Ein Kongreß über Gedichte?

Wie Mitglieder eines Ge­heimbundes reisten LyrikerInnen und AkademikerInnen aus Ar­gen­tinien, Chile, Mexiko, Frank­reich, Deutschland und US-amer­ikanischen Universitä­ten nach Eugene, einer grünen Klein­stadt an der Pazifikküste. Vom 24. bis 26. Oktober vollzog sich eine poetische Inbesitz­nahme der Stadt unter dem Dach des Romanischen Instituts der University of Oregon. Sie ging im Stillen und nicht ohne Hin­dernisse vor sich, denn Flug­zeuge verspäteten sich, verirrten sich oder kamen einfach nicht an ihrem Ziel an. Schließlich reg­nete es erbarmungslos.
Schon unterwegs in den Flug­zeugen ver­suchten sich die Teil­nehmer ge­genseitig zu erkennen – sei es an einer träumerischen Ausstrah­lung, an Brillen, Bärten, sei es an der Bescheidenheit der einen, der Bedeutsamkeit der an­deren, an Kleidung, spanisch­sprachigen Büchern, Witzen oder Kompli­menten. So waren unter den Pas­sagieren die Poeten von den Po­litikern zu unterscheiden, von Managern, Schmugglern, Stu­denten, chicanos, Touristen. Nicht immer fand man sich, aber zuweilen. Die Erschöpfung nach endlosen Reisen, die Zeit­um­stel­lungen, das Wiedersehen nach vie­len Jahren, Schreie, in­nige Um­armungen, Lachen: Die la­tein­amerikanischen Diktaturen ha­ben die Menschen über den gan­zen Globus zerstreut. Als sich die Stürme der Gefühle ge­legt hatten, ging es an die Arbeit.
“The Powers of Poetry in Spa­nish, Latin American and La­ti­no/a Cultures”, so der Name des Kongresses, brachte nicht nur la­tein­amerikanische, sondern auch spa­nische Dichter und Lite­ra­tur­wis­senschaftler zusammen.

Übereinstimmungen und Kontraste im Blick

Die übli­che Aufspaltung nach Ge­ne­ra­tionen oder Ländern und die Aus­richtung auf spezielle Autoren spielte keine Rolle. Es handelte sich darum, “die Über­ein­stimmungen und Kontraste in den Blick zu bekommen, die in der zeitgenössischen Lyrik aus Spanien, Lateinamerika und – so­fern spanischsprachig – den USA be­stehen”, so Juan A. Epple, ei­ner der Organisatoren. Die über zweihundert Einsen­dun­gen, die im Vorfeld des Kon­gres­ses ge­zählt wurden, bewie­sen nach­drücklich, daß an der Be­schäf­tigung mit Lyrik reges In­teresse be­steht. Mangels Platz und Zeit konnte davon nur die Hälfte in den Kongreßverlauf integriert wer­den. So beschäf­tig­ten sich sechs parallele Ar­beitsgruppen mit den Papieren, in jeder Gruppe lasen Dichter aus ihren Werken. So gingen drei Tage dahin… Unter den angebo­tenen Themen: Der Dichter und die kollektive Seele, Weibliche Iden­tität, Homosexuelle Liebe, Technische Probleme bei Lesun­gen und Übersetzungen, Das Ver­hältnis von Poesie und Mu­sik, Poetische Gerechtigkeit, Kör­per und Text, Aids, Leroy Quintana und die chicano-Poe­sie, Die Avantgarde in Chile, Das imaginäre Wir… Es gab Re­fe­rate über Werke zahlreicher Lyriker, darunter García Lorca, Pablo Neruda, Patricio Manns, César Vallejo, Astrid Fugellie, Ga­briela Mistral.
Besonders an dem Treffen war, daß Literaturwissenschaftle­rIn­nen mit LyrikerInnen zusam­menkamen und miteinander spra­chen. Das geschieht selten. Zu den Besonderheiten zählte aber auch die Anwesenheit von drei TeilnehmerInnen, die spezi­ell eingeladen wurden und län­gere Lesungen hielten: Patricio Manns, ein in Frankreich leben­der chilenischer Komponist und Schriftsteller, sang seine Ge­schichten, durch die die Gruppe In­ti Illimani berühmt geworden war, und stellte sein “Memorial de Bonampak” vor, in dem es um das Leiden der Maya-Völker geht und der Zapatistenaufstand ein­bezogen ist… María Negroni, Ar­gentinierin, zerbrechlich, klein, fast ein Nichts, las ihre voll­tönenden Verse: “…en esto de existir/ conviene quedarse en lo oscuro…// …esa mujer/ con un balcón en la mano…// …un día me dirás que no existes/ y tu ausencia será toda mía…” (…was das Dasein anbelangt/ empfiehlt es sich, im Dunkeln zu blei­ben…// ..diese Frau/ mit einem Balkon in der Hand…// …eines Tages wirst du mir sagen, daß du nicht existierst/ und deine Abwe­senheit wird ganz mein sein…). Das Dreiergespann vervollstän­dig­te Juan Gelman, in Mexiko le­bender Argentinier, der seine Gedichte mit der Schlichtheit ei­nes Weisen las, der viele Wege gegangen ist und etwas verstan­den hat. Seine Stimme eines al­ten Kindes schlug den Takt zum launischen Regen, der gnadenlos gegen die Fenster peitschte.

Wohnhafte Schlangen und andere Viecher

Außerhalb der Universität, dem Regen näher, bot ein impro­vi­sierter Tisch die wertvollsten Schätze dieser Tagung dar: die Bücher, verfaßt von den Anwe­senden, den Fehlenden, den To­ten. Vom erst kürzlich verstor­benen Jorge Teillier die posthu­men Gedichte “Hotel Nube” (Ho­tel Wolke), von den nicht Gekommenen: Sybil Brintrup, “Va­ca Mía” (Du meine Kuh) und “Ella y las ovejas” (Sie und die Schafe), und Omar Laras “Ser­pientes habitantes y otros bi­chos” (Wohnhafte Schlangen und andere Viecher).
Der jüngste Dichter, Jesús Se­púlveda, ein chilenischer Student in Eugene, provozierte mit sei­nem frischen Humor: “…las pruebas son contundentes:/ Dios es una negra…” (…die Beweise sind stichhaltig:/ Gott ist eine Schwarze…). An seiner Seite ein Poet in Schlips und Kragen, An­drés Morales: “El hombre que come palomas/ no conoce el Pa­raíso” (Der Mensch, der Tauben ißt,/ kennt nicht das Paradies). Carlos Trujillo präsentierte Tex­te, die auf Chiloé, seiner chi­lenischen Heimatinsel im Süden der Welt geschrieben wurden. Jorge Madrazo glänzte mit sei­nen starken sinnlichen Bildern aus Argentinien. Mauri­cio Ostria schließlich stellte seine Schü­lerInnen aus Concep­ción, Chile, vor.

Keine Scheu vor schwierigen Themen

Eine der wichtigsten Sitzun­gen war der Vorstellung des Bu­ches “POESIdA” (span. si­da= Aids) gewidmet, einem kol­lek­tiven Werk unter Feder­führung von Carlos Rodrí­guez-Matar. Von Aids zu spre­chen, ist eine Sache, aber daß lateiname­ri­ka­ni­sche Männer Ge­dichte über Lie­be und Tod mit Blick auf die Krankheit schrei­ben, dürfte ein Schock für die übrigen Männer gewesen sein, eine Wunde im ma­chistischen Weltbild und schon daher von Wert.
Und es gab deutlich sichtbar ei­ne weibliche Poesie: Von der bereits erwähnten, überzeu­gen-den María Negroni zur liebe­vol­len, vitalen, verschmitzten Lyrik von Lilianet Brintrup: “Estoy en la tierra de América la del Norte/ que me avasalla per­fectamente/ en su odio por lo que represento” (Ich bin in Amerika, dem nördlichen/ das mich her­vor­ragend begleitet/ in seinem Haß auf das, was ich verkör­pere). Alejandra Basualto, stark, ero­tisch, herablassend, zärtlich: “podría morir/ de inviernos como éste/ si no supiera/ que existes” (ich könnte sterben/ an Wintern wie diesem,/ wenn ich nicht wüßte,/ daß es dich gibt). Astrid Fugellie stellte eine konfessio­nelle Lyrik vor, mit mythischer und biblischer Sprache, in deut­licher Parteinahme für die aus­gelöschten indigenen Völker: “Cier­to día me dormí y desperté intuyendo/ ser vida y muerte al mismo tiempo” (Eines gewissen Tages schlief ich ein und wollte beim Aufwachen/ Leben und Tod zur gleichen Zeit sein).

Lyrik ist Wirklichkeit

Und wozu so viel Lyrik? Wem nützt sie etwas in diesen Zeiten? Es geht darum, “sich nicht darauf einzulassen, diese Welt gefällig zu beschreiben”, so Juan Epple, sondern sich ihr zu verweigern, dissident zu sein und sich eine eigene Sprache zu er­finden.
Auf dem Rückflug wird über Bord­funk bekanntgegeben, daß Clin­ton als Präsident wiederge­wählt wurde. Die Reaktionen der Pas­sagiere waren gespalten – in Applaus und Schweigen. In die­sem Moment kommt mir das Bild von jenem Mann in den Sinn, den ich auf dem Highway bei Washington D.C. sah, ein Schild in der Hand: “I will work for food”. Und ich sage mir, auch das ist Poesie, die nackte Wirk­lichkeit.
Übersetzung:Valentin Schönherr

Wer zahlt?

“Die Welt wird kleiner, La­teinamerika rückt näher. Es ist auch unsere Sache, die dort ver­handelt wird”, hieß es im Vor­wort der ersten Ausgabe von “Lateinamerika – Analysen und Berichte”. Der Anspruch, den die HerausgeberInnen 1977 an ihre gerade aus der Taufe gehobene Jahrbuch-Reihe stellten, war es, die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Subkontinents darzustellen und kritisch zu dis­kutieren. Eine Entwicklung, die – so die AutorInnen – “in eine ein­deutige Richtung” ging: Hin zu einem Modell der Kapitalakku­mulation, das die Kombination von wirtschaftlichem Liberalis­mus mit extremer politischer Repression benötigte, um hohe Profite zu erzielen. Tatsächlich ergab der Blick auf Lateiname­rika in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre – nach Chile und Uruguay hatten sich nun auch in Argentinien die Militärs an die Macht geputscht – ein reichlich düsteres Bild. Hoffnungen auf revolutionäre Veränderungen hin zu einer gerechteren Gesell­schaft, sei es nach kubanischem oder chilenischem Vorbild, wur­den allmählich zu den Akten gelegt.
Zehn Jahre später stellten die unfreiwilligen “Chronisten von Niederlagen” zwar nicht ihre damaligen Einschätzungen in Frage, gingen aber dennoch mit sich ins Gericht: Skepsis sei an­gebracht gegenüber der in den ersten Bänden praktizierten Les­art der lateinamerikanischen Ak­tualität – basierend auf der Über­zeugung, anhand ökonomi­scher “Akkumulationsmodelle” ließen sich quasi automatisch Ten­denz­aussagen über die politi­sche Zu­kunft im “abhängigen Kapi­ta­lis­mus” treffen. Solcherlei “Ablei­tungen” hatten der kom­plexen Wirk­lichkeit der jeweili­gen Län­der nicht Rechnung ge­tragen und ließen umgekehrt auch nur man­gel­haft auf die Qualität der Ge­genkräfte zur herrschenden Ord­nung schlies­sen. Was die Beo­bachtung jener anbetraf, brauchte sich das Jahr­buch-Team freilich keine Vor­würfe gefallen zu las­sen. “Neue Organisations- und Kampffor­men” gegen wirtschaft­liche Mar­ginalisierung und poli­tische Un­terdrückung – Stadt­teil­bewegun­gen, Basisgemeinden, Indígena-Organisationen und lin­ke Par­teien jenseits leninistischer Kon­zeptionen – hatten von Be­ginn an das Augenmerk der Her­ausgebe­rInnen gefunden. Nur – vor­aus­sagbarer wurde die Zu­kunft La­teinamerikas damit auch nicht.

Verdrängung allerorten

Im zwanzigsten Jahr der “Analysen und Berichte” war es wieder einmal an der Zeit, sich anhand der Entwicklungen der vergangenen Jahre über die “Zukunftsfähigkeit” des Unter­suchungsobjektes Rechenschaft abzulegen. “Offene Rechnungen” heißt dementsprechend Band 20 der Reihe, denn – so die im Vor­wort geäußerte Ansicht – zu­kunftsfähig ist Lateinamerika nur, wenn nicht “Vergessen und Verdrängen” die Tagesordnung bestimmen. Vergessen und ver­drängt wird freilich überall, und in eigener Sache fehlt nicht der Hinweis auf die Gefahr, die “besseren Einsichten von ge­stern” – Solidarität mit den sozia­len Kämpfen und das Ziel einer befreiten Gesellschaft – der mo­dischen Anpassung an herr­schende Terminologie und The­mensetzung zu opfern.
Offensichtlich unbewältigte Schatten der Vergangenheit sprechen die ersten beiden Bei­träge an. Daß die Ökonomie in Chile “zur Staatsreligion erho­ben” worden ist, und die Regie­renden eine konsequente Aufar­beitung der unter der Diktatur begangenen Menschenrechts­verletzungen scheuen, schildert David Becker und liefert zudem eine überzeugende Analyse der psychischen Mechanismen bei den Opfern, aber auch der Be­völkerungsmehrheit. Die “inter­nalisierte Angst”, so Becker, ist das zentrale Element der neuen chilenischen Demokratie: Nach­dem die auf dem zuerst nur zäh­ne­knirschend akzeptierten Kon­sens­prinzip basierende tran­si­ción zumindest teilweise ge­lun­gen war, blieb die traumati­sche Er­innerung an Putsch und Repression der Garant für die “politisch wirksame Gleichung Konflikt = Zerstörung = Neuauf­la­ge der Diktatur”.
Unter diesem Vor­zeichen werden Mutlosigkeit und feh­len­der Wille der regie­renden Con­certación und ihrer christ­de­mo­kra­tischen Präsiden­ten ver­ständ­li­cher, wenn auch nicht le­gi­ti­mer. Tragischerweise deckt sich hier der Wunsch vieler Politiker nach schnellem Vergessen und weit­gehend fol­genlosen Sym­bol­hand­lungen mit dem Bedürfnis der nicht direkt von der dik­ta­to­riellen Repression betroffenen Chi­lenInnen, Kon­flik­ten aus dem Weg zu gehen. Folteropfer und An­gehörige von Ver­schwun­de­nen sehen sich in einem Umfeld man­gelnden Erin­nerungswillens neu­erlich diskri­miniert. Das, meint Becker, muß allerdings nicht so bleiben: Trotz aller Ver­su­che seitens Präsident Frei und sei­nem Technokraten­team, miß­lie­bige Erinnerungen an Ver­gangenes auszuklammern, mel­det sich dieses immer wieder zu Wort – und sei es durch das Sä­bel­rasseln der Militärs. “Das un­ver­mittelt Konflikthafte kann nicht mehr unter den Teppich ge­kehrt werden, es sucht sich sei­nen Weg an die Öffentlich­keit. Und das ist ein wesentlicher Be­stand­teil einer echten Demo­kra­ti­sierung.”

Linke Altlasten

Gedächtnislücken einer ganz an­deren Art beschreibt Ricarda Knabe in ihrem Bericht über die Studie, die eine salvadorianische Frauenorganisation unlängst der FMLN und der aus ihr hervorge­gangenen Partido Democrático vorgelegt hat. Das Thema ist bri­sant, geht es doch um die Rolle der Frauen im Guerillakampf, ge­nauer: um ihre Sexualität. Vie­le der guerrilleras – ent­stammten sie nun dem haupt­städtisch-intel­lek­tuellen Milieu oder den Dör­fern im Kriegsge­biet – litten nicht nur an der Brutalität der Kämpfe sondern ebenso an der se­xuellen Diskri­minierung durch ih­re eigenen com­pañeros und die Be­vormun­dung durch die FMLN-Hierar­chie. Diese, so die Au­torinnen der Studie, hatte in den ersten Kriegsjahren noch ei­ne rigide Kontrolle über das Pri­vat­leben der GenossInnen aus­ge­übt und qua selbst durch­ge­führ­ten Ehe­schließungen (revolutio­nä­re) Mo­ral praktiziert. Später, als Kampfbereitschaft Priorität vor ideologischer Festigkeit ge­wann und diese Einflußnahme nach­ließ, kamen etliche der in den Camps lebenden Frauen vom Re­gen in die Traufe. “Den Kör­per mit den Genossen solidarisch tei­len”, war ein häufig miß­brauch­tes Schlagwort. Den gue­rrilleras, die aus eigener Ent­scheidung ein promiskuitives Ver­halten praktizierten, schlug freilich nicht selten die geballte männliche Verachtung entgegen. Daß diese Problematik inzwi­schen offen thematisiert und dis­kutiert wird, hält Knabe freilich für eine hoffnungsvoll stim­men­de Errungenschaft.

Die “Multis”: unheilvolle Wohltäter

Der Frage “Was von den Multis noch zu erwarten ist” geht Urs Müller-Plantenberg in sei­nem Artikel nach. Dabei konsta­tiert er die bemerkenswerte Wandlung, die die Beurteilung trans­nationaler Unternehmen in Lateinamerika selbst in der Sichtweise einstiger Kritiker durchgemacht hat: Wurden die “Multis” zu Zeiten der “Import­substituierenden Indu­striali­sie­rung” mit Argwohn be­trachtet und nach Möglichkeit rigiden Kon­trollen unterworfen, hat spätestens seit den achtziger Jah­ren ein Wettlauf um die Gunst der ausländischen Wohl­täter ein­gesetzt.
Aufschlußreich ist Müller-Plan­tenbergs histori­sche Ana­ly­se, mit der er zu zei­gen ver­sucht, wie gering schon immer der tat­sächliche Beitrag transnationaler Un­ter­nehmen zum ersehnten Ka­pitalzufluß ge­wesen ist. Das ge­genwärtige, ge­rade von stei­genden Portfo­lio­investitionen ge­prägte Szena­rio ist noch be­denklicher: In dem Maße, in dem das global allge­genwärtige Kapi­tal dank moder­ner Technologie im­mer mobiler, ja “scheuer und flüch­tiger” ge­worden ist, über­wiegt das Risiko des unkon­trol­lierbaren Zusam­men­bruchs, ei­nes Kollaps, wie er Mexiko 1994 er­eilte.
Auch die Hoffnung auf Be­schäf­tigungsef­fekte und Tech­no­lo­gietransfer, die Direkt­in­ve­sti­tionen entge­gengebracht wird, hält einer ein­gehenderen Be­trach­tung nicht stand. Dennoch ist die Gier nach frischem Ka­pi­tal nicht einfach ein “frommer Selbst­betrug” wirt­schafts­li­be­ra­ler Regierung, fol­gert Müller-Plan­ten­berg. “Viel­mehr ent­sprechen massive Di­rekt­in­ve­sti­tio­nen auch den hand­festen In­te­res­sen derer, denen es darauf an­kommt, ein Wachs­tumsmodell zu fördern, das schnelle Be­rei­che­rung er­laubt und unter der Dro­hung von möglichen Ka­pi­tal­ab­flüssen im­mer weiter geführt werden muß.”
Handfeste Interessen weltweit agierender Konzerne stehen auch im Mittelpunkt der Debatte um “Biodiversität”, die Elmar Römpczyk nachzeichnet. Vor al­lem Pharmaunternehmen aus den USA versuchen, sich die Ver­fügungsgewalt über den ge­ne­tischen Reichtum des tropi­schen Lateinamerika zu sichern – sei es mittels Druck auf interna­tionale Gre­mien wie die Welt­han­delsorganisation WTO oder Lob­bying bei lateinamerikani­schen Regierungen. Sollte es diesen “Multis” gelingen, so Römpczyk, über die Schaffung eines ver­bind­lichen Patent­schutz­systems die Resultate ihrer Forschung zu mo­nopolisieren und dem­ent­spre­chend exklusiv zu verwerten, kä­me den Ländern des Südens einer ihrer größten Reichtümer – die Verfügung über ihre Artenvielfalt – abhanden. “Neben­effekt” der transnationa­len Offensive ist der skrupellose Eingriff in den Lebensraum der in­digenen Völker, die den Kapi­tal­interessen nur insofern von Nut­zen sind, als sie durch ihr tra­diertes Wissen eine Informa­tions­quelle über die Anwendung des “genetischen Materials” ab­ge­ben können.
Perspektiven für ei­ne gerech­tere Nutzung der Bio­diversität sieht Römpczyk in er­sten Ini­tia­ti­ven indigener Grup­pen, die sich ein Mitspra­cherecht erkämpft ha­ben, aber auch in einer Wei­ter­ent­wicklung der 1992 in Río ge­schaf­fenen Bio­di­ver­sitäts­kon­ven­tion.

Die Kosten der (De)industrialisierung

Anhand der brasilianischen Aluminiumproduktion versucht Dieter Gawora, “offene Rech­nungen” im Amazonasgebiet auf­zuzeigen. In diesem Falle handelt es sich zwar weniger um den direkten Einfluß der allge­genwärtigen Transnationalen, wohl aber um die ökologische Zerstörung und ethnische Ver­drängung, die Großprojekte wie die extrem energieintensive Alu­miniumgewinnung und -ver­ar­beitung zu verantworten haben.
Detailliert schildert Gawora die Situation am Rio Trombetas, ei­ner Region mit reichen Bauxit­vorkommen, in der seit Ende der sechziger Jahre entstandene För­derstätten und Retortenstädte die Nachkommen der vor zwei Jahr­hunderten in dieses Gebiet ge­flohenen afrikanischen Sklaven, der quilombos, verdrängen. Im Zusammenhang mit einem Stau­dammkomplex, der den Energie­bedarf der Produktion sichert, treiben die Aluminiumkonzerne die Umweltzerstörung voran; kri­tische GewerkschafterInnen wer­den mit zum Teil kriminellen Me­thoden mundtot gemacht. Gaworas Fazit: “Großprojekte sind immer geprägt von einer Ignoranz gegenüber ‘den ande­ren’. Sie sind unvereinbar mit ethnischen Differenzen und tra­ditioneller Wirtschaftsweise”.
Mit Akribie und einer Fülle an Datenmaterial schildert Paul Singer eine andere Facette brasi­lianischer Realität: die fort­schreitende Deindustrialisierung, ja “ökonomische Aushöhlung” des Großraums Sâo Paulo, wo sich vor den Inflationskrisen der achtziger Jahre und der in den Neunzigern forcierten Welt­mark­töffnung mehr als ein Drit­tel der industriellen Arbeitsplätze Brasiliens konzentrierte. Sym­ptomatisch für die Folgen der Strukturanpassung ist auch die stetige Zunahme prekärer, da informeller Arbeitsverhältnisse und ein Anwachsen der ohnehin starken Einkommenskonzentra­tion.
Eine Option, sinnvoll auf die kurz­fristig kaum umkehrba­ren Rah­menbedingungen von Markt­öff­nung und Strukturkrise zu re­agieren, erkennt Singer in de­zen­tralen Kompensationspoli­tiken. Dar­über hinaus denkt er über die Mög­lichkeit nach, “ausgehend von Initiativen der Stadt­re­gie­run­gen gemeinsam mit Kräften der Zi­vilgesellschaft einen neuen Wachs­tumszyklus zu eröffnen”, in­dem das enorme brachliegende Ar­beitspotential der Ar­beitslosen, Informellen und Un­ter­beschäftigten in “an­gepaßten For­men der Organi­sierung der Pro­duzenten” akti­viert wird. “Al­le Organisations­formen sind mög­lich, von iso­lierten oder zusammengeschlos­senen Privat­un­ternehmen bis zu kollektiven Un­ternehmen wie Ko­operativen, Pro­duktionsge­mein­schaften oder was sonst noch ausgedacht und aus­probiert werden könnte”.

Revolutionäre Werte in Erosion

Inwiefern die kubanische Re­volution alte Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nicht restlos hat beseitigen, sondern nur ver­drängen können, beschreibt ab­schließend Bert Hoffmann. Lan­ge nicht für möglich gehaltene “Come­backs” – von der Wieder­kehr des Weihnachtsfestes über die öffentliche Akzeptanz der santería bis hin zum Aufleben des latenten Rassismus – haben die Versuche von Partei und Re­gierung den KubanerInnen be­schert, Wege aus der wirtschaft­lichen Misere zu finden. Daß mit der faktischen Legalisierung des Dollarbesitzes, der beginnenden Liberalisierung der Arbeitsver­hältnisse und den Privilegien des devisenträchtigen Tourismusge­schäftes neu-alte soziale Un­gleichheit entstanden ist, er­scheint noch weniger erschrek­kend als die Renaissance einer rassistischen Mentalität, die von einem ebenso neuen wie alten sozialen Gefälle zwischen den Ethnien genährt wird. Das ideo­logisch verordnete Gleichheits­postulat erweist sich hier als we­nig tragfähig, galten doch auf Kuba zaghafte Ansätze ethni­scher Selbstartikulation etwa als “schwarzer Rassismus”. Für Hoffmann stellt gerade die von der kubanischen Führung betrie­bene Ineinssetzung von Revolu­tion und sozialistischem Staat in diesen Krisenzeiten eine Gefahr dar, denn “wenn diese Verknüp­fung nicht aufgebrochen werden kann, droht der Legitimitätsver­lust des politischen Systems auch die der Revolution zugrun­deliegenden Werte insgesamt in Frage zu stellen”.
Trotz der zum Teil ausgespro­chen lesenswerten Artikel krankt die Konzeption des Jubiläums­bandes an der zu weit formu­lierten und locker gehandhabten Themenvorgabe. Vorausgegan­ge­ne Ausgaben konnten deutlich stringenter der bewährten Schwer­punktsetzung folgen. Si­cher: “Offene Rechnungen” wer­den präsentiert. Bloß läßt sich diese Interpretationshilfe mit ein wenig Geschick auf nahezu alle sozialen, politischen und öko­no­mischen Problematiken an­wenden.
Daß die Herangehensweise der AutorInnen an ihr Thema stark variiert, hat weniger Aus­wirkungen auf den Gehalt ihrer Darstellungen als auf die Les­barkeit. Während die Herausge­berInnen Singers Beitrag im Vorwort zu Recht als “sperrig” bezeichnen, fällt Hoffmanns feuilletonistischer Stil wohltuend auf.
Lesenswert sind wie immer die Länderberichte, die im zweiten Teil die Ereignisse des vergangenen Jahres in Brasilien, El Salvador, Guatemala, Haiti, Kolumbien, Kuba, Mexiko und Ve­nezuela nachzeichnen. Be­dau­erlich ist allerdings die im vor­liegenden Band reduzierte An­zahl von Ländern: Während durch den Kuba-Artikel eine ge­wis­se Dopplung entsteht, wäre der Blick auf ein anderes der hier fehlenden Länder – Argenti­nien, Bolivien, Peru oder Ecuador – wünschenswert gewesen.

Nichts Neues in Sicht?

Die Zeiten großer gesell­schaftlicher Gegenentwürfe sind vorbei. Zwar ist dem Herausge­berInnenteam zuzustimmen, daß sich “zentrale Fragen internatio­nalisierter Ausbeutung und des Spielraums von Emanzipations­be­wegungen gerade in Latein­amerika in exemplarischer Weise stellen”. Die Texte dieses Jahr­buches sind durchaus in der Lage, dies zu zeigen. Mit Vor­schlägen für gangbare linke Al­ternativen – etwa wie der Glo­balmacht der “Multis” zu begeg­nen sei – halten sich allerdings die meisten AutorInnen vorsich­tig zurück oder bleiben vage. Das Vorwort vermerkt dies mit Selbstkritik und verweist nur auf Singers locker konzipierten Ent­wurf einer Basisökonomie jen­seits von Staatsunternehmen und Finanzkapital, da dieser “eine Diskussion über vorhandene und nicht vorhandene Alternativen der Linken zum Neoliberalismus eröffnen könnte”.
Eine revidierende Feststellung mußten die HerausgeberInnen – zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes – allerdings treffen: Lateinamerika steht nach den weltweiten Veränderungen der letzten Jahre zweifelsohne nicht mehr im Mittelpunkt der Auf­merksamkeit. Daß dennoch auch im deutschen Sprachraum aktuelle und kritische Forschung weiterhin ein Sprachrohr hat, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der “Lateinamerika”-Reihe.

Lateinamerika – Analysen und Be­richte 20: Offene Rechnungen, hg. von Karin Gabbert u.a., Horlemann 1996.

Nebenaußenpolitik mit Hauptabsichten

In der Nacht vom zwölften auf den dreizehnten Dezember 1996 kam es im Parlament in Bogotá zu einer denkbar knap­pen Abstimmung in Sa­chen” Kampf gegen die Narco-Mafia”: Mit 59 zu 57 Stimmen wurde die Gesetzesvorlage der Regierung verabschiedet. So wi­dersprüchlich wie die Regierung von Staatspräsident Ernesto Samper ist, dem nicht nur von der US-Regierung vorgeworfen wird “das Bett mit der Dro­genmafia zu teilen” (US-Senator Jesse Helms), so widersprüch­lich ist das Gesetz selbst: Es er­möglicht einerseits die Ausliefe­rung von Drogenbossen an die USA, “das einzige”, so der Kor­respondent der “Frankfurter Rundschau”, Ulrich Achermann, “was die Größen im kolumbiani­schen Kokaingeschäft wirklich fürchten”.(1) Gleichzeitig sieht es die Möglichkeit der Vermö­gensbeschlagnahmung bei Dro­genbaronen vor, allerdings nur von solchem, das seit 1991 an­gehäuft wurde. Die bisher gel­tenden gesetzlichen Regelungen, die auch die Beschlagnahme von in den achtziger Jahren ange­häuften Vermögen ermöglichten, wurden aufgehoben. So bleibt unter anderem das Drei-Milliar­den Dollar Erbe des Drogenbos­ses Pablo Escobar verschont.
Verwundern kann die Wider­sprüchlichkeit des Gesetzes und die knappe Abstimmung indes kaum. Wurde doch im Hochsi­cherheitsgefängnis von Bogotá in der Zelle der Gebrüder Rodri­guez Orejuela, den Bossen des Cali-Kartells, eine lange Liste mit den Namen von Abgeordne­ten gefunden. Jede einzelne Par­lamentarier-Stimme soll ihnen 25.000 US-Dollar wert gewesen sein.
Dieses Gesetz wäre vermut­lich noch günstiger für die Dro­gen-Bosse ausgefallen, wenn nicht wenige Wochen vorher eine deutsche Nebenaußenpolitik in Kolumbien in einem “Scherbenhaufen” (Norbert Gan­sel) geendet hätte. Wieder ein­mal wollte die Bundesregierung die auf­steigende Weltmacht spie­len. Der Berg kreißte und gebar die sprichwörtliche Maus(s). Und die sitzt nun selbst im Hochsi­cherheitsgefängnis in Kolumbien mit denjenigen Drogen-Baronen ein, denen sie freies Geleit und eine Legalisierung ihrer Vermö­gen ermöglichen wollte.

Umrisse der Bonner Nebenaußenpolitik

Fünf Mosaiksteine charakteri­sieren das Bild der Bonner Ne­benaußenpolitik in Kolumbien – also einer geheimen, über die of­fizielle Bonner Politik hinausge­henden Version.
Erstens: Seit etwa 1984 ist die Bundesrepublik in Kolumbien mit einer Nebenaußenpolitik prä­sent. Von Anbeginn wurde sie durch den “Privatagenten Mauss” personifiziert. Dieser war mindestens bis Ende der siebziger Jahre mit offiziellem Auftrag deutscher geheimer Dienste aktiv. Unter anderem war es Klaus Kinkel als Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), der diesen zwielichtigen Undercover-Agenten für den Pullacher Dienst verpflichtete. Im Dezember 1996 mußte der BND anläßlich der Verhaftung von Mauss in Kolumbien zuge­ben, daß dieser seit 1984 in Ko­lumbien aktiv war und daß diese Aktivitäten von der Bundesregie­rung – so Schmidbauer in der Parlamentsdebatte – “positiv be­gleitet” wurden. Dadurch werden andere Aktivitäten von Mauss in diesem Zeitraum in ein völlig neues Licht – und in Regierungs­nähe gerückt. (2) Darauf wird zurückzukommen sein.
Der entscheidende Hebel, mit dem diese Nebenaußenpolitik umgesetzt wurde, war der Ein­stieg in die “Entführungs­industrie”. Mit die­ser Branche sind viel Geld und somit Einflußmöglichkeiten ver­bun­den. Da es sich hier aller­dings um einen illegalen Wirt­schaftszweig handelt, lag der Einsatz eines Privatagenten nahe, von dem die Bundesregierung gegebenenfalls hätte sagen kön­nen, sie wisse nichts von dessen Handeln.
Der Einstieg in die Entfüh­rungsbranche öffnete zugleich den Zugang zur Guerilla. Mauss scheint bereits damals das be­sondere Spiel getrieben zu ha­ben, mit dem er auch im Sommer 1996 im Fall von Frau Schoene, der Ehefrau eines BASF-Mana­gers, die Lösegeldforderungen steigerte. Der Guerilla verhalf er so zu besonders hohem Gewinn und sich zu einer verbesserten Verhandlungsposition.
Der SPIEGEL berichtete über einen solchen Deal Ende der achtziger Jahre:
“Der Mannesmann Konzern wollte damals eine 700 Kilome­ter-Pipeline von den kolumbiani­schen Ölfeldern an die Karibik-Küste verlegen – mitten durch das Guerilla-Gebiet. Die Rebel­len der ELN drohten mit Sabo­tage und Entführungen. Der da­malige Projektleiter erinnert sich heute voller Verachtung an den Helfer Mauss. Der habe Räuber-und-Gendarm gespielt, als die Guerilla ein Camp und wert­volles Baugerät gesprengt und die ersten Geiseln genommen hatte. Er habe das Leben der Geiseln gefährdet. Um die Gue­rilla ruhigzustellen, ließ Mauss im Dschungel Kindergärten und Hospitäler bauen. Er soll zusätz­lich einige Millionen Dollar an die klammen Rebellen gezahlt haben…Guerilleros gäben keine Quittungen, sagt Zipfel lako­nisch. In Anbetracht der Be­scheidenheit der Forderungen der Guerilla war es absolut schleierhaft, warum man Herrn Mauss beauftragt hat, wundert sich Zipfel noch heute.” Der Fall Mannesmann war in Kolumbien damals ein Politikum. Die Regie­rung in Bogotá erließ ein Gesetz, das ausländischen Firmen das Zahlen von Schmier- und Löse­geldern verbietet. Mittlerweile will die Regierung nur noch vorab informiert werden.(3)
Herr Zipfel mag recht haben, daß der Mauss-Einsatz aus wirt­schaftlicher Sicht keinen Sinn machte und nur teuer war. Vor dem Hintergrund der skizzierten Nebenaußenpolitik jedoch, ma­chten die Mauss-Aktivitäten durchaus politischen Sinn.
Zweitens: Bis 1994/95 hatte sich die Bonner Regierung in internationalen Kreisen einen solchen Namen im kolumbiani­schen Entführungsgeschäft ge­macht, daß Bonn – und hier Schmidbauer und Mauss – als er­ste Adresse in Entführungsfällen von FirmenvertreterInnen galten.
Dänische und italienische FirmenvertreterInnen, die in Kolumbien entführt wurden, sollen unter Einschaltung der Bundesregierung und Mauss wieder die Freiheit erlangt haben – nach Übermittlung erheblicher Lösegeldzahlungen.
1996 war es schließlich der Entführungsfall von Vertretern der argentinischen Stahlfirma Techint, der im fernen Bonn ge­löst werden sollte. Dazu ein Auszug aus der Bundestagsde­batte: Volker Beck (Bündnis 90/Die GRÜNEN): “Können Sie uns erklären, wie argentinische Unternehmen überhaupt auf die Idee kommen, sich in einem sol­chen Fall an die Bundesregie­rung beziehungsweise an das Bundeskanzleramt zu wenden, um in dieser Frage zu vermit­teln?” Bernd Schmidbauer: “…Ich gehe davon aus, daß Geschäfts­verbindungen der Fir­ma zu ande­ren Firmen, die von Geiselnah­men betroffen sind, der Grund dafür sind, daß sich ein Land wie Argentinien …mit der Bitte um Hilfe an uns wendet.”(4)
Dieses starke deutsche Enga­gement im kolumbianischen Gei­selgeschäft hatte den Nach­teil, daß damit Mauss’ Aktivitä­ten der Konkurrenz, zum Bei­spiel dem CIA, nicht geheim bleiben konnten.
Andererseits erhöhte sich da­mit natürlich das Gewicht dieser Nebenaußenpolitik und damit der Einfluß von Bonn/Mauss bei der Guerilla und bei der kolum­bianischen Regierung mit dem steigenden Umsatz im Geiselge­schäft.
Drittens: Mitte der neunziger Jahre scheint bei der Bonner Re­gierung der Eindruck entstanden zu sein, der in Kolumbien er­reichte Einfluß sei groß genug, um ein großes Rad zu drehen. Der Gedanke reifte, in Sachen “nationaler Konsens” in Kolum­bien zu vermitteln – mit eigenen Hintergedanken und Interessen. Im Dezember 1996 sollte es in Kolumbien zur Bildung eines “Runden Tisches” kommen, an dem Regierung und Guerilla Platz nehmen sollten. Einer der Vermittler sollte dabei Daniel Ortega sein, mit dem es, so Schmidbauer, “in Bonn ein lan­ges Gespräch gab.” (5)
Im Rahmen dieses Runden-Tisch-Projekts wollte dann auch Kanzler Kohl sich als Friedens­stifter feiern lassen. Ein Treffen zwischen Schmidbauer und Samper in New York, das im Sommer 1996 stattfand und an dem auch Werner Mauss teil­nahm, diente der Vorbereitung. Die Tatsache, daß Samper zu seinem Besuch in New York bei der UNO ein US-Visum benö­tigte und die US-Presse den ko­lumbianischen Präsidenten als jemanden bezeichnete, der ge­meinsame Sache mit den Dro­genbossen machte, deutet bereits auf den nur mühsam verborge­nen Interessenkonflikt zwischen Bonn und Washington hin.
Teil dieses Aussöhnungspla­nes war auch der Versuch, den Drogenbossen eine legale Basis zu verschaffen. So wurde in ei­nem gemeinsam von einem Be­auftragten der kolumbianischen Regierung und Schmidbauer ent­worfenen “inoffiziellen schrift­lichen Angebot” am 29. Mai den Drogenhändlern garan­tiert, daß sie bei Selbststellung nicht an die USA ausgeliefert würden und Teile ihres Vermö­gens zur Gründung einer neuen beruflichen Existenz im Ausland behalten dürften.(6) Offensicht­lich waren sich die Bonner Strippenzieher sehr sicher, daß sie kurz vor einem außenpoliti­schen Durchbruch standen. Der Staatsminister fürs Grobe, Bernd Schmidbauer, wurde in der zi­tierten Bundestagsdebatte an ei­ner Stelle ausgesprochen heftig, als Norbert Gansel davon sprach, dieser habe “eine außenpolitische Initiative gestartet, die nun ge­scheitert” sei.
Darauf Schmidbauer: “Herr Gansel, ich widerspreche ihnen ganz entschieden, daß dies ge­scheitert ist. Die Sondierungsge­spräche waren sehr erfolgreich. Die ersten Bemühungen…zur Bildung eines Runden Ti­sches…sind so gelaufen, daß des­sen Bildung fest auf Anfang De­zember terminiert war. Ich wi­derspreche ihnen ganz entschie­den.” (7)
Viertens: Eine gewisse Rolle bei der beschriebenen Bonner Nebenaußenpolitik spielten die Interessen deutscher Konzerne. Das Projekt von Mannesmann wurde bereits erwähnt. Der Sie­mens-Konzern verfolgt im Land ebenfalls wirtschaftliche Interes­sen; unter anderem geht es um ein großes U-Bahn-Projekt.
Insgesamt wäre es jedoch falsch, die Bonner Nebenaußen­politik primär mit solchen Wirt­schaftsinteressen zu erklären. Es handelt sich wohl vielmehr um eine auf längere Sicht angelegte politische Strategie.
Fünftens. Die kolumbianische Regierung spielt in diesem Zu­sammenhang offensichtlich eine ähnlich zwielichtige Rolle wie die Bundesregierung. Sie war spätestens seit 1987 offiziell über die Rolle von Mauss und in Umrissen über die Bonner Ne­benaußenpolitik informiert. Da­mals gab es einen Kontakt zwi­schen der Kohl-Regierung und der Regierung in Bogotá; Bonn bat, Mauss nicht zu enttarnen. Im Gegenzug soll das Bundeskrimi­nalamt Hilfe bei der Aufstellung einer kolumbianischen Sonder­einheit geleistet haben.(9)
Mindestens bis Oktober 1996 scheint die Regierung Samper geneigt gewesen zu sein, das deutsche Spiel mitzuspielen; der Gesandte Sampers zu Schmid­bauer, der zumindest an einem der “insgesamt rund sechs Son­dierungsgespräche teilnahm, war immerhin der kolumbianische Innenminister Serpa. Gut vor­stellbar ist, daß die Regierung Samper gerade als Ergebnis des Drucks aus den USA die deut­sche Initiative aufgreifen wollte, um so ein Gegengewicht zu schaffen.
Ganz offensichtlich haben sich am Ende andere Interessen durchgesetzt. Der folgende Fra­ge-Antwort-Wechsel in der Bun­des­tagsdebatte beschreibt dies trefflich:
Hermann Bachmaier (SPD): “Herr Staatsminister, nachdem der Herr Mauss nach ihren Schilderungen seine Aufgabe so bravourös erledigt hat, wie erklä­ren Sie sich dann, daß er akkurat zu Beginn dieser Sondierungsge­spräche über einen Friedenspro­zeß in Medellín…verhaftet wor­den ist und schwerster Straftaten beschuldigt wird?”
Bernd Schmidbauer: “Ich kann ihnen das nicht beantwor­ten.”(10)

Verschleierung der Bonner Kolumbien-Politik

“All das ist gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt gesche­hen. Ich höre da immer etwas von Nebenaußenpolitik. Einen größeren Schwachsinn kann es überhaupt nicht geben.” (Bernd Schmidbauer, Bundestagsdebatte am 4. Dezember 1996)
Die Umrisse der eben skiz­zierten Bonner Nebenaußenpoli­tik wurden nur durch das Ein­wirken von Kräften publik, die aus Bonner Sicht nicht vorgese­hen waren. Wäre Mauss nicht verhaftet worden, hätten Kanzler Kohl und Außenminister Kinkel an Weihnachten 1996 eine Art kolumbianische Bescherung vor­geführt und sich als Friedens­bringer feiern lassen – Seit’ an Seit’ mit Daniel Ortega. Die Vor­arbeit, von Werner Mauss und Bernd Schmidbauer wäre dann ausge’blendet worden. Zumindest Mauss hätte dies bei seiner Gage von ein paar Millionen Dollar wohl verschmerzen können.
Von Anfang an und bis zur Verhaftung Mauss’ und seiner Ehefrau war die Nebenaußenpo­litik konspirativ abgesichert. Der Aufwand, der dabei betrieben wurde, war erheblich.
– Alle beschriebenen Treffen in Bonn mit Mauss und mit ko­lumbianischen Vertretern waren geheim. Geheim war auch, daß Mauss und Ehefrau Ida bei dem Treffen Schmidbauer-Samper in New York mit von der Partie wa­ren.
– Mauss wurde der kolumbia­nischen Regierung als offizieller Vertreter der Bundesregierung präsentiert. Seine Rolle als “Privatagent” blieb der kolum­bianischen Seite zumindest offi­ziell verborgen. Das bei Mauss gefundene Schreiben, erstellt von der deutschen Botschaft in Bo­gotá, wies diesen als “in offi­zieller Mission” reisend aus.
– Mauss war mit mehreren deutschen Pässen ausgestattet worden. Diese wurden von “ehe­maligen” BND-Mitarbeitern er­stellt. Eine solche Konspiration ge­genüber der kolumbianischen Re­gierung wäre dann völlig un­nö­tig gewesen, wenn Mauss nicht auch gegenüber dieser ein doppeltes Spiel gespielt hätte.
– Indem die Bundesregierung behauptet, es habe mit Mauss “kein dienstlich-offizielles Ar­beitsverhältnis” bestanden, ent­band sie sich auch von der Not­wen­digkeit, über die Mauss’schen Tätigkeiten im Rah­men der Parlamentarischen Kon­troll­kommission (PKK) zu be­richten. Groteskerweise be­ant­wortete Schmidbauer in der Bundestagsdebatte einige Fragen zu Mauss nicht und verwies dar­auf, dazu werde er – nunmehr! – in der PKK Stellung nehmen.
– Auf Vermittlung der Bun­desregierung und von Werner Mauss weilten im Juni 1995 führende Vertreter der Guerilla-Organisation ELN in Deutsch­land. Manfred Such (Bündnisgrüne) stellte im Bun­destag die Frage, inwieweit die Bundesregierung die Einladung der “drei führenden ELN-Gue­rilleros, Manuel Perez sowie Comandante Nicolas und Co­mandante Antonia García, die zu den meistgesuchtesten Straftä­tern Kolumbiens gehören, zu Vorträgen und Diskussionen mit PolitikerInnen nach Deutschland und Frankreich…mit den kolum­bianischen Gesetzen vereinbar halte.”
Schmidbauer antwortete dar­auf mit einem nebulösen Wort­schwall.
Er sagte unter anderem:
“Das ist eine sehr breit ange­legte Frage, weil diese Zusam­menkünfte…nach meiner Kennt­nis nicht stattgefunden ha­ben…Ich schließe nicht aus, daß es Gespräche mit der Guerilla gegeben hat. Aber ich glaube nicht, daß man in jedem einzel­nen Fall dieser Gespräche irgend jemandem Rechenschaft ablegen muß. Vielmehr ist das die freie Entscheidung jedes einzelnen, im übrigen auch anderer Fraktionen. Ob die bei ihnen aufschlagen (sic), weiß ich nicht, aber es gibt vielfältige Gespräche, in denen wir mit vielen Gruppen reden…” (11)
Gelegentlich wird darüber la­mentiert, Schmidbauer und das Bundeskanzleramt hätten diese Nebenaußenpolitik am Außen­ministerium vorbei betrieben. Das dürfte sich als Ente erwei­sen. Dagegen spricht bereits, daß aus dem Außenministerium und von Kinkel selbst keine Andeu­tung dieser Art kam, obwohl es eine gute Gelegenheit gewesen wäre, sich angesichts des Scher­benhaufens, vor dem das Bun­deskanzleramt heute steht, ent­sprechend zu profilieren.
Dagegen sprechen aber auch folgende zwei Details:
– Die Pässe für Mauss wurden von dem ehemaligen BND-Oberst Joachim Philip ausge­stellt. Dieser (Deckname: Pan­ten) spielte zu Kinkels BND-Zeiten dort eine wichtige Rolle. Kinkel hatte ihn bei dubiosen Waffengeschäften mit dem Irak gedeckt. (13)
– Im Zusammenhang mit der Affäre Mauss wurde von dem MdB Bachmaier im Bundestag angesprochen, daß “der Madrider Resident des BND, Herr Fischer-Hollweg, Aktivitäten im Zu­sammenhang mit den Befrei­ungsaktionen von Mauss unter­nommen habe.”
Darauf reagierte Bernd Schmidbauer gereizt und mit dem Verweis, er werde diese Frage nur in der PKK beantwor­ten. Tatsächlich dürfte besagter Fischer-Hollweg eine zentrale Rolle in der Affäre gespielt ha­ben und weiter spielen. Dieser Herr (Deckname: Dr. Eckerlin) war von Klaus Kinkel als BND-Chef dazu eingesetzt worden, das BND-Netz in Lateinamerika auszubauen. (14) Es ist höchst unwahrschein­lich, daß Kinkel nicht von diesen früheren engen Mitarbeitern über die Aktivitäten von Schmidbauer und Mauss informiert worden wäre – einmal abgesehen davon, daß er selbst es war, der Mauss für den BND erstmals angeheu­ert hatte.
Vor allem aber sprechen poli­tische Gründe dafür, daß es ge­wissermaßen eine deutsche Au­ßenpolitik “aus einem Guß” gab, mit voll integrierter Nebenau­ßenpolitik: Es mußte Teil der Konspiration sein, daß die offi­zielle deutsche Außenpolitik in Kolumbien vom Auswärtigen Amt repräsentiert wurde, wohin­gegen für die Nebenaußenpolitik der Minister fürs Grobe und sein Privatagent fürs Illegale zustän­dig waren.
So kann heute zumindest der Eindruck erweckt werden, als sei das Auswärtige Amt an dem Scheitern dieser Nebenaußenpo­litik nicht beteiligt und als müßte nur der nach außen als zweitran­gig gewertete Schmidbauer den Scherbenhaufen zusammenkeh­ren.

Weltpolitik und kleine Großmacht Deutschland

Otto Schily (SPD): “Sie sagen, es gibt offensichtlich Staaten minderen Rechts, in de­nen Sie sich ein Inter­ven­ti­ons­recht an­maßen.” (Bundes­tags­de­batte vom 4. Dezember 1996).
Mehrmals wurde in der Bun­destagsdebatte zum Thema Mauss und Kolumbien direkt und indirekt erwähnt, daß Ko­lumbien schließlich ein Staat be­sonderer Art sei. Bei dem CDU-MdB Rupert Scholz hieß es zum Beispiel: “Man kann nicht ein Land wie Kolumbien… an klassi­schen außenpolitischen Stan­dards messen und… von Souve­ränität reden. Hier mischt sich international organisierte Krimi­nalität… mit einem desolaten Zu­stand des Staates, dem man in vielfältiger Weise mit Mitleid und Hilfsbereitschaft begegnen muß. (15)
Offensichtlich praktizierte das Bundeskanzleramt mit Verweis auf die nicht vorhandene Souve­ränität Kolumbiens und auf die hier geforderte “Hilfsbereit­schaft” eine typische neoko­lo­ni-ale und neoimperiali­stische Politik: verfolgt werden die eigenen Interessen, wobei behauptet wird, diese deckten sich mit den “wirklichen Interes­sen” Kolumbiens. So mußte Schmidbauer in der Bundestags­debatte am 4. Dezember einge­stehen, daß die Bundesregierung Fragen, die Kolumbiens Regie­rung in Zusammenhang mit Mauss gestellt hatte und die seit gut zwei Wochen vorlagen, noch immer nicht beantwortet hatte.
Diese deutschen Interessen laufen darauf hinaus, daß die Bundesrepublik Deutschland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und nach der Ein­verleibung der DDR sich nicht mehr mit der Rolle der Weltwirt­schaftsmacht begnügen will.
Das neue Bonner Großmacht­streben wird zunehmend aben­teuerlicher. Die Kolumbien-Af­färe weißt beispielsweise viele Parallelen zum Plutonium-Skan­dal auf. Dort wurde versucht, Rußland als nur bedingt souver­änen Staat vorzuführen. Be­hauptet wurde, daß es in Rußland eine kriminelle Atommafia gebe, die die Menschheit gefährde. Am Ende erwies sich, daß BND nunmehr mit Bundes-Nuklear-Dealer zu übersetzen ist und daß dieser Dienst als Agent Provo­kateur auftrat. Im übrigen ver­birgt sich hinter diesem Skandal ein zentrales Thema der neuen Bonner Großmachtpolitik, näm­lich die Frage, wie die Bundes­republik Deutschland zu einer Atommacht und damit gleich­wertig zu den übrigen Groß­mächten wird.
Seit einigen Jahren versucht die Bonner Regierung, die deut­schen Positionen in Lateiname­rika auszubauen. Sie gerät dabei, weit direkter als in Jugoslawien oder Somalia, in Widerspruch zu den US-Interessen. Mehrfach waren Kanzler Kohl und Au­ßenminister Kinkel, begleitet von Industriellen, in Lateiname­rika zu Besuch. Dort, wo deut­sche Interessen bereits mit eini­gem materiellen Gewicht ver­treten sind, vollzieht sich die deutsche Offensive in einiger­maßen geordneten Bahnen der Diplomatie. Mexiko beispiels­weise soll zu einem Freihandels­abkommen mit der EU bewegt und damit teilweise wieder aus der Bindung an die USA und Kanada, die mit dem NAFTA er­folgte, herausgesprengt werden. Dabei hat die Bundesregierung auf eine kleine Anfrage hin nicht bestritten, daß Mexiko durch ein solches Abkommen ein jährli­ches Handelsdefizit von rund zwei Milliarden Dollar zu er­warten hätte. Stattdessen verwies sie darauf, Mexiko könne bei ei­nem solchen Freihandelsab­kommen andere Interessen als rein wirtschaftliche haben. (17)
Ähnlich argumentierte die Bonner Regierung gegenüber Kolumbien: Ausspielen des deutschen Gewichts gegen das bisher dominierende US-Schwergewicht. Die Bonner Ne­benaußenpolitik in Kolumbien richtet sich ganz offensichtlich gegen die US-Regierung, die dieses Land als ihren Hinterhof betrachtet – und die ihre arro­gante Haltung gegenüber diesem Land aufgrund der eigenen Vor­machtstellung kaum zu verber­gen versucht. Insbesondere mußte der Bonner Plan, im Rahmen der nationalen Versöh­nung den Drogen-Bossen eine legale Zukunft zu verschaffen, in Washington als Affront aufge­faßt werden.
Immer wieder tauchte in der Bundestagsdebatte der Verweis auf die USA auf. Freimut Duve äußerte hierzu: “Ich stelle fest, daß es keine offizielle Informa­tion unseres engsten Verbünde­ten, der USA, gegeben hat, die in Kolumbien besondere Sicher­heitsinteressen gerade im Um­gang mit der Narco-Guerrilla… haben.” (18)
Auf dem Höhepunkt der Krise gab es offensichtlich auch ein Treffen zwischen Schmidbauer und dem US-Gesandten Hol­brooke. Und viel spricht dafür, daß es die USA selbst waren, die dabei ein weiteres Mal die deut­schen Großmachtbestrebungen in die Schranken wiesen – wie schon zuvor beispielsweise durch die Enthüllung der deut­schen Verstrickung in den Bau einer Giftgasfabrik in Libyen. Der Bündnisgrüne MdB Lippelt führte diesbezüglich in der De­batte aus: “Es gibt zwei Linien in der Bekämpfung des Terroris­mus. Die Verhaftung von Mauss hat natürlich damit etwas zu tun, daß jemand, der eine andere Li­nie vertrat, ihn verhaften ließ. Damit sind Sie aber in eine in­nenpolitsche Auseinanderset­zung in einem anderen Land ge­raten…” (19)
Bleibt die Frage, warum die Bundesregierung und Schmid­bauer im Bundestag und in der Öffentlichkeit jede Kritik an Mauss’ Aktivitäten abwehrten und das gesamte Spektrum seiner illegalen Auftritte – einschließ­lich der persönlichen Bereiche­rung und der wahrscheinlichen aktiven Beteiligung an der ko­lumbianischen Entführungsindu­strie – entweder verteidigten oder Unwissenheit vortäuschten.
Nun: Die Maus(s) sitzt im Loch und wenn sie aus diesem nicht bald herausgeholt wird, dann pfeift sie. Mauss war eben jahrzehntelang nicht Privat-, sondern Staatsagent. Noch die­sen Sommer trafen sich der ko­lumbianische Innenminister Serpa und Schmidbauer auf sei­nem Anwesen im Hundsrück zur Absprache von Details der abenteuerlichen Großmachtpoli­tik. Vor allem aber war Mauss Staatsagent, ausgestattet mit BND-Pässen und mit Schutzbrie­fen vergleichbarer Art wie jetzt in Kolumbien – und dies bei noch weitaus heikleren Missionen. Was wäre, wenn Mauss über sol­che andere Missionen plauderte, etwa jene, die er betrieb, als er noch von BND-Chef Klaus Kin­kel für ein Jahressalär von 650.000 Mark arbeitete? Was wäre, wenn er über den Vertrag plauderte, der zwischen dem Madrider BND-Residenten Fi­scher-Hollweg und ihm in Sa­chen Kolumbien laut Erich Schmidt-Eenboom abgeschlos­sen worden sein dürfte? (20) Und welche Turbulenzen ent­stünden, wenn Mauss über seine Mission plauderte, die ihn am 9. Oktober 1987 nach Genf und am 11. Oktober von dort wieder zu­rück in die Bundesrepublik Deutschland führte – immerhin landete er dort wenige Stunden vor Barschels letzter Reise und Ankunft und logierte im Nach­barhotel. Wenige Stunden nach der Entdeckung der Barschel-Leiche flog er wieder zurück nach deutschen Landen. Nicht zuletzt führte er gelegentlich denselben Decknamen “Roloff”, den Barschel als denjenigen Kontaktmann genannt hatte, der mit ihm in Genf dringend zu re­den wünschte…(20)

(1) Frankfurter Rundschau vom 14.12.1996
(2) Schmidbauer hat seine Formulie­rung, mit Mauss habe es zwar kein offizielles Dienstverhältnis gegeben, seine Aktivitäten in Kolumbien seien jedoch von der Bundesregierung “positiv begleitet worden”, in der Parlamentsdebatte auch auf den frü­hen Zeitpunkt 1984ff bezogen. Siehe Bundestagsprotokoll, Debatte vom 14.12.1996; S.13008.
(3) Der Spiegel Nr. 37/1996
(4) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.12999.
(5) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13007.
(6) Nach El Espectator vom 1.12.1996; dpa vom 2.12.1996
(7) Bundestagsdebatte, a.a.o., S.13007.
(8) Kurzbericht über Lateinamerika, herausgegegen von der Deutsch-Südamerikanischen Bank, Hamburg, Februar 1995, S.86.
(9) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13011.
(10) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13019.
(11) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13016f.
(12) Der Spiegel Nr. 50/1996
(13) Nach: Erich Schmidt-Eenboom, Der Schattenkrieger – Klaus Kinkel und der BND, Düsseldorf 1995, S.81.
(14) Schmidt-Eenboom, a.a.O., S.35ff.
(15) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13027.
(16) Siehe Winfried Wolf, Haiti – Aroganz im Armenhaus – Bonner Diplomatie, Rassismus und Armut­sentwicklung, Köln 1996, S.27f.
(17) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Winfried Wolf und der Gruppe der PDS, Ok­tober 1996; La Jornada (Mexiko D.F.) vom 31.7. 1996.
(18) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13034.
(19) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13023.
(20) Erich Schmidt-Eenboom im Deutschlandfunk vom 4.12.1996, nach: Fernseh-/Hörfunkspiegel, In­land I vom 5.-12.1996, S.8
(21) Vgl. Winfried Wolf, “Es war doch Mord”, in: Abendzeitung (Wien) vom 3.12.1987; Winfried Wolf, “Barschel bis zum Abwinken – Mordmotiv: Südafrika”, in Soziali­stische Zeitung/SoZ vom 5.10.1995; Stefan Aust, Mauss – Ein deutscher Agent, Hamburg 1988, S.388.
Winfried Wolf ist MdB, Mitglied der PDS-Gruppe im Bundestag und Mit­glied im Ausschuß für Wirtschaftli­che Zusammenarbeit und Entwick­lung. Jüngste Veröffentlichungen zum Thema “Dritte Welt”: 500 Jahre Conquista – die Dritte Welt im Wür­gegriff, Köln 1992 (ISP); Haiti – Ar­roganz im Armenhaus – Bonner Di­plomatie, Rassismus und Armut­sentwicklung, Köln 1996 (ISP).

Zweckehe im Isthmus?

Da gab es die kriegerischen Unternehmungen des Söldnerführers William Walker aus Tennessee, der in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Nicaragua aus den ganzen Isthmus unterwerfen wollte, und die des liberalen Präsidenten von Guatemala, Justo Rufino Barrios, der eine Einheit unter guatemaltekischer Hegemonie anstrebte. Walker scheiterte weil sich alle fünf Republiken gegen ihn zusammentaten, Barrios dagegen scheiterte weil die fünf für eine gemeinsame Regierung doch zu individualistisch waren. In diesem Jahrhundert setzte man eher auf friedliche Mittel und wirtschaftliche Integration. Meist steckten hierbei Interessen der USA dahinter.
Wer Zentralamerika kennt, der weiß, wie schwierig es ist, den Isthmus auf dem Landweg zu durchqueren. Die bis vor kurzem bestehende Visapflicht, umständliche Amtswege für die Grenzüberschreitung mit Privatfahrzeugen, Willkür bei der Zollabfertigung und schlechte Straßen garantieren den Fluggesellschaften, die zwischen den Hauptstädten verkehren, ein sicheres Geschäft. Und das, obwohl die Tarife für die Anzahl der Flugkilometer deutlich überhöht ist. Der grenzüberschreitende Busverkehr – mit Ausnahme der Strecke Guatemala-El Salvador – ist mühsam und unbequem. Eine moderne Eisenbahnlinie von Guatemala bis Panama, die das Reisen und den Gütertransport innerhalb der Region dramatisch vereinfachen und verbilligen würde, ist bisher nicht einmal ernsthaft diskutiert worden. Es wird den Brüdern und Schwestern der Region also nicht leichtgemacht, einander näherzukommen. Deswegen gibt es auch mehr NicaraguanerInnen, die Miami kennen, als solche, die schon einen Urlaub in Guatemala verbracht haben und mehr Salvadorianer, die in Los Angeles aus- und eingehen als im nur zwanzig Flugminuten entfernten Tegucigalpa. Das Vorurteil blüht: so gelten die Ticos (Costa Rica) als hochnäsig, die Nicas als faul und gewalttatig, die Catrachos (Honduras) als doof, die Guanacos (El Salvador) als übertrieben strebsam und die Chapines (Guatemala) als verschlagen.
Eine Ausnahmeerscheinung ist das Volk der Miskitos am Río Coco, für die der Grenzfluß zwischen Nicaragua und Honduras nie eine maßgebliche Trennungslinie gewesen ist. Für sie war es bis zur Aufrüstung der Konterrevolution während der sandinistischen Jahre selbstverständlich, auf der einen Seite zu leben und auf der anderen das Feld zu bestellen. Und die Mobilität der Arbeitskraft war schon in den 70er Jahren eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Ohne die ArbeiterInnen aus Honduras und El Salvador wären die Expansion der Kaffeewirtschaft und der Baumwollboom in Nicaragua nicht denkbar gewesen. Und heute würden die Bananenplantagen in Costa Rica ohne die legal oder illegal eingereisten WanderarbeiterInnen aus Nicaragua nicht auskommen.

Versuche der Kooperation

Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica, mit einer Gesamtfläche von 432.000 Quadratkilometern und 27 Millionen EinwohnerInnen, sind nicht nur Länder mit einem guten Stück gemeinsamer Geschichte, sie sind auch Konkurrenten, die ihre traditionellen Produkte wie Kaffee, Bananen, Zucker und Baumwolle auf denselben Märkten placieren wollen. Bis in die 60er Jahre waren es fast reine Agrargesellschaften, die ausreichend Nahrungsmittel für den Eigenbedarf produzierten, aber gleichzeitig mit Exportmonokulturen einem zunehmenden Bedarf in den USA entgegenkamen. Erst nach 1960, als die Kennedy-Regierung mit der Allianz für den Fortschritt in Lateinamerika ein Bollwerk gegen das castristische Kuba schaffen wollte, wurden politische Reformen und Industrialisierung gefördert. In diesem Rahmen wurden in Zentralamerika drei Organisationen geschaffen: auf der politischen Ebene die Organisation Zentralamerikanischer Staaten (ODECA), auf der militärischen der Zentralamerikanische Verteidigungsrat (CONDECA) und auf der wirtschaftlichen der Zentralamerikanische Gemeinsame Markt (MCCA). Dem letzteren lag die Idee zugrunde, daß nur der gemeinsame Markt die Industrieproduktion lohnend mache. In jedem Land sollte ein Zweig für die Versorgung der gesamten Region angesiedelt werden, um größere Mengen zu vertretbaren Stückkosten herzustellen: etwa Zahnpasta in Guatemala, Schuhe in El Salvador und Seife in Nicaragua. Die Anfänge waren vielversprechend, zumal die wirtschaftliche Konjunktur die Kaufkraft der Konsumenten steigerte. Doch MCCA und CONDECA scheiterten mit dem Ausbruch des sogenannten Fußball-Krieges zwischen Honduras und El Salvador. Nicht an primitivem Sportchauvinismus, wie der Name der dreitägigen bewaffneten Auseinandersetzung suggeriert, sondern an der unterschiedlichen demographischen Struktur der Länder. Aus dem überbevölkerten El Salvador hatten sich tausende BäuerInnen auf honduranischem Boden angesiedelt, von wo sie im Zuge einer demagogischen Agrarreform des honduranischen Militärdiktators vertrieben wurden.

Der Wunsch der USA: gegen Nicaragua vereint

Diese Wunden waren noch nicht verheilt, als in Nicaragua die sandinistische Revolution ausbrach. Die Solidarität, die die honduranische Bevölkerung während des Volksaufstandes den Flüchtlingen vor Somozas Nationalgarde entgegengebracht hatte und die Sympathien der Nachbarvölker für das neue Gesellschaftsmodell waren bald gebremst. Als Flüchtlinge kamen jetzt Soldaten der aufgelösten Nationalgarde, und das Grenzgebiet wurde in eine Aufmarschbasis für die Konterrevolution verwandelt. Auch an der Südgrenze zu Costa Rica wurde Nicaragua zunehmend isoliert. Während Nicaragua mit einem Wirtschaftsembargo bestraft wurde, bekamen die loyalen Länder Vorzugsquoten für den Export von Zucker und anderen Rohstoffen in die Vereinigten Staaten zugebilligt. Die USA förderten aber auch eine Integration Zentralamerikas gegen Nicaragua, vor allem auf der Ebene der Streit- und Sicherheitskräfte. Bleibendster Effekt dieser Vernetzung sind die Autoschieberringe und Drogenbanden, die in den Polizeiapparaten von El Salvador, Honduras und Guatemala aufgebaut wurden.
Von der Europäischen Gemeinschaft wurde die diskriminierende Wirtschaftspolitik nicht geteilt. Im Gegenteil: die EuropäerInnen setzten auf Integration statt Isolation Nicaraguas und machten seit Mitte der 80er Jahre ihre multilaterale Wirtschaftshilfe von einer regionalen Einigung abhängig, die jedes Jahr bei den San-José-Nachfolgetreffen erneuert wird. Doch die Programme waren zu dürftig, um gegen die Machtpolitik der USA eine echte Annäherung der verfeindeten Regierungen durchsetzen zu können.

Die neunziger Jahre: Ära des Freihandels

Erst im Jahre 1990, als die Sandinisten in Nicaragua abgewählt wurden, konnte die regionale Integration aller wieder versucht werden. Seit sich in den USA unter Präsident George Bush die Überzeugung durchsetzte, daß die größte Wirtschaftsnation der Welt auf Dauer gegenüber einem geeinten Europa und einem boomenden Ostasien nur bestehen kann, wenn sich der ganze Kontinent in einen gemeinsamen Wirtschaftsraum verwandelt, ist von Labrador bis Feuerland Integration angesagt. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen zwischen Kanada, Mexiko und den USA (NAFTA) sprengte die Grenzen zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern – für den Kapitaltransfer, nicht für den Verkehr menschlicher Arbeitskraft. Freihandel heißt die Devise, die in ganz Lateinamerika aufgegriffen wurde. Plötzlich wurde dem Mercosur, zu dem sich Argentinien, Brasilien, Uruguay und Chile schon lange zusammengeschlossen hatten, neues Leben eingehaucht. Mexiko, Venezuela und Kolumbien schlossen ein Freihandelsabkommen und auch der Andenpakt wurde wiederbelebt.
Da konnte Zentralamerika nicht nachstehen. Die Region hat nur eine Chance ernstgenommen zu werden, wenn sie ihre traditionelle Zersplitterung überwindet. Deswegen nehmen seit einigen Jahren auch Panama und Belize, die zwar geographisch, aber nicht historisch zu Mittelamerika gerechnet werden, seit einigen Jahren an den Gipfeltreffen der zentralamerikanischen Präsidenten teil. Für Guatemala bedeutet diese Erweiterung einen stillschweigenden Verzicht auf die offiziell noch immer aufrechten Ansprüche auf das Territorium von Belize, das 1981 von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen wurde.
Die Integration schreitet jetzt in Riesenschritten voran. Zumindest auf dem Papier. Im Dezember 1991 wurde in Tegucigalpa das Zentralamerikanische Integrationssystem (SICA) als Folgeorganisation der ODECA gegründet. Dies ist für die ZentralamerikanerInnen weniger ein neuer Versuch echter regionaler Integration, sondern eine Voraussetzung, um sich irgendwann in den NAFTA einzuklinken und ihre Exporte ohne Handelshemmnisse in diesen gigantischen Wirtschaftsraum liefern zu können.

Sozialpolitik und Umwelt haben das Nachsehen

Die im Interesse der Globalisierung gefaßten Beschlüsse der Gipfeltreffen dienen den einzelnen Regierungen dazu, unpopuläre Maßnahmen innenpolitisch zu rechtfertigen. Zum Beispiel den Sozialabbau und die Beschneidung von Gewerkschaftsrechten, mit dem Hinweis, der Wirtschaftsstandort müsse verteidigt werden.
Freihandel und Sozialabbau können die strukturellen Probleme der Region gewiß nicht lösen. Für die 68 Prozent der ZentralamerikanerInnen, die laut United Nations Development Programm (UNDP) in “kritischer” Situation leben oder überleben, sind dringende Programme gefordert. So hat zuletzt der Sozialgipfel von Tegucigalpa die extreme Armut weder national noch regional eingedämmt.
Auch bei der Umweltzerstörung liegt Zentralamerika mit sechs Prozent Entwaldung jährlich weltweit im Spitzenfeld. Trotzdem hat der Umweltgipfel von Managua außer vielen schönen Worten nicht viel Konkretes gebracht.

NGOs haben es schwer: Integration als Chefsache

Deswegen sind die zentralamerikanischen NGOs immer weniger bereit, die Integration allein den Regierungen zu überlassen. Der Globalisierung widersetzt sich heute keiner mehr ernsthaft. Doch: “Damit die nachhaltige Entwicklung der Menschheit möglich wird, müssen drei Aktoren zusammenwirken: Staat, Markt und Zivilgesellschaft”. Mit diesem Vorstoß brachte sich die Concertación Centroamericana auf der UNO-Sozialkonferenz von Kopenhagen ein. Unter diesem Namen haben sich nichtregierungsgebundene Organisationen der Region zusammengeschlossen, um mit einer gemeinsamen Stimme gegen die Regierungen – die Integration als Chefsache betrachten – auftreten zu können. Kurz darauf, im Oktober 1994, schufen die regierungsunabhängigen Organisationen die “Zivile Initiative der Zentralamerikanischen Integration” (ICIC), die alle Themen der folgenden Gipfeltreffen aufgriff und sich als ständiges Konsultativorgan einzubringen versucht. Mit bisher wechselhaftem Erfolg.
Zwar sind ICIC-Mitglieder inzwischen als ständige Beobachter beim SIECA, SICA und im Zentralamerikanischen Parlament anerkannt, doch ist ihr Einfluß gering. Die Präsidentengipfel, so heißt es in einem Papier der ICIC, benützten einen “scheinbaren Dialog” mit der Zivilgesellschaft, um bei der internationalen Gebergemeinschaft an zusätzliche Mittel zu kommen, “die in der Praxis weit entfernt sind, den Bedürftigen zu nützen.”
Konkrete Vorschläge der Zivilgesellschaft sind bisher von den Staatschefs ignoriert worden, so zum Beispiel die Vorlage für einen regionalen Sozialpakt. Dennoch unterbreiteten die Regierungen Zentralamerikas beim Sozialgipfel in Kopenhagen eine Konvention der Sozialen Integration, die sie als Produkt einer breiten Diskussion mit allen betroffenen Gruppen präsentierten.

Eigener Weg nur mit Druck von unten

Von einer gemeinsamen Sozialpolitik ist Zentralamerika aber noch genauso weit entfernt wie vom gemeinsamen Wirtschaftsraum. Zwar gibt es schon seit vielen Jahren einen Energieverbund, der auch während der Revolutionsjahre funktionierte und verhinderte, daß die Stromversorgung noch häufiger als ohnehin schon zusammenbrach. Doch wenn es um partikuläre Handelsinteressen geht, kehren die Regierungen schnell wieder zu protektionistischen Maßnahmen zurück. So läßt Costa Rica unter dem Vorwand der Lebensmittelhygiene nicaraguanische Bohnen an der Grenze verschimmeln, um die eigenen Produzenten zu schützen. Auch beim Aushandeln von Bananenquoten mit der EU stieg Costa Rica aus dem gemeinsamen Verhandlungsforum aus und suchte seine Exportquote im Alleingang zu erhöhen. Und bei der Verhandlung der Staatsverschuldung ziehen die Regierungen gesonderte Verhandlungen mit den Gläubigern vor, statt gemeinsam aufzutreten.
Investoren nützen die Konkurrenzsituation aus, um günstigere Bedingungen zu erpressen. Warum sollten sie sich Gewerkschaften in den Fertigungsbetrieben gefallen lassen, wenn im Nachbarland die Organisationsfreiheit eingeschränkt ist? Warum eine Erhöhung des Mindestlohnes hinnehmen, wenn nur 200 Kilometer entfernt für weniger Geld mehr gearbeitet wird? So gesehen ist die Unterzeichnung einer zentralamerikanischen Sozialcharta nicht nur eine legitime Forderung der Arbeitnehmer sondern muß auch im Interesse der Regierungen liegen. Die Integration “von unten” unter Mitwirkung der verschiedenen sozialen Akteure ist heute eine Notwendigkeit. Solange aber der Druck von unten fehlt, werden sich die Staatschefs der Region ihre Politik weiterhin “von oben”, also von den USA und dem Weltwährungsfonds, diktieren lassen.

Auf dem Weg in die Zivilgesellschaft

Anders als seine Nachbarn Guatemala, El Salvador und Nicaragua hat Honduras in den achtziger Jahren keinen Bürgerkrieg durchlitten. Nach Zehn- oder Hunderttausenden zählende Ermordete, Verschwundene oder Flüchtlinge blieben diesem Land damit erspart. Dennoch konnte von funktionierender Demokratie keine Rede sein, und mit der Einhaltung der Menschenrechte nahmen es Militär und Polizei nicht ernster als anderswo.
Honduras lag aus Sicht der USA strategisch ideal, um von dort in die Konflikte in Nicaragua und El Salvador einzugreifen. Das Land nahm im Konzept der Nationalen Sicherheit, das die Reagan-Administration in Zentralamerika durchzuführen versuchte, einen wichtigen Platz ein. Die honduranischen “Sicherheitskräfte” standen dabei in direktem Auftrag der nordamerikanischen Kollegen und setzten deren Vorgaben um. Damit war klar: Jede Opposition, die die Legitimität des Militärs in Frage stellte und es einer zivilen Macht untergeordnet sehen wollte, wurde rücksichtslos bekämpft. Politische Gegner, vor allem aus der Linken, verschwinden zu lassen, zu foltern und/oder zu ermorden, gehörte daher auch in Honduras zur Tagesordnung.
Die Aufarbeitung konkreter Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch Militärs ist dem Engagement einzelner Gruppen und Personen zu verdanken und hat juristisch und, was für die honduranische Gesellschaft insgesamt vielleicht noch wichtiger ist, moralisch einige bemerkenswerte Konsequenzen nach sich gezogen. Aufsehenerregend war, daß das unabhängige honduranische Menschenrechtskomitee Codeh unter seinem Leiter Ramón Custodio 1988 beim Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof einen Prozeß gegen das Land Honduras wegen Entführung und Ermordung zweier Personen in Gang brachte – und Honduras tatsächlich verurteilt wurde. Es war das erste Mal, daß vor diesm Gericht ein Land wegen Menschenrechtsverletzungen der Armee für schuldig befunden wurde. Das Urteil, in dem Honduras zur Bestrafung der Täter und zur finanziellen Entschädigung der Opfer verpflichtet wurde, blieb zwar in der Praxis weitgehend wirkungslos. Auf die Verfolgung der Täter wurde stillschweigend verzichtet, und die festgesetzte Entschädigungssumme brauchte nach einer Geldentwertung nur teilweise gezahlt zu werden. Insofern ist zu Euphorie kein Anlaß. Aber dieses Urteil war erst der Anfang.
Leo Valladares und sein Büro hatten ganze Arbeit geleistet. Der 1992 ins Amt berufene Menschenrechtsbeauftragte der honduranischen Regierung legte im Dezember 1993 einen tausendseitigen Bericht vor, in dem belegt wurde, daß zwischen 1979 und 1989 184 Menschen “verschwanden”. Der Impuls, der von diesem Bericht ausging, war enorm. Daß er nicht von oppositioneller Seite kam, sondern vom Beauftragten der Regierung selbst, erhöhte die Chance, mit dem Bericht Druck auf die Justiz und das Militär ausüben zu können. Und er war und ist Grundlage für die tatsächliche strafrechtliche Verfolgung der Täter.

Tausend Seiten Aufklärung

Der Codeh, das unabhängige Menschenrechtsbüro unter Ramón Custodio, hat den Bericht von Valladares als einen Anfang anerkannt – und dokumentiert seinerseits 140 Fälle von “Verschwundenen”, die auf das Konto des inzwischen aufgelösten Sonderbataillons 3-16 der Armee gehen. Die Verbrechen, wegen derer Honduras 1988 angeklagt wurde, sind zwei dieser 140 gewesen.
Ohne daß von Regierungsseite Bereitschaft signalisiert worden wäre, irgendwelche Untersuchungen und Verfahren gegen Militärs zuzulassen, wäre der Aufklärungsprozeß insgesamt allerdings kaum denkbar und noch viel weniger politisch machbar gewesen. Insofern war es ein Glücksfall, daß Carlos Roberto Reina Anfang 1994 sein Amt antrat. Reina war vorher am Internationalen Gerichtshof in Den Haag tätig und hatte für seine Präsidentschaft eine “moralische Revolution” versprochen. Er brachte jene notwendige Bereitschaft mit und hat sich in den bereits angestoßenen Reformprozeß eingeklinkt, in dem die Macht des Militärs begrenzt und wenigstens eine gewisse Rechtsstaatlichkeit auf den Weg gebracht werden sollte.

Militärs vor dem Zivilgericht

Wichtiger Meilenstein in diesem Prozeß war noch vor Reinas Amtszeit der Parlamentsbeschluß vom 29. Juni 1993, der eigentlich nichts weiter tat, als geltendes Recht zu bestätigen – Recht jedoch, das bis dahin stets mißachtet worden war. Es ging um die Amnestierbarkeit von Menschenrechtsverbrechen, die die Militärs begangen hatten. Und damit um genau den Knackpunkt, an dem schon mehrere Versuche der strafrechtlichen Aufarbeitung solcher Verbrechen in anderen lateinamerikanischen Ländern gescheitert sind. Kern des Parlamentsbeschlusses ist, daß bereits ausgesprochene Amnestien für Armeeangehörige keine Gültigkeit haben, wenn es sich bei den Verbrechen um “gewöhnliche”, also zivilrechtliche handelt. Aus dem zivilrechtlichen Rahmen fallen nur politische Delikte, die auf Beseitigung oder Gefährdung der Staatsmacht abzielen. Bei den Menschenrechtsverletzungen war das jedoch nie das Ziel der Täter. Damit ist der Weg frei für die Diskussion um den Charakter einzelner Straftaten und – bei deren Anerkennung als “gewöhnliches” Delikt – ihre Aufarbeitung vor einem zivilen Gericht.
Einige dieser Prozesse sind in den letzten Jahren tatsächlich in Gang gekommen. Begonnen hatte es mit zwei Prozessen schon im Sommer 1993: In einem wurde ein ranghöherer Militär vor Gericht gebracht, der die Verantwortung für ein Massaker trug, im anderen ein Urteil gegen einen Oberst und einen Hauptmann wegen Vergewaltigung eines Mädchens gefällt.
Im Juli 1995 wurde dann das bislang spektakulärste Verfahren gegen 10 Offiziere des erwähnten Batailons 3-16 eröffnet, die in die Entführung und Folterung von sechs HonduranerInnen im Jahre 1982 verwickelt sind. Die Militärspitze ließ zwar nach Prozeßbeginn als Drohgebärde Panzer durch die Hauptstadt Tegucigalpa rollen, streute Putschgerüchte und nahm ihre damals noch in Dienst befindlichen “Kameraden” in Schutz. Dennoch scheint sie letzten Endes den juristischen Prozeß im besonderen und die Demokratisierung im allgemeinen hinzunehmen. Zumindest hat sie sich trotz aller Hindernisse, die sie der Verbrechensaufklärung in den Weg legt, im Prinzip zur verfassungsmäßigen Ordnung bekannt.
In der Aktualität findet ein Tauziehen zwischen den verschiedenen politischen Kräften statt.
Dadurch wird einerseits ein Fortschreiten der Aufklärung immer wieder gebremst. Beispiel dafür sind die Morde an führenden Militärs, die über Einzelheiten von konkreten Fällen Bescheid wissen; man nennt sie auch “menschliche Akten”. Mit ihnen gehen wichtige Zeugenaussagen verloren, so daß die Vermutung naheliegt, daß die Morde von denjenigen Militärs in Auftrag gegeben werden, die sich gefährdet sehen. Für diese Annahme spricht vor allem auch, daß die Morde in zwei Wellen stattfanden: die erste im Oktober 1995, als die Haftbefehle im erwähnten Prozeß gegen die zehn Offiziere erlassen wurden, die zweite im Juni und Juli 1996, gleichfalls im Kontext von Haftbefehlen aus einem 96er Prozeß.
Die Aufklärung dieser Morde geht schleppend voran. Der Codeh wirft Präsident Reina vor, sich nicht ernsthaft um die Aufklärung zu bemühen und generell zu lasch gegen jüngst begangene Menschenrechtsverletzungen vorzugehen.
Auch an anderer Stelle kam die Aufarbeitung kürzlich ins Stocken. Menschenrechtsombudsmann Leo Valladares hatte versucht, Licht in den Hintergrund der Verbrechen von Anfang der achtziger Jahre zu bringen. Damals waren neben US-amerikanischen Militärs auch dreizehn argentinische Spezialisten für Aufstandsbekämpfung in Honduras tätig gewesen. Die argentinische Regierung hat Mitte Oktober abgelehnt, Informationen über die Verwicklung ihrer Landsleute an Honduras weiterzugeben.
Trotz all dieser Erschwernisse gibt es jedoch zahlreiche positive Tendenzen. So haben Dokumente, die Valladares vom US State Departement erhalten hat, einige Erkenntnisse gebracht. Ihnen zufolge könnten mehr als die bisher bekannten 184 Fälle von “Verschwundenen” dokumentarisch nachweisbar sein.
Weiterhin haben seit 1995 Exhumierungen von außergerichtlich Ermordeten in Honduras stattgefunden. Diese zogen nicht nur erste juristische Konsequenzen nach sich, sondern riefen auch in der Bevölkerung Entsetzen hervor.
Honduras ist demzufolge längst in Bewegung geraten. Das Geflecht von Spannungen und Interessen, das sich dabei herausgebildet hat, ist zwar nicht leicht durchschaubar, und Prognosen sind nur schwer zu treffen: Offen ist, was passieren würde, wenn Präsident Reina bei einem Machtwechsel von einem weniger reformwilligen Politker abgelöst werden sollte. Offen ist auch, ob sich die Armeeführung tatsächlich auf Dauer die Beschneidung ihrer Macht gefallen läßt, die Reina zur Zeit mit aller Konsequenz betreibt. Mit Sicherheit lässt sich aber feststellen, daß Honduras mit seinen Menschenrechtsgruppen über einen Motor verfügt, der wichtige, fundamentale Arbeit geleistet hat und von dem noch viel zu erhoffen ist.

KASTEN:
Zum Thema Straflosigkeit

Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, auch impunity oder impunidad, bedeutet etwa, daß die russischen Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung in Tschetschenien keine strafrechtlichen Folgen für die Täter haben. Weder für den Oberkommandierenden der russischen Streitkräfte, Boris Jelzin, noch für die – häufig nur Befehlen gehorchenden – Täter. Oder, daß der Oberbefehlshaber und politische Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, trotz eines internationalen Haftbefehls bis heute noch nicht vor dem Haager Jugoslawien-Gerichtshof steht. Impunidad bedeutet auch, daß staatlich gedeckte, initiierte oder geförderte Menschenrechtsverletzungen oder Menschlichkeitsverbrechen ungesühnt bleiben. Straflosigkeit hat schließlich auch eine rein persönliche Seite: Ehemalige Opfer treffen auf ehemalige Täter in Zeiten demokratischer Normalität, sei es auf der Straße oder anderswo; sie fühlen sich ohnmächtig und wütend.
Die Gründe der impunidad sind vielfältig und komplex. Menschenrechtsverbrechen werden regelmäßig nicht verfolgt, weil es am Verfolgungswillen und -interesse der darin verwikkelten Staatsführung fehlt. In vielen lateinamerikanischen Ländern behindern die staatlichen Sicherheitskräfte etwa massiv zivile Ermittlungen, indem sie Zeuginnen einschüchtern, Beweismittel vernichten etc., oder sie erschweren die Ermittlungen schon dadurch, daß sie die Taten anonym begehen (Benutzung von Fahrzeugen ohne Kennzeichen, Tragen von Zivilkleidung). Über diese faktischen Ursachen der Nichtverfolgung hinaus gibt es jedoch auch normative Ursachen. Entweder werden umfassende Generalamnestien oder amnestieähnliche Regelungen erlassen (so in Peru, Chile und Argentinien) oder die extensive Zuweisung von Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen – so es denn überhaupt zu Verfahren kommt – an die Militärgerichtsbarkeit erweist sich als zentraler Faktor der Straflosigkeit. Einzelne strafrechtliche Regelungen, etwa die Anerkennung des Handelns auf Befehl als Strafausschlußgrund, runden das Bild ab.
Die beschriebenen nationalen Straflosigkeitsmechanismen stehen freilich in krassem Gegensatz zum geltenden Völkerstrafrecht. Zwar existieren noch keine völkervertraglichen Bestrafungspflichten, doch folgt aus einer Analyse des Völkergewohnheitsrechts und der allgemeinen Rechtsgrundsätze, daß bestimmte schwere Menschenrechtsverletzungen, insbesondere Folter, extralegale Hinrichtungen und das sogenannte Verschwindenlassen von Personen, Verfolgungs- und Bestrafungspflichten unterliegen. Für diese Auffassung lassen sich nicht nur eine beträchtliche Zahl völkerrechtlicher Quellen anführen (vor allem Beschlüsse von UN-Organisationen und Staatenvertretern) sondern auch eine umfassende völkerstrafrechtliche Spruchpraxis. Sie reicht vom Nürnberger Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher bis zum jüngsten Beschluß des Haager Jugoslawien-Gerichtshofs im Fall Tadic.
Demzufolge sind Amnestien oder amnestieähnliche Regelungen zwar nicht unter allen Umständen ausgeschlossen – Art.6 Abs.5 des zweiten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen erlaubt sie etwa nach Beendigung der Feindseligkeiten zum Zwecke der nationalen Versöhnung. Doch unterliegen sie relativ klaren völkerrechtlichen Schranken. So kann eine umfassende Amnestie von schweren Menschenrechtsverletzungen (Verletzungen des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit), die zudem die eigenen Sicherheitskräfte begünstigt, nur als völkerrechtswidrig bezeichnet werden. Ebenso gebietet das geltende Völkerstrafrecht eine Reform der Militärgerichtsbarkeit. Nur noch ausschließlich militärische Dienstvergehen dürfen danach in die Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit fallen, während allgemeine Straftaten, zu denen Menschenrechtsverletzungen zählen, vor die zivilen Strafgerichte gehören.
Das Völkerstrafrecht allein wird Menschenrechtsverletzungen sicherlich niemals verhindern können. Es enthält jedoch schon heute Regeln, die die Verantwortlichen als internationale Verbrecher stigmatisieren und ächten können. Diese zum großen Teil noch ungeschriebenen Regeln müssen zusammengeführt und in einem für alle Rechtsordnungen tragbaren Regelwerk kodifiziert werden. Mit der Verabschiedung eines Entwurfs für einen Internationalen Strafgerichtshof im Jahre 1994 und eines internationalen Strafgesetzbuchs im Jahre 1996 durch die ILC sowie entsprechende Alternativ-Entwürfe wurde entsprechende Vorarbeit geleistet. Es geht nun darum, sie zu verbessern.

Kai Ambos

Von Kai Ambos ist erschienen: Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen. Zur impunidad in südamerikanischen Ländern aus völkerstrafrechtlicher Sicht. edition iuscrim, Freiburg i.Br., 1996, ISBN 3-86113-987-7.

Lateinamerika – ein kultureller Hybrid

Der Begriff Hybridisierung ist zentral in deinen beiden letzten Büchern (“Consumidores y ciudadanos” und “Culturas híbridas”, Anm.d.Red.). Du benutzt ihn, um die Veränderungen seit den 70er Jahren in Lateinamerika zu beschreiben. Andererseits scheinst du damit einen neuen Begriff prägen zu wollen im Gegensatz zu anderen, deren Erklärungskraft nicht ausreicht. Was genau meinst du, wenn du von Hybridisierung sprichst?

Ich verwende den Begriff der Hybridisierung um die Vielfalt und das
Potential neuer Kombinationen zu beschreiben. Heutzutage verknüpft sich das Religiöse mit dem Politischen, das Künstlerische mit dem Kommunikativen und um diese Form erklären zu können, ist ein umfassender Begriff notwendig. Schon seit langem haben Menschen in Literatur, Kunst und Kultur über den hybriden Charakter Lateinamerikas nachgedacht und geschrieben, ohne allerdings den Begriff Hybridisierung zu verwenden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein Grossteil der Untersuchungen über mestizaje und sincretismo spielen auf das Phänomen der Hybridisierung an. Ich wollte mich aber gegen diese früheren Arbeiten abgrenzen. Einerseits weil eine Vielzahl von ihnen nur eine einzelne, bestimmte Art von Hybridisierung analysiert. Zum Beispiel ist mit mestizaje immer die Hybridisierung von Menschen”rassen” gemeint. Oder Leute, die über Synkretismus schreiben, meinen nur religiöse Hybridisierung. Ich glaube aber, daß das Besondere seit der Mitte dieses Jahrhunderts ist, daß sich die unterschiedlichen Arten von Hybridisierung vermischen und kulturell miteinander verknüpfen. Es ist nicht mehr so, daß sich nur eine Religion mit der anderen vermischt. Stattdessen gibt es heute immer weniger orthodoxe Formen von Religionen. Dasselbe gilt für ethnische oder soziale Gruppen. Es gibt heute keine “Reinformen” mehr. Stattdessen verknüpfen sich alle diese Formen miteinander.

Welche Verbindungen gibt es zwischen deiner früheren Arbeit “Culturas híbridas” und deinem neuen Buch “Consumidores y ciudadanos”? Was sind die Hauptthemen deiner neuen Arbeit?

In Consumidores y ciudadanos greife ich einige Fragestellungen aus Culturas híbridas wieder auf und betrachte sie in einem anderen Licht. In den fünf Jahren nach dem Erscheinen von Culturas híbridas haben sich die nationalen und internationalen Bedingungen verändert, unter denen Prozesse der Hybridisierung stattfinden. Um nur einige solcher Bedingungen zu nennen: Ich meine den Freihandelsvertrag NAFTA zwischen den USA, Mexiko und Kanada, Mercosur in Südamerika oder einzelne Verträge zwischen Lateinamerika und Europa oder den USA. Auch die Migrationsbewegungen haben sich in den vergangenen Jahren verstärkt. Ich meine, daß Multikulturalismus Hybride erzeugt, und ich glaube, daß Hybridisierungsprozesse zwischen Menschen wichtiger geworden sind als die, die in der Welt des Kapitals und in den Massenmedien vonstatten gehen.
Schließlich haben sich elektronische Kommunikationsnetze ausgebreitet, die den Austausch von Botschaften erleichtern. Diese elektronische Kommunikation wirkt multiplizierend, intensivierend und bis zu einem bestimmten Grad auch demokratisierend. Als E-mail oder Internet ermöglicht sie Prozesse der Horizontalisierung von Kommunikation. Das heißt, Menschen sind nicht nur entweder SenderInnen oder EmpfängerInnen von Nachrichten, sondern können beides sein, vor allem beides gleichzeitig. E-Mail und Internet erweitern aber vor allem auch die Möglichkeiten internationaler Kommunikation. Dadurch können neue Kommunikationskreise zwischen NGOs oder alternativen Gruppen aufgebaut werden, allerdings natürlich auch zwischen den “großen” transnationalen Kräften. All das hat die Bedingungen verändert, unter denen Hybridisierung heute stattfindet.

Wie zeigen sich denn diese Veränderungen im Alltag und wie verändern sie konkret die politische Kultur in Lateinamerika?

Die größeren internationalen Kommunikationskreise breiten sich auch innerhalb der Bevölkerung eines einzelnen Landes immer weiter aus, obwohl bisher nur eine Minderheit der Bevölkerung Zugang zu den neuesten Technologien hat. So werden Formen der Aufnahme und Verarbeitung von Nachrichten und der Aneignung und Verknüpfung von Informationen und Gütern komplexer und vielfältiger, und Hybridisierung nimmt immer komplexere Formen an. In jeder mittelgroßen Stadt ist das Repertoire an Gütern und Nachrichten, die den lokalen Raum überschreiten, vielfältiger als noch vor zwanzig Jahren. Die Möglichkeiten, wie Menschen Nachrichten auswählen und verknüpfen haben sich deshalb vervielfältigt. Alle neuen Forschungen zeigen, daß Menschen Nachrichten nicht passiv empfangen, sondern kontinuierlich und individuell verändern.

Du sagst, daß Lateinamerika gegenwärtig aus “BürgerInnen des 18. Jahrhunderts und KonsumentInnen des 20. Jahrhunderts” besteht. Welche Möglichkeiten intellektueller und praktischer Einflußnahme gibt es heute in Zivilgesellschaften ?

In den letzten Jahren sind traditionelle Formen politischer Represäntation, wie Parteien, Gewerkschaften, StudentInnenorganisationen zerfallen. Öffentlichkeit hat sich von ihren konventionellen Orten weg und hin zur massenmedialen Sphäre verlagert. Die Definition, wer BürgerIn ist und wie Beteiligung aussehen kann, muß sich in diesem massenmedialen Bereich bewegen, wenn sie überhaupt noch eine Bedeutung haben will. Fragen der Repräsentation und der Zugehörigkeit werden heute großenteils in der Sphäre des Konsums, der Aneignung von Gütern und in der Interaktion mit Massenmedien beantwortet und nicht mehr im Verhältnis zu Parteien oder den “klassischen” Institutionen politischer Repräsentation. Internationale ökonomische und politische Zusammenschlüssen zwingen uns, auch Öffentlichkeit international zu denken. Die Definitionen, wer BürgerIn ist und was ihre/seine Rechte und Einflußmöglichkeiten sind, muß also auch die traditionellen Grenzen des Nationalstaats überschreiten.

Läßt sich Politik denn überhaupt außerhalb von Konsum denken?

Ja, ich glaube, Politik existiert außerhalb von Konsumkreisläufen oder erschöpft sich jedenfalls nicht in ihnen. Dennoch findet heute ein Großteil dessen, was wir früher politische Bewußtseinsbildung oder das Schaffen eines kritischen Bewußtseins der Welt genannt haben, in einer Auseinandersetzung mit dem Lebensalltag des Konsums statt, mit Fragen der Lebensqualität, oder der Aneignung von Gütern. Diskussionen drehen sich nicht mehr so sehr um große historische Sprünge oder um die Veränderung ganzer Gesellschaftsmodelle.

Solange ein Großteil der Bevölkerung Lateinamerikas nicht mal Zugang zu minimalem Konsum hat, glaubst du nicht, daß du das Verhältnis von Konsum und Politik und die Rolle von Massenmedien überbetonst? Sind nicht andere soziale Netze und Beziehungen entscheidend, wie zum Beispiel klientelistische Beziehungen in der Politik oder Netzwerke kollektiven Handelns, die überhaupt erst den Zugang zu Mitteln, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, ermöglichen?

Vielleicht ist es hier notwendig, klarzustellen, daß ich in der ersten Hälfte von Consumidores y Ciudadanos vor allem urbane Veränderungsprozeße beschreibe und die Auswirkungen, die die Veränderungen in den großen lateinamerikanischen Städten auf politische Beteiligung haben. Ich betrachte aber diese großen Städte in gewisser Weise auch als massenmediale Systeme, die nicht nur auf ihrem eigenen Territorium vernetzt sind, sondern auch international. Deshalb spreche ich von “Globalen Städten”. Ich will aber nicht andere Netzwerke von Zusammengehörigkeit vergessen, wie zum Beispiel Nachbarschaftsgruppen oder Jugendgruppen. Außerhalb oder neben massenmedialen Netzwerken bleiben diese Gruppen oder andere Formen der Zusammenschlüsse natürlich wichtig, aber beide interagieren auch miteinander.

In deinem Buch forderst du eine neue Art von Intellektuellen, die radikal die Grenzen ihrer Disziplinen überschreiten sollen. Was für ein Profil müssen Intellektuelle haben, die über aktuelle kulturelle Veränderungen nachdenken?

Ich glaube nicht, daß man von einem einzelnen Typ Intellektuellen sprechen kann. Genausowenig wie es ein einzelnes Motiv für politische Bewegungen gibt oder ein einzelnes Gesellschaftsmodell, das im Moment wünschenswert und praktikabel wäre. Ich würde deshalb im Plural sprechen, von den unterschiedlichen Profilen. Ich glaube auch, daß es weiterhin Intellektuelle geben kann, die sich nur einer Disziplin zurechnen und diese dann – teilweise sehr gut – ausüben. Sie sind dann gute SoziologInnen oder AnthropologInnen oder SpezialistInnen in Kommunikation oder Literaturgeschichte. Ich weiß auch, daß es viele institutionelle und vor allem ökonomische Anreize gibt, die dazu führen, daß Leute ihrer Disziplin treu bleiben. Mir aber erscheint es attraktiver, verschiedene Disziplinen zu durchqueren und nach unterschiedlichen Blickwinkeln auf einen Vorgang zu suchen. Daraus will ich aber kein Dogma machen. Im Rückblick auf die letzten zwanzig Jahre kann man sehen, daß die Kulturstudien, die mit dem starken Impetus angefangen haben, Grenzen von Disziplinen zu überschreiten, später dann auch keine allzu großen theoretischen Entwürfe mehr geliefert haben. Jedenfalls haben sie nicht die Existenz der Einzeldisziplinen überflüßig gemacht.

Du selber hast dich zum hybriden Intellektuellen entwikkelt, insofern du viel mehr als früher die US-amerikanischen kulturwissenschaftlichen Debatten in deine Gedanken integrierst…

Wie der Großteil der Menschen vom Rio de la Plata bin ich mit einem ständigen Blick nach Europa großgeworden, vor allem nach Frankreich. Da bin ich dann auch hingegangen, intellektuell und physisch, habe vor allem über Sartre und Merleau-Ponty gearbeitet und später dann mit und über Bourdieu. Der ist für mich auch der attraktivste und systematischste Soziologe überhaupt geblieben. Ich glaube, daß diese Art von umfassenden Intellektuellen wie Sartre, Bourdieu oder auch Habermas theoretische Entwürfe geschaffen haben, die es so nicht mehr gibt. Stattdessen treten heute einzelne Figuren aus unterschiedlichen Ländern hervor. Viele von ihnen leben in den USA. Manche von ihnen arbeiten als Outsider der US-Gesellschaft, wie zum Beispiel die chicanos. Leute wie Renato Rosaldo sagen mir deshalb eine Menge und ich glaube, daß Kulturwissenschaften in den USA deshalb weitaus interessanter sind als sonstwo.

Übersetzung: Silke Steinhilber

KASTEN:
Néstor García Canclini machte seinen Doktor in Philosophie in Paris. Er lebte bis 1976 in Argentinien und zog dann nach Mexiko. Zur Zeit leitet er das Programm “Stadtkultur” an der Universidad Autónoma Metropolitana leitet. 1981 erhielt sein Buch Las culturas populares en el capitalismo den Literaturpreis Casa de las Americas, und 1992 erhielt das Buch Culturas híbridas (Hybride Kulturen) den iberoamerikanischen Buchpreis der Latin American Studies Association als bestes Buch über Lateinamerika der Jahre 1990-1992.

“No pasarán” – schon passé?

Zwei Schwerpunkte sollten auf diesem BUKO-Kongress bearbeitet werden: Die geschichtlichen Bezugspunkte der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen – von den kolonialen Unabhängigkeitskämpfen über die Periode der bewaffneten nationalen Befreiungsbewegungen bis hin zum Zusammenbruch des Realsozialismus und der mehr oder weniger zeitgleichen Abwahl der Sandinisten – sowie die aktuelle Situation der linken Parteien und Bewegungen in Lateinamerika, als eines Spektrums, das von der die Massen einbindenden PT in Brasilien bis zur EZLN mit ihrer neuen Art des Diskurses und ihrer eigentümlichen und faszinierenden Rhetorik reicht.
Linke Traditionen
Zum Auftakt spannte Wilfried Dubois den geschichtlichen Bogen emanzipatorischer Bewegungen in Lateinamerika. Angefangen vom Tupac Amaru-Aufstand in Peru Ende des 18. Jahrhunderts und den Sklavenaufständen in Haiti, über die mexikanische Revolution und die Werdegänge der verschiedenen lateinamerikanischen KPs in den Zeiten der 3. Internationale, über die Rebellentruppe von Sandino, der vergeblichen Auflehnung gegen die Militärregierungen in Guatemala und El Salvador, bis zur Landung der Granma am 2. Dezember 1956 in Kuba.
Anschließend beschäftigte sich Knut Rauchfuß mit der Entwicklung der Stadt- und Landguerilla von 1959 bis 1976. Eine Periode, die in erster Linie durch den von Che Guevara und Regis Debray geprägten Begriff des foquismo gekennzeichnet ist: Die bewaffneten Aktionen ländlicher Widerstandsgruppen (foco = Brandherd, Brennpunkt) sollen schrittweise einen allgemeinen Volksaufstand auslösen.
Eine andere bestimmende Debatte dieser Zeit war die Kontroverse bewaffneter Kampf versus Revolutionierung der Gesellschaft durch das Parlament. In Chile beispielsweise wurden diese gegensätzlichen Standpunkte einerseits durch die revolutionäre MIR-Bewegung und andererseits durch die regierungsbildende Unidad Popular vertreten.

Nationaler Befreiungskampf im Hinterhof

In den 70er Jahren, zu einer Zeit als der foquismo bereits an Bedeutung verlor, betraten die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen die politische Bühne. Allen voran, aufgrund ihres militärischen Sieges eindeutige Zeichen setzend, die FSLN.
Albert Sterr ging in einem Referat über die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen auf die sehr unterschiedlichen Wurzeln und Bezugspunkte ihrer heterogenen Mitgliederschaft ein. Sie bezogen sich auf so unterschiedliche Quellen wie die der Überlebenden der Bewegungen der 60er Jahre (Nicaragua, Guatemala), der Basiskirche (El Salvador, Nicaragua), und den diskriminierten ethnischen Mehrheiten (Guatemala).
Die gemeinsame Basis, auf der diese Bewegungen wachsen konnten, war die schwindende politische Legitimation gewalttätiger Familien-/Militärdiktaturen, die durch offensichtlich gescheiterte “Modernisierungsprojekte” zusätzlich geschwächt wurden. Hinzu kam eine in weiten Teilen der Bevölkerung nationalistisch-antiimperialistische Haltung, die sich als Folge der klassischen “Hinterhof der USA”-Situation entwickelte.

Abgewürgte Konsruktivität

Eine Ende der 70er Jahre in Europa sozialdemokratisch geprägte Politik, die “sanfte” US-Außenpolitik der Carter-Regierung sowie die eigenständige, prolateinamerikanische Außenpolitik Mexikos und Venezuelas ließen Spielräume für eine revolutionäre, von den Massen akzeptierte Politik in Mittelamerika und erleichterten den Aufbau und Zusammenhalt der Befreiungsbewegungen unter Einbindung unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte.
Albert Sterr verwies hier auf die Politik der FSLN sowie auf die bedauernswerte Tatsache, daß diese nach mehreren Seiten offene Herangehensweise im Grunde nach 1982/83 keine substantielle Änderung mehr erfuhr, sondern schlichtweg der externen aufoktroyierten Aggression zum Opfer fiel. Dieser Außendruck – der bereits während der Carter-Administration einsetzte – führte zu einer Militarisierung beziehungsweise Lähmung der Gesellschaft und damit zum Abbruch konstruktiver politischer Entwicklungsprozesse.

Von der Uniform zur Krawatte

In der heutigen Situation der teilweisen Einbindung der ehemaligen Freiheitskämpfer in die legale politische Bühne stellt sich, so Albert Sterr, erneut eine Legitimationsfrage. Militärische Befehlshaber werden zu kompromißfreudigen zivilen Politikern und gehen auf demagogische Verhandlungsangebote ein.
Eine Umorientierung, die sich, so Sterr, bereits vor dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 abzeichnete. Dieser noch keineswegs vollendete Prozeß ist widersprüchlich und schmerzhaft, ohne jedoch bislang zu direkten Auflösungserscheinungen der ehemaligen Befreiungsbewegungen zu führen. Hier spätestens stellten sich die Fragen nach dem Verbleib des ursprünglichen linken Anspruchs und den realistischen Alternativen, die diese Bewegungen heute noch haben: Ist eine Integration in die Institutionen des bestehenden politischen Systems der erstrebenswerte Kompromiß? Muß es früher oder später zu Spaltungen kommen? Ist die Teilnahme innerhalb der “Zivilgesellschaft” nicht letztendlich ein “Rübergezogenwerden”? Dies alles muß sich, speziell was die aktuelle Entwicklung in El Salvador und Guatemala angeht, noch herausstellen.

Ökonomische Programme “unter aller Sau”

Diskutiert wurden auch die wirtschaftlichen Konzepte der Befreiungsbewegungen. Klammert man den Krieg als kontraproduktiven Faktor aus, so bleibt vor allem Konzeptlosigkeit. Die SandinistInnen zum Beispiel beschränkten sich auf lediglich partielle Eingriffe in den Privatbesitz. Betrachtet man die ökonomischen Programme, die die militärisch mehr oder weniger erfolgreichen Befreiungsbewegungen auf die Beine stellten, so muß man – ungeachtet ihrer Nicht-Durchsetzbarkeit aufgrund der externen Bedrohung – feststellen, so Sterr, “daß sie unter aller Sau waren”.

Wegbereiter für Demokratie

Insgesamt läßt sich jedoch feststellen, daß es den mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen immerhin gelang, die Prozesse absoluter Verarmung und Überausbeutung zumindest zu bremsen, sowie Freiräume zu schaffen, in denen Begriffe wie Demokratie und Meinungsfreiheit wieder mit Inhalten gefüllt werden. Man mag angesichts der abrupten Kehrtwendungen und Sozialdemokratisierung ehemaliger Kampfgenossen anderer Meinung sein und diese als moralische Verräter empfinden: Vom bequemen Diskussionsschemel aus verurteilt sich’s leicht. Es gilt letztendlich zu berücksichtigen, daß Politiker wie zum Beispiel Joaquín Villalobos in El Salvador immerhin jahrelang ihr Leben im Untergrund für die Bevölkerungsmehrheiten eingesetzt haben – ein Engagement ohne das heute vieles nicht denkbar wäre.
Bei der Beurteilung des Scheiterns oder Nicht-Scheiterns von lateinamerikanischen Guerillabewegungen sollte man jedoch differenzieren: was ist wo und warum gescheitert? So kann man etwa die eher pragmatischen Bewegungen Mittelamerikas nicht mit dem dogmatisch verkrusteten Sendero Luminoso in die gleiche Guerilla-Schublade stecken. Es gilt sowohl regional als auch zeitlich, und nicht zuletzt auch ideologisch, zu unterscheiden und je nachdem unterschiedliche Erklärungsmodelle zu finden.

Kontinentale Vernetzung – das Foro Sao Paulo

Alfonso Moro, ein der FZLN nahestehender, zur Zeit in Paris lebender mexikanischer Journalist und Historiker, gleichzeitig der einzige lateinamerikanische Linke unter den Vortragenden, dokumentierte aus seiner Sicht die Lage der Linken und die Ansätze zur Koordination, die sich seit 1990 im Foro Sao Paulo manifestieren. Nach Moros Einschätzung könne man von einem Scheitern der Linken in Lateinamerika nicht sprechen, obwohl Unkoordiniertheit eines ihrer Charakteristika sei. Er sieht eine dringende Notwendigkeit darin, die Heterogenität und Diversität der Linken und ihre von Land zu Land unterschiedliche Verankerung zu beachten. So stehen etwa der brasilianischen PT, mit einer Basis von 600.000 Mitgliedern, über 50 linke Splittergrüppchen im Nachbarland Argentinien gegenüber. Eine derartige Vielfalt an einen Tisch zu bringen, könnte man wohl als das Hauptanliegen des Foro Sao Paulo bezeichnen, das 1990 auf Initiative der kubanischen KP und mithilfe der PT zum ersten Mal stattfand. Das Foro sollte keine Ersatz-Internationale werden, sondern die verschiedenen linken Strömungen des Kontinents zusammenbringen. Positiv ist zu den sechs Foros, die in jährlichem Abstand stattgefunden haben, anzumerken, daß sie als Novum einen anti-dogmatischen Diskussionsraum für alle “ista’s” und “ismo’s” bieten, und die neuen Eckpfeiler linker Politik auf dem Kontinent thematisieren: den Kampf gegen den Neoliberalismus, Demokratisierung und Wiederannäherung an die Macht.

Die neuen Lehren des Don Durito

Zum Abschluß analysierte Jutta Klaß die neue Art der ZapatistInnen, linke Politik zu machen. Im Mittelpunkt ihres Vortrags standen der Diskurs der EZLN, ihr an indigenen Traditionen orientiertes Demokratieverständnis sowie die aktuelle, brisante Situation in Mexiko nach dem Auftauchen der EPR-Guerilla.
Durch das Anknüpfen an Volks- beziehungsweise Maya-Mythen zeigt sich ein Lernprozeß innerhalb des zapatistischen Aufstandes. Das Aufgreifen indigener Konzepte innerhalb des Diskurses bedeutet nicht nur einen Erfrischungseffekt, sondern auch einen Bruch mit den sattsam bekannten Avantgarde-Traditionen und somit ein Bekenntnis dazu, sich tatsächlich für deren ureigenste Forderungen einzusetzen: Besagte Absage an die Machteroberung, die Impulse an die Basis zur Selbstorganisation, ein nicht nur formales, sondern an die konkrete Praxis in den Indígena-Gemeinden angelehntes Demokratieverständnis, die Eingliederung sozialer Bewegungen und die Integration eines historischen Selbstbewußtseins aus 504 Jahren Widerstand.
Letzteres ist auch treibender Motor und nach außen gekehrte Legitimation der neu aufgetretenen Guerilla EPR: sie beziehen sich auf die Guerrilla-Führer Cabañas und Vasquez aus den siebziger Jahren. Wesentliche Unterschiede gegenüber den Anliegen der EZLN liegen jedoch zum einen im Revolutionsprinzip – die EPR votiert für eine militärische Option, für die Machteroberung und gegen Verhandlungslösungen – und in den praktizierten Rekrutierungs- und Finanzierungsmethoden, die an Caudillismo erinnern. Obgleich es keine offizielle Abgrenzung zwischen EZLN und EPR gibt, warnt Subcomandante Marcos – der sich seitens der EPR den Vorwurf gefallen lassen muß, daß mit Poesie keine Kriege zu gewinnen seien – doch vor einer potentiellen Kontraproduktivität dieser neuen Guerilla, wenn auch deren Auftauchen vermutlich letztendlich unvermeidbar war.
Nach Moros Einschätzung ist es weder richtig noch angebracht von einem Scheitern der lateinamerikanischen linken Befreiungsbewegungen zu sprechen. Wenn auch das ursprünglich durchaus im Vordergrund stehende Ziel einer politischen Umwälzung in keinem der zu Popularität gelangten Fälle erfolgreich umgesetzt werden konnte, so muß man doch die Teilerfolge in Rechnung stellen. Stichworte wie Demokratisierung, Meinungsfreiheit sowie die Aufklärung von vertuschten beziehungsweise verdrängten Menschenrechtsverbrechen haben heute einen hohen Stellenwert.
Die lateinamerikanische Linke ist – so Alfonso Moro – durchaus lebendig. Sie ist jedoch auch mit einigen enormen Herausforderungen konfrontiert, unter denen als erstes der Neoliberalismus zu nennen ist. Weitere zu thematisierende Aspekte sind die Konfrontation mit der politischen Instabilität (wie derzeit in Mexiko), die Institutionalisierung linker Politik (wie etwa im Falle der brasilianischen PT), sowie die eher “neuen” Themen wie Frauen, Migration, Umwelt und kultureller Identität.
Bei der Abschlußdiskussion des Treffens in Radevormwald wurde bedauert, daß der Diskussionsteil zu kurz kam. Die Realisierung eines “Foro Remscheid Lennep” innerhalb von 2 1/2 Tagen wäre natürlich wünschenswerter gewesen als eine Bestandsaufnahme im Sinne eines “von dann … bis dann… ist dies erreicht, dies nicht erreicht worden”. Es gelang jedoch, mit dem kompakten Programm eine Aktualisierung und Verortung des linken Spektrums in Lateinamerika vorzunehmen. Eine Art Grundlage – diskutieren kann man ja immer noch.

Literarische Labyrinthe, politische Verirrungen

Während der Berliner Filmfestspiele im Februar 1995 wurde ein Programm aus kurzen Arbeiten argentinischer Nachwuchsregisseure vorgestellt. Einer der Filme erzählt die Geschichte eines Fahrstuhls, der nicht mehr funktioniert. Zwar bewegt er sich, und auf der Anzeige flackert mal der neunte, mal der zehnte Stock auf, doch ankommen will die Kabine nirgends. Schuld daran ist keine technische Panne, sondern ein Gedankenspiel. Im Fahrstuhl befinden sich ein Professor und ein Student, und da dieser in der Vorlesung nicht recht mitgekommen ist, bittet er seinen Lehrer um eine nachträgliche Erläuterung zu demjenigen der Zenonschen Paradoxe, demzufolge das Überwinden einer räumlichen Distanz unmöglich ist. Der Professor kommt der Bitte nach und erklärt: Bevor eine Strecke zurückgelegt werden kann, muß zunächst die Hälfte dieser Strecke bewältigt werden, davor jedoch wiederum die Hälfte der Hälfte, davor die Hälfte der Hälfte der Hälfte undsoweiter. Da sich die Halbierung der Distanz bis ins Unendliche vervielfältigen läßt, ist ein Ankommen undenkbar.
In dem Augenblick, in dem der Student zu verstehen beginnt, versagt der Fahrstuhl seinen Dienst, kann er doch, dem Paradox zufolge, den zehnten Stock nicht erreichen. Zunächst verfallen beide, Professor und Student, der Ratlosigkeit, Angstschweiß fließt, bis jener auf die Idee kommt, die ganze Geschichte noch einmal zu erzählen, und zwar vom Ende her aufgerollt. Und tatsächlich läßt sich der Fahrstuhl davon beeindrucken; als die beiden zur Bitte des Studenten nach Erläuterung zurückkehren, geht auch die Bewegung der Kabine nicht länger ins Leere, und sie finden sich wohlbehalten im zehnten Stock wieder.

Die Welt gerät aus den Fugen

Was und wie der Film des jungen Regisseurs erzählt, ist ohne Zweifel eine Hommage an Jorge Luis Borges. Die Paradoxe Zenons, samt ihrer unerbittlichen Logik, spielen in mehr als einer Erzählung des 1899 in Buenos Aires geborenen Schriftstellers eine prominente Rolle und gehören zu den liebsten seiner zahlreichen, verzwickten Denkfiguren, wie auch Lotterien, Labyrinthe und Bibliotheken. Auch die im Film vorgeführte Nähe von Humor und Schrecken ist charakteristisch für Borges. Denn wieder und wieder gelingt es seinen Texten, das vermeintlich reibungslose Funktionieren unserer Systeme in Frage zu stellen. Die Welt, wie wir sie kennen und denken, gerät für einen Augenblick ins Schwanken, und in die Erschütterung hierüber mischt sich das Lachen. Die Geschichte vom Fahrstuhl, wie sie der junge argentinische Regisseur erzählt, öffnet ein Fenster zu jener Welt, in der sich Borges’ Erzählungen, Essays und Gedichte bewegen. Und zugleich zeigt sie, daß diese fantastische, komische und im selben Atemzuge schreckensreiche Welt weiterlebt – auch nach dem Tod des Autors.
Dabei ist der Film nur ein Beispiel aus vielen anderen, mit denen sich Borges’ Nachhall illustrieren läßt. Was der Argentinier – oftmals im Grenzbereich von literarischer und essayistischer Form – in Textsammlungen wie Discusión (1932, Diskussionen), Ficciones (1944, Fiktionen) oder El hacedor (1960, Borges und ich) erarbeitet, findet ein überwältigendes Echo. Und dies nicht allein in Argentinien beziehungsweise Lateinamerika, sondern auch dort, wo der Kontinent über lange Zeit hinweg literarische terra incognita war: in Europa und den USA.
Borges, und das ist zweifellos eines seiner Verdienste, gelang es wie vor ihm keinem zweiten, über die Grenzen Lateinamerikas hinaus ein Bewußtsein für die Existenz und den Wert der dort produzierten Literatur zu schaffen, obwohl – oder gerade weil – seinen Texten eine spezifisch argentinische oder lateinamerikanische Qualität abgesprochen wurde. “Niemand hat weniger Vaterland als Jorge Luis Borges”, heißt es etwa im Vorwort zur französischen Ausgabe der Ficciones, die 1951 beim rennomierten Verlag Gallimard erschienen. Daß ausgerechnet diese Textsammlung eine Reihe ins Leben rief, die sich unter dem Titel La Croix du Sud (Das Kreuz des Südens) der Verbreitung lateinamerikanischer Literatur in Frankreich verschrieb, ist dabei nicht mehr und nicht weniger als eines jener Paradoxe, die Borges selbst so viel Freude bereiteten.

Borges als Mittler zwischen den Welten

Wie auch immer es um jene argentinidad bestellt sei, die Borges nicht nur in Europa abgesprochen wurde: Fest steht, daß sich durch ihn die Wahrnehmung lateinamerikanischer Literatur verschob. Wurde diese oft genug als epigonale Nachahmung europäischer Modelle belächelt, der es bestenfalls gelang, mit reichlich Lokalkolorit das Bedürfnis nach Exotik zu stillen, so hat sich dieses Rezeptionsmuster durch die Texte des argentinischen Schriftstellers geändert. Noch bevor sich die Autoren der sogenannten Boom-Generation wie Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa oder Carlos Fuentes Gehör verschaffen konnten, hatte sich durch Borges ein Dialog ergeben. Ein Austausch, der das angestammte Verhältnis von kulturellem Zentrum und kultureller Peripherie wenigstens ein wenig aus den Fugen geraten ließ.

Unbestreitbar…

Zahlreiche Autoren, Literaten wie Theoretiker, berufen sich auf ihn – unter ihnen so bekannte wie Umberto Eco, Paul de Man, Italo Calvino, Jacques Derrida, Paul Auster oder Michel Foucault, um nur einige von vielen möglichen Namen zu nennen. Aber auch jüngste literarische Entwicklungen, wie etwa die Hyperfiction, jene Computerliteratur, die sich anschickt, die Linearität des Textes und die Macht des Autors endgültig aufzubrechen, läßt sich in ihrem Kerngedanken auf Borges zurückführen. Allein sein Fortwirken in der gegenwärtigen Literatur- und Theorieproduktion ist Grund genug zur eingehenden Lektüre seiner Essays, Erzählungen und Gedichte.
Dabei ist Jorge Luis Borges alles andere als eine unumstrittene Figur. Seine Texte sind schwierig – nichts darin verführt zur eiligen Lektüre, zum gemütlichen Schmökern. Labyrinthe aus echten wie erfundenen Zitaten sorgen für Verwirrung, und noch da, wo es erzählerischer zugeht – etwa in der Detektivgeschichte La muerte y la brújula (1951, Der Tod und der Kompaß) – verflechten sich die Anspielungen zu einem kaum entzifferbaren Gewebe. Borges’ Texte fordern einen Leser, der mitarbeitet, einen lector macho, wie sich Julio Cortázar einmal in ironiefreiem Männlichkeitswahn ausdrückte und womit er nichts anderes als den mündigen Leser meinte. Vielleicht war es dieser Schwierigkeitsgrad, der für so manchen Vorwurf sorgte: Die Erzählungen seien Literatur, die sich aus nichts anderem als Literatur speise, bloßes intellektuelles Spiel, in sich selbst verliebte Gelehrtheit.
Etwas anderes aber wog schwerer: Wieder und wieder war es die Person Borges selbst, die angegriffen wurde – in Lateinamerika ebenso wie in Europa. Denn im Unterschied zu anderen Schriftstellern wie Pablo Neruda oder Gabriel García Márquez, deren Literatur, ohne jemals in Propaganda abzustürzen, politische Facetten birgt, ist von solchem Engagement bei Borges nichts zu spüren. Im Gegenteil. Wie keinem anderen lateinamerikanischen Autor haftet ihm der Ruch des Reaktionären an; und er selbst unternahm wenig, diesen Vorwurf zu entkräften. Wurde die kubanische Revolution von zahlreichen lateinamerikanischen Intellektuellen gefeiert, begrüßte Borges die Invasion in der Schweinebucht. Für Franco fand er lobende Worte, und während der Militärputsch 1973 für zahlreiche Chilenen Exil – oder schlimmer noch: Folter, Verschwinden und Mord – bedeutete, hatte Borges nichts besseres zu tun, als 1976 aus Pinochets Händen das Großkreuz des Verdienstordens Bernardo O’Higgins entgegenzunehmen. Seine Haltung gegenüber der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 war zumindest am Anfang von Sympathie gezeichnet, und auch wenn er sich später distanzierte: Seine politischen Verfehlungen sind nicht zu leugnen.

…umstritten

Nun gibt es verschiedene Wege, mit den dunklen Flecken in Borges’ Biographie umzugehen. Der einfachste ist Strafe durch Nichtbeachtung – in Deutschland lange Zeit der Fall. Anders als in Frankreich hatten es Borges’ Texte schwer, hierzulande bekannt zu werden, und Schuld daran war nicht nur eine konservative Romanistik, die mit lateinamerikanischer Literatur ihre Schwierigkeiten hatte, sondern auch ein Klima in intellektuellen Kreisen, das die Lektüre von Guevaras Tagebüchern eher begünstigte als die Beschäftigung mit einem als reaktionär verrufenen Schriftsteller. Die Solidarität mit den Unterdrückten dieser Erde verband sich mit einer bestimmten Erwartungshaltung – nicht zuletzt auch an deren Literaturen.

Der Autor ist tot

Andere betonen die literarische Qualität von Borges’ Arbeiten und versehen diese Wertschätzung mit einem dick unterstrichenen obwohl: Da er großartig schreibt, verdient er es, wahrgenommen zu werden, obwohl er “wie ein Dinosaurier denkt” – wie es Pablo Neruda einmal in einem Interview formulierte. Es läßt sich aber noch ein dritter Weg denken, der sich nicht zuletzt aus Borges’ eigenen Arbeiten ableitet. Denn das Ende der Autorschaft im herkömmlichen Sinne, in zeitgenössischer Literaturtheorie längst ein Gemeinplatz, ist bei Borges in seiner ganzen Radikalität erprobt worden. Dabei scheut er sich nicht, auch die eigene Person voller Selbstironie zu zerlegen:
“Es wäre übertrieben zu behaupten, daß wir auf schlechtem Fuß miteinander stünden;” heißt es in dem kurzen Prosastück “Borges und ich” von 1960, “Ich lebe, ich lebe so vor mich hin, damit Borges seine Literatur ausspinnen kann, und diese Literatur ist meine Rechtfertigung. Ich gebe ohne weiteres zu, daß ihm hie und da haltbare Seiten gelungen sind, aber diese Seiten können mich nicht retten, vielleicht weil das Gute schon niemandes Eigentum mehr ist, auch nicht des anderen Eigentum, sondern der Sprache oder der Tradition angehört.” Konsequent schließt “Borges und ich” mit der Bemerkung: “Ich weiß nicht einmal, wer von uns beiden diese Seite schreibt.”
Man mag diesen kurzen Text als bloßes Gedankenspiel abtun. Wer schrieb jene Seite? Eine kokette Frage, ließe sich einwenden, denn natürlich war es kein anderer als Borges. Wer aber ist Borges, könnte man zurückfragen; und spätestens hier wird es schwierig. Ist der Borges, der 1932 Discusión veröffentlichte, derselbe, der 15 Jahre später erblindete? Ist der, der 1942 in Zusammenarbeit mit seinem engen Freund Adolfo Bioy Casares unter dem Pseudonym H. Bustos Domecq die Kriminalgeschichten Seis problemas para don Isidro Parodi (Sechs Aufgaben für Don Isidro Parodi) herausgab, derselbe, der 1961 gemeinsam mit Samuel Beckett den Formentor-Preis erhielt? Und ist der, der 1976 aus Pinochets Händen einen Orden empfing, derselbe, der sich in den dreißiger Jahren so vehement gegen die Hitler-Diktatur aussprach? Wer ist der Autor von El tiempo circular (Die kreisförmige Zeit), einem Text zwischen Essay und Erzählung, der von Platon zu Nietzsche, von Schopenhauer zu Marc Aurel springt, der sich also in ein bereits bestehendes Geflecht anderer Texte hineinwebt? Kann der Rückschluß von der Biographie auf das literarische Produkt überhaupt etwas aussagen? Und ist nicht die scheinbar unverbrüchliche Allianz von Werk und Person ein Irrglauben, der sich nur dann aufrecht erhalten läßt, solange das Subjekt als unumstößliche Einheit gilt?
Die Vorwürfe, die man angesichts der politischen Fehleinschätzungen Borges’ erheben kann, sind angebracht. Sie auf seine Texte zu übertragen, ist Unsinn. Zumal es noch einen ganz einfachen Grund gibt, warum Borges nicht aufhört lesenswert zu sein: Man kann seine Texte wieder und wieder lesen, ohne sich je zu langweilen. Jede neue Lektüre fördert unentdeckte Details zu Tage, noch beim zehnten Wiederlesen stößt man auf Anspielungen, die einem zuvor entgangen waren. Die schreckensreiche, fantastische, komische Welt vermag es stets den Leser von neuem zu faszinieren – und das ist eine Gabe, die nicht jeder literarische Text für sich beanspruchen kann.

Sprinter Kohl in Lateinamerika

Die erste Station: Argentinien
Zwölf Jahre nach seinem ersten Argentinien-Besuch traf Bundeskanzler Kohl am 14. September in Buenos Aires ein. In Argentinien wurde dieser Besuch als der bedeutendste seit der Visite des damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, George Bush, im Jahr 1990 gehandelt.
Seit 1989 richtete sich der Blick der deutschen Wirtschaft hauptsächlich gen Osten. An den ersten großen Privatisierungswellen in Argentinien wurde nur beobachtend teilgenommen. Telefon-, Flug-, und Erdölgesellschaft wie auch die Wasser-, Gas-, Stromversorgungsunternehmen sind nun in spanischer, französischer oder nordamerikanischer Hand, die sich daran eine goldene Nase verdienen. Die bevorstehende Privatisierung der argentinischen Flughäfen soll nun nicht ohne deutsche Beteiligung geschehen. Der Prozeß der Wiedervereinigung und die Ostorientierung der deutschen Wirtschaft soll einem Engagement in Argentinien nicht mehr im Wege stehen. Rechtssicherheit, die Investitionen auch mittel- und langfristig sichern, wirtschaftlich stabile Rahmenbedingungen und politische Kontinuität werden nun seitens der Wirtschaft besser eingeschätzt als noch vor Jahren, müssen aber nichtsdestotrotz weiterhin ausgebaut werden. Fragen der Verteilungsgerechtigkeit sind nur indirekt von Belang, der soziale Frieden und damit die politische Stabilität darf durch eine allzu ungleiche Verteilung nicht aufs Spiel gesetzt werden.

Internationale Unterstützung

Nur eine Woche nachdem der Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) Camdessus und der Präsident der Welthandelsorganisation (WTO) Ruggero in Buenos Aires die jüngste wirtschaftliche Entwicklung Argentiniens lobten, ordnete sich Kohl in diese illustre Reihe ein. Er bezeichnete den seit Anfang der neunziger Jahre verfolgten neoliberalen Wirtschaftskurs als sehr mutig und empfahl Menem ihn beizubehalten. Die Argentinier sollten sich in “Sturmzeiten” in Geduld üben, da letztendlich die Reformen ihre Wirkung zeigen und sich die Opfer auszahlen würden.
Die Parallelen zu der deutschen Wirtschaftssituation liegen für Kohl auf der Hand. Aus diesem Grund vertrat er die Meinung, daß in der heutigen Zeit, in der Globalisierung und die Standortkonkurrenz die Realität beherrschen, es keine Alternative – weder für Argentinien noch für Deutschland – zu einer Politik der Kostenreduktion, der Arbeitsflexibilisierung und der Neudefinition des Sozialstaates gäbe.
Nur mit gleichwertigen Partnern wie Argentinien, mit denen mensch viel gemeinsam habe, unter anderem die Vorliebe für die Marktwirtschaft, könnten die globalen Herausforderungen – Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Armut – gemeinsam gemeistert werden.
Menem kann die Unterstützung durch Kohl derzeit gut gebrauchen: Seine Popularität und damit auch die seiner Politik hat einen Tiefpunkt erreicht. Die Geduld der Bevölkerung, auf deren Rücken die Anpassungsmaßnahmen durchgeführt werden, geht zu Ende. Bisher war es Menem gelungen, dank des “Inflationsbekämpfungsbonus” die Menschen immer wieder zu vertrösten. Die Zeiten der Hyperinflation Ende der achtziger sind noch sehr gut im Gedächtnis. Um die gewonnene Stabilität nicht aufs Spiel zu setzen wurden viele Opfer in Kauf genommen. Das letzte Sparpaket aber (siehe LN 266/267) brachte das Faß zum überlaufen. Der Generalstreik am 8. August legte das Land fast vollständig lahm – die OrganisatorInnen sprachen von einer neunzigprozentigen Streikbeteiligung. Damit nicht genug. Am 26. und 27. September erfolgte der nächste Generalstreik. 36 Stunden wurde gegen die Austeritätspolitik der Regierung protestiert. Auf der Plaza de Mayo, vor dem Regierungsgebäude, versammelten sich 70.000 DemonstrantInnen, die größte Demonstration seit 1989. Bemerkenswert ist, daß zu dem Streik der regierungsnahe Dachverband der Gewerkschaften aufrief und sowohl von dem Oppositionsdachverband als auch den Oppositionsparteien unterstützt wurde.

Allgegenwärtige Wirtschaft

So wie die wirtschaftlichen Probleme die Alltagssorgen der ArgentinierInnen dominieren, beherrschten wirtschaftliche Interessen den Kanzler-Aufenthalt. Und zwar auch dann, wenn der öffentliche Auftritt gar nicht im Zeichen der Wirtschaft stand. So geschehen beim Empfang der deutsch-argentinischen Gemeinschaft in der 1897 gegründeten Goethe-Schule. In der mit etwa 2000 Gästen überfüllten Turnhalle genoß Kohl ein Bad in der Menge. In Deutschland wäre ein solches Unterfangen an jenem Wochenende – nachdem die Kanzlermehrheit das Kürzungspaket im Bundestag endgültig verabschiedet hatte – wohl nicht sehr ratsam gewesen. Doch hier, in geschlossener Gesellschaft, etwa 30 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt in einem wohlhabenden Wohnbezirk und abgeschottet von jeglichen sozialen Spannungen, war dieses gefahrlos möglich. Seine zum Ärger mancher Presseleute nicht ins Spanisch übersetzte Rede stand im Zeichen des deutsch-argentinischen Kulturaustausches, an dem die deutschen Schulen einen großen Anteil hatten. Ganz in seinem Sinne wurde die deutsch-argentische Freundschaft kulinarisch besiegelt. Dabei war es sicher kein Zufall, daß er sich zum Abschluß medienwirksam mit einem Becher Warsteiner erfrischte, hat doch Warsteiner kürzlich in ihre argentinische Tochtergesellschaft Isenbeck 80 Millionen Dollar investiert. Diese avancierte so zu einer der größten Brauereien des Landes. Die Rückfahrt erfolgte in einem von Mercedes Benz an die argentinische Regierung gestifteten Bus. Es war zwar kein Sprinter, aber der gute Stern auf allen Wegen war dabei nicht zu übersehen.
Claudia Martínez/Martin Spahr

Zweite Station: Kohl in Brasilien

Dreißig Stunden Staatsbesuch sind nicht viel Zeit, aber es reicht allemal, um sich ein wenig als Regenwaldbewahrer ins Rampenlicht zu rücken. Deutschland ist in dieser Disziplin nämlich führend unter den G-7-Nationen, wie die Brasilianer im September aus berufenem Munde erfuhren: “Alle reden, während wir zahlen”, brüstete sich Helmut Kohl bei einem Frühstück mit Industrievertretern in Brasilia. Gemeint hat er damit unter anderem die 187 Millionen US-Dollar, die Deutschland für ein kürzlich bewilligtes EU-Pilotprojekt in Amazonien ausgeben will. Mit dem Geld sollen nachhaltige Entwicklungsmodelle im größten Regenwaldgebiet der Erde finanziert werden. Brasilien probt derweil den schlanken Staat. Nachdem im Juni eine Studie ergab, daß der Regenwald im Moment schneller abgeholzt wird als noch zur Zeit des Erdgipfels in Rio 1992, wurde als Gegenmaßnahme das Abholzen einiger Edelholzarten verboten – eine überaus schlanke und kostengünstige Maßnahme. Dabei sollten die Beamten in Brasilia doch wissen, daß in Amazonien das Gesetz nicht viel wert ist. Immerhin mußte die Sicherheit der Gemeindewahlen Mitte Oktober dort mit Hilfe der Bundesarmee sichergestellt werden, weil sonst Großgrundbesitzer und kleine Industrielle mit bewaffneten Milizen für einen genehmen Wahlausgang sorgen. Die Soldaten ziehen nach dem Urnengang wieder ab, und mit ihnen vermutlich die staatliche Indianerstiftung FUNAI (Fundacao Nacional do Indígena), die im Zuge der Verminderung des Staatsdefizits aufgelöst werden soll. Ihre Aufgabe war es bislang, die Indianer vor der Gier der Goldsucher und Holzfäller und vor dem nackten Überlebenswillen von landlosen Siedlern zu schützen. Man braucht gar nicht darauf zu warten, daß das EU-Pilotprojekt in dieser Hinsicht etwas bewirkt.
Aber sicherlich hat Helmut Kohl recht, wenn er sagt, daß es Industriestaaten gibt, die weniger für Umweltschutz in Brasilien bezahlen als Deutschland. Brasilien selbst zum Beispiel, das in weiten Teilen ein Industriestaat ist und im Moment andere Probleme als den Raubbau im Dschungel meistern muß. Einige sind ganz ähnlich gelagert wie bei uns: Brasilien wie Deutschland wollen unbedingt einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, ein hohes außenpolitisches Ziel, für das sich die Diplomaten Staatsbesuch um Staatsbesuch gegenseitige Unterstützung zusichern. Das brasilianische Staatsdefizit (3,72 Prozent des BIP) ist wie das deutsche zu hoch, und hier wie dort will die notwendige Reform des Sozialversicherungssystems nicht so recht gelingen. Wenn Brasiliens Staatsoberhaupt Fernando Henrique Cardoso in seiner Begrüßungsrede für Kohl dessen Erfolg bei der Reform des Renten- und Krankenversicherungssystems lobt, so nur, um seinem Kongreß ein wenig Beine zu machen. Denn für eine Reform des Staates braucht es jedesmal eine Verfassungsänderung, also eine Drei-fünftel-Mehrheit in beiden Kammern. Und diese Reformen sind nach Meinung von vielen WirtschaftsanalytikerInnen der einzige Weg, um Präsident Cardosos bislang erfolgreiche Antiinflationspolitik – die einer Regierungsstudie zufolge seit der Währungsreform im Juli 1994 die Zahl der Armen in den Ballungsgebieten um zwanzig Prozent vermindert hat – in einen nachhaltigen wirtschaftlichen Boom umzuwandeln. Ein wenig boomt es jetzt schon. 5 Prozent Wachstum für 1996 sind nicht umwerfend viel, auch wenn einige ganz zufrieden sein können: etwa der deutsche Elektrokonzern Siemens, der Telefonanlagen und Kraftwerkturbinen verkauft, und dessen Gewinn in Brasilien im Vergleich zum Vorjahr um satte 400 Prozent gestiegen ist. In den nächsten fünf Jahren, so weissagt die deutsch-brasilianische IHK, werden jährlich Direktinvestitionen in der Höhe von einer Milliarde US-Dollar nach Brasilien fließen. Ganz vorne mit dabei: die Automobilhersteller Volkswagen und Mercedes, die in Europa keine wachsenden Märkte mehr sehen und den Anschluß an den Mercosur nicht verpassen wollen. Brasilien wird in Zukunft das einzige Land außer Deutschland sein, in dem Mercedes die legendären Luxusautos mit dem Stern anfertigen läßt. “Die Qualität der Produktion”, so ein Sprecher von Mercedes Benz do Brasil selbstbewußt, “ist in Brasilien so gut wie in Deutschland.” Den Reichen, die sich auch im Mercosur angemessen fortbewegen möchten, bietet Brasilien noch zwei weitere Chancen für deutsches Geld: eine Reihe von Staatsunternehmen stehen zur Privatisierung an, aus so lukrativen Sektoren wie Rohstoffabbau, Telekommunikation und Häfen. Und schließlich ist da noch die “Industrie der Zukunft”, wie Helmut Kohl betonte: Umweltschutz-Technik aus Deutschland, nicht im Regenwald, sondern dort, wo die Industrialisierung bereits mit Wucht zugeschlagen hat. Gewinn für Deutschland verspicht nicht der Regenwald, sondern die riesigen Müllhalden der Großstädte und die ungeklärten Abwässer der Industrie.
Martin Virtel

Lateinamerika-Konzept der Bundesregierung

Das Bundeskabinett beschloß am 17. Mai 95 das Lateinamerika-Konzept. Dieser Maßnahmenkatalog, der nicht nur das Engagement der deutschen Wirtschaft in Lateinamerika, sondern auch die technische und politische Zusammenarbeit fördern soll, wurde vom Auswärtigen Amt, dem Wirtschaftsministerium und dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gemeinsam mit dem Bund der Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT) und dem Ibero-Amerika-Verein (IAV) erarbeitet. Diese Art der Zusammenarbeit zwischen Bundesregierung und Industrie ist nicht neu: Eine ähnliche Initiative war schon 1993 ins Leben gerufen worden, als die Asien-Strategie in Zusammenarbeit mit dem Asien-Pazifik-Ausschuß der deutschen Wirtschaft entstand. Im Gegensatz zu Asien kann im Fall Lateinamerika auf eine jahrzehntelange Präsenz aufgebaut werden.
Als Anlaß für die konzertierte Aktion wird ein Brief der deutschen Wirtschaftsverbände an Kanzler Kohl gesehen, in dem davor gewarnt wurde, daß die Deutschen den wirtschaftlichen Anschluß in Lateinamerika verpassen würden. Dabei sei das verlorene Jahrzehnt in Lateinamerika doch vorbei und der Subkontinent auf dem besten Wege zu einer politisch und ökonomisch stabilen, wachstumstarken Region. Obwohl es noch Nachholbedarf bei der sozialen Lage und der Menschenrechtssituation der indianischen Völker gebe, seien Fortschritte im Demokratisierungsprozeß, beim Aufbau von rechtstaatlichen Systemen und der Wahrung der Menschenrechte zu verzeichnen. Zusätzlich bemühten sich die Regierungen der jungen Demokratien – mit freundlicher und tatkräftiger Unterstützung der Wirtschaftsexperten des Internationalen Währungsfonds (IWF) – wirtschaftspolitische Veränderungen in Richtung Marktwirtschaft nach neoliberalem Vorbild durchzuziehen: Stabilisierungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Inflation, Deregulierung der Märkte, Liberalisierung der Handel- und Kapitalströme. Zudem werden durch die Privatisierung der maroden Staatsbetriebe Anstrengungen unternommen, die Staatshaushalte zu konsolideren. Klare Zeichen dafür, daß die Reformen ernst gemeint sind und die jahrzehntelange Binnenorientierung vorbei ist. Hinzu kommt der offene Integrationsprozeß (NAFTA, Mercosur, Andenpakt), der zu einer Ausweitung des intraregionalen Handels geführt und damit einen Beitrag zum Erfolg der Wirtschaftsentwicklung geleistet hat.
Die deutsche Wirtschaft hat diesen Prozeß beobachtet, ohne sich aber stark an ihm zu engagieren: an den Privatisierungen waren überwiegend die Nordamerikaner, Franzosen, Spanier und Italiener beteiligt. Marktanteile gegenüber den Japanern, dessen Engagement in Lateinamerika schon vor einigen Jahren stieg, ging verloren. Zwar leisteten im Jahr 1995 die deutschen Tochtergesellschaften in Brasilien und Mexiko fast 15 Prozent der nationalen Industrieproduktion, die Exporte in die Region sind aber nur unterproportional gegenüber den Exporten in Richtung Süd-Ost-Asien und Osteuropa gewachsen. Die deutsche Wirtschaft befürchtet nun, daß durch den Wandel neue Wirtschaftsbeziehungen entstehen, die mittel- und langfristig auf Kosten der deutschen Lieferanten gehen. Um diesem Trend entgegenzuwirken soll nun Vater Staat der deutschen exportorientierten Wirtschaft unter die Arme greifen. Kräfte sollen gebündelt werden und politischen Rückhalt für die Rückgewinnung verlorenen Terrains erhalten: Durch Regionalkonferenzen mit Beteiligung deutscher Regierungsvertreter, Entsendung von Wirtschaftsdelegationen und einer aktiven Messepolitik sollen den Latinos die Produkte “Made in Germany” wieder schmackhaft gemacht werden. Gute Chancen werden in den Bereichen der Umwelt- und Verkehrstechnologie, Kraftwerkbau, Stromverteilung und Telekommunikation gesehen. Besondere Unterstützung bei der Vermarktung ihrer Produkte soll der deutsche Mittelstand erfahren, dessen Angst vor wirtschaftspolitischen Rückschlägen noch nicht ganz genommen werden konnte. Er soll in besonderem Maß durch einen verbesserten Informationsservice über potentielle Wirtschaftpartner von dem engen Netz bilateraler Handelskammern profitieren.

Mogelpackung Lateinamerika-Konzept

Die vorangigen Bemühungen der Bundesregierung beschränken sich derweil aber nur auf die Erweiterung bestehender, beziehungsweise der Erschließung neuer Märkte auf dem Subkontinent, der 450 Millionen Menschen beherbergt und ein Bruttosozialprodukt von über 1 Billion Dollar aufweist: Ein riesiger Absatzmarkt, der nicht allein den anderen Industrienationen überlassen werden soll. Laut Angaben der Vereinten Nationen sind aber vierzig Prozent der Bevölkerung an dem jetzigen wirtschaftlichen Aufschwung nicht beteiligt. In einem Interview mit der argentinischen Tageszeitung La Nación anläßlich der Konferenz in Buenos Aires im Juni 1995 bekannte Rexrodt Farbe: im Mittelpunkt der Analyse seien die ökonomischen Aspekte. Damit werden andere wie politische Kooperation, Entwicklungshilfe und Umweltschutz mal wieder diesem Ziel untergeordnet. Bei der Lektüre des dritten Kapitels des Lateinamerika-Konzeptes über Entwicklung und Umwelt stechen hochgesteckte Ziele hervor, die zur Zeit anscheinend in Vergessenheit geraten sind: die Länder Lateinamerikas sollen “auf ihrem Weg zu einer friedlichen und nachhaltigen Entwicklung” unterstützt werden. Dieses sei nur in einem “entwicklungsfördernden Umfeld”, mit einer marktwirtschaftlichen und sozialen Wirtschaftsordnung in ökologischer Verantwortung möglich. Entwicklungsorientiertes staatliches Handeln, die Achtung der Menschenrechte, die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozeß und Rechtssicherheit müsse ebenfalls gewährleistet werden. Schwerpunkte seien dabei unter anderem die Bekämpfung der Armut und die Entwicklung des Ressourcen- und Umweltschutzes. Wenngleich Kohl während seiner Reise auch immer wieder auf die sozialen Aspekte hinwies, die im Wachstumsprozeß nicht außer acht gelassen werden dürften, war sein Schwerpunkt ein anderer. Er lobte die mutigen Stabilisierungs- und Anpassungsprogramme. Die hohen sozialen Kosten blieben nachgeordnet, die weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich ebenso. Die tendenziell kapitalintensiven deutschen Investitionen, insbesondere aus der Autobranche, haben relativ geringe Beschäftigungseffekte. Der Beitrag zur Verbesserung der Beschäftigungssituation und damit der soziale Situation bleibt schwach. Somit verkommt das Lateinamerika-Konzept zu einem simplen Exportförderungspaket.
Martin Spahr

Dritte Station: Mexiko

Mariachi-Musik, jede Menge wohlklingender Reden und begeisternd kreischende Schulkinder – vom Kanzler Besuch in Mexiko bleibt vor allem Stimmung. Ansonsten fällt die Bilanz von insgesamt 10 öffentlichen Kohl-Auftritten in nur zwei Tagen mager aus: konkret vereinbart wurde nichts. Der Bundeskanzler versicherte seinen Gastgebern, daß die deutsche Fixierung auf die Einheit nun vorbei sei. Die Bundesregierung werde nun auch in Richtung Lateinamerika wieder aktiver – mit Mexiko als einem Schwerpunktland. Mexikos Präsident Ernesto Zedillo empfing den Kanzler als den Architekten der deutschen Vereinigung und größten Europäer. Er lobte die Rolle der deutschen Investoren, die 1995 mehr Geld in Mexikos Wirtschaft pumpten (eine Milliarde DM) als in jedes andere Schwellenland der Welt. In so gut wie allen Nachrichtensendungen des nationalen Fernsehens war die Kohl-Visite der Aufmacher. Die völlig überfüllte Pressekonferenz des Kanzlers wurde in einem Kanal sogar live übertragen. Dem deutschen Regierungschef, schon 14 Jahre an der Macht, schlug offene Bewunderung entgegen. Viele Mexikaner sahen den mächtigen Mann, der ihren eigenen Präsidenten um mehr als Haupteslange überragte, als Repräsentanten von Europas größter Wirtschaftsmacht und als eine Möglichkeit, sich von der erdrückenden Abhängigkeit von den USA zu befreien. Mexiko drängt seit langem schon auf ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union (EU) und hofft dabei auf deutsche Unterstützung. Diese hatte Außenminister Kinkel bei seinem Besuch im April auch zugesagt, sich jedoch anschließend bei der Agrarlobby in Brüssel eine blutige Nase geholt. So gab es denn die absehbare herbe Enttäuschung. “Wir verhandeln nicht mehr über ein Freihandelsabkommen”, hieß es während der Kanzler-Visite von deutscher Seite. Für die nun im Oktober beginnenden Verhandlungen zwischen EU und Mexiko wurde hastig ein neuer Begriff erfunden: Progressive Handelsliberalisierung. Im Klartext: Die Zölle sollen runter, aber nur für Waren, die keinem weh tun. Heikle Produktgruppen wie mexikanischer Honig, Bananen oder gerösteter Kaffee werden ausgeklammert und weiterhin an den Zollhürden der EU scheitern. Dennoch versicherte der Kanzler: “Wir wollen ein europäisches Haus errichten, keine Festung.”
Ein weiterer Mißerfolg: wie zuvor schon Klaus Kinkel konnte auch Helmut Kohl das lange schon avisierte Investionsschutzabkommen nicht mit nach Hause bringen. Denn Bonn beharrt auf der Änderung einer Enteignungsklausel in der mexikanischen Verfassung und damit ist vor den Parlamentswahlen nächstes Jahr nicht zu rechnen.
Kohls erster Mexiko-Besuch seit dem Endspiel um die Fußball-Weltmeisterschaft 1986 blieb im wesentlichen eine Werbetour für die Lateinamerika-Initiative der Bundesregierung und ihre Beteuerungen, zukünftig nicht mehr nur nach Osteuropa und Asien zu schielen, wenn es um wirtschaftliche Wachstrumsregionen geht. Die Chemie bei diesem Besuch jedoch stimmte. Bei der Grundsteinlegung für den Neubau der deutschen Schule in Puebla bereiteten hunderte Jungs und Mädels dem Kanzler einen euphorischen Empfang, führten folkloristische Tänze auf und sangen auf deutsch das Lied: Die Gedanken sind frei. Und Präsident Zedillo, ein ernster Mann, nahm sich ungewöhnlich viel Zeit für seinen Gast, traf sich insgesamt dreimal mit ihm. Im Volkswagen-Werk in Puebla zwängte er sich schließlich sogar gemeinsam mit ihm in einen handgearbeiteten Prototypen des Käfer-Nachfolgers New Beetle hinein. VW (mit 12 000 Beschäftigten größter deutscher Arbeitgeber in Mexiko) und Zulieferer wollen sich den Aufbau dieser Produktion insgesamt rund 1,5 Millarden DM kosten lassen. Das neue Auto soll nur in Mexiko gebaut und von hier aus in die ganze Welt exportiert werden. Bundeskanzler Kohl bezeichnete Mexikos Präsidenten bei einer Tischrede als ungewöhnlich offen und sympathisch, äußerte Bewunderung für die von ihm eingeschlagene Politik in den ersten 20 Monaten seiner Amtszeit. Zedillo hat Mexikos Wirtschaft in der schwersten Krisensituation seit über 60 Jahren übernommen und fährt seither einen harten Anpassungskurs mit hohen sozialen Kosten. Tags darauf, beim Frühstück mit deutschen und mexikanischen Unternehmern, mahnte Kohl, mehr auf den inneren Frieden im Lande zu achten. Der Abstand zwischen Arm und Reich im Land der Azteken ist so groß wie fast nirgendwo sonst. In der Forbes-Weltrangliste der US-Dollar-Milliardäre steht Mexiko auf Platz 5 – gleichzeitig aber leben hier 50 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze.
Luten Peer Leinhos

Mexiko im Umbruch

Dieter Boris hat ein zutiefst konservatives Buch über Mexiko geschrieben. Konservativ im Beharren auf wissenschaftlichen Standards und in der Qualität seiner Argumentation. Es ist kein journalistischer Schnellschuß. Für die LeserInnen bedeutet dies den nicht immer mühelosen Nachvollzug einer konzentrierten und problemorientierten Betrachtung der mexikanischen Entwicklung seit 1982, einer Bilanz der neoliberalen Strukturanpassungspoltik.
“Zugespitzt formuliert: Steht die neoliberale Politik, die über zwölf Jahre in besonders rigoroser Form in Mexiko durchgeführt wurde, vor einem Scherbenhaufen?” (Boris, S.2) Das Buch gliedert sich neben einer historischen Einführung in drei große Abschnitte: die Betrachtung der beiden Präsidentschaftsperioden von Miguel de la Madrid 1982-88 und Salinas de Gortari 1988-94, die Auswirkungen dieser Präsidentschaftsperioden auf die wirtschaftlichen Sektoren und die Veränderungen in der sozialen Struktur der mexikanischen Gesellschaft sowie die politischen und sozialen Akteure in diesen Zeiträumen. Umrahmt werden diese Abschnitte von Betrachtungen der tiefen Krisen von 1982 und 1994 – wobei zumindest für die Krise 1982 gilt, daß sie gleichzeitig den Wendepunkt einer bis dahin geführten Konzeption der importsubstituierenden Industrialisierung Mexikos markiert, während die Krise 1994 zwar die inneren Blockierungen der neoliberalen Konzeption offenlegte, aber: “Der Umbruch der Gesellschaft hat unter neoliberalen Vorzeichen begonnen, wohin er ökonomisch und politisch führen wird, bleibt ungewiss.”

Ausgangsbedingungen der neoliberalen Wende

Im folgenden soll etwas näher auf die Ausgangsbedingungen des neoliberalen Projekts, seine Auswirkungen und inneren Widersprüche eingegangen werden. Betrachtet man die ökonomischen und politischen Ausgangsbedingungen der neoliberalen Wende in Mexiko, so können sie als günstig bezeichnet werden. Dies gilt in dreifacher Hinsicht:
1. die besonderen Schuldendiensterleichterungen (nach 1982) seitens der USA im Gefolge der Brady-Initiative;
2. die verbesserten Marktzugangsmöglichkeiten Mexikos zu den USA infolge des NAFTA-Abkommens und weitere bilaterale und multilaterale Unterstützungsmaßnahmen;
3. die immer noch funktionierenden sozial-integrativen Mechanismen Mexikos, die garantierten, daß eine harte und länger währende Austeritätspolitik, ohne größere soziale und politische Proteste von der Bevölkerung hingenommen werden (Vgl. Boris, S.3).
Das Herzstück der mexikanischen Modernisierungspolitik bildete ohne Zweifel die schon im Anfang der Präsidentschaftsperiode von Miguel de la Madrid unter großem publizistischen Aufwand formulierte reconversión industrial. Was sind nun die Ergebnisse dieser industriellen Restrukturierung und die realen außenwirtschaftlichen Wirkungen dieser neoliberalen Modernisierung? Die erste Bilanz, bezogen auf das Wachstum des industriellen Sektors in den 12 Jahren, ist mehr als bescheiden. Es betrug im Durchschnitt der Jahre 1982-1988 nur 0,14 Prozent und erhöhte sich in der Präsidentschaftsperiode von Salinas zwischen 1989 und 1994 um circa 3,7 Prozent pro Jahr. Diese Zuwachsraten liegen damit weit unter denen der so heftig kritisierten Importsubstitutionsphase in den 50er und 60er Jahren (Vgl. Boris S.112/113). Betrachtet man die einzelnen Industriezweige, so gab es die Gewinner der Strukturanpassungspolitik (Petrochemie/Chemie/Grundstoffe/Bau- und Automobilindustrie), die Zweige, in denen sich Wachstum und Schrumpfung die Waage hielten (vor allem Konsumgüterindustrien) sowie die klaren Verlierer (Lebensmittelindustrien, Textil, Tabak, Kosmetik, Maschinenbau und Transportmittel außer Automobilbau). In der Quintessenz dieser Strukturanpassung für den industriellen Sektor ist von einer Polarisierung der Produktionsstruktur zu sprechen. So beschrieb die Zeitschrift Expansión 1987 die Situation Mexikos mit den Worten: “En medio de la crisis las 500 estan de fiesta” (Inmitten der Krise befinden sich 500 in einer Fiesta”, Boris, S.115).
Die neoliberalen Reformen haben bislang keine generelle Produktivitätsanhebung bewirken können. Reallohnabsenkung, massive Arbeitskraftfreisetzungen und Konzentration auf einige Unternehmensgruppen begründeten im wesentlichen das vielzitierte “Neoliberale Wunder” (Vgl. Boris, S.118). Auch die außenwirtschaftliche Verflechtung mit den USA hat sich in diesem Zeitraum verstärkt. 1994 kamen 69 Prozent aller Importe aus den USA (1976: 62 Prozent) und die mexikanischen Exporte gingen zu knapp 85 Prozent in die USA (1976: 56 Prozent). Dieses partielle Exportwunder verschleiert zudem, daß die ProduzentInnen – landwirtschaftliche oder industrielle – den Binnenmarkt verlieren. Es gibt einen Rückgang des Prozesses der Importsubstitution und eine zunehmende Unfähigkeit, den ausländischen Konkurrenten auf dem eigenen Markt zu begegnen (Vgl. Boris, S.132). Dazu paßt, daß sich die ausländischen Direktinvestitionen zwischen 1982 und 1993 verfünffachten (von 10,8 Mrd. auf circa 56,3 Mrd. US-Dollar) und die Bedeutung der Maquiladora-Industrie (Lohnveredelungsindustrie) in diesem Zeitraum im Grenzgebiet zu den USA dramatisch angestiegen ist; von circa 580 Betrieben mit 130.000 Beschäftigten auf 2.000 Betriebe mit rund 540.000 Beschäftigten. Das sind fast 20 Prozent aller industriellen mexikanischen Arbeitskräfte. Im Kontrast zu diesem Wachstum weisen die einschlägigen sozialen Indikatoren (Einkommensverteilung, Minimallohnentwicklung, durchschnittlicher Reallohn, Arbeitslosigkeit, Armutsausmaß) auf eine klare Verschlechterung der Lage der Masse der Bevölkerung hin (Vgl. Boris, S.137). Zwar kam es unter Salinas zu Einkommensverbesserungen, aber in 12 Jahren neoliberaler Politik wurde das Lohnniveau von 1982 nicht annähernd wieder erreicht. Auch die Einkommenspolarisierung hat sich in diesem Zeitraum zugespitzt. Während 1984 die obersten 10 Prozent im Vergleich zu den untersten 10 Prozent ein neunzehnmal größeres Einkommen erzielten, hatte sich diese Differenz 1989 auf das 24fache erhöht.
Auf weitere Aussagen in Bezug auf die Entwicklung des Agrarsektors, der Sozialstruktur und des politischen Systems muß an dieser Stelle mit Verweis auf die entsprechenden Kapitel im Buch von Dieter Boris verzichtet werden. Zum Schluß soll auf die internen krisenauslösenden Blokkierungen des Neoliberalen Modells eingegangen werden (Vgl. Boris, S.220 ff). Vordergründig stellte sich die Krise 1994 als explosive Mischung aus der staatlicherseits längerfristig hingenommenen Überbewertung des Peso, eines Leistungsbilanzdefizits, einem hohen Zinsfuß und dem starken Anstieg der Außenverschuldung über kurzfristig fällig werdende und in US-Dollar rückzahlbare Staatspapiere, sogenannte Tesobonos, dar. Diese Faktoren der Krisenauslösung sind entweder selbst direkt Ergebnis der Defizite neoliberaler Politik oder der Preis für erreichte positive Zielsetzungen (Inflationsbekämpfung) im Rahmen dieser Politik. Diese Blockierungen (Boris verweist in diesem Zusammenhang auch auf Brasilien und Argentinien, da in diesen Ländern ähnliche Faktoren wirken) sind in folgenden Punkten zu sehen:
1. Ein hoher und anhaltender Schuldendienst verhindert den Haushaltsausgleich und heizt die Inflation an.
2. Ein zum Zweck der Inflationseindämmung tendenziell fixierter Wechselkurs führt zu einer Überbewertung der nationalen Währung, damit zu einer Exportschwäche und Begünstigung der Importe – vor allem, wenn das interne Inflationstempo größer ist als das des wichtigsten Handelspartners, im Falle Mexikos der USA.
3. Dieses Passivsaldo (1994 circa 28 Mrd. US-Dollar) kann nur durch Kapitalzuflüsse (Kredite/Geldkapitalanlagen, Direktinvestitionen) kompensiert werden. Diese Zuflüsse sind zum Teil kurzfristig und hochspekulativ. Steigt irgendwo anders der Zinsfuß, so fließen die Geldanlagen wieder ab.
4. Zum Zweck der Inflationseindämmung ist die “Über”nachfrage (herrschende Meinung) über Haushaltskürzungen, Lohnkürzungen und eine restriktive Geldpolitik zu beschränken. Dies beeinträchtigt die Binnenkonjunktur und die realen Investitionen im Inneren.
Diese Faktoren führen zwangsläufig zu sich immer wieder zuspitzenden Krisen und keineswegs zu einem stabilen, sozialen und ökonomischen Wachstum.
Dieter Boris´ Buch verdient die Aufmerksamkeit aller, die sich ernsthaft mit dem Neoliberalen Modell und seinen immanenten Widersprüchen auseinandersetzen wollen. Ein vergleichbares Buch gibt es auf dem deutschsprachigen Markt nicht. Zusätzlich wünschenswert wäre ein eigener Abschnitt im Buch über die regionale Struktur Mexikos und das Militär. Beides könnte in Zukunft noch eine wichtige Frage werden, da mit dem Wachstumspol im Norden und mit den armen Provinzen im Süden ein starkes regionales Gefälle entstanden ist und sich in den Südprovinzen der Einfluß des Militärs in den letzten Monaten erheblich verstärkt hat.

Dieter Boris: Mexiko im Umbruch. Modellfall einer gescheiterten Entwicklungsstrategie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1996, 263 Seiten mit Literaturverzeichnis und Tabellen, 59 DM (ca. 30 Euro).

Paraguay – Am Nasenring durch die Arena

So einfach schien das Spiel für General Lino Oviedo zu sein. Man rebelliert gegen den Präsidenten, macht ihm deutlich, daß die Streitkräfte mehrheitlich auf der anderen Seite stehen, und schon tut der düpierte Präsident öffentlich kund, den Putschisten demnächst als Verteidigungsminister in Amt und Würden sehen zu wollen. Beinahe wäre es genauso gekommen, hätten sich nicht die mehrheitlich oppositionellen ParlamentarierInnen einer solchen Manifestation politischer Peinlichkeit entgegengestellt. Worauf Präsident Wasmosy verlauten ließ, er habe die Stimme des Volkes vernommen, die Ernennung Oviedos zum Minister sei damit hinfällig. Was Satire scheint, ist Realität.
Juan Carlos Wasmosy hatte nie den Ruf, ein besonders starker Präsident zu sein, und niemand in Paraguay dürfte daran gezweifelt haben, daß die Streitkräfte nach wie vor eine Bastion politischer Macht im Lande darstellen. Trotzdem ist die Offensichtlichkeit atemberaubend, mit der Oviedo den Präsidenten als machtlos vorführt. Daß Militärs auch in den parlamentarischen Demokratien Lateinamerikas im Hintergrund die Fäden ziehen und wesentlichen Einfluß besitzen, ist nicht neu. Aber kaum einmal ist, seit dem Ende der Diktaturen in Lateinamerika, ein Präsident von einem ihm “untergebenen” General so am Nasenring durch die Arena gezogen worden, im Publikum die durch das Stichwort “Putsch” alarmierte Weltpresse.
Lino Oviedo dürfte vor seiner Rebellion gewußt haben, daß ein Militärputsch nach klassischem Muster das Land in die Isolation geführt hätte. Die negative Reaktion der übermächtigen Mercosur-Partner Argentinien und Brasilien war abzusehen, ebenso der Protest der Clinton-Administration. Es spricht für sich, daß sich Oviedo schon nach wenigen Tagen auf das Arrangement mit Präsident Wasmosy einließ. Aber innenpolitisch hat er klargestellt, daß die paraguayischen Streitkräfte auf ihrer Machtposition bestehen.
Der “Putschversuch” wirft ein deutliches Licht auf den Zustand so mancher parlamentarischen Demokratie in Lateinamerika. Einerseits läßt der internationale Kontext keine Alternative zu: Die parlamentarisch-demokratische Fassade muß stehen, um sowohl von den USA als auch von den regionalen Mächten anerkannt zu werden.
Andererseits sind durch die innenpolitischen Machtverhältnisse die Möglichkeiten begrenzt, demokratische Grundprinzipien wie Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit oder Kontrolle der Regierung durch die Opposition tatsächlich durchzusetzen und im Konfliktfall auch beizubehalten. Daß das Militär derjenige politische Faktor ist, der am wenigsten zur Aufgabe seiner Machtstellung bereit ist, gilt in Paraguay mehr als anderswo.
Oviedo scheint diese ambivalente Stellung der Armee sehr genau begriffen zu haben und verkörpert sie gewissermaßen in seiner Person. Er stand 1989 an der Spitze jener Rebellion, die General Stroessner stürzte und hatte, zumindest bis zum jüngsten “Putschversuch”, den Ruf eines loyalen, die demokratische Fassade achtenden Militärs. Aber er war es auch, der als Armeechef 1993 die Kandidatur seines Parteikollegen Wasmosy unterstützte und höchstwahrscheinlich auch mit unsauberen Methoden bei dessen Wahl nachhalf. Wasmosy ist kein unabhängiger Präsident, und nicht zu letzt Oviedo hat dafür gesorgt, daß er es nicht sein kann.
Dem General werden seit Jahren Ambitionen auf den Präsidentensessel nachgesagt, und es ist durchaus möglich, daß er mit seinem Image des starken Mannes breite Wählerschichten für sich gewinnen kann.
Sollte so wie in anderen lateinamerikanischen Ländern auch in Paraguay die Unzufriedenheit mit dem parlamentarisch-demokratischen Alltag groß genug sein, spricht nichts dagegen, daß sich eine Mehrheit der WählerInnen für einen Kandidaten Oviedo entscheiden könnte. Die Ereignisse der letzten Wochen wären dabei eher ein Plus als ein Minus für Oviedos Position in der Wählergunst. Gar so eindeutig gegen die Militärs muß die “Stimme des Volkes” nicht schallen.
Auch wenn der direkte Durchmarsch Oviedos ins Verteidigungsministerium gestoppt zu sein scheint, die nächste Präsidentschaftswahl kommt bestimmt. Man wird Lino Oviedo bei dieser Gelegenheit wohl wiedersehen und darf gespannt sein, ob die demokratischen Spielregeln dann eine Rolle spielen. Denn Artikel 236 der paraguayischen Verfassung läßt die Präsidentschaftskandidatur von Putschisten nicht zu.

Guategate

Jennifer Harbury, Rechtsan­wältin aus New York, war mit einem Führer der Guerilla Natio­nale Revolutionäre Einheit Gua­temalas (URNG), Efraín Bámaca Velásquez, verheiratet. Seit Bá­maca 1992 auf Anordnung eines guatemaltekischen Oberst ver­haftet und ermordet wurde, ver­suchte Harbury, die Wahrheit über den Tod ihres Mannes zu erfahren. Durch einen Hunger­streik im März vor dem Weißen Haus erzwang sie, daß endlich Licht ins Dunkel kam: Der de­mokratische Kongreßabgeord­ne­te Robert Torricelli, gut unter­rich­tetes Mitglied des Geheim­dienstausschusses, trat am 22. März mit wichtigen Informatio­nen an die Öffentlichkeit.
Gehaltsempfänger des CIA gibt Mordaufträge
Zunächst ging es um zwei Mordfälle. Michael DeVine, US-amerikanischer Staatsbürger, war Hotelbesitzer in Poptún, Provinz Petén, und wurde 1990 von gua­temaltekischen Militärs umge­bracht. Für seinen Tod wie für den des erwähnten Efraín Bá­maca Velásquez ist in erster Li­nie Oberst Julio Roberto Alpírez verantwortlich. Alpírez wurde in Argentinien und den USA “nach­rich­tendienstlich” ausge­bildet und war unter Präsident Vinicio Ce­rezo (1986-1991) Chef der Si­cherheitsabteilung des Ge­ne­ral­stabs. Er wurde spä­ter zum Lei­ter der Truppenaus­bil­dungs­stätte Kaibil in der nördlichen Pro­vinz Petén er­nannt, wo er den Mord an De­Vine in Auftrag ge­ge­ben hat. Außerdem war Al­pí­rez stellver­tretender Komman­dant der Mi­litärzone San Marcos im Südwe­sten Guatemalas, wo die Kaserne liegt, in der Bámaca ge­foltert und ermordet wurde. Bei beiden Morden war Alpírez per­sönlich anwesend. Mittler­wei­le ist er zweiter Leiter der Mi­litärbasis La Aurora in Gua­temala-Stadt.
Den Informationen Torricellis zu­folge war Alpírez vom CIA für Spionagetätigkeit bezahlt wor­den. Daß die USA dem gua­te­maltekischen Militär seit Mitte der achtziger Jahre offiziell Mil­lionenbeträge überwiesen, ist be­kannt. Die Hilfe wurde erst ge­stoppt, als sich 1990 Menschen­rechtsverletzungen durch das Militär häuften und die Aufklä­rung des Mordes an DeVine von der Regierung Cerezo behindert wurde.
CIA zahlt
trotz Zahlungsstopp
Der CIA hat jedoch entgegen der offiziellen Politik weiter an Alpírez gezahlt, obwohl er wußte, daß dieser die Verant­wortung für DeVines Tod trug. Wie Torricelli in einem anony­men Brief mitgeteilt wurde, habe der CIA seit Monaten ver­sucht, die Angelegenheit zu ver­tuschen. Nach Angaben des US-Justiz­mi­ni­steriums haben Ge­heim­dienst­ler bereits bela­stendes Ma­terial ver­nichtet, um die Auf­klä­rung der beiden Mor­de zu er­schwe­ren.
In der US-Presse erschienen daraufhin Meldungen, die weit über den konkreten Fall Alpírez hinausgingen. Auch der frühere Ver­teidigungsminister Héctor Gra­majo, der bei den diesjähri­gen Präsidentschaftswahlen kan­di­dieren will, stand auf der Ge­haltsliste des CIA, ferner die drei letzten Chefs der militärischen Todesschwadron G-2, die den ver­harmlosenden Titel “Militär­nach­richtendienst” trägt. Der ehe­malige G-2-Chef Edgar Go­doy Gaitán beispielsweise war im Amt, als 1990 die US-ameri­kanische Anthropologin Myr­na Mack ermordet wurde.
Das US-Wochenmagazin “The Nation” gab am 31. März an, daß jahrzehntelang Agenten des CIA als Ausbilder in der G-2 tätig waren. Finanziell hat der CIA das guatemaltekische Heer mit fünf bis sieben Millionen US-Dollar jährlich unterstützt – trotz des Zahlungsstopps seit 1990 und der Kenntnis über die brutalen Morde der Geldemp­fänger. Laut ai töteten G-2 und ei­ne Todesschwadron na­mens Archi­vo, innerhalb der letz­ten 17 Jahre über 110.000 ZivilistInnen.
Die bekanntgewordenen Ver­bindungen zwischen Regierun­gen, Militärs und Geheim­dien­sten beider Länder und den im Bür­gerkrieg verübten Morden brach­ten einige Untersuchungen und Gerichtsprozesse in Gang. Die Zahlungen des CIA an Gua­te­mala sind laut US-Außenmini­ster Christopher sofort eingestellt worden. CIA-Direktor William Stu­deman wies indessen den Vor­wurf der direkten Beteili­gung an den Morden an DeVine und Bámaca zurück. Er räumte je­doch ein, daß Alpírez dem CIA seit 1991 als Hauptverantwortli­cher am Tod DeVines bekannt ge­wesen sei, daß man den Kon­takt zu ihm jedoch aufrechter­halten und ihm 1992 44.000 US-Dollar ausgezahlt habe, um ihn in die USA zu locken und vor ein Strafgericht zu bringen.
Clinton beruft Ermittlungs­ausschuß
Am 30. März hat Bill Clinton in Washington Ermittlungen über die eigenmächtigen Aktivi­täten des CIA in Guatemala an­geordnet und einen Ausschuß einberufen. Vorsitzender ist der Staatsanwalt von Washington, Anthony Harrington, der ein vorläufiges Ergebnis binnen 90 Tagen in Aussicht stellte. Der Ausschuß wird sich in besonde­rer Weise mit der Geheimhal­tungspraxis des CIA beschäfti­gen müssen. Den zuständigen Stellen in der US-Regierung wa­ren wichtige Informationen vor­enthalten worden. Bereits im Fe­bruar hatte die US-amerikani­sche Botschafterin in Guatemala, Marilyn McAfee, den örtlichen CIA-Chef aus ihrer Botschaft abberufen lassen, weil er sie mangelhaft informiert hatte. Zugleich sind Kreise in der US-Armee und der Nationalen Si­cherheitsbehörde NSA in den Fall verwickelt, und die frühere Regierung von George Bush steht unter dem Verdacht, die geheimen Zahlungen überhaupt erst angewiesen zu haben.
Warren Christopher bot Gua­temala Anfang März an, bei der Aufklärung der Morde an De­Vine und Bámaca durch Agenten der Bundespolizei FBI zu helfen. Die Hilfe stehe zur Verfügung, sobald Guatemala seine Politik der Straffreiheit aufgebe.
Die USA fordern seit Jahren eine konsequente Strafverfol­gung von Menschenrechtsverlet­zungen in Guatemala ein, beson­ders im Zusammenhang mit dem Mord an DeVine. Aber auch diesmal sind die Aussichten auf ein ordentliches Gerichtsverfah­ren gegen Alpírez und andere Beschuldigte nicht gut. Alpírez wurde zwar gerichtlich verhört, danach aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Er arbeitet nach wie vor in der hauptstädtischen Mi­litärbasis La Aurora.
Präsident Guatemalas gibt Schützenhilfe
Der frühere Menschenrechts­beauftragte und jetzige Präsident Ramiro de León Carpio hat un­terdessen erneut bewiesen, daß die Hoffnungen auf Demokrati­sierung und Rechtsstaatlichkeit, die sich mit seinem Amtsantritt vor zwei Jahren verbanden, nicht aufgehen. Er stellte sich hinter Al­pírez, bestritt wie der Oberst selbst des­sen Beteiligung an den Morden, empfahl ihm, eine Ver­leumdungsklage einzuleiten, und beschuldigte im Gegen­teil den CIA, die Morde verübt zu haben.
Es müßte ein Wunder gesche­hen, wenn wirklich einmal Tat­sachen über die eigenmächtige Politik des CIA an die Öffent­lichkeit kämen. Das es diesen dunklen Bereich gibt, ist klar, aber selten ist er konkret faßbar geworden. Ausgelöst durch die Beharrlichkeit der engagierten Rechtsanwältin Jennifer Harbury und den Mut eines eher rechtsge­richteten Kongreßabgeordneten be­steht jetzt die Chance dazu. Es ist mit großer Spannung abzu­warten, was der Untersuchungs­ausschuß und andere von der Geschichte Betroffene zutage fördern.
Das Angebot der USA, mit FBI-Leuten in Guatemala aufklä­ren zu helfen, gibt dennoch An­laß zur Besorgnis. Es hieße, den Teufel mit dem Beelzebub aus­zutreiben, denn die verschie­denen Geheimpolizeien und Nachrichtendienste beider Län­der sind offenbar zu eng inein­ander verzahnt, als daß man auch nur halbwegs Objektivität er­warten dürfte. Aufklärungsarbeit können hier nur unabhängige, in­ter­nationale Kräfte leisten, und die Nachforschungen werden zu kurz greifen, wenn sie sich nicht zu­gleich auf CIA, G-2, gua­te­maltekisches Militär und an­dere In­stitutionen richten. Die Aus­sich­ten dafür stehen be­kanntlich schlecht. Wird statt dessen das FBI in Guatemala aktiv, dürfte sich die Entmilitari­sierung des ge­schundenen Lan­des weiter hi­naus­zögern.

Deutsches Exil in Lateinamerika

Lateinamerika stand bei der Aufnahme von Flüchtlin­gen aus Deutschland an führender Stelle. Etwa 20 Prozent aller Emi­grantInnen fanden dort zumin­dest für eine gewisse Zeit Zu­flucht vor der Verfolgung durch das NS-Regime. Für viele war Latein­amerika anfangs jedoch nur ein Exil zweiter Wahl, was sich deutlich an der Chrono­logie der Emigration in die mittel- und südamerikani­schen Staaten zeigt. In den Jahren 1933-1937 sind wohl höchstens ein Viertel aller Lateinamerika-Flüchtlinge aus Deutsch­land eingewandert. Vor al-lem die auch früher als Ein­wan­derungsländer bevorzugten Staa­ten des “Süd­gürtels”, also Argen­tinien, Chile, Uruguay und das südliche Bra­silien, waren bis etwa 1937 eine Art Ge­heimtip für Emi­grantInnen, während in die übri­gen Län­der nur verein­zelte Personen­kreise sickerten. Auch die meisten in diesem Zeit­raum von einigen Staaten unter­nommenen Aktionen zur Auf­nahme von EmigrantInnengrup­pen betrafen in der Regel nur kleine Zahlen, die nur in Einzel­fällen die 100 überschrit­ten, – so die An­siedlung saarländi­scher Emi­grantInnen in Para­guay.
Die Erklärung für dieses Phä­nomen liegt darin, daß Latein­amerika kaum im Motivations­spek­trum von Hitler-Flücht­lin­gen angesiedelt werden konn­te. Wer nach dem erhofften Sturz der NS-Herr­schaft nach Deutsch­land zurückkehren woll­te, blieb nach Möglichkeit in einem Nach­barland, jedenfalls in Eu­ro­pa. Wer als Jude Deutsch­land den Rücken kehrte und end­gültig mit der angestammten Heimat brach, bemühte sich um die Aus­reise nach Palästina. Auch Emi­grationsbewegungen in die USA oder UdSSR waren in jener Zeit spärlich. Wer vor 1939 nach La­teinamerika emigrierte, war trotz des poli­tischen Hinter­grundes seiner Motive meistens auch eine Art Auswanderer, der sich in der Ferne eine von Be­drohungen und Repressalien freie Existenz auf­bauen wollte. Die bevorzugte Wahl der typi­schen Einwande­rungsländer des Süd­gürtels be­stätigt diese Beob­ach­tung.
Mit der weiteren Expansion des Dritten Reiches im Jahre 1938 und mit Restrik­tionen der europäischen Asylländer, welche die Flüchtlingsströme nicht mehr auf­nehmen konnten oder woll­ten, begann die Massen­emigra­tion in überseeische Länder, vor­zugsweise nach Lateinamerika. Sie hielt mit kriegs­bedingten Un­terbrechungen bis etwa 1942 an. Da die meisten lateinamerikani­schen Staaten daraufhin die Ein­wanderung bremsten und zeit­wei­lig die Grenzen völlig sperr­ten oder nur unter besonderen Be­dingungen öffneten, richtete sich der Flüchtlings­strom auch in “we­niger at­traktive” Länder. Wer unter größter Gefahr sein Leben retten wollte, ging auch nach Hon­duras oder Bolivien, ob­wohl er eigentlich nach Palä­stina oder Nordamerika emigrieren wol­lte. Man­che Länder nahmen den Cha­rakter von Wartesälen an, in de­nen Flüchtlinge bis zu ihrer mög­lichen Weiterreise vor­über­ge­hend Zuflucht nahmen. Wer in Ku­ba oder in der Domini­kanischen Republik Asyl ge­funden hatte, wartete meist auf die Weiterreise in die USA, wer nach Para­guay oder Bolivien ver­schla­gen worden war, zog oft nach Argentinien, Chile oder Uru­guay.
Fluchtwege und Fluchthelfer
Die Wege, auf denen deut­sche Flüchtlinge nach Lateinamerika ge­langten, wurden im wesentli­chen vom Zeitpunkt der Emigra­tion und von den Emigrations­motiven bestimmt. Es gab vom Feb­ruar 1933 bis zum Oktober 1941 eine vom NS-Regime ge­dul­dete legale Auswanderung aus Deutschland. Ihr Zahlenver­hält­nis zur fluchtartigen Emi­gration schwankte erheblich und stand 1939 zu dieser im Verhält­nis von 7:1. Von den rund 78.000 jüdischen Emi­grantInnen dieses Jahres gin­gen etwa 13.000 nach Latein­amerika, in der Regel von Hamburg aus. EmigrantIn­nen, die von einem europäischen Exil-Land aus weiterfuhren, schifften sich gewöhnlich in den Niederlanden, in den französi­schen Atlantik-Häfen und in Marseille oder aber in Genua ein. Nach Ausbruch des Krieges än­derten sich die Routen, zumal Belgien, die Niederlande und die französi­sche Atlantik-Küste be­setzt wurden. Marseille wurde zeitweilig der wichtigste Aus­reisehafen, gefolgt von Lissa­bon, das aber nur über Spa­nien er­reicht werden konnte. 1940-42 waren Spanien und Portugal wichtige Transitländer. In der Zeit vom Herbst 1939 bis Juni 1941 emigrierten zahlreiche Flüchtlinge über Sibirien nach Wladiwostok und von dort wei­ter nach Shanghai in die USA und nach Lateiname­rika. Ab No­vem­ber 1941 durften Juden aus dem deutschen Macht­bereich nicht mehr ausreisen – die Ent­scheidung über die so­genannte “End­lösung” war ge­fallen. Mit der Besetzung Süd­frankreichs durch deutsche Trup­pen im No­vem­ber 1942 wurden die letzten Aus­reisemöglich­kei­ten blockiert. Die Emigra­tions­be­wegung kam fast voll­ständig zum Stillstand.
Besonderes Interesse ver­dienen in diesem Zusammen­hang die Organisatio­nen, durch deren Aktivitäten die in der Re­gel mittellosen Flüchtlinge über­haupt nach Lateinamerika gelan­gen konnten. Der Erwerb von Visa und anderen Doku­menten, die Bezahlung der Schiffspassa­gen und sonstigen Reiseko­sten, Quartiere und Klei­dung, Kurse zur beruflichen Um­schulung so­wie die Ausrü­stung mit Werk­zeug – alles dies waren Pro­ble­me, die die EmigrantInnen ge­wöhn­lich aus eigener Kraft nicht be­wältigen konnten. Eine Reihe von Vereinigungen hat hier be­trächtliche Summen auf­gebracht, die selbst wiederum größtenteils aus Spenden stamm­ten. Zu nen­nen sind vor allem die jüdische Hilfs­organisation HICEM, die selbst wiederum ein Dachver­band an­derer Verbände war, und das “American Jewish Joint Distri­bution Commit­tee”. Diese beiden Organisa­tionen hat­ten für die Flucht­hilfe und für die Start­hilfe in den Exilländern eine große Bedeutung. Da­gegen rich­te­ten sich die Unter­stüt­zungen an­derer Hilfsorga­ni­sa­tio­nen nur auf einen kleinen und spe­ziel­len Teil der Emi­gra­tion. An­dere wich­tige Ver­ei­ni­gun­gen wa­ren die so­zial­de­mo­kra­tische Flücht­lingshilfe, so­wie die von der Liga für Men­schen­rech­te ge­tra­ge­ne Demo­kra­ti­sche Flücht­lings­fürsorge (beide wa­ren bis 1938 in Prag, da­nach in Lon­don).
Unter den Umständen der NS-Diktatur nahmen gele­gentlich auch solche Organi­sationen den Charakter von Fluchthelfern an, deren ei­gentliche Zielsetzung nichts oder wenig mit Emigra­tion zu tun gehabt hatte. Die JCA (Jewish Colonisation Associ­ation) verfolgte ursprünglich den Ge­danken jüdischer landwirt­schaftlicher Siedlungen in Ar­gentinien und Brasi­lien, ver­mittelte aber – teil­weise im Rah­men der HICEM – zahlreichen be­drohten Juden eine Zuflucht in Lateiname­rika. Der St. Rapha­elsverein unterstützte seit den 1890er Jahren katholische Aus­wanderInnen durch soziale und seel­sorgerische Betreuung, kon­zentrierte sich aber in den 1930er Jahren immer mehr auf bedrohte Personen aus Deutsch­land, ins­besondere auf die soge­nannten “ge­tauften Nicht-Arier”. Auch die ihm nahestehende “Gesell­schaft für Siedlung im Ausland” er­möglichte vielen katholischen Hitler-GegnernIn­nen eine Aus­wanderung und Ansiedlung in Brasilien, wobei hier die Gren­zen zwischen Emigration und Auswanderung verschwimmen. Die Zahl der ge­nannten Orga­nisationen muß noch ergänzt werden um weitere jüdische, christliche, politische und huma­nitäre Vereinigungen, die inner­halb und außerhalb Deutschlands Fluchthilfe leiste­ten; der Hilfs­verein der Juden in Deutschland, die Quäker und an­dere. Dagegen war die Hilfstä­tigkeit ein­zelner Staaten, zwischen­staatlichen und in­ternationalen Ein­rich­tungen wie dem Völker­bund erbärmlich ge­ring. Emi­gran­tInnen, die sich nach Über­see retten konnten, ver­dankten dies fast ausschließ­lich pri­vater Initiative.
Die Anzahl der deutschen be­ziehungsweise deutsch­sprachi­ge Emigrant­Innen in Lateiname­rika schwankt zwischen 90.000 und 120.000; man darf also von einer Grob­schätzung von rund 100.000 aus­gehen. Es besteht allenfalls weit­gehend Klarheit in der quan­titativen Reihenfolge der Auf­nahmeländer:

Argentinien 45.000
Brasilien 25.000
Chile 2.000
Uruguay 7.000
Bolivien 6.000
Kuba 5.000
Kolumbien 2.700
Ecuador 2.500
Dom. Rep. 2.000
Mexiko 1.200

Die übrigen Länder, ange­führt von Paraguay nahmen Emigran­tInnen nur in drei­stelliger, einige karibische und mittelamerikani­sche Staaten nur in zweistelliger Höhe auf. Über 90 Prozent aller Flüchtlinge fanden Zu­flucht in jenem Südgürtel, der sich von Rio de Janeiro über Montevideo und Buenos Aires bis nach San­tiago de Chile er­streckt. Dort la­gen daher auch die wichtigen Emi­grantInnenzentren. Einen Son­derfall bil­dete Mexiko, das zwar hin­sichtlich der Auf­nah­mezahl eines der Schluß­lichter bil­dete, aber wegen der hoch­karätigen politischen und lite­rarischen EmigrantInnen so­wie wegen der von ihnen ge­tragenen Ver­lage, Zeitschrif­ten und Ver­einigungen ein Exil­zentrum von be­sonderer Bedeu­tung war.
Soziale und kulturelle Integration
Die berufliche Qualifika­tion der EmigrantInnen in Lateiname­rika war nicht auf die Gesell­schaften der Asyl­länder zuge­schnitten, so daß die berufliche Eingliederung meistens große Pro­bleme ver­ursachte. Exakte Zah­len lie­gen nur für einzelne Länder und Städte vor, aber sämtliche Indizien verweisen da­rauf, daß kaufmännische und an­dere mittelständische Berufe, Selbständige und Angestellte, sehr stark vertreten, Hand­wer­ker­Innen, ArbeiterInnen und Land­wirte unterrepräsen­tiert wa­ren. Aber gerade sie, insbeson­dere die Landwirte, waren be­son­ders gefragt. Viele Exilländer hatten die Einreiseerlaubnis nur mit der Verpflichtung zu land­wirt­schaftlicher Siedlung er­teilt, worauf aber die wenig­sten vor­be­reitet waren. Von den etwa 1.000 Emigranten, die in Ar­gen­ti­nien, Brasilien, Paraguay, Bo­li­vien, Ecuador und Santo Do­min­go kleine Bauernhöfe grün­de­ten, sind die meisten gescheitert.
Die mittelständischen Be­rufe stießen deswegen auf be­sondere Schwierigkeiten, weil für sie zunächst kein Bedarf bestand. Wegen der für lateinameri­ka­ni­sche Gesellschaften seit lan­gem no­torischen Unterbeschäf­tigung in Handel und Dienst­leistung bil­de­ten die Emi­grant­Innen eher ei­nen Störfaktor und stießen oft auf Konkurrenz­neid und Frem­den­feindlichkeit, nicht selten mit an­tisemitischem Ak­zent. Einige Län­der verboten oder behin­der­ten die Ausübung be­stimmter Be­ru­fe. Leichter hat­ten es Fach­ar­beiterInnen und Hand­werker­In­nen, die wegen ih­rer im all­ge­mei­nen beträchtli­chen Überle­gen­heit an Berufs- und Allge­mein­bil­dung gefragt waren. Da­ge­gen standen Vertre­terInnen künst­lerischer und geisteswis­sen­schaftlicher Berufe vor be­son­deren Schwierigkeiten, weil ih­re Tätigkeiten nicht ge­fragt und teilweise engstens auf die deut­sche Sprache fi­xiert wa­ren.
Die soziale Integration aus ei­nem Abstand von 50 Jahren be­trachtet zeigt, daß nach ei­ner mehrjährigen Durststrecke die meisten EmigrantInnen und ihre Nachfahren wirt­schaftlich heute nicht schlecht gestellt und in der Regel in relativ wohlhabende Mittel- und Oberschichten auf­gerückt sind.
Die Gründe für diese über­wiegend gelungene so­ziale Inte­gration liegen in dem beruflichen und allgemeinen Bildungsvor­sprung der meisten EmigrantIn­nen vor ein­heimischen Arbeits­kräften. Aber wesentlich war wohl der Zusammenhalt der Emi­gran­tInnen über gemeinsame Zeit­schriften, Clubs, Vereinigun­gen und Einrichtungen, der trotz ideologischer, politischer und anderer Differenzen zumindest in den Zentren des Exils eine wechselseitige Kommunikation er­mög­lichte. Vor allem müssen hier die deutsch-jüdischen Ge­meinden, Verbände und Ins­ti­tu­tio­nen erwähnt werden, die – so­weit Informationen vorlie­gen – oft einen hohen Organi­sa­tions­grad hatten. Ihre Arbeit dürf­te in hohem Maße soziale Not­fäl­le aufgefan­gen und eine Mar­gi­na­lisierung und Verelen­dung von EmigrantInnen verhin­dert haben.
Politische Organisationen im Exil
Die politischen Organisa­tio­nen deutscher EmigrantInnen wa­ren, gemessen an der Zahl ih­rer aktiven Mit­glieder, recht klein. Aber sie standen stärker im öffentli­chen Rampen­licht und bean­spruchten einen höheren Re­präsentationsgrad als etwa deutsch-jüdische Sportver­eine. Aus der Perspektive der deut­schen Geschichte sind sie frei­lich interessanter, weil sie gewis­ser­ma­ßen “mit dem Blick nach Deutsch­land” ar­beiteten, wäh­rend ein großer Teil der jüdi­schen Emigran­tInnen mit ihrer al­ten Heimat innerlich gebrochen hatte und vielfach kein Interesse mehr an Deutschland zeigte. An­de­rerseits wurden rund 50 von den Organisationen herausge­ge­be­nen Blätter und Zeit­schriften, von denen aller­dings einige nur ein­mal oder nur sehr selten er­schienen oder aber über das For­mat hektographierter Rund­brie­fe nie hinausgelangten, doch auch von einem breiteren Spek­trum innerhalb der Emi­gration gele­sen; sie bezogen so­mit auch po­litisch weniger enga­gierte Per­sonen in die Diskussio­nen und Kontrover­sen ein. Wie in der ge­samten Exilszenerie wa­ren die Emi­grantInnen in Latein­amerika untereinander heillos zerstrit­ten und befehdeten sich aufs heftig­ste. Die Bedingungen für politi­sche Aktivitäten va­riierten von Land zu Land und waren stark von den inneren Verhält­nissen ab­hängig. So wa­ren ir­gend­welche Aktivi­täten un­ter der blut­rünstigen Herr­schaft des do­mi­nikani­schen Diktators Rafael Tru­jillo über­haupt nicht und in dem von Ge­tulio Vargas auto­ri­tär regierten Brasilien nur ein­ge­schränkt möglich. Dage­gen bo­ten demo­kratische Länder wie Chi­le und Uru­guay, das ge­mä­ßigt autoritäre Argentinien so­wie das nachrevolutionäre Mexi­ko gün­stige Voraussetzungen. Wäh­rend aber in Chile auf amtli­chen Druck die politischen Emigran­tIn­nenverei­nigungen fu­sionieren muß­ten, blühte in Bo­livien ein Chaos der Ver­bände, Clubs und Organisa­tionen.
Das politische Spektrum der EmigrantInnenorganisationen läßt sich grob in drei Richtungen ein­teilen. Die älte­ste von ih­nen war auch zugleich die kleinste, die aber zeitweilig lautstark auf­trat: die Stras­ser-Bewegung. Be­reits 1934 war ein Netz von Or­ganisationen in fast allen latein­amerikani­schen Staaten nach­weisbar, geführt von einem “Kampfleiter” mit Sitz in Pa­raguay. In Buenos Aires er­schien ab 1935 das Zentralorgan der Be­wegung “Die Schwarze Front”. Leser des Blattes und Mit­glieder der gleichnamigen Or­ganisation waren größtenteils dis­sidente Nazis sowie antinazi­stische, aber gleichwohl rechts­extreme Kreise – Auslandsdeut­sche wie auch EmigrantIn­nen.
Zu den bedeutenden politi­schen Stimmen des deutschen Exils in Lateinamerika ge­hörten Zeitschrift und Bewe­gung “Das An­dere Deutsch­land”. 1938 aus ei­nem gleich­namigen Hilfsko­mi­tee in Bu­enos Aires hervorge­gan­gen, wurde die Zeitung bald das führende Organ einer zu­nächst breiten linken und de­mokratischen Leserschaft. Erst infolge der Kontroversen um den Hitler-Stalin-Pakt schieden die KPD-Anhänger aus und gründe­ten ihre eigene Zeitschrift “Das Volksblatt”. Unter der Schrift­leitung des Gründers und Her­ausgebers August Siemsen ver­einigten sich im “Anderen Deutsch­land” in immer stärke­rem Maße SozialdemokratInnen und VertreterInnen anderer nicht-kommunistischer linker Grup­pen. Aus Lesezirkeln ent­stan­den in mehreren Län­dern La­tein­amerikas kleinere Grup­pie­rungen und Vereini­gungen, die in loser organi­satorischer Ver­bin­dung zur Zentrale in Bue­nos Ai­res standen und im we­sent­lichen nur durch die Zeit­schrift zu­sammengehalten wur­den. Die­se lockere Orga­nisations­form hat­te den Nachteil, daß die Be­we­gung “Das Andere Deutsch­land” in nur einge­schränktem Maße eine regel­mäßige Ver­bands­arbeit lei­sten konnte; sie hat­te den Vor­teil, daß sie nicht von politisch dissi­denten Emi­gran­tInnengrup­pen un­ter­wandert und um­funktioniert werden konn­te. Ihre Schwer­punkte hatte die Bewegung im südlichen La­tein­amerika, also in Argenti­nien, Uru­guay, Chile, Brasi­lien, Para­guay und Boli­vien. Doch gelang dem “Anderen Deutschland” nicht, über einen längeren Zeit­raum eine Mehrheit der politisch den­kenden deut­schen Emigran­tIn­nen zu verei­nen.

Der große Konkurrent der Bewegung “Das Andere Deutschland” war die Bewe­gung “Freies Deutschland”, die mit Blick auf die Namensähnlichkeit nicht mit Stras­sers “Frei-Deutschland-Be­wegung” ver­wech­selt werden darf. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt hatten sich in mehreren lateinamerikanischen Staaten die politischen Emi­grantInnengruppen gespalten, wo­bei die der KPD angehö­renden oder nahestehenden Mit­glieder in der Regel eigene Gruppierun­gen bildeten. Diese Spaltun­gen blieben, auch als mit dem Überfall auf die So­wjetunion ihr äußerer Grund ent­fallen war. Die Gruppierungen wa­ren auf die Sammlung eines möglichst breiten politischen Spektrums angelegt und ver­einigten in sich auch bürgerli­che, christliche, konservative, ja so­gar monarchistische EmigrantIn­nen. Ihre Pro­grammatik und Phraseologie war verschwom­men antifa­schistisch und ließ zahllose Interpretationen zu, je­doch blieben die Schlüssel­positio­nen fest in den Händen von KPD-FunktionärIn­nen. In Mexiko, wo sich 1941/42 eine meist aus dem besetzten Frank­reich geflüchtete relativ starke Gruppe kommunistischer Schrift­stellerInnen und Funktio­närInnen niedergelas­sen hatte und wo sich mit ei­ner kleinen Ausnahme keine anderen deut­schen Exil-Orga­nisationen bil­deten, wurde im November 1941 die Zeit­schrift “Freies Deutsch­land” gegründet. Um dieses poli­tisch-literarische Blatt scharte sich bald eine gleichna­mige Ver­einigung mit Ablegern in ande­ren Ländern. Im Mai 1943, vier Monate nach dem Kongreß des “Anderen Deutschland” in Mon­tevideo, wurde unter Führ­ung der mexikanischen Emi­grant­Innen­organisation das KPD-ge­lenkte “Latein­ameri­ka­ni­sche Komitee Freies Deutsch­land” gegründet, dem in der Folge­zeit kleinere Organisatio­nen beitra­ten. Man hatte Hein­rich Mann für das Amt des Ehren­präsidenten und für den Vor­stand Hubertus Prinzen zu Löwenstein und den konser­vativen böh­misch-österreichi­schen Schrift­steller Karl v. Lu­stig-Prean ge­wonnen, aber die tatsächliche Leitung hatte Lud­wig Renn als amtie­render Präsi­dent, Anna Seg­hers sowie der KPD-Funktio­när Paul Mer­ker als General­sekretär. Der Name des Ko­mitees und andere Indizien ver­weisen auf die Be­wegung “Freies Deutschland” in euro­päischen Exil­ländern sowie auf das gleich­na­mige Natio­nalkomitee in Mos­kau und lassen es als In­strument der damaligen sowjeti­schen Deutsch­land-Poli­tik erschei­nen.

In Kuba, Ecuador und den kleineren mittelamerikani­schen und karibischen Repu­bliken nahm die Bewegung “Freies Deutschland” bald eine dominie­rende Stellung ein, in Brasilien, Argentinien, Bolivien, Uruguay und Chile machte sie dem “Anderen Deutschland” Konkur­renz. In Uruguay und Chile fusionier­ten die beiden Bewe­gungen, in Chile aufgrund staat­lichen Drucks, in Uruguay auf frei­williger Basis. Insgesamt wa­ren die “Freien Deutschen” er­folgreicher in der Ausdehnung ihrer Bewegung, allerdings dür­fen Vereinsattrappen und Brief­kastenorganisationen vor allem in einigen mittelameri­kanischen Staaten nicht über ihre tatsächli­che Stärke hin­wegtäuschen. Die Bewegung verlor an Einfluß, als sie ge­gen Kriegsende kritiklos die sowjetischen Konzeptionen für Nachkriegsdeutschland über­nahm und beispielsweise die Abtretung der deutschen Ostge­biete befürwortete, was bei allen anderen EmigrantInnenorga­nisa­tionen auf heftig­sten Wider­spruch stieß. 1946 lößte sich das lateinamerika­nische Komitee “Freies Deutschland” auf. Neben die­sen überregiona­len po­litischen Bewegungen gab es noch Zusammenschlüsse von Emi­grantInnen, die sich auf ein­zelne Länder oder Städte be­schränkten und sich auch nicht einer der genannten Or­ganisationen zuordnen ließen.
Politische Aktivitäten im Exil
Neben den Aktivitäten in den politischen Organisatio­nen deut­scher EmigrantInnen gab es noch weitere Betäti­gungsfelder, die sich mit den Vereinigungen nicht völlig deckten und in denen auch nicht organisierte Hitler-Geg­nerInnen aktiv werden konn­ten. Dazu gehörte der Kampf gegen die sogenannte Fünfte Kolonne. Das Dritte Reich hatte mit gerin­gem propagan­distischem Auf­wand einen großen Teil der in Lateiname­rika ansässigen Volks- und Auslandsdeutschen gleich­ge­schaltet. Fast überall gab es NS-Organisationen, die das aus­landsdeutsche Vereinsleben so­wie Schulen und Presse be­herrschten und durch Hetz­propaganda und teilweise auch durch Gewaltakte die Emigran­tInnen drangsalierten. Hinzu kam, daß die diploma­tischen und konsularischen Missionen die EmigrantInnen ob­servierten und zu diesem Zweck meistens ortskun­dige auslandsdeutsche Spitzel mo­bilisierten. In einigen Län­dern, so etwa in Argentinien und Bolivien, verfügten sie durch Unterstützung einhei­mischer Nazi-SympathisantInnen in Poli­zei, Militär und Wirtschaft über einigen Ein­fluß. Es lag da­her im ureige­nen Interesse der EmigrantIn­nen, sich gegen diese Bedro­hung zur Wehr zu setzen und die einheimischen Regie­rung durch Sprach- und Sach­kenntnisse und andere Mittel zu unterstützen. Nach Ab­bruch der diplomatischen Beziehungen zwi­schen dem Dritten Reich und den meisten lateinamerikani­schen Staaten wurden die mei­sten NS-Organisatio­nen ver­bo­ten. In einigen Ländern al­ler­dings hatte es nie eine nen­nens­werte Fünfte Kolonne ge­geben.
Ein weiteres Aufgabenge­biet, an dem sich auch nicht­organisierte EmigrantInnen be­teiligten, waren Nach­kriegs­kon­zeptionen für Deutsch­land. Ei­ni­ge der inter­essantesten Über­le­gun­gen stam­men vom früheren li­be­ralen Reichsinnen- und -ju­stiz­minister Erich Koch-We­ser, der im brasi­lianischen Bundes­staat Paraná sein Asyl gefunden hat­te. Die der Be­wegung “Freies Deutschland” nahestehenden Emi­grant­Innen äußerten sich nur sehr allge­mein über Ver­fas­sungs­fragen und wollten ne­ben recht ver­schwommenen For­de­run­gen nach Ausrottung von Na­zis­mus und Antisemitismus die kon­krete Gestaltung Deutsch­lands den Alliierten überlassen. Ver­breitet war eine anti­ka­pi­ta­li­sti­sche Grundstim­mung und die Ab­sicht, mit einer weitgehenden So­zia­li­sierung auch die ge­sell­schaft­lichen Ursa­chen an­tidemo­kra­tischer Ent­wicklung zu besei­ti­gen. Die mei­sten Konzep­tionen hiel­ten am Na­tionalstaat fest, plä­dierten aber für eine Aus­söh­nung der ehemaligen Kriegs­gegner und für einen losen Ver­bund der eu­ropäischen Staa­ten. In den Be­reich der politi­schen Akti­vitäten gehören auch größ­tenteils die kulturellen Lei­stungen der deut­schen Emi­grantInnen, da sie auch dort, wo sie inhaltlich nicht unmit­telbar politische Fragen an­sprachen, indirekt darauf eingin­gen. Das war deutlich in der Presse und in den von ei­nigen Emigrant­Innen­or­ganisationen regelmäßig ge­stal­teten Rund­funksendungen der Fall, vor al­lem aber in den von Or­ga­ni­satio­nen unabhän­gi­gen Zeit­schriften und Ver­lagen. Zu er­wähnen ist hier vor allem die in Santiago de Chile heraus­ge­ge­be­ne, auch in Nord­amerika und Eu­ropa ge­lesene Monatsschrift Deut­sche Blätter, deren hohes Ni­veau und solide Aufmachung von allen po­litischen Richtun­gen res­pek­tiert wurde.
Emigration nach 1945
Mit der Niederlage des Drit­ten Reiches endeten we­der Exil noch Folgeprobleme der Emi­gration, vielmehr tauchten neue Probleme auf. Die Frage nach der Rückkehr ließ sich von Emi­grantInnen in keinem einzigen Falle leicht beantworten. Viele jü­dische EmigrantInnen hatten mit Deutschland gebrochen und somit kein Interesse mehr an ei­ner Rückkehr. Sie hatten in La­tein­amerika Wurzeln ge­schlagen oder aber bemühten sich um eine Wei­terwande­rung nach Palä­stina/Israel oder in die USA. Die Faustre­gel, derzufolge politische EmigrantInnen im allgemeinen zu­rückkehren wollten, die jüdi­schen EmigrantInnen aber nicht, gilt tendenziell auch für Latein­ame­rika, wenngleich hier stark differenziert werden muß. Aus den Jahren 1945-1949 sind etli­che Anfragen an den SPD-Vor­sitzenden Kurt Schumacher er­halten, ob man als Jude inzwi­schen wieder nach Deutsch­land zu­rückkeh­ren dürfe. Und umge­kehrt ent­schlossen sich manche der politischen EmigrantInnen, dort wo ihre Kin­der und teil­weise auch sie selbst heimisch geworden waren, zu bleiben. Hinzu kamen objek­tive Schwie­rigkeiten, zu denen einmal die Reisekosten und zum andern Einreisesperren der Alli­ierten gehörten. Am leichtesten hatten es Kommu­nisten, die – so­fern sie ge­braucht wurden – mit sowjeti­scher Hilfe in die Sowje­tische Besatzungszone zurück­kehren konnten. Andere betraten erst 1948/49 wieder deutschen Boden oder kehrten sogar erst in den 60er Jahren aufgrund be­stimmter politischer Ereig­nisse zurück – so Boris Gol­denberg aus dem in­zwischen kommuni­stisch gewor­denen Kuba. Für viele, die sich zum Bleiben ent­schlossen, war es aber eine un­angenehme ワber­raschung, daß nach 1945 eine gewisse “Emi­gration” ehema­liger NS-Funk­tionäre nach La­teinamerika einsetzte. De­ren Vertreter – wie beispiels­weise Eichmann oder Men­gele – woll­ten unter anderem Namen unter­tauchen und teil­weise aber auch mit Hilfe ein­heimischer Ge­sin­nungs­freunde ih­re un­rühmlichen Ak­tivitäten fortset­zen.
In den Jahren 1946-1949 lö­sten sich aber die meisten der po­li­tischen Organisatio­nen auf. Un­ter­schiedliche Auffassungen über die Zu­kunft Deutschlands und voll­ends der Kalte Krieg ent­zo­gen ihnen die gemeinsame Platt­form. Bemerkenswert ist, daß sich in drei Ländern – Me­xiko, Bra­silien und Bolivien – Nach­fol­georganisationen als so­zi­al­de­mo­kratische Landesver­bän­de konstituierten, nach­dem während der NS-Zeit die SPD als Par­tei oder als parteina­her Ver­band im lateinamerikani­schen Exil über­haupt nicht existiert hatte. Diese Organisa­tionen be­mühten sich einerseits um mate­rielle Hilfe für ihre aus­geblutete frühere Heimat, und veranstal­teten – wenigstens im Falle Bra­siliens – Sammlun­gen. Sie be­kämpften nach wie vor re­aktionäre Strömungen un­ter den Auslandsdeutschen und attackierten teilweise heftig die jun­ge Bundesrepu­blik, weil sie die diplomati­schen und kon­su­la­ri­schen Missionen in Lateiname­rika hauptsächlich mit erzkonser­vativem Personal be­setzte.
Lateinamerika hat die deut­sche Literatur in vielfältiger Weise beeinflußt. Ludwig Renn und Hilde Domin haben in ihren Memoiren ihr mexi­kanisches bzw. dominikani­sches Exil aus­führlich be­schrieben; Anna Seg­hers griff gelegentlich latein­amerikani­sche Motive auf; Egon Erwin Kisch veröffent­lichte noch in Mexiko eine bril­lant geschrie­bene Sammlung mit Episoden aus der mexikanischen Ge­schich­te und Paul Zech gab In­dianermärchen aus dem Chaco heraus, die sich aber nachträglich offensichtlich als seine Erfin­dung herausstell­ten. Manche EmigrantInnen vermittelten auf andere Weise den Deutschen ein differen­ziertes Lateinamerika-Bild, entweder durch Sachbücher über ihr jeweiliges Exilland oder durch Presseberichte. Erwähnt sei hier der langjäh­rige Süd­amerikakorrespon­dent der Frank­furter Rund­schau in Mon­tevideo, Her­mann P. Gebhardt. Aus den Reihen ehemaliger EmigrantIn­nen sind aber auch be­deutende Wis­sen­schaftlerInnen und Ver­tre­terInnen des öffentli­chen Le­bens in ihren Exilländern her­vor­ge­gangen. Der gegensei­tige Kul­tur­trans­fer bildet viel­leicht den er­freulichsten Aspekt des Exils, das mit Verfolgung und Flucht so leidvoll begonnen hatte.

Die schwierige Flucht

Ihre beruf­lichen Qualifikatio­nen stellten sich für die jüdi­schen Flüchtlinge als großes Hin­dernis heraus. Der Auf­bau einer neuen Existenz in vielen Ein­wanderungslän­dern konnte nur unter be­stimmten be­ruflichen Vor­aussetzungen ge­lingen, in man­chen Staaten fanden nur ge­wis­se Berufsgrup­pen Einlaß.
Aber auch die Politik zahl­reicher überseeischer Län­der, die im 19. und begin­nenden 20. Jahr­hundert die Einwanderung in dem Be­streben zu forcieren ver­sucht hatten, ihre gewalti­gen Ge­biete zu erschließen und zu be­völkern, gehörte der Vergangen­heit an. Die besondere Tragik für die Juden lag darin, daß die na­tionalsozialistische Ver­folgung in eine Zeit fiel, in der die Auswanderungs­möglichkeiten we­gen der Weltwirtschafts­krise so ge­ring waren wie niemals zu­vor.
Bizarre Listen, bitterer Ernst
Besonders die USA, die bri­tischen Dominions und Latein­amerika waren durch den Zu­sam­menbruch der Agrar- und Roh­stoff­preise schwer getroffen worden und suchten, jede neue Einwanderung abzu­wehren bzw. nur unter be­stimmten Vorausset­zun­gen zuzulassen. So be­schränk­te sich einem Infor­ma­tions­blatt der jüdischen Aus­wan­de­rungsberatungsstelle in Berlin zufolge das Ange­bot im Sommer 1938 auf nur wenige ausge­fal­le­ne Möglichkeiten: ge­sucht wur­de für Pa­raguay ein perfek­ter, selb­ständiger Bonbon­kocher und für San Salvador ein un­ver­heirateter, jü­discher In­genieur für den Bau elek­trischer Ma­schinen. Die Li­ste, die noch weitere ähnlich bi­zar­re of­fene Stel­len in Afrika und den Bri­tish Dominions nennt, könnte einem Sketch ent­nom­men sein, war aber bitterer Ernst.1
Die Entscheidung für ein Auswande­rungsland hing von vielen Faktoren ab. Zunächst galt es sich eine Art “Auswanderer-Dia­lekt” anzueignen. Begriffe wie “Chamada” (Visum­voraus­set­zung für Brasi­lien), “Leu­munds­zeugnis”, “Unbe­denk­lich­keits­erklärung”, “Bord­geld” und “Ge­sundheits­attest” be­stimmten den Alltag, die Reise in ferne Län­der wurde erwogen, deren La­ge erst mühsam auf dem Glo­bus eruiert werden mußte.
Papiere entscheiden
über Leben und Tod
Die Wahl eines Aus­wan­de­rungs­lan­des und der Besitz der ent­sprechen­den Un­terlagen sollte sich bald als eine Frage von Le­ben und Tod erwei­sen. Nachdem sich ein Staat nach dem anderen der Aufnahme von Juden aus Deutschland ver­schlossen hatte, wurde die Suche nach einem auf­nah­me­be­reiten Einwande­rungs­land zu einer Art “Gesell­schafts­spiel”, wie die Berlinerin Inge Deutsch­kron be­richtet: “Viel­leicht könnte man hierhin oder auch dorthin … Und die Finger wan­derten unru­hig auf der Land­karte hin und her. Oder: ‘Was ist eigent­lich mit Para­guay?’ ‘Hast du schon Neusee­land pro­biert?’ ‘Ich habe gehört, daß der X ein Vi­sum für Panama bekommen hat.’ ‘Zehntausend Mark soll ein Visum nach Vene­zuela ko­sten’…”2
Tatsächlich zahlten manche Unsummen für ein Visum. Im­mer wie­der fielen die verzweifelt nach einer Auswanderungs­mög­lich­keit su­chenden Juden auf zwie­lichtige Geschäftemacher he­rein. Nicht selten stellte sich nach wochen- oder monatelanger Fahrt bei der Ankunft im neuen Land heraus, daß es sich um ge­fälsch­te, un­autorisierte oder be­reits abgelau­fene Visa han­del­te. Oft war es nur durch Über­re­dungs­kunst und durch die Hilfe von jüdischen Organisationen vor Ort möglich, doch noch ein­zu­reisen, aber manche wurden auch zurückge­schickt, wie die Ge­schichte der St. Louis und der Ver­such der Passagiere, in Kuba an Land zu gehen, zeigt (vgl. den folgenden Artikel).
Obwohl die Emigration nach Süd­amerika bereits 1933 einge­setzt hatte, war ihr Anteil an der ge­samten Auswanderung an­fangs eher unbe­deutend. Insbe­son­dere we­gen der Sprachpro­ble­me blieb die Emigration dorthin lange Zeit nur zweite Wahl. Als sich die Lage in Eu­ropa allmählich zuzuspitzen be­gann, wurden ins­besondere Ar­gen­tinien und Bra­silien zu be­gehr­ten Auswande­rungszielen. Im­merhin rangierte Brasilien be­reits 1933 nach den Ver­einigten Staaten und Palä­stina an dritter Stel­le bei den Aufnahmeländern. Eine interes­sante Tatsache, vor al-lem weil zum damaligen Zeit­punkt die eu­ropäischen Länder noch einen erheb­lichen Teil der Emi­grantIn­nen aufnahmen und Süd­amerika eher exotisch und fern­ab er­schien. Deshalb wurden Län­der wie Ecua­dor, das von al­len latein­amerikanischen
Staa­ten die liberalste Einwanderungs­po­li­tik aufzu­weisen hatte, nur als letzte Hoffnung in Erwägung gezo­gen.3 Als nach der Pogromnacht im No­vember 1938 eine Massen­flucht einsetzte, hatten viele Län­der ihre Einwanderungspolitik neu geregelt und re­striktive Maß­nahmen eingeführt. 1937 ver­schärfte Brasilien die Ein­wan­derungsbestim­mungen dra­stisch, zunächst schien es so­gar, daß bereits eingewanderte Flücht­linge wieder ausgewie­sen wer­den sollten. Auch Argenti­nien, das seit 1935 zum Kreis der wichtigen Auswanderungs­länder ge­hörte, schränkte die Einwan­de­rungs­möglichkeiten deut­lich ein. Seit den Regierungsdekre­ten vom 28. Juli und 26. August 1938 hing die Aufnahmeerlaub­nis von der Einladung durch na­he Ver­wandte (Llamada) oder von spezieller beruflicher Quali­fi­kation ab. Danach sank die Zahl der Einwande­rerInnen ste­tig und er­reichte nach Beginn des Zweiten Weltkriegs den Nullpunkt. Auch in Uru­guay und Para­guay ver­schlechterte sich, vor allem durch die deso­late Wirt­schafts­lage, die Situa­tion seit 1937. Hinge­gen trat Kolum­bien 1937/38 mehr in den Vor­der­grund. Eine grö­ßere An­zahl Emi­gran­tInnen aus Deutschland fand in jener Zeit Zu­flucht in den klima­tisch gün­stigeren mittleren und höheren Lagen des Landes.
ワberleben in Avivgdor
Viele dieser EmigrantIn­nen wur­den in der Land­wirtschaft be­schäf­tigt. Daß es gerade hier noch einen Bedarf an Arbeits­kräf­ten gab, nutzten Organsatio­nen wie die 1891 als Auswan­derer- und Fürsor­gegesellschaft gegründet Jewish Colonisa­tion Asso­ciation (ICA) für Gruppen­aus­wanderun­gen. Die ICA ver­fügte über Ackerbauko­lonien in den Verei­nigten Staa­ten, Ka­nada, Argentinien und Bra­silien. So umfaßte etwa das Sied­lungsgebiet der ICA in Ar­gentinien ein Areal von 600.000 Hektar. 1936 hatte sie dort eine erste Grup­pe von 19 jü­dischen Fa­milien aus Deutschland in ih­rer Ko­lonie Avivgdor (Entre Rios) an­gesiedelt. Die Zeit­schrift “Jü­di­sche Wohl­fahrtspflege und So­zial­poli­tik” berich­tete dar­über: “Zum Zweck der An­siedlung er­hält jeder Kolo­nist von der ICA soviel Land zuge­wiesen, daß er bei dessen persön­licher Bear­beitung für sich und seine Fami­lie ein normales Aus­kommen hat und das Land im Verlauf einer Reihe von Jahren abzahlen kann. Es ist je nach Lage der Kolonie zehn bis hun­dert Hektar groß. Für jede Fami­lie wird auf dem ihr zugewie­senen Felde ein Haus aus zwei Zimmern und Küche gebaut. Sie ent­hält ferner die zur Be­wirtschaftung notwendige An­zahl von Pferden, Kühen und Acker­geräten und wird von land­wirt­schaft­lichen Experten wäh­rend der er­sten Zeit ihres Auf­ent­haltes zur Arbeit angesie­delt …
Die­se Kolonie ist im 32. Grad süd­licher Breite gele­gen, ihr Kli­ma ist gesund und für Eu­ropäer gut er­träglich … Jede Siedlung ist umzäunt und besitzt fol­gende An­lagen: 1 Haus, be­stehend aus 2 Zimmern und Kü­che mit not­wendig­ster Einrich­tung (1 Tisch, 4 Stühle, 4 Betten, 1 Schrank, 1 Herd und et­was Ge­schirr), eine of­fene Scheune, einen Hüh­ner­stall, ein Klosett und eine Dusch­vorrichtung. Ein Brun­nen wird im­mer gemeinsam für 2 oder 4 Sied­lungen angelegt. An le­ben­dem In­ventar wird je­der Sied­lungs­familie über­geben: Kü­he, Pferde, Hüh­ner. Eine Zucht­station ist für die Verbesse­rung des Vieh­bestandes vorgese­hen. Das Vieh wird dem Siedler ent­sprechend der Entwick­lung sei­ner Siedlung zuge­teilt. An Ma­schinen und Geräten erhält jede Sied­lungsfamilie 1 Wagen, 1 Pflug, 1 Egge, Milcheimer, Schau­feln, Hacke usw.”4 Die An­siedlung jü­discher Familien auf den ICA-Ko­lonien in Ar­gen­ti­nien blieb – neben der nach Pa­lästina – die wichtigste Form der Grup­pen­aus­wan­derung.
Ähnliche Organisationen wur­den in Brasilien tätig: Sie leiste­ten Bürgschaften, die ga­rantieren sollten, daß die Einwande­rerInnen nicht der Für­sorge zur Last fielen, und zahlten die gefor­derte Landungsgarantie­summe, in Höhe von rund 700 RM pro Per­son. Nach Uruguay konn­ten auf diese Weise mit ei­ner Ausnahmegeneh­migung des Prä­siden­ten 50 Bauernfamilien und einige land­wirtschaftliche Ar­beiter einwandern. Auch Chile nahm durch die Interven­tion ei­ner amerikanischen Hilfsorgani­sation 50 Fami­lien auf, Bedin­gung war, daß sie mit 4.000 RM aus­gestattet wurden.
Die schwierige Integration
Die südamerikanischen Län­der wurden seit 1936, besonders duch die indivi­duelle Immigra­tion, neben den USA und Palä­stina zu den bevorzugten Flucht­zie­len. Die schwierigen Le­bens­be­dingungen, das Klima und die Be­schäfti­gungssituation veran­laßten jedoch viele, später, als sich die Möglichkeiten boten, in die USA weiterzuwandern. Die kli­matischen Bedingun­gen waren zwar in Palästina ähnlich schlecht, aber dort versetzte der Wille, einen jüdischen Staat auf­zubauen, Berge. Die Arbeitssu­che war über­all, auch in den USA, kompliziert, aber in Süd­amerika war die Kluft zwischen den Einheimi­schen und den Zuwande­rerInnen besonders schwer zu überbrücken.
Die Emi­grantInnen wurden von der ansässi­gen Bevölkerung als Gringos – Weiße – angese­hen, die eigent­lich der Oberklasse an­gehören müßten. Sie verrichteten aber niedere Arbeiten, wa­ren in der Landwirtschaft tätig, eine Tatsache, die nicht in das Erscheinungs­bild passen wollte. Kon­flikte konnten nicht aus­blei­ben, eine Integration war kaum möglich, weder in die Gruppe der Indí­genas und Me­stizInnen noch in jene der “Wei­ßen”. Hin­zu kamen antise­mitische Vor­ur­tei­le, die von den dort lebenden Deutschen, ins­besondere dem Bot­schafts­per­sonal und ande­ren of­fiziellen VertreterIn­nen der NS-Re­gierung, geschürt wurden. So zeigt gerade Südamerika deut­lich, daß die Emigration, die Rettung vor der Verfol­gung, nicht gleichbedeu­tend war mit einer sicheren Existenz und ge­re­gel­ten Lebensumständen. Für die mei­sten be­deutete die Aus­wan­de­rung einen völligen Neu­an­fang, einen gänzlich verän­derten Kulturkreis und zumeist einen ge­sell­schaftlichen Abstieg mit all sei­nen Konsequenzen, insbeson­de­re dem Verlust eines per­sön­li­chen Umfelds, das dem eigenen so­zialen Niveau ent­sprach.

1 Walter Laqueur, Heimkehr. Reisen in die Vergangenheit, Berlin 1964, S. 53.
2 Inge Deutschkron, Ich trug den gelben Stern, Köln 1978, S. 46.
3 Marie-Luise Kreuter, Wo liegt Ecuador? Exil in einem unbekannten Land 1933-1945, Diss. Ms. Berlin 1995, S. IX
4 Jüdische Wohlfahrtspflege und So­zialpolitik, April 1936, S. 138f, Die Bedingungen der ICA-Kolonisation in Argenti­nien.

Fluchtziel Argentinien

Argentinien war in Latein­amerika neben Brasi­lien und Chile seit jeher ein bevorzugtes Einwande­rungsland. Dies lag ge­wiß auch daran, daß die Regie­rung gemäß Artikel 25 der ar­gen­tinischen Verfassung die Pflicht hatte, die euro­päische Ein­wanderung zu fördern. Juri­stisch gesehen hatten Ausländer­Innen dieselben Rechte wie die StaatsbürgerInnen: “Die Auslän­der besitzen auf dem Gebiet der Nation alle Rechte des Staats­bürgers. Sie können eine ge­werbliche, kaufmännische und sonstige berufliche Tä­tigkeit aus­üben. Sie können Grund und Bo­den besitzen, ihn kaufen und sich sei­ner entäußern. Schiffahrt auf den Flüssen und an der Küste be­treiben; frei ihren religiösen Kult aus­üben, als Zeuge fungie­ren und sich den Gesetzen ent­sprechend verheiraten.” (Artikel 20). Vor 1933 eingewanderte Deut­sche waren größten­teils selbständige Kaufleute, Ingeni­eure, Handwerker und Fachar­bei­ter. Viele Handelsfirmen und In­dus­trie­unternehmen befanden sich in deutschem Besitz. Schwer­punkt waren die Bau­branche und die che­mische Indu­strie. Dieser ökonomische Ein­fluß wurde seit der Machter­grei­fung der Nazis nun auch po­li­tisch wirksam, da sie durch die Gleich­schaltung der deutschen Ein­rich­tungen und Organisatio­nen bald in allen deutschen Fa­bri­ken, Handels­unter­nehmen und Banken be­stimmten. Begünstigt wur­de die Ausdeh­nung des deut­schen Faschismus durch die po­li­ti­schen Verhält­nisse in Argen­ti­nien. Der Gene­ral Agustin B. Ju­sto, von 1932 bis 1938 an der Macht, stand für eine antikom­munistische und antidemokrati­sche Politik.
Die liberale Ein­wande­rungs­po­litik Argentiniens be­stand nicht durch­gehend. Für die Ein­wanderung gün­stige Zei­ten wa­ren die er­sten Jahre nach 1933 und die Zeit der Prä­sidentschaft von Roberto Ortiz zwi­schen 1938 und 1940. Dieser ori­entierte sich au­ßenpolitisch vor allem an Großbri­tannien und zeigte eine klare Ableh­nung ge­genüber na­zistischen Organi­sationen. Nach 1933 stieg der An­teil der Deutsch­sprachigen sprung­haft an. Buenos Aires wur­de zum Zentrum der anti­faschistischen Ar­beit.
Großen Stellenwert in­nerhalb der an­tifaschistischen Bewegung in La­teinamerika hatte “Das An­dere Deutschland”. An­fangs ar­beitete diese Bewegung als Hilfskomitee für eintreffende Emi­grantInnen aus Deutsch­land und Spanien. Als der Flücht­lingsstrom nach Aus­bruch des zweiten Welt­krieges und der Niederlage Frankreichs zu­nahm, wurde “Das andere Deutsch­land” zum Sammel­becken der politi­schen Emigration in Argentinien. Ab Mai 1938 gab das Komitee eine gleichnamige Zeit­schrift heraus, die vor allem durch den Heraus­geber August Siem­sen zu einem wich­tigen Sprachrohr wurde. Die Zeit­schrift wurde durch die stei­gende Zahl der Emi­grantInnen nicht nur in Ar­gentinien, sondern auch im übri­gen Süd- und Nordame­rika be­kannt. In den 40er Jahren war die Auflage auf 4.000-5.000 Exem­plare gestie­gen.
Die einzige deutsch­sprachige Zeitung, die sich von Anfang an der Gleich­schaltung der Nazis wider­setzte, war “Das Argentini­sche Ta­geblatt”. Die bür­gerlich liberale Zeitung wurde 1889 von dem Schweizer Auswanderer Jo­hann Alemann in Buenos Aires gegründet. Sie bildete den Ge­genpol zur deutschnationalen Tages­zeitung “Deutsche La Plata-Zeitung”, die 1933 auf einen faschistischen Kurs ein­schwenkte. Zur gleichen Zeit veröffentlicht “Das Argentini­sche Tage­blatt” folgen­den Auf­ruf: “Deutsche Republi­kaner in Argenti­nien! Wollt ihr ta­tenlos zusehen, wie die Barbarei in der alten Hei­mat überhandnimmt? Könnt ihr gleich­gültig blei­ben, wenn Rassenphanta­sten und Macht­wahnsinnige deut­sches Ansehen schän­den? Alles was freiheitlich und fortschritt­lich denkt, muß jetzt eine ge­schlossene Front bilden. Schließt die Reihen um das Argentini­sche Ta­geblatt.”
In der Re­daktion arbeite­ten unter anderem Fritz Silberstein, Ex-Redakteur der “Deutschen Allge­meinen Zei­tung”, Peter Busse­meyer, ehe­maliger Latein­amerika-Korres­pondent der “Frankfurter Zei­tung, der Dichter Paul Zech und der Regisseur und Dra­maturg Walter Ja­cob.
Ihre tägliche Be­richterstattung über die Greu­elta­ten der Nazis in Eu­ropa führte zu direkten Re­ak­tio­nen der Aus­lands­organisation der NSDAP in Form von Brand­bomben, Boy­kott und Beschwer­den.
Als die deut­sche Gesandt­schaft am 1. Mai 1934 die Ha­kenkreuz-Be­flag­gung deutscher Firmen­nie­der­lassungen anord­ne­te, ver­öf­fent­lichte die Zeitung am fol­genden Tag Fo­tos mit den Filia­len von Siemens, Thys­sen und Bay­er un­ter der Über­schrift: “Die sich vor Hitler ducken.”
Die Zei­tung wurde bereits am 20. April 1933 in Deutschland verbo­ten. Es folgte die Aus­bürgerung einiger ihrer Re­dak­teure. Dem Her­ausgeber Dr. Erne­sto Ale­mann wurde sein 1915 in Heidelberg erworbener akademischer Grad entzo­gen. Die Zeitung konnte den Boykott und die Zen­sur nur deshalb überste­hen, da Ernesto Alemann in den 20er Jahren seine Druck­erei zu einer der größten in Ar­gentinien ausge­baut hatte.
Das “Argen­tinische Ta­geblatt” hatte Ende der 30er Jahre eine Auflage von mehr als 50.000 Exempla­ren pro Tag.
Zum 50jährigen Beste­hen am 29. April 1939 sandten be­kannte antifaschi­stische Emi­gran­tInnen ihre Glück­wünsche: Heinrich und Thomas Mann, Sigmund Freud, Al­bert Einstein, Anna Seghers, Lion Feucht­wan­ger, Ste­fan Zweig.
Ein Verein widersteht
Eine weitere deut­sche Ein­richtung, die sich der Gleich­schaltung der Nazis erfolg­reich widersetzte, war der Verein “Vorwärts”.
Als ältester deut­scher Arbei­ter­verein wurde er 1882 von deut­schen Arbeiter­Innen ge­gründet, die die Sozia­li­sten­ge­setze Bismarcks in die Emi­gration getrie­ben hatten. Der Vor­wärts hatte die spanische Be­zeich­nung Asociación de So­cor­ro Mutuos, Cul­tural y Depor­ti­va Ade­lante und war eine Ver­eini­gung für gegensei­tige Hilfe, Kul­tur und Sport.
Er wid­mete sich zu­nächst der Ver­breitung mar­xi­sti­schen Ge­dan­kengutes und ver­such­te Kon­tak­te zu ar­gen­ti­ni­schen Ar­bei­ter­In­nen zu knüpfen. Ab 1884 gab der Ver­ein die Wochen­schrift “Vor­wärts” mit dem Un­tertitel “Or­gan für die In­te­ressen des ar­bei­ten­den Volkes” he­raus.
Im Ver­eins­haus des “Vor­wärts” grün­dete sich im Jah­re 1895 die So­ziali­sti­sche Partei Ar­gen­ti­niens. Durch sei­ne Zu­sam­menar­beit mit an­de­ren Or­ga­nisationen wur­de der Verein bald ei­ne der trei­benden Kräfte der ar­gen­ti­nischen Arbei­ter­In­nen­be­we­gung.
Im Jahre 1933 war von der anfängli­chen Entwick­lung je­doch nur noch wenig zu spüren. Im Gegenteil, der Verein wurde mehr und mehr zu einem Ort der Gesellig­keit, wo Unterhal­tung, Sport und Gesang das Zusam­mentreffen der Mit­glieder aus­machte. Zunächst war es eher eine passive Resistenz, auf die die Nazis bei dem Versuch der Gleichschal­tung stie­ßen. Der Versuch den Ver­ein mit Nazis zu un­terwandern und so­mit umzu­polen, mißlang jedoch. Der Vor­stand hatte die Gefahr, die von der deut­schen Gesandtschaft und der Auslandsorga­nisation der NSDAP ausging, rechtzei­tig er­kannt. Trotz­dem gelang es den Nazis, dem Verein durch Dro­hungen, Erpressun­gen und Ver­spre­chen viele Mit­glieder zu ent­zie­hen. Die Wende zur anti­nazi­stischen Aktivität trat ein mit dem Zustrom deutscher Emi­gran­tInnen. In dem Vereins­haus grün­dete der deutsche Ma­ler und Graphi­ker Carl Meffert (Clément Moreau) die ak­tive Kaba­rett- und Theater­gruppe “Truppe 38”. Unter ihnen waren Pieter Siem­sen, Walter Rosen­berg und Re­nate Schotelius. Die durch Ver­anstal­tungen eingenomme­nen Ein­tritt­sgel­der wurden an das Hilfs­komitee für die in Frank­reich internierten Spa­nien­käm­pfer­Innen und auch für deut­sche Antifaschi­stInnen ge­spendet. Eine weitere Neu­gründung war die “Freie Deut­sche Bühne” un­ter der Lei­tung von Walter Ja­cob. Über zehn Jahre hinweg bis 1949 gab es Jahr für Jahr bis zu dreißig Neuin­szenierungen.
Die Pestalozzi-Schule im Widerstand
Doch nicht nur im poli­tischen und kulturellen Be­reich gelang es antifaschi­stischen Kräften der Gleichschaltung zu wider­stehen. Als 1933 die deut­schen Schulen in Buenos Aires unter den Ein­fluß der Nazis gerieten, gab es für viele Eltern keine Möglich­keit, dem faschistischen Gedan­kengut zu entgehen. Mit der An­kunft vieler Emigrantenfamilien nahm der Plan Ge­stalt an, eine neue Schule zu gründen. Zu die­sem Zweck wurde am 1. März 1934 die Pesta­lozzi-Gesell­schaft, Aso­ciación Cultura “Pesta­loz­zi” ge­bildet. Be­reits am 2. April des glei­chen Jahres konnte die Pestalozzi-Schule er­öffnet wer­den. Der Lehr­körper bestand überwiegend aus über­zeugten und aktiven Antifa­schisten, wie Au­gust Siemsen, Erich Bunke, Clé­ment Moreau. Die Schule wur­de durch die Öffentlich­keitsarbeit der Pesta­lozzi-Gesell­schaft weltweit be­kannt und mußte bereits drei Jahre nach ih­rer Grün­dung we­gen Über­fül­lung der Klas­sen für weitere Auf­nahmen gesperrt werden. “Wenn der Geschichts- und Deutsch­unterricht”, schrieb Dr. Au­gust Siemsen, der diese bei­den Fä­cher ab 1936 un­terrichtete, “beim Abgang von der Schule eine ge­wisse Vor­stellung oder nur eine Ah­nung davon bei den Schülern vermit­telt hat, daß sie in die entschei­denste Zeit der bisherigen Mensch­heitsgeschichte hinein­ge­boren sind, davon, wie die Ent­wicklung zu dieser unserer Ge­schichtssituation in großen Zü­gen sich vollzogen hat, wenn sie et­was erfassen von der großen uns Heutigen gestell­ten Aufgabe, eine gesellschaftliche Organisa­tion zu schaffen, in der das Glück des ein­zelnen und das der Gesellschaft sich gegenseitig bedin­gen, dann hat die­ser Unter­richt das Höchste erreicht, was ihm zu errei­chen möglich ist.”
Nach dem Ende des Krieges erfolgte auch aus Argenti­nien eine Rückwan­derung nach Deut­schland, wobei die meisten Flücht­linge sich für den sowje­tisch besetzten Teil Deutschlands ent­schieden. Viele blieben je­doch auch in Argenti­nien, wohl aus Angst vor der Zer­störung und Not, die sie in Europa er­wartete. Wer hätte damals ahnen können, daß Jahr­zehnte später der argenti­nische Staat­sterror Zehntau­sende zur Flucht in die entgegenge­setzte Rich­tung zwin­gen würde.

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