versammelten sich Zehntausende Menschen, vorwiegend junge Frauen, um den Parlamentarier*innen ihr großes Anliegen für 2020 nahe zu bringen: legale, sichere und kostenlose Abtreibung. Die Chancen dafür stehen 2020 besser denn je, denn auch der seit Dezember 2019 amtierende Präsident Alberto Fernández hat sich mehrfach dafür stark gemacht. Doch der für Mitte März von ihm angekündigte Gesetzesvorschlag lässt auf sich warten – das Coronavirus machte einen Strich durch die Planung. Die Bekämpfung der Pandemie wurde zur Chefsache erklärt, alles andere muss warten, ob die Legalisierung der Abtreibung oder die Umschuldung der 311 Milliarden Dollar Staatsschulden, die bis zum 31. März in Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds über die Bühne gebracht werden sollte.

Am 24. März war die Plaza de Mayo quasi menschenleer – zum ersten Mal seit 1986. Damals hatten die Mütter der Plaza de Mayo um die heutige Präsidentin der Organisation, Hebe de Bonafini, erstmals öffentlich am Jahrestag des Putsches einen Gedenkmarsch für die 30.000 Ermordeten und Verschwundenen der zivil-militärischen Diktatur (1976-83) organisiert. Seit 2002 ist der 24. März sogar ein gesetzlich verankerter Feiertag: Der Nationale Gedenktag für Wahrheit und Gerechtigkeit. Dieses Jahr jedoch war der 24. März bereits der fünfte Tag der neu verhängten Ausgangssperre. Damit war klar, dass es nicht zu den Massenkundgebungen kommen konnte, wie sie seit Jahren am 24. März stattfinden und deren Beteiligung sich längst weit über die ursprünglichen Menschenrechtsbewegungen hinaus erstreckt. Stattdessen ging das Erinnern viral: Unter dem Hashtag #PañuelosConMemoria finden sich unzählige Fotos von mit den für die Mütter der Plaza de Mayo typischen weißen Kopftüchern geschmückten Balkonen und unter #ProyectamosMemoria Videos, die Wahrheit und Gerechtigkeit fordern und an die 30.000 Ermordeten und Verschwundenen erinnern.

In ihrem im Internet veröffentlichten Video erklärten Vertreter*innen verschiedener Menschenrechtsorganisationen: „Wir befinden uns nicht auf den Straßen wie an jedem 24. März, aber wir sind vereint, um vorwärts zu gehen und die Fahne der Solidarität zu hissen. Diesen 24. März treffen wir uns in unseren Häusern. Doch von welchem Ort auch immer, der Kampf hört nicht auf.“

Zum ersten Mal seit 1986 ist die Plaza de Mayo am 24. März menschenleer.

Auch wenn hier ein anderer Kampf gemeint ist, hat der Kampf gegen das Coronavirus vor dem 24. März begonnen und wird so schnell auch nicht aufhören. Die argentinische Mitte-links-Regierung von Alberto Fernández hatte vergleichsweise früh und umfassend Maßnahmen ergriffen. Am 7. März verstarb in Buenos Aires ein gerade von einer Europareise zurückgekehrter 64-jähriger Argentinier mit diversen Vorerkrankungen an den Folgen seiner Coronavirus-Infektion. Er gilt als das erste Corona-Opfer in Lateinamerika. Am 12. März schloss die argentinische Regierung für mindestens die kommenden 30 Tage die Flughäfen für Flugzeuge aus großen Teilen Europas, den USA, China und Japan. Und das, was die argentinischen Tageszeitungen am 19. März mit ihren gleichlautenden Titeln: „Al virus lo frenamos entre todos“ (Das Virus stoppen wir alle zusammen.) vorbereitet hatten, verkündete am selben Tag Präsident Alberto Fernández höchstpersönlich: eine Ausgangssperre bis mindestens 31. März, die nun bereits bis zum 14. April verlängert wurde. Bis zu diesem Termin dürfen die Menschen ihre Wohnungen nicht mehr verlassen, wie Fernández nach einem Treffen mit den Gouverneur*innen bekannt gab. Erlaubt sind lediglich Besorgungen in nahegelegenen Lebensmittelgeschäften und Apotheken. Für einige Berufsgruppen wie Ärzt*innen, Pfleger*innen und Polizist*innen gelten Ausnahmen.

Basteln für die Erinnerung in Quarantäne: “Am Gedenktag erinnern wir uns an die Frauen, die ihre Kinder gesucht haben” Foto: Virginia Parodi

Präsident Fernández erläuterte sein Vorgehen in einem langen offenen Brief, indem er für Prävention statt Nachsorge anhand sicher steigenden Infiziertenzahlen plädierte, um die Auswirkungen des Coronavirus abzumildern und in kontrollierbaren Ausmaßen zu halten: „Wir wollen weiter produzieren. Niemand sollte in Panik geraten. Die Maßnahmen zur Verringerung der Ansteckung sind mit der Aufrechterhaltung unserer Versorgung und unserer Wirtschaft vereinbar.“ Und ähnlich wie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach er von einer Herausforderung des Jahrhunderts, die außergewöhnliche Anstrengungen verlange: „Wir müssen unsere Gewohnheiten ändern. Viele Dinge, die uns Spaß machen, wie Mate (gemeinsam aus einer Kalebasse Tee trinken, Anm. d. Red.) oder Umarmungen, werden wir für eine Weile aussetzen.“

Präsident Fernández versucht einen Drahtseilakt zwischen Weitermachen und Stillstehen.

Fernández versucht bei diesem Drahtseilakt Augenmaß zu bewahren. Fast die Hälfte der Argentinier*innen lebt schätzungsweise von informellen Tätigkeiten auf der Straße, von der Hand in den Mund. Für sie bedeutet zu Hause zu bleiben, nichts zu essen zu haben. Deshalb verstärkt die Regierung nun die Programme für Bedürftige. Eine der ersten Maßnahmen der Regierung war ohnehin die Verabschiedung des Plans „Argentinien ohne Hunger“. Mindestens 1,4 Millionen Familien mit Kindern erhalten inzwischen eine monatliche Unterstützung in Form von Lebensmittelkarten. Damit können sie für einen festgelegten Betrag jede Woche Nahrungsmittel in den Supermärkten einkaufen. Bis Ende März sollten alle bedürftigen Familien in Argentinien eine erhalten. Ob das noch klappt, ist ungewiss.

Augenmaß wird auch in Bezug auf die Schulen bewahrt. Unterricht findet nicht mehr statt, aber ganz geschlossen werden die Lehranstalten nicht. So wird gesichert, dass selbst während der Ausgangssperre viele arme Kinder in der Schule ihr einziges warmes Essen am Tag weiter bekommen können.

Außerdem hat die Regierung trotz der prekären Schuldensituation ein Hilfspaket für die Wirtschaft geschnürt. Sie will nach eigenen Angaben umgerechnet knapp zehn Milliarden Euro ausgeben. Das Paket umfasst Investitionen in die Infrastruktur, Steuererleichterungen für Unternehmen, eine Erhöhung des Kindergeldes und günstige Kredite.  Für die Schuldenumstrukturierung und das Gesetz zur Legalisierung der Abtreibung gilt derweil, aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Es ist alles mehr denn je nur eine Frage der Zeit.

SCHILLERND UND SCHWERMÜTIG

© Agustina Comedi

Der Kurzfilm Playback. Ensayo de una despedida der argentinischen Dokumentarfilmerin Agustina Comedi (El silencio es un cuerpo que cae) entführt die Zuschauer*innen in das Nachtleben der Gruppe Kalas (Grupo Kalas). Als trans Frauen und Dragqueens begehrten sie mit ihren Auftritten gegen die Unsichtbarkeit queeren Lebens im postdiktatorischen Argentinien auf. Doch statt Aufbruch und Ausbruch erleben die in wackeligen Videoaufzeichnungen festgehaltenen Mitglieder den Verlust ihrer „Soldatinnen“ durch HIV.

„La Delpi“, die einzige Überlebende der Gruppe Kalas, kommentiert die alten VHS-Videos. Zeugnis und Bild fallen auseinander, treffen wieder zusammen oder werden von den Antworten ihrer Freund*innen während eines Drag-Contests unterbrochen. In ihren Aussagen bricht sich die Lebensrealität der Trans*-Community schonungslos Bahn. Da wird durch die klassische Frage an die Schönheitskönigin: „Wenn sie Präsidentin sind, welches Dekret würden sie als erstes verabschieden?“ der Graben deutlich, der zwischen situativer Selbstermächtigung und gesellschaftlicher Akzeptanz liegt: „Ein Dekret, dass jede*r Trans* sicher die Straße entlanglaufen kann.“

Dieser Wunsch hat sich in Argentinien auch nicht durch die Verabschiedung des Gesetzes zur Genderidentität (Ley de Identidad de Género) im Jahr 2012 erfüllt. Infolge des Gesetzes verzeichnete das Land zwar einen relativen Rückgang staatlicher Repressionen gegen trans Personen, doch der Kampf gegen die – oftmals tödliche – Gewalt auf den Straßen und im Haus ist weiterhin eine zentrale Forderung von Aktivist*innen.

Vor diesem Hintergrund ist der Film von Comedi zweierlei: eine Hommage an die Akteur*innen der sich nach der Diktatur rekonstituierenden Trans*-Community und ein wertvolles Zeitdokument für heutige Aktivist*innen. Die dokumentarische Tätigkeit als eine Form des Aktivismus zu begreifen, wird in Argentinien seit 2012 von der Gruppe rund um das Archiv der Trans*-Erinnerung (Archivo de la memoria trans) vorgelebt. Auch deren Mitglieder haben die Diktatur überlebt, viele im Exil. Das Sammeln der Dokumente, das Wiederentdecken und Zeigen der gemeinsamen Geschichte bildet eine Grundfeste, von der Trans*–Aktivismus in Argentinien heute ausgeht. Comedi leistet durch ihren Kurzfilm einen ebenso schillernden wie schwermütigen Beitrag über das solidarische Miteinander in vergangenen Kämpfen gegen Marginalisierung und gegen den Tod.

VERZWICKTE ZEITEN

© Trapecio Cine / Le Fresnoy

12 Steine wirft Muriel ins Wasser, bevor sie einen Entschluss fasst. Hat sie keine größeren Probleme damit, fliegen alle schnell in den Fluss und sie kann die Entscheidung treffen. Plagen sie aber Zweifel und bleibt ein Stein zu lange in der Hand, nimmt sie davon Abstand.

Muriel (María Villar) ist die Protagonistin in Matías Piñeiros ganz schön kniffliger Charakterstudie Isabella, deren Ausgangssituation aber eigentlich recht simpel erscheint: Muriel ist mäßig erfolgreich in ihrem Job als Schauspielerin, möchte aber unbedingt den Job als Isabella in Shakespeares Theaterstück Maß für Maß ergattern. Außerdem muss sie ihren Bruder Miguel, mit dem das Verhältnis aber eher schwierig ist, um Geld anpumpen. Um an ihn heranzukommen, freundet sie sich mit seiner Geliebten Luciana (Agustina Muñoz) an, die auch Schauspielerin ist und ihr deswegen praktischerweise gleich beim Üben fürs Vorsprechen helfen kann. Doch um Erfolg zu haben, muss Muriel erst einmal ihre Selbstzweifel besiegen.

Isabella bezieht seinen Reiz nicht aus dem Inhalt, sondern aus der Struktur des Erzählens. Der Plot wechselt zwischen (mindestens) drei Zeitebenen hin und her – erkennbar meistens nur an Muriel, die im Verlauf des Filmes schwanger wird und ein Kind bekommt. Man muss oft höllisch aufpassen, um die Versatzstücke im Kopf richtig zusammenzupuzzeln. Manches bleibt bis zum Schluss nicht eindeutig klar. Ein Beispiel ist die Figur der Luciana, die sich für Muriel gleichzeitig als Freundin und Konkurrentin entpuppt: Ist ihre Hilfe und Freundlichkeit echt oder spielt sie alles nur vor, um ihren eigenen Vorteil zu suchen? Auch Muriels Versuche, die Rolle der Isabella zu ergattern, geben Rätsel auf. Tritt sie nur einmal oder öfter zum Vorsprechen an? Weil vieles zwischen den auf der Leinwand gezeigten Zeitebenen unerzählt bleibt (zum Beispiel die Geschichte von Muriels Schwangerschaft) bleibt viel Raum zur Interpretation, vor allem was das Verhältnis der Personen untereinander betrifft.

Der Film ist aber nicht nur ein schlau komponiertes Ratespiel, sondern thematisiert fast nebenbei das prekäre Leben als Schauspieler*in in Argentinien. Selbst Luciana, die in ihrem Beruf deutlich erfolgreicher ist als Muriel, muss ständig um Aufträge kämpfen und sich ausführlich darauf vorbereiten. Die Geldprobleme sind im Hintergrund ständig präsent, auf einen Job einfach so zu verzichten, ist ein Luxus, den sich nicht jede*r leisten kann. Die Situation führt dazu, dass Muriel häufig die Frage quält, ob sie die richtige Berufswahl getroffen hat. Auf einer Meta-Ebene kann der Film deshalb auch als Parabel über Entscheidungsfindungen in einer wichtigen Lebensphase interpretiert werden. Piñeiro setzt dabei Farbcodes ein und untergliedert den Film in Einzelteile. Das zu Beginn eingeführte Motiv der 12 Steine taucht immer wieder auf. Letztlich dreht sich alles um die Frage, ob es mutiger ist, einen schwierigen Weg weiterzugehen oder ihn in Richtung einer möglicherweise ungewissen Zukunft zu verlassen.

Isabella ist ein Film, der seine Zuschauer*innen durch die ungewöhnlichen Form seiner Montage fordert, mit einer clever gestrickten Geschichte dann aber fürs Aufpassen auch belohnt. Bei Muriels und Lucianas Spaziergängen durch die Natur gibt es außerdem auch fürs Auge ein paar schöne Bilder zu sehen. Matías Piñeiro ist so eine kleine, aber feine Studie gelungen, die über die rein ästhetische Fingerübung hinausgeht. Der Film wurde auf der Preisverleihung der Berlinale deshalb auch zu Recht mit einer lobenden Erwähnung in der Sektion Encounters bedacht. 

NICHT MEHR ALS GUT GEMEINT

© Pensar con las manos

Francisco Márquez‘ Motivation für seinen Film Un crimen común („Ein gewöhnliches Verbrechen“) ist gut nachvollziehbar. Laut der Nichtregierungsorganisation CORREPI wurde 2019 in Argentinien unter der neoliberalen Regierung von Mauricio Macri alle 19 Stunden ein Mensch von staatlichen Sicherheitskräften getötet. Die meisten Opfer waren jung und arm, zu einer Aufklärung der Tötungsumstände kommt es selten. Arm sein heißt verdächtig sein: Auf diesem Diskurs, den große Teile der argentinischen Mittel- und Oberschicht mittragen, gründet sich die meist straffreie Gewalt der Autoritäten.

Neben dem Motiv, diese Missstände offenzulegen, verfügt Un crimen común auch sonst über einige Zutaten, die ein gelungener Thriller braucht: Einen Regisseur mit dem Gespür für klaustrophobische Stimmungen (Francisco Márquez war in Cannes 2016 bereits für den Newcomer-Preis nominiert), Schauspieler*innen, die diese Stimmungen gekonnt transportieren und eine Ausgangslage, die Spannung verspricht. Cecília (Elisa Carricajo) ist Soziologiedozentin an einer Universität und führt ein gesichertes bürgerliches Leben ohne große Aufregung. Ihr Ein und Alles ist ihr achtjähriges Kind Juan, von dessen Vater sie getrennt lebt. Eines Nachts klopft es an ihrer Terrassentür: Draußen steht Kevin, der heranwachsende Sohn ihrer Hausangestellten Nebe (Mecha Martínez), der sie anfleht, aufzumachen. Doch Cecília öffnet nicht, sondern tut so, als würde sie nichts hören. Am nächsten Tag wird Kevins Leiche aus dem nahen Fluss gezogen – sehr wahrscheinlich ermordet von der Polizei. Die Soziologin sieht sich nun nicht nur mit ihren Gewissensbissen konfrontiert, sondern auch mit einer Entscheidung: Soll sie gestehen, was sie getan hat und damit zur Aufklärung beitragen? Oder lieber den Weg des geringsten Widerstands wählen, damit alles weitergeht wie bisher?

In Un crimen común verkörpert Cecília die aufgeklärte bürgerliche Mittelschicht. Sie lehrt an ihrer Universität marxistische Theorien und behandelt auch die ärmeren Menschen in ihrem Umfeld (wie Nebe und ihren Sohn) mit Respekt. Als jedoch der Moment kommt, ihre Ideale in die Praxis umzusetzen, gewinnt ihr Angstinstinkt die Oberhand und paralysiert sie. Natürlich steht Cecílias Untätigkeit nicht nur für sie selbst, sondern für die Teile der argentinischen Gesellschaft, die Ungerechtigkeiten gleichgültig gegenüberstehen, solange sie nicht selbst davon betroffen sind. Genau diese dramaturgische Intention wird aber bereits zur Hälfte des Films mehr als klar. Und danach passiert leider im Grunde fast nichts mehr, außer dass Cecilia sich intensiv ihrer eigenen Paranoia und ihren Schuldkomplexen widmen darf. Dass Elisa Carricajo ihre Rolle sehr differenziert und überzeugend interpretiert, ist dabei Fluch und Segen zugleich. Denn die Story klebt so eng an der inneren Befindlichkeit ihrer Protagonistin, dass sie nie wirklich zündet. Auch weil die extreme Fokussierung auf sie die interessanten weiteren Aspekte der Geschichte (Wie gehen Nebe und ihr Umfeld mit der Tragödie um? Warum bekommt die Polizei auch im Film das Privileg, komplett unsichtbar bleiben zu dürfen?) zu Nebenschauplätzen degradiert. Die kleinen Schockmomente, die Márquez mit Griffen in den Horrorfilm-Baukasten einbaut, laufen deshalb ins Leere. So bleibt Un crimen común nicht mehr als ein technisch zufriedenstellend gemachter Film, dessen versuchte Gesellschaftskritik leider nie über die gut gemeinte Intention hinauskommt.

ZIVILE KOMPLIZ*INNEN

© Jonathan Perel

„Es ist nicht wahr, dass wir nur für bessere Löhne gekämpft haben: Wir wollten die Welt verändern und das ist es, was uns nicht verziehen wird.“ Mit diesen Worten beschreibt Carlos Leguizamón im Oktober 2014 den Kampf der Arbeiter*innen des Unternehmens Astarsa vor und während der argentinischen Militärdiktatur. Selbst Mitglied der peronistischen Arbeiterjugend, ist er als Zeuge für den Gerichtsprozess gegen neun Angeklagte der Streit- und Sicherheitskräfte geladen. Es ist der Tag des Urteils: sechs der neun Angeklagten werden wegen Entführungen und Verschwinden-Lassen in 33 Fällen verurteilt, drei werden freigesprochen. Doch die, die an diesem Tag vor Gericht stehen, sind laut Leguizamón nicht die einzigen Verantwortlichen für die Entführungen seiner ehemaligen Kolleg*innen: „Jeder normale Mensch erkennt, wenn er das alles hört, die zivile Mittäterschaft an diesen Verbrechen, dass es Listen von der Unternehmensleitung in der Armee gab, aber die Mächtigen sind immer noch zu Hause.“ Erst zwei Jahre nach dem Gerichtsurteil im Fall der Astarsa-Arbeiter*innen wird erstmals in Argentinien ein Unternehmer – Marcos Levin – wegen Komplizenschaft zu 12 Jahren Haft verurteilt.

Der argentinischen Regisseur Jonathan Perel thematisiert in seiner neuen Dokumentation die Beteiligung von Unternehmer*innen an Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Diktatur. Damit ordnet er sich in die schon länger voranschreitende historische Aufarbeitung ein, während die strafrechtliche Aufarbeitung nach wie vor stockt. Der Film basiert auf dem 2015 erschienenen Bericht des Ministeriums für Justiz und Menschenrechte.  Perel bleibt sich auch in dieser filmischen Aufarbeitung der Militärdiktatur treu, indem er auf die Didaktik klassischer Dokumentarfilme verzichtet. 68 Minuten lang ist die Kamera auf die zum Teil noch genutzten, zum Teil bereits leerstehenden Fabriken gerichtet. Vor deren Hintergrund liest er Ausschnitte des Berichtes vor, aus denen die Verwicklung der oberen und mittleren Hierarchieebenen in die Repression gegen die Arbeiter*innen hervorgeht.

Wie auch in seinen früheren Filmen Toponimia (2015) und 17 monumentos (2012) widmet sich Perel, selbst Sohn von Verschwundenen, in der Dokumentation den historischen Orten der Gewalt. In der Kombination der Handkamera-Totalen und dem laienhaften Vorlesen Perels wird eine große Nähe zu den Orten geschaffen, ganz so als würde man ihn auf seiner Suche nach den Verantwortlichen begleiten. Aus dem Vorgelesenen wird deutlich, dass die im Bericht genannten Unternehmen in der Diktatur nicht nur mittelbar von deren Wirtschaftspolitik profitierten, sondern auch, dass die Zerschlagung der gewerkschaftlichen Strukturen und die Errichtung eines neuen Arbeitsregimes unmittelbar Profite generierte. Dabei lief die Mittäterschaft der Unternehmensleitung immer nach dem gleichen Muster ab: Sie legte Listen mit Namen von Personen vor, deren gewerkschaftliches Engagement bekannt war oder die anders aufgefallen waren. Die Listen, teilweise mit Fotos aus den Beständen des Unternehmens, wurden an die Militärs ausgehändigt. Weiterhin sorgten die Unternehmensleitung dafür, dass die Arbeiter*innen unter fadenscheinigen Gründen von ihren Arbeitsplätzen geholt wurden. Viele von ihnen gehören weiterhin zu den Verschwundenen (desaparecidos).

Da Perel den Bericht des Ministeriums in stark gekürzter Fassung wiedergibt, verbleibt der Film auf der Ebene der Zahlen und Namen. Dadurch verlangt er seinen Zuschauer*innen nicht nur sehr viel Geduld und Aufmerksamkeit ab, sondern bricht auch mit der Darstellung der Unternehmensgeschichte als Bewegungsgeschichte, wie sie im Bericht angelegt ist. Die wechselnden Machtverhältnisse innerhalb der Betriebe vor und während der Diktatur werden im Bericht durch eine multiperspektivische Quellenzusammenstellung dokumentiert. So wird die Repression in der Kontinuität der Kämpfe zwischen Arbeit und Kapital und der Verschwisterung des Militärs mit dem Kapital verstehbar. Durch die notwendige Komplexitätsreduktion des Filmes, wird die Repression während der Militärdiktatur aus der Konfliktgeschichte der Unternehmen herausgelöst. Dadurch hat die Dokumentation für Menschen, die sich nicht explizit mit der Verwicklung der Unternehmer*innen in die konkreten Verantwortungshierarchien interessieren, vermutlich seine Längen. Perels Leistung besteht maßgeblich darin, durch die gekürzten Falldarstellungen die aktive Rolle des Führungspersonals in den Menschenrechtsverletzungen herauszustellen und damit die scheinbar trennscharfe Definition von Komplizen- und Täterschaft zu hinterfragen.

RÄTSELHAFTE TÖNE

© Rei Cine SRL, Picnic Producciones SRL

Schön ist es nicht, was sich Inés da von ihrem Chorleiter anhören muss. “Ich weiß, Sopran ist deine Tonlage. Aber du musst dich auch wohlfühlen!” teilt er ihr vor versammelter Belegschaft bei der Probe ihres Frauenchors mit. Und schwupps – ist sie degradiert zum Mezzo-Sopran, ein Prestigeverlust, der durch peinliches Stühlerücken für alle sicht- und hörbar wird.

So unsensibel die Kommunikation auch gerät, verdenken kann man dem Dirigenten die Entscheidung nicht. Denn Inés (Érica Rivas, bekannt als entfesselte Braut aus “Wild Tales”) hat Probleme mit ihrer Stimme, was für sie, als professionelle Sängerin und Synchronsprecherin, potenziell existenzgefährdend ist. Seit ihr unbeholfen-übergriffiger Lover Leopoldo (Daniel Hendler) im gemeinsamen Urlaub verunglückt ist, klingen ihre Töne schief. Mehr noch, es schleichen sich Geräusche in ihre Stimme ein, deren sie sich selbst nicht bewusst ist. Ein stattliches Pensum an Pillen und Psychotherapien hat sie deswegen schon ohne Erfolg ausprobiert. Und so wird sie einer eigentlich durchgeknallt klingenden Idee der Schauspielerin Adela, die sie im Tonstudio trifft, immer zugänglicher: In ihr hat sich ein “Prófugo”, ein Eindringling eingenistet, der sie in eine ihrem Bewusstsein verborgene Parallelwelt ziehen will. Mit der Zeit gestaltet es sich für Inés fast unmöglich, Traum und Realität voneinander zu unterscheiden. Zudem wird immer klarer: Auf Hilfe von außen kann sie bei der Lösung ihrer Probleme nicht vertrauen. Auch wenn ihr die Annäherungen ihres Kollegen Alberto (überzeugend gespielt vom aufsteigenden Schauspiel-Sternchen Nahuel Pérez Biscayart) zumindest nicht ganz unangenehm zu sein scheinen.

El prófugo (Englischer Titel: The Intruder) basiert auf dem Horrorroman El mal menor (Das kleinere Übel) des argentinischen Autors C.E. Feiling. Ein klassischer Horrorstreifen ist der Film von Regisseurin Natalia Meta, die die durchaus vorhandenen Schock- und Suspensemomente dafür zu subtil und zu selten einsetzt, aber nicht. Überhaupt ist ein Genre relativ schwer zu verorten, weil der Film mehrere Bedeutungsebenen anspricht und dabei geschickt mit den Erwartungen spielt. Wer die Geschichte verstehen möchte, sollte deshalb unbedingt eine Idee von der komplexen, fantastischen Welt, in der die Romanvorlage spielt, haben. In dieser existiert neben der uns bekannten physischen auch eine körperlose, spirituelle Dimension und ein Zwischenraum des Austauschs, zu dem allerdings nur sehr wenige Menschen Zugang haben. Diese Auserwählten haben die Möglichkeit ihre Körper zu verlassen und von  anderen Besitz zu ergreifen – als Prófugos.

Es hilft, diese Ausgangssituation im Hinterkopf zu behalten, wenn man die von Rätseln und ungelösten Fragen durchzogene Handlung von El prófugo verfolgt. Da der Film aber eine eher freie Adaption des Buches darstellt und einige Interpretationsangebote macht, sind verschiedene Deutungen der Geschichte weiterhin möglich. Zum Beispiel kann der Film durchaus auch als feministisches Statement gesehen werden. Schließlich sieht Hauptdarstellerin Rivas nach eigener Aussage die Ausübung ihres Berufs als “den Platz, wo ich meinen feministischen Kampf führe” an und auch ihre Figur Inés muss gegen einige Männer und ihre Helikoptermutter Marta (Cecilia Roth) ihre unabhängige berufliche und private Existenz (keine Kinder, keine feste Partnerschaft) verteidigen. Die Darbietung des Schauspielensembles – allen voran von Érica Rivas, die sich dadurch für einen Silbernen Bären ins Gespräch bringen könnte – ist dabei zu jeder Zeit gelungen. Vergnüglich anzusehen sind vor allem die Szenen, in denen sich Inés mit Leopoldo oder ihrer Mutter kabbelt. Auch optisch und atmosphärisch gibt der meist in Blautönen gehaltene und – dem Thema angemessen –  akustisch sehr ansprechende Film einiges her. Dass der geheimnisvolle Plot mit vielen Rätseln und offenen Enden gespickt ist, ist gemein – zumindest für diejenigen, die sich vor dem Ansehen nicht mir der sehr speziellen  Realität des Romans, der ausschließlich auf Spanisch erhältlich ist, befasst haben. Diese laufen Gefahr, das Kino etwas ratlos zu verlassen. Hier hätte Regisseurin Meta ihr Publikum also gerne etwas mehr an die Hand nehmen dürfen. Denn der auf mehreren Ebenen funktionierende, vielschichtige Thriller hätte es verdient, dass so viele Zuschauer*innen wie möglich ihn auch ohne Gebrauchsanweisung in vollen Zügen genießen können. Mit El prófugo hat Lateinamerika aber trotzdem einen starken ersten Kandidaten für die Vergabe gleich mehrerer Preise im Wettbewerb der Berlinale im Rennen.

DAS SAUBERE WASSER BLEIBT UNVERHANDELBAR

Jubelnde Demonstrant*innen Gesetz 7722 gerettet (Foto: Martin Magallanes)

Einen Tag vor Weihnachten bescherte der neue Gouverneur von Mendoza, Rodolfo Suárez, der Bergbaulobby ein verfrühtes Geschenk: Ein neues Gesetz mit der Nummer 9209, das das bestehende Verbot von Blau- und Schwefelsäure, Quecksilber und weiteren Verbindungen im Metallabbau aufheben sollte. Das Verbot war seit 2007 im Gesetz 7722 geregelt. Dass dieses unter Druck geraten könnte, hatte sich bereits mit dem Wahlsieg von Suárez im September 2019 angekündigt. Der Politiker der sozialliberalen Partei UCR, der sich mit der Koalition Cambia Mendoza dem Block des damaligen Präsidenten Mauricio Macri angeschlossen hatte, forderte schon im Wahlkampf den Ausbau des Bergbaus. Seine Provinzregierung stellt die Liberalisierung der Regelungen als Chance auf Wirtschaftswachstum und eine diversifizierte Wirtschaft dar. Ein Bericht, der auf Rechnungen der Kammer der Bergbauunternehmer*innen von Mendoza beruht, prognostizierte mehrere zehntausend neue Arbeitsplätze in der Region. Auch würden im durch die Chemikaliennutzung intensivierten Bergbau bis zu 213 Millionen US-Dollar an Steuereinkünften für die Provinz entstehen.

Kritiker*innen der Maßnahme hingegen befürchteten die Verschmutzung der ohnehin knappen Wasservorräte der Provinz. Neben Gefahren für die Gesundheit der ansässigen Bevölkerung hätte die Verschmutzung auch verheerende Folgen für die lokale Wirtschaft: In der semi-ariden Region werden 80 Prozent des argentinischen Weines gekeltert. Seit beinahe zwölf Jahren besteht jedoch Wassernotstand. Bereits im Oktober 2019 warnte der Generalaufsichtsbeamte für Bewässerung, Sergio Marinelli, vor einer weiteren Verschlechterung der Lage. Bereits jetzt befände man sich unter dem durchschnittlichen Wasserpegel der letzten Jahre, für 2020 seien noch einmal 11 Prozent weniger prognostiziert. „Dies ist die neue Normalität. Der Klimawandel […]. Wir sind mit dieser Realität viele Jahre voraus und es könnte noch schlimmer werden“, sagte er in einem Fernsehinterview. Auch den Gletschern der Andenprovinz macht die anhaltende Dürre zu schaffen. Einer Studie des argentinischen Instituts für Schnee- und Gletscherforschung zufolge sind sie seit 2001 um sechs Meter zurückgegangen.

Kilometerlange Protestkarawane nach Mendoza

Die Regierung hatte zwar begleitende Maßnahmen angekündigt, etwa die Schaffung einer Umweltpolizei und die Qualitätssicherung durch internationale Prüfer*innen. Allerdings ist das Vertrauen in den Umweltschutz oder internationale Firmen aus gutem Grund nicht gerade hoch: Im September 2015 war es in der Mine Veladero in der Provinz San Juan, betrieben von der kanadischen Firma Barrick Gold, zum bisher größten Unfall im argentinischen Bergbau gekommen. Über eine Millionen Liter einer Lösung mit Blausäure und Schwermetallen verseuchte damals den Fluss Potrerillos. Die Mine, die nahe eines Biosphärenreservats liegt, ist heute wieder in Betrieb. Die Gefahren des Bergbaus sind also hinreichend bekannt.

Daher hat die Region eine lange Protestgeschichte: Das Wasserschutzgesetz von 2007 „[…] wurde auf der Straße geboren“, schrieb der argentinische UNESCO-Botschafter Pino Solanas im Dezember auf Twitter. Umweltschützer*innen, die sich in den Versammlungen in Mendoza für sauberes Wasser (AMPAP) organisieren, waren 2007 Wegbereiter*innen des Gesetzes 7722 gewesen. Auch wendeten sie sich gegen das 2018 legalisierte Fracking und jegliche Angriffe auf das Gesetz in den letzten Jahren.

Als mit Suárez ein erklärter Bergbauunterstützer zum Gouverneur gewählt wurde, waren die Umweltschützer*innen der Asamblea Popular por el Agua („Volksversammlung für das Wasser“) in Mendoza alarmiert. Seit den ersten Sitzungen der gesetzgebenden Organe nach dem seinem Amtsantritt am 9. Dezember mobilisierten sie zum Protest. Neben Umweltorganisationen und der Bevölkerung beteiligten sich auch die Weinbäuerinnen und -bauern der Region, die um ihre Zukunft fürchteten. Die Weinköniginnen der Provinz kündigten an, die Weinfeste zur Traubenlese im März zu bestreiken.

Ein Warnsignal für die Zentralregierung

Zu den größten Protesten kam es am 23. Dezember, drei Tage nachdem beide Kammern des Provinzparlaments das Gesetz mit großer Mehrheit  durchgewunken hatten. Aus dem 100 Kilometer südlich gelegenen San Carlos machte sich bereits am Vortag eine auf mehrere Kilometer Länge anwachsende Karawane in die Provinzhauptstadt auf. In mehreren Städten wurden die Zufahrtsstraßen nach Mendoza blockiert. „Mehr als 50.000 Menschen schlossen sich dieser Bewegung an“ sagte „Guni“ Cañas, Aktivistin bei den AMPAP im Interview mit der Online-Zeitschrift Almagro, „die Menschen haben sich sehr beteiligt gefühlt“. In Mendoza forderten sie den Gouverneur auf, das Gesetz per Veto aufzuhalten. Vor dem Regierungssitz kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, die Tränengas und Gummigeschosse gegen die Demonstrant*innen einsetzte. In den sozialen Netzwerken wurden die Aktionen in Mendoza mit den Hashtags #ElAguaDeMendozaNoSeNegocia („das Wasser von Mendoza ist unverhandelbar“) und #La7722NoSeToca („Das [Gesetz] 7722 wird nicht angerührt“) aufgegriffen und erreichten internationale Aufmerksamkeit sowie prominente Unterstützung, etwa durch den puerto-ricanischen Rapper Residente. Als auch in den folgenden Tagen weiter mobilisiert wurde, sah sich Gouverneur Suárez letztlich zum Einlenken gezwungen. „Dieses Gesetz mag legal sein, aber es hat nicht die Legitimierung der Bevölkerung“, sagte er in einer Pressekonferenz am 27. Dezember. Drei Tage später nahmen auch das Regionalparlament und der Senat das Gesetz zurück.

„Die Verhinderung der Änderung des Gesetzes 7722 ist ein Triumph aller Menschen, die sich auf der Straße organisiert haben. Wir erkennen uns wieder in jedem Gesicht, in jeder Umarmung, in jedem Lächeln, in jedem Beitrag, der in diesen Tagen geleistet wurde“, feierte die Asamblea Popular por el Agua in einer Stellungnahme den Erfolg. Allerdings verwies sie auch auf ungelöste Fragen und die Notwendigkeit eines Dialoges, etwa über ein Frackingverbot und den Umgang mit dem Klimawandel.

Für die am 10. Dezember angetretene Zentralregierung sollte der massive Widerstand der Bevölkerung ein Warnsignal gewesen sein. Argentiniens neuer Präsident Alberto Fernández hatte Suárez‘ Projekt dezidiert unterstützt. Einhellig mit der Opposition planen er und Wirtschaftsminister Martín Guzman gegen die kriselnde argentinische Wirtschaft die Fortführung eines extraktivistischen Modells, welches auf Ausbeutung und Export von Primärgütern setzt. Das sind neben Gold, Silber und anderen Mineralien in den Andenregionen auch die Öl- und Gasvorkommen Patagoniens sowie der umfangreiche Anbau von Agrargütern wie Soja. Auch die Vorgängerregierungen von Mauricio Macri und Cristina Kirchner – nun als Fernández‘ Vize wieder an der Regierung – hatten dieses Wirtschaftsmodell gefördert.

Erkämpfte Gesetze gelten nicht selbst-verständlich, auch nicht in der economía popular

Diese Haltung schlägt sich auch in der Besetzung des neuen Kabinetts nieder. Mit Alberto Hensel als Staatssekretär für Bergbau wurde ein ausgewiesener Lobbyist in die Regierung geholt. Hensel, einst Minister für Bergbau in San Juan, setzte sich dort gegen das sogenannte Gletscherschutzgesetz ein, welches den Bergbau in Gletscherzonen und auf Permafrostböden untersagt. Es wurde 2010 trotz Veto der damaligen Präsidentin Kirchner im zweiten Anlauf durchgesetzt (siehe LN 437). Das Veto erhielt aufgrund vermuteter Lobbyarbeit des Konzerns Barrick Gold den spöttischen Beinamen veto barrick. Im Juni vergangenen Jahres wurde das Gesetz vom Obersten Gerichtshof bestätigt, nachdem Minenkonzerne und die Provinzregierung von San Juan dessen Verfassungskonformität beanstandet hatten.

In der patagonischen Provinz Chubut kam es infolge der Ereignisse von Mendoza ebenfalls zu Protesten. Auch hier wurde die Liberalisierung des Bergbaus forciert: vom Bergbaustaatssekretär Hensel und vom regionalen Minister für Bergbau, Martin Cerdá. Dessen Amt wurde erst wenige Wochen vorher vom Gouverneur Mariano Arcioni geschaffen. In der von der Ölförderung und dem Fischfang abhängigen Provinz ist seit 2003 die megaminería, der großflächige Tagebau unter Chemikalieneinsatz, vollständig verboten. Eine Anwohner*inneninitiative aus Esquel war damals gegen die dort geplante Goldmine vorgegangen. Bei einem Plebiszit stimmten über 81 Prozent der Anwohner*innen gegen den Bergbau, es folgte das Gesetz 5001 zum Verbot der megaminería – in dieser Form einzigartig in Argentinien. Der Erfolg gilt als Startschuss der Anti-Bergbau-Bewegung.

Als am 27. Dezember die Abgeordnetenkammer von Chubut zu einer Sondersitzung zusammenkam, mobilisierte die Bevölkerung zur Verteidigung des Wassers. Auch im über 1.000 Kilometer entfernten Mendoza solidarisierten sich die Protestierenden mit den Menschen in Chubut. Die befürchteten, dass die Regierung hinter ihrem Rücken das Gesetz 5001 kippen würde und organisierte bereits in der Nacht eine Mahnwache vor dem Parlamentssitz in der Provinzhauptstadt Rawson. Mit Erfolg, wie es schien. Nach einer knappen halben Stunde wurde die Sitzung beendet, ohne dass der Bergbau auch nur Thema gewesen wäre. Doch die Freude währte kurz. Bereits am 9. Januar kündigte Staatssekretär Carlos Relly an, dass es Bestrebungen geben werde, in der patagonischen Hochebene Gold- und Silber zu erschließen. Zwei Tage später argumentierte Gouverneur Arcioni, das Gesetz 5001 biete Ausnahmemöglichkeiten für die Ausweisung von Bergbauzonen. Man wolle  weder Minen in den Gebirgsketten der Anden genehmigen noch Blausäure benutzen.

Das einzige, auf das sich die Aktivist*innen verlassen können, ist, dass auch erkämpfte Gesetze nicht selbstverständlich gelten. Selbst nicht in der economía popular, der „Wirtschaft für alle“, die Präsident Fernández versprochen hatte. Dennoch gibt der historische Sieg in Mendoza Grund zur Hoffnung. „Wir haben noch nie den Aufstand einer ganzen Provinz zur Verteidigung des Wassers erlebt“ schätzte die Soziologin Maristella Svampa im Interview mit der Zeitung La Izquierda Diario die aktuellen Proteste ein, „Mendoza ist mehr als eine soziale Bewegung; es ist die Kraft der Gesellschaft in Bewegung“.

IM KLASSENZIMMER ZU HAUSE

Fotos: Inés Ripari

Nur ein Schildchen hinter dem Eisengittertor weist darauf hin, dass sich in dem grauen Hochhaus eine Schule befindet. Ansonsten könnte man das sechsstöckige Gebäude auch für eine Bauruine halten. Hier am Bahnhof Chacarita in Buenos Aires befand sich früher die Hauptverwaltung der argentinischen Eisenbahngesellschaft. Als diese 2011 den Langstreckenverkehr einstellte, wurde das Gebäude besetzt. Noch im gleichen Jahr zog die „Mocha Celis“ ein, eine selbstorganisierte Schule für Erwachsenenbildung, gegründet von und für trans Personen und Travestis. Der Begriff Travesti wurde in den Neunzigern von Lohana Berkins als politische Identität und Kampfbegriff geprägt, der nicht nur eine Gender- sondern auch eine Klassenperspektive umfasst und die spezifische Lebensrealität von trans Personen in Lateinamerika beschreibt. Die prekären Lebensbedingungen und die ständige wirtschaftliche Krisensituation im Falle Argentiniens verschärfen die Gewalt, der Travestis im Bildungs- und Gesundheitssystem oder beim Wohnen und Arbeiten ausgesetzt sind.

„Wie viele Travestis sitzen mit euch im Psychologieseminar?“

Die Besetzung alter Fabrikgebäude für Klassenzimmer ging aus einer wirtschaftlichen Notsituation hervor: als staatliche Strukturen zusammenbrachen, organisierten sich Menschen in den Vierteln und entwickelten alternative Bildungsangebote. So entstand auch die Schule in Chacarita, in der Menschen innerhalb von drei Jahren ihren Sekundarschulabschluss, das Bachillerato, nachholen können. Der Name erinnert an die Travesti-Aktivistin Mocha Celis aus der argentinischen Provinz Tucumán, die 1996 von einem Polizisten ermordet wurde. Sie hatte nie lesen und schreiben gelernt.

Direktor Francisco Quiñones ist Gründungsmitglied der Mocha.

Ein enger Fahrstuhl voller Graffitis bringt mich in den fünften Stock. Die Tür des Aufzugs klemmt beim Öffnen. Dann stehe ich in der großen, lichtdurchfluteten Aula der „Mocha“. Es ist Samstagnachmittag, in der Aula sitzen Schüler*innen im Alter von 16 bis 40 zusammen an den Hausaufgaben. Auch außerhalb der Unterrichtszeit dient die Schule als Treffpunkt. Aus diesem Klassenzimmer hört man Tritte gegen Boxpratzen, aus jenem Stimmübungen und Tonleitern. Im dritten Raum empfängt der Direktor Francisco Quiñones zur Pressekonferenz. Seit es so viele Medienanfragen gibt, finden diese Treffen regelmäßig statt. Quiñones ist 35 Jahre alt und Gründungsmitglied der Mocha. „Warum habe ich euch alle zusammen eingeladen? Erstens, weil immer die gleichen Fragen gestellt werden. Zweitens, weil wir den akademischen Extraktivismus satt haben. Damit meine ich, dass Leute herkommen und auf der Grundlage der Erfahrungen der Schüler*innen ihre Masterarbeiten und Reportagen schreiben. Dafür bekommen sie akademische Titel oder Geld. Aber wir haben meist nichts davon. Wir kämpfen weiter jeden Monat damit, die Strom- und Wasserrechnungen zu bezahlen.“

Nach mehr als 30 Jahren zurück ins Klassenzimmer

Tatsächlich sitzen in der Runde Psychologie- und Soziologiestudierende und drei Journalist*innen, eine davon bin ich. Manche nicken, alle halten die Klappe. „Das heißt nicht, dass ihr nicht willkommen seid. Ich will nur auf strukturelle Probleme aufmerksam machen: Wie viele Travestis kennt ihr, die mit euch im Psychologieseminar sitzen? Wahrscheinlich keine. Das liegt nicht an mangelndem Interesse, sondern daran, dass bestimmte Menschen früh aus dem Schulsystem gekickt werden.“

Nicht mal zwei von zehn trans Frauen schließen in Argentinien die Schule ab, neun von zehn werden Sexarbeiter*innen. Das steht auf einem gemeinsamen Infoflyer des argentinischen Trans-Gedenkarchivs und der Mocha. Seit 2012 sammelt das Archiv Fotos, Briefe und Postkarten einer Community, deren Geschichten und Kämpfe sonst kaum dokumentiert sind. „90 Prozent werden Opfer von Gewalt, 85 Prozent von Missbrauch durch Polizisten“, heißt es weiter. Die Lebenserwartung einer trans Frau in Argentinien liegt bei 35 Jahren, nicht einmal halb so lang wie der Durchschnitt. Trans Frauen über 35 werden als Überlebende bezeichnet. „Wenn eine Travesti eine Universität betritt, dann verändert das das Leben dieser Travesti. Viele Travestis an der Universität verändern die Gesellschaft.“ Dieses Zitat von Lohana Berkins, einer der treibenden Kräfte bei der Konzeption der Schule, haben Schüler*innen in bunter Schrift auf die weiße Wand der Aula gemalt.

Quiñones macht eine kurze Pause. „Trotzdem gut, dass ihr da seid. Wir brauchen nämlich Unterstützung: Kauft und lest Bücher von Lohana und anderen Travesti-Aktivist*innen. Organisiert Screenings für den Dokumentarfilm* der Mocha, den Schüler*innen selbst gedreht haben. Esst hier in der Cafeteria statt bei McDonalds. Die Schüler*innen können das Geld gut gebrauchen. Fast alle sind seit Jahren vom klassischen Arbeitsmarkt ausgeschlossen.“

Erste legale Anstellung nach Jahren in der kriminalisierten Sexarbeit

Seit Juli 2018 gibt es in Argentinien ein Gesetzesprojekt, nach dem ein Prozent aller öffentlichen Stellen von trans Personen und Travestis besetzt werden soll. In den letzten Jahren gab es Fortschritte für LGBTIQ-Rechte mit weltweitem Alleinstellungscharakter, etwa 2012 das Gesetz zur Selbstbestimmung der Geschlechtsidentität. Aber Gesetze wie dieses werden oft nur halbherzig umgesetzt. Nur vier von 24 Provinzen haben legislative Schritte für die Quote eingeleitet, erfüllt wird sie nirgends.

Dass Quiñones, einer der wenigen cis Männer in der Mocha, den formellen Posten des Direktors besetzt, liegt an Ausschlüssen aufgrund von Klasse und Geschlecht. Er ist der Einzige mit dem notwendigen Studienabschluss und hofft, den Posten bald an eine*n der Schüler*innen abgeben zu können. Seit 2014 wird die Schule vom Bildungsministerium anerkannt. Die erste Zeugnisverleihung im Festsaal des Ministeriums nutzte Quiñones, um auf die prekäre Situation der Einrichtung aufmerksam zu machen. Der Staat bezahlt 72 Lehrstunden pro Woche und zusätzlich drei Verwaltungsstellen. Je 20.000 argentinische Pesos gibt es dafür, das sind umgerechnet etwa 330 Euro. Für Psycholog*innen oder Sozialarbeiter*innen gibt es kein Budget.

Für fast alle Dozent*innen handelt es sich um die erste legale Anstellung nach Jahren in der kriminalisierten Sexarbeit. Meist teilen sich mehrere Personen die Stellen und damit auch das Geld. „Von diesen Leuten kann man kaum verlangen, einen Teil ihres Gehalts für die Stromrechnung abzudrücken“, so Quiñones. Alle Schüler*innen der Mocha haben Anspruch auf ein städtisches Stipendium für Geringverdienende über 10.000 Pesos im Jahr, etwa 165 Euro. Trotz des expliziten Fokus auf Gender ist die Schule offen für alle, die Diskriminierung im Bildungssystem erfahren: alleinerziehende Mütter, Migrant*innen, alte Menschen.

Viviana González leitet die Selbstverteidigungskurse

Viviana González setzt sich auf einen Tisch im Klassenzimmer. Sie hat gerade den Selbstverteidigungskurs im Nebenraum gegeben und trägt noch ihr Sportoutfit. González hat 2018 ihren Abschluss gemacht und studiert nun Literaturwissenschaften – als erste und bislang einzige trans Frau am Institut. „Als Kind hatte ich wie jede arme Person nur einen Traum: Ich wollte, dass was aus mir wird, wenn ich groß bin. Ich wollte Lehrerin werden. Und ich liebte es, Gedichte zu schreiben.“

„Zum ersten Mal im Leben mache ich das, was mir gefällt.“

Dann erzählt González, wie sie mit zwölf auf keiner Sekundarschule aufgenommen wurde: „Sie schauten in meinen Pass und meinten: ,Du bist ein Junge, du kannst hier nicht verkleidet herkommen‘. Wir versuchten es bei 30 Schulen, überall das Gleiche. Das war das Ende meiner Schulkarriere und des Gedichteschreibens.“ Ab dann verdiente sie Geld auf dem Straßenstrich der Panamericana. „Das Einzige, was mir Halt gab, war der Kampfsport. Mit drei Jahren fing ich an, mit zwölf hatte ich den Schwarzen Gürtel in Karate. Gleichzeitig war das Nachtleben auf der Straße meine Realität. Das hieß Drogen, vor der Polizei wegrennen, verprügelt und vergewaltigt werden. Ich verlor viele Freund*innen in diesen Jahren.“

González spricht schnell, erzählt chronologisch von den Ereignissen ihrer Vergangenheit. „Beim Kampfsport trat ich weiter mit meinem männlichen Namen an und obwohl die Hormontherapie mich schwächte, gewann ich alle Turniere. Ich kämpfte mit der argentinischen Fahne auf meinem Trikot, gewann Medaillen für ein Land, das meine Identität nicht akzeptierte.“ Von der Mocha erfuhr González schließlich durch Bekannte aus Palermo. Im Stadtteil von Buenos Aires, den viele mit hippen Bars verbinden, befindet sich in einem unbeleuchteten Park auch einer der zentralen Straßenstriche. „Zuerst konnte ich mir nicht vorstellen, nach mehr als 30 Jahren zurück in ein Klassenzimmer zu gehen. Verrückt war, dass ich in der Schule viele Bekannte aus Palermo wiedertraf. Ich sah sie zum ersten Mal tagsüber und in Alltagskleidung, sprach mit ihnen und merkte, dass wir sehr ähnliche Geschichten hatten.“ Nachmittags saß sie im Unterricht, nachts verdiente sie weiter ihr Geld auf der Straße. „Es war anstrengend, ich schlief kaum. Ich wollte nicht weiter anschaffen gehen. Ich bin nicht gegen Sexarbeit, ich habe viele Jahre davon gelebt. Ich finde nur, dass Menschen die Möglichkeit haben sollten, sich frei dafür zu entscheiden.“

„Die Mocha ist mein Zuhause.“

Jetzt, mit 49, pendelt González zwischen Vorlesungen und Sportkursen. Für die Mocha gibt sie Selbstverteidigungskurse auf Spendenbasis, für Leute von draußen gegen Bezahlung – eine Idee ihrer Mitschüler*innen. Als Schüler*innenvertreterin setzt sie sich für eine emanzipatorische Sexualerziehung ein. Die Mocha wird Mitte 2020 ihren eigenen Sexualkunde-Kit herausgeben, mit pädagogischen Spielen und interaktiven Videos. Seit 2006 haben Schüler*innen in Argentinien ein Recht auf regelmäßigen Sexualkundeunterricht. Aber auch hier hapert es an der Umsetzung, vor allem während der Amtszeit Mauricio Macris von 2015 bis 2019 blieben emanzipatorische Gesetze in den konservativ besetzten Institutionen stecken. In die Verhandlungen mit der neuen Regierung unter Alberto Fernández werden deswegen große Hoffnungen gesetzt.

Vieles in der Mocha läuft anders als in den meisten Schulen. In Plena sprechen Dozierende und Schüler*innen über das Zusammenleben und treffen gemeinsam Entscheidungen. „Wir versuchen uns an die Lebensrealität der Schüler*innen anzupassen. Die meisten Schüler*innen verdienen abends und nachts ihr Geld, daher ist unser Unterricht nachmittags“, erklärt Quiñones. „Wir organisieren Lern- und Nachhilfegruppen, denn in jedem Jahrgang kommen Menschen mit unterschiedlichen Wissensständen zusammen.“

Die Mocha war weltweit die erste Schule, die die Situation von trans Personen und Travestis explizit in den Blick nahm. Mittlerweile gibt es ähnliche Schulen im argentinischen Tucumán, eine Grundschule in Santiago de Chile und Univorbereitungskurse für trans Personen und Travesti in Belo Horizonte in Brasilien.

Lautaro Rosa verdient mit der Cafeteria der Mocha sein Geld

Lautaro Rosa hat gerade die Cafeteria geschlossen und sich zu uns gesetzt. „Hier läuft es anders als in der Gesellschaft. Nicht wir müssen uns anpassen, sondern die Gesellschaft. Das ist unser Raum. Wir sind, wie wir sind. Wenn Leute nicht darauf klar kommen, einen trans Mann mit Titten zu sehen, dann sollen sie einfach gehen.“ Rosa ist 39 Jahre alt und seit drei Jahren an der Mocha, seitdem hat er schon zweimal abgebrochen und wieder angefangen: „Es ist nicht so, dass ich nicht lernen wollte. Ich musste mich mein ganzes Leben lang zwischen Geld und Bildung entscheiden. Ich bin alleinerziehender trans Vater, meine Tochter lebt bei mir, ich muss die Miete zahlen. Aber ich hatte immer im Hinterkopf, dass ich die Schule fertigmachen will.“ Seit einem Jahr verdient Rosa mit der Cafeteria sein Geld. Er schaut auf seine Hände und erzählt mit stockender Stimme weiter, mehrere Personen im Raum wischen sich dabei Tränen aus dem Gesicht. „Zum ersten Mal im Leben mache ich das, was mir gefällt. Ich will um sechs Uhr morgens aufstehen und zwei Stunden mit dem Bus hierherfahren. Ich will bis neun Uhr bleiben, denn die Mocha ist mein Zuhause. Ich hatte vorher nie ein Zuhause und auch keine Schule. So geht es den meisten hier.“ Nach dem Abschluss will er Soziale Arbeit studieren. „Ich weiß, was es heißt, arm zu sein, ausgegrenzt zu werden. Aber ich habe auch erfahren, dass man da rauskommt.“

Einige Wochen später findet in der Aula eine Fotoausstellung des Trans-Gedenkarchivs statt. Es ist brechend voll, viele Schüler*innen haben sich schick gemacht. Auf den schmalen Schultischen stapeln sich Fotoalben, teilweise stammen die Dokumente aus den 1940er-Jahren. Im Zentrum der Aula stehen Selbstporträts von Schüler*innen der Mocha. Lautaro Rosa lacht selbstbewusst in die Kamera.

Viviana González ist aufgeregt. Sie tritt ans Mikrofon: „Ich musste viel in meinem Gedächtnis kramen, um das aufschreiben zu können. Ich hoffe, ihr mögt es.“ In Stakkatosätzen reiht sie Momentaufnahmen aus ihrem Leben aneinander, malt Bilder aus dem Alltag des Straßenstrichs, gedenkt Freund*innen und Bekannten, die nicht mehr leben. Nur wenig später wird Vivianas Gedicht in einer argentinischen Online-Zeitung veröffentlicht. Als nächstes will sie ein Buch schreiben.

DER STAR IST DAS VIERTEL

Fuerte Apache Häuserblock im Viertel Ejército de los Andes Foto: Gabricocek (CC BY-SA 3.0)

Seit Dezember läuft auf Netflix die biografische Miniserie Apache, eine Staffel mit acht Folgen über das Leben des argentinischen Fußball-Weltstars Carlos Tevez. Tevez ist einer der vielen verehrten Volkshelden Argentiniens und vielleicht der, der dem unantastbaren Maradona noch am nächsten kommt mit weniger Skandalen allerdings. Genau wie „der Diego” aus armen Verhältnissen stammend, gelangte Tevez durch seine Tore beim Fußballclub Boca Juniors zu Weltruhm. In der Netflix-Serie, die mit einem Unfall von Tevez als Säugling beginnt und mit seinem ersten Spiel in der legendären Bombonera, dem Stadion von Boca Juniors endet, spielt Fußball  jedoch eine eher untergeordnete Rolle. Klarer Protagonist der Serie ist das Barrio, jenes Viertel in dem Tevez aufwuchs, mit richtigem Namen Ejército de los Andes, aber berühmt-berüchtigt unter dem Namen Fuerte Apache. Ein marginalisierter Hochhäuserblock im Conurbano, den armen westlichen Ausläufern des Großraums Buenos Aires, gelegen am Rande der General Paz, einer Schnellstraße, die die Stadt Buenos Aires von der gleichnamigen Provinz trennt. Auf sieben Quadratkilometern drängen sich Dutzende zehnstöckiger Türme, wo etwa 35.000 Menschen wohnen. Einst entstanden als städtebauliches Projekt der Militärdiktatur zur gewaltsamen Umsiedlung der Bewohner*innen des größten Slums von Buenos Aires, der Villa 31, deren Häuser mit Bulldozern plattgemacht wurden, war es bald als der „gefährlichste“ bzw. „tödlichste“ Stadtbezirk von Buenos Aires verschrien.

Klischees von Kriminalität und Klebstoffschnüffeln

So bedient die Serie jedes Klischee, was sich mit einem Armenviertel verbinden lässt: Drogenmafia, Kokain, Kriminalität und Klebstoffschnüffeln, Alkoholexzesse, Waffen, Gewalt, Machismus und Rache. Dazu Verwahrlosung, Hunger, Arbeitslosigkeit, Frust und No Future. Inmitten dieser Szenerie, zwischen Schießereien und dem Bolzplatz, wächst der junge Carlitos Tevez auf. Neben den teils stark überzogenen und unglaubwürdigen Nebendarsteller*innen und Handlungen der verfeindeten Drogenbanden des Viertels, zeigen die Hauptdarsteller*innen – Carlos‘ Familie – eine sehr einfühlsame schauspielerische Leistung und geben der Serie eine bestimmte Sanftheit, die sie eigentlich zu einem gelungenen Familiendrama macht. Es wird klar, dass die Unterstützung und Fürsorge von Carlos‘ Familie ausschlaggebend für seine Verwirklichung als Profi-Fußballer ist. Dies zeigt ein weiterer wichtiger Handlungsstrang, die Freundschaft zwischen Carlitos und Danílo, genannt „Uruguayo“, die sich von einem gemeinsamen Startpunkt aus asymmetrisch entwickelt und in Aufstieg und Abgrund endet. Es ist die Armut, die Tag für Tag die Träume und Chancen der Jugendlichen im Viertel tötet. Die Message ist: Wer nicht rechtzeitig entkommt, endet früher oder später im Knast oder tot. Oft ist der Sport einer der wenigen erreichbaren Auswege.

Trotz aller Klischees ist Apache eine typische Netflix-Serie mit Bingewatching-Alarm. Es ist ihre Stärke, dass in Fuerte Apache selbst gedreht wurde. Das Viertel gibt der Serie allein schon durch seinen starken eigenen Charakter und seine architektonischen Besonderheiten eine sehenswerte Ästhetik. Und es ist ein Pluspunkt, dass ein Teil des Casts aus dem Viertel selbst stammt.

Kritik an der morbiden Faszination des „Armen”

Regisseur ist der durch seine frühen Werke berühmt gewordene Meister des Neuen Argentinischen Kinos, Adrián Caetano (u.a. Pizza, Birra, Faso; 1996 / La crónica de una fuga, 2006), der sich in den letzten Jahren an verschiedenen Serien mit Hang zur Romantisierung des Marginalisierten versucht hat. Diese sind zwar spannend, wecken aber zu Recht auch Kritik an der morbiden Faszination des „Armen“, wobei oft überzogene bizarre Darstellungen als „Realität“ daherkommen. Auch Apache ist inspiriert von wahren Begebenheiten der Kindheit von Carlitos Tevez, nimmt viele Referenzen an reale Figuren und in den 80er Jahren existierenden Jugendbanden auf, allerdings aufgepeppt durch eine ordentliche Portion Fiktion, Rambofantasien und einer Prise jugendlicher Liebesgeschichte.

Hätte Regisseur Caetano – oder Produzent Tevez – die Serie etwas politischer machen wollen, hätten sie die Gewaltdarstellungen nicht nur auf die Bewohner*innen des Viertels beschränkt, sondern auch auf die Polizeigewalt und deren alltägliche Repression von Slumbewohner*innen und armen Menschen hingewiesen, der willkürlichen Erschießung von Jugendlichen und der maßgeblichen Verwicklung der Polizei ins Drogenbusiness. Oder sie hätten eben auch ein paar andere außer Carlos und seine sozialen Eltern zu positiven Charakteren gemacht, denn eigentlich fast alle anderen Figuren sind irgendwie zwielichtig, böse, dreckig, unberechenbar. Carlos hingegen ist (natürlich) absoluter Sympathieträger der Serie, liebenswert, bescheiden, loyal, simpel – das gleiche Image, was er auch im internationalen Fußball, z. B. im Gegensatz zu Superstar Messi hat und was ihn so beliebt macht.

Wie man in den Kommentarspalten entdecken kann, scheint es nicht ungewöhnlich zu sein, nach Serienende noch Lust auf mehr zu haben und sich auf Youtube Tevez‘ 25 schönste Tore anzuschauen oder nach weiteren Bezügen zu ihrem mythenumwobenen Protagonisten, dem Barrio Fuerte Apache und seinem berühmtesten Spieler zu suchen. Wer Interesse an der Geschichte des Viertels hat und Spanisch versteht, kann auch auf Youtube nach der kurzen Doku Mal llamado suchen, die etwas realitätsgetreuer und kritischer aus Sicht der Bewohner*innen berichtet.

Serienhype und Reality-Armutstourismus

Tevez kehrt laut Interviews auch noch heute als Multimillionär immer wieder in sein Viertel zurück. Wenn er seine Freunde dort besucht, lassen die es sich nicht nehmen, ihn zum Essen einzuladen, erzählt er und beginnt zu weinen. Unmöglich dagegen ein Video der High-Class-Celebrity und Macri-Freundin Susana Giménez, die nach dem Serienhype mit Tevez einen „Ausflug“ nach Fuerte Apache macht, sich während einer Stunde Reality-Armutstourismus verkrampft an Tevez‘ Arm klammert und auf einmal alles „genial“ und „hübsch“ findet. Im klassistischen argentinischen Fernsehen hat sie sonst nur Verachtung für die Menschen übrig, die in den marginalisierten Vierteln von Buenos Aires leben und wenn überhaupt als Kriminelle gesehen werden. Tevez bleibt jedoch wie immer, freundlich und sympathisch zu allen, einfach gestrickt und immer noch der Junge aus dem Barrio, der sich zu vermarkten weiß und zu dessen Weltevents Dutzende Geschwister, Tanten und Onkels mitreisen, die dann nicht in den Porsche passen. Der aber auch eine andere Sicht auf sein Viertel und die Menschen, die darin wohnen, vermitteln will. Seine Liebe zu Fuerte Apache hat er in seiner Serie jedenfalls sehr sehenswert und glaubwürdig verarbeitet und vielleicht durch seine Popularität einen Beitrag dazu geleistet, Stigma und Vorurteilen, die auf vielen Menschen in marginalisierten Vierteln lasten, etwas entgegenzusetzen.

WIEDERKEHRENDE VERÄNDERUNG

Die beiden Argentinierinnen Dolores Aguirre und Julia Ortiz von der Band Perotá Chingó haben mal wieder geschafft, wovon jede*r Musiker*in träumt: Mit ihrem neuen Album Muta (2019) haben Perotá Chingó nach Aguas (2017, siehe Interview LN 533) zum zweiten Mal das Kunststück vollbracht, sich neu zu erfinden, ohne ihre Essenz zu verlieren. Gewohntes trifft auf Veränderungen: Folk-Rhythmen auf elektronische Pads, Naturgeräusche auf Synthesizer-Melodien, simple Arrangements auf ausgefeilten Studio-Sound. Und doch scheinen die Songs unverwechselbar. Es ist der ikonische Perotá Chingó-Klang, der von Harmonie, Naturverbundenheit, Reisen und Spiritualität erzählt, von Liebe und Selbstbestimmtheit. „Ser / Elegir / Encarnar quienes queremos ser“ („Sein / Entscheiden / Verkörpern, wer wir sein wollen“), beschreibt das der Eröffnungstitel „Toca“.

Neben der traditionellen Folklore finden sich diesmal zwei neue Genres auf dem Album: Mit „Aurora“ veröffentlichen Perotá Chingó ihren ersten Tango; „China“ ist die erste Cumbia der Band. Auf ihrem Konzert im Berliner Funkhaus am 8. November 2019 betonten die Musikerinnen augenzwinkernd, dass der Cumbia-Rhythmus besonders die (zahlreich vertretenen) Lateinamerikaner*innen zum Tanzen bringe – und ließen direkt die Probe aufs Exempel folgen. „China“ steht sinnbildlich für ein allgemein sehr tanzbares Album, was auch an den elektronischen Einflüssen der neuen Songs liegt. In „Barro“ beweisen groovige, schwere Synthesizer-Pads, dass das kein Widerspruch zu den Folk-Elementen der Band sein muss.

Mit „Toca“ und „Aurora“ besitzen zwei der vier Single-Auskopplungen erstmalig ein Musikvideo, das so gar nichts zu tun hat mit der Akustikaufnahme von „Ríe Chinito“ im uruguayischen Strandort Cabo Polonio, mit der Perotá Chingó 2011 auf einen Schlag über Youtube bekannt geworden sind. Die Tanz-Performance in „Toca“ unterstreicht den künstlerischen Anspruch, den die Sängerinnen zuletzt in ihrer Bildsprache entwickelt haben. Die Videos, die die Band auch als Visuals auf der aktuellen Europa-Tour einsetzt, verdeutlichen, dass ihre Weiterentwicklung nicht nur musikalisch, sondern auch visuell stattgefunden hat.

Dennoch bleiben die markanten Stimmen von Dolores und Julia das prägende Element, die Polyphonie ihr Erkennungsmerkmal. Ihre Vertrautheit und die Poesie der Songtexte verleihen ihrem Gesang die unwiderstehliche Kraft, die nicht nur spanischsprachige Hörer*innen fasziniert.
Das Album endet mit dem A-capella-Statement „Coral“, das die musikalische Reise zu den Anfängen von Perotá Chingó zurückführt. Reisen, seit Beginn das Leitmotiv in der Musik der Argentinierinnen, bedeuten Veränderung – und der stellen sich die beiden Musikerinnen mit Muta auf neue, aber natürliche Weise. In diesem Sinne könnte der Albumtitel (abgeleitet von mutar, „mutieren“) auch als eine Memo an sie selbst verstanden werden.

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