“Ausharren oder Flüchten”

Das Exil in Chile um­faßte rund 13.000 “deutsche Staats­bürger jü­dischen Glaubens”, rassisch Verfolgte des nationalsozia­listischen Regimes, und 300 politische Emigrant­Innen, auch unter ihnen zahlreiche deutsche Juden und Jüdin­nen, die ihr Fluchtziel größtenteils zwischen 1937 und 1939 erreichten.
Bis zur Reichspogrom­nacht vom 9. auf den 10. November 1938 hoffte die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung, in Deutsch­land weiterleben zu kön­nen. Nach der ersten großen Fluchtbewegung des Jahres 1933 überwog bis ins Jahr 1936 der Entschluß, in der Heimat zu blei­ben. Danach stiegen die Flücht­lingszah­len, auch in die latein­ame­rikanischen Länder, deut­lich an. Der Prozeß der Loslösung von vertrauter Umgebung und gesicherten Lebensumständen brauchte Zeit. Dennoch gab es seit dem “Aprilboykott” gegen jüdische Geschäfte, An­walts- und Arztpraxen kaum noch eine jüdische Familie, in der nicht die Worte Flucht, Auswande­rung oder Emigration ge­fallen waren. Ihr Entschluß, Deutschland nicht zu ver­lassen, ist als ein Akt der Selbstbehauptung zu be­trachten. Bis 1938 ver­stärkte die außen- und wirtschaftspolitische Inter­essenpolitik des NS-Regi­mes die Hoffnung der deutsch-jüdischen Bevöl­ke­rung, daß sich das Re­gime auf eine rechtliche Aus­grenzung beschränken wür­de. Trotz der zuneh­menden ge­sellschaftlichen Aus­gren­zung und Isolation schien das öko­nomische Exis­tenzminimum ge­währ­leistet zu sein. Vor allem die ältere Generation, die der Kriegs­teilnehmer des Ersten Weltkrieges, hoffte, daß sich das Regime auf eine Dissimilation be­schränken würde. Zwischen der Al­ternative “Ausharren oder Flüchten” zu wählen, fiel der jüngeren Generation leichter. Sie erreichten frühzeitig die euro­pä­ischen Exilländer und die USA, während die ältere Genera­tion in südamerikanische Länder emi­grierte, die ihre Grenzen noch bis zuletzt offen hatten. So erklärt sich der hohe Alters­aufbau des chilenischen Exils: Über die Hälfte der Flüchtlinge war über 50 Jahre alt.
Die Immigrationsaffäre
Das Einwanderungsland Chile galt am Ende der dreißiger Jahre als vorbild­lich in seiner Haltung ge­genüber ImmigrantInnen. Es war die Rede vom “Ein­wan­de­rungsparadies Chi­le”. Im latein­amerika­nischen Vergleich nahm die Andenrepublik pro­portional zur Einwohnerzahl die größte Zahl der Flüchtlinge auf.
Zwei Phasen chilenischer Flüchtlingspolitik sind zwi­schen 1933 und 1941 auszumachen. Die erste, während der konser­va­tiven Regierung des Prä­sidenten Arturo Alessandris bis zum Herbst 1938, war von einer mehrfachen Verschärfung der Asylgesetzgebung ge­kenn­zeich­net. Diese Politik wurde als Re­aktion auf die Welt­wirt­schafts­krise be­zeichnet und mit dem Schutz des heimischen Ar­beits­marktes begründet. Re­strik­tionen wie die Quo­tierung der jüdischen Im­migration und die berufli­che Beschränkung auf Landwirte wiesen je­doch rassis­tische Ten­den­zen auf; bereits 1933 war ei­ne Einwan­derungsbe­schränkung der “semi­tischen Rasse” beab­sichtigt. 1937 wurde die Gesetz­ge­bung neuerlich ver­schärft. Nur noch Ver­wandte ersten Grades be­reits in Chile lebender Aus­län­derInnen sollten Visa erhalten. Die zweite Phase (von 1938 bis 1941) wäh­rend der Volks­front­regie­rung unter dem Prä­sidenten Pedro Aguirre Cerda cha­rak­te­ri­sierte demgegenüber eine groß­zügige, liberale Hand­habung der Asylge­setzgebung, die sich ne­ben Chile auch in anderen la­tein­ame­rikanischen Ländern ins­be­sondere von der Einwan­de­rungs­praxis der USA un­terschied.
Die politische Instru­men­ta­li­sierung der jüdi­schen Im­mi­gra­tion durch das seit 1938 verstärkt auf­tretende “Movi­miento Na­cio­nalsocialista de Chile” (MNS) und seinen “Füh­rer” Jorge Gon­zález von Marées erzwang 1940 den Rücktritt des Außen­mi­nisters der Volks­frontre­gierung.
Das MNS schürt
den Antisemitismus
Der Verlauf die­ser sogenannten “Immi­gra­tions­affäre” zeigte die Ge­fahren einer Politi­sierung der Asylgesetzge­bung. An­ti­se­mi­ti­sche Vor­urteile lebten auf, die vom MNS und ei­nigen konser­va­tiven Senatoren in den Par­la­mentsdebatten diskus­sions­fähig gemacht wurden und in der Pres­se weite Verbreitung fanden. Der Recht­fer­ti­gungs­zwang, den das MNS der Volks­frontre­gierung aufzwang, ging mit nationa­listischen Argu­men­ten (“Chile den Chile­nen”) ein­her und mün­dete in der Wahn­idee einer “jüdisch-kom­mu­ni­stischen Welt­verschwörung”.
Jorge González von Ma­rées erhob eine Verfas­sungsklage ge­gen den Au­ßenminister der Volksfront, Abraham Ortega, da er die Ehre der Nation mißachtet und Bestechungsgelder für “jüdi­sche Visa” angenom­men habe. Die Ergebnisse der eingesetzten Un­tersu­chungskommission reihten weder der Ab­ge­ord­ne­ten­kammer noch dem Senat aus, um der Anklage des “chi­le­ni­schen Führers” zu­zustimmen. Dennoch hatte das MNS seine politische Absicht erreicht, eine anti­se­mi­tische Stimmung in der Be­völ­ke­rung zu schüren.
Der Prozeß gegen den Au­ßen­minister offenbarte der (im übri­gen nach einem gescheiterten Putschversuch der chilenischen National­sozialisten mit den Stimmen des MNS) Volks­front­re­gie­rung, daß sich die ge­setz­lichen Einwanderungs­be­schrän­kungen – zum Glück der Ver­folgten – umgehen ließen, da sie nur mit großem bürokratischen Auf­wand kontrollierbar wa­ren. Zugleich aber de­monstrierte der Prozeß die schwerwiegenden Folgen einer lückenhaften Asyl­ge­setzgebung, die ihre Aus­führung wenigstens zum Teil dem Wohlwollen von Ein­zel­per­sonen anheim­stellte. Sie er­laubte es den chilenischen Konsuln, im Ausland vom Außenmini­sterium bereits er­teilte Visa zu blockieren. Durch ein ent­sprechendes “Informa­tions­schreiben” über die Person des An­tragstellers oder der An­trags­stellerin wurde der büro­kra­tische Apparat er­neut in Gang ge­setzt, wäh­rend den Verfolgten bereits die De­portation in ein Konzen­trationslager drohte. Häufig erwiesen sich die Konsuln als größtes “Emi­gra­tions­hindernis”, da sie dem na­tionalsozialisti­schen Regime durchaus positiv gegen­über­standen.
Der politische Druck der “Anti-Immigrationskampa­gne” zwang die Volks­frontregierung, ein Zeichen zu setzen, daß die Ge­setzgebung nicht will­kürlich auslegbar war: Mitte 1940 ver­hängte sie einen Ein­wan­de­rungs­stopp. Die hu­manitär be­gründete Asyl­praxis der Volks­front­re­gierung fiel damit politi­scher Interessenspolitik und ei­ner lückenhaften Asylge­setz­gebung zum Opfer, de­ren un­kon­trol­lier­bare Ver­fahrensregelung auf der an­deren Seite vielen Flücht­lin­gen das Leben rettete.
Die Fluchtbewegung aus dem “Dritten Reich” hätte längst vor Kriegsbeginn ei­ner flexibleren, internatio­nalen politischen Ant­wort bedurft. Zumindest für ei­nen kurzen Zeitraum ist die chi­lenische Volksfront­regie­rung diese Antwort nach der Flücht­lings-Kon­ferenz von Evian im Som­mer 1938 nicht schuldig geblieben.
Aus der Perspektive des Exils stellte sich das Auf­nahmeland Chile, obschon die Emi­grant­In­nen zu jenen “unbeliebten” ver­armten Flüchtlingen gehörten, als “vorteilhaft” heraus. Inso­fern kann der Integrations­prozeß in Chile im latein­amerikanischen Vergleich nicht als typisch be­zeichnet werden. So bot die Me­tro­pole Santiago den Flücht­lin­gen leichtere Integrati­ons­chan­cen als der Urwald Boliviens oder die Haupt­stadt La Paz, die viele ver­ließen, um nach Chile oder Argentinien weiterzuwan­dern. Im Gegensatz zu an­ti­se­mi­tischen Anfeindungen in Bo­li­vien erfuhren die Chile-Emi­grantInnen auch eine freund­lichere Auf­nahme.
Intgration und
Akkulturation in Chile
Der Ankunft folgte an erster Stelle die Wohnungs- oder Pen­sionssuche. Falls keine Ver­wandten oder Be­kannten in San­tiago und Valparaíso lebten und die Neuankömmlinge abholten, vermittelte die CHILEHI­CEM, eine jüdische Hilfs­organisation, häufig eine Adresse. Auf den­je­nigen, so der Wiener Emigrant Wal­ter Klein in seiner Auto­bio­graphie, dem es nicht gelang, “einen Landsmann für sich zu interessieren”, warteten Tage, Wochen, Monate “voller bitterer Not”, “bis es ihm glückte, ir­gendwo unterzuschlüpfen, im Hafen, auf dem Markt, als Haus­diener, als Landar­beiter, als irgendetwas.”
In den Pensionen, die zugleich zur Existenzsiche­rung früher ein­ge­troffener Flüchtlinge bei­tru­gen, wur­den Mittagstische an­ge­bo­ten, so daß man teures Essen im Restaurant ver­meiden konnte und den­noch Gelegenheit hatte, sich mit Bekannten oder Freun­den über Möglich­keiten eines Neubeginns, freie Arbeitstellen und Wohnungsmieten auszu­tau­schen. Die Pensions­zimmer wa­ren klein, manchmal ohne Fen­ster und mit bil­ligen Möbeln aus­gestattet. Aber sie hat­ten einen entscheidenden Vorteil: die Menschen konnten sich in deutscher Sprache verstän­digen. Al­lemal ein Um­schlagsplatz der Informa­tionen, entwic­kelten sich die Pensionen ebenso wie das Büro der CHILE­HICEM zur Nach­rich­ten­börse der deutschen Emi­gration.
Ökonomische und
soziale Integration
Den Pensionen und mö­blier­ten Zimmern folgte, wenn alles gut ging, der erste soziale Auf­stieg. Man wohnte zur Un­ter­mie­te oder teilte sich mit anderen ei­ne Wohnung, bis man schießlich ei­ne eigene mie­ten konnte oder sich in ei­nem besseren Stadtteil San­tiagos ein Wohnhaus kauf­te. Die ersten Monate be­standen aus Provisorien. Wer Umzugsgut verschiffen konnte, erst recht nach Kriegsbeginn, hatte großes Glück, wenn es auch manchmal absurd erschien, was man mit­ge­nommen hatte: Kopfkissen, Fe­der­betten, weißes Bettzeug, ein paar Tischtücher. Manche ba­stel­ten aus ihren Schiffs­kisten das erste Bett, den ersten Klei­der­schrank oder Küchentisch, der zugleich als provisorischer Arbeits­platz diente. Im “chi­le­n­i­schen Erfogsfall” ging der In­te­grationsprozeß von einer ersten Phase der Neuorientierung und Ar­beitssuche über in eine Phase größerer finanzieller Ab­sicherung und mündete schließ­lich in die Gründung einer neuen Existenz, die etwa dem gesell­schaftlichen Status vor der Flucht ent­sprach. Die Im­mi­grantIn­nen trafen auf günstige wirtschaftliche Bedingun­gen. Sie ließen sich in der Hauptstadt nie­der, und vie­len bot die her­stellende und verarbeitende Tex­tilin­dustrie den Neueinstieg ins Wirtschaftsleben, so daß sich ein ganzer, aus Deutschland bekann­ter In­dustrie- und Gewerbezweig re­produzierte.
Die Bilanz der ökono­mischen Integration fällt keineswegs nur positiv aus. Eine akademische Ausbil­dung, der Beruf des Rechtsanwaltes, Arztes oder auch Chemikers und Phar­ma­zeu­ten standen der Exi­stenz­gründung in Chile ebenso wie in Bolivien oder Peru in Wege. So arbeite­ten Rechstsanwälte als La­geristen, Büroangestellte, Ver­käufer von Erfrischun­gen und Schreibwaren. Ärz­te wurden Sanitäter, Kran­kenpfleger, Mas­seure, Begleiter von Fußball­grup­pen. Architekten wurden technische Zeichner und Innen­dekorateure; Apothe­ker arbei­te­ten in Drogerien und Labo­ra­to­rien als ge­wöhnliche Angestellte.
Vor allem fiel den Frauen eine besondere Bedeutung zu, deren Arbeitskraft manchmal ein Ab­sinken der Einwandererfamilien in die Armut verhindern half. In fast allen Veröffentlichun­gen über die Phase der Existenz­grün­dung im Exil findet sich der Hin­weis, daß Frauen die Hauptstüt­zen in finanzieller und emo­tio­na­ler Hinsicht waren. Psycho­logisch scheinen sie das Trauma der Flucht besser bewältigt zu haben und fanden sich in kürze­rer Zeit mit der Lebensumstel­lung zurecht. Frauen über­nah­men neben Haushalt und Kin­dern die Verant­wortung für den finanziel­len Unterhalt: sie wur­den Sekretärinnen, Gouvernan­ten, Lehrerinnen, er­öffneten Geschäfte, wurden Näherinnen, Kassiererin­nen, Verkäuferinnen und Buchhalterinnen. Auch die Pensionen wurden häufig von Frauen geführt.
Jüdischer Widerstand
im Exil
Im Jahr 1936 wurde das Komitee gegen den Anti­semi­tis­mus gegründet, das die Be­kämpfung solcher Tendenzen im Aufnahme­land Chile und Auf­klä­rungsarbeit über die natio­nal­sozialistische Rassenpo­litik zur Aufgabe hatte. Das Komitee wollte ohne jegli­che politische Parteilichkeit auf nationaler und interna­tionaler Ebene arbeiten und sich in der Tradition jüdi­schen Abwehrkampfes der Auf­klärungsarbeit widmen. Seine Tätigkeit blieb eher zu­rück­hal­tend. Die Immi­grantInnen wur­den dazu aufgefordert, sich nicht laut in deutscher Sprache zu un­ter­halten, bzw. in größe­ren Grup­pen in der Öffent­lichkeit auf­zu­tre­ten.
Synagoge in der Avenida Portugal in Santiago de Chile. Zwischen ’45 und ’94 funktionierte hier das Gemeindezentrum von B’ne Jisroel.
Eine weitere Aufgabe bestand darin, andere Or­ganisationen zu unterstüt­zen. Eine davon organi­sierte Handel und Industrie jü­discher Herkunft, um strategisch jene Marktbe­reiche aus­zu­schal­ten, die ansonsten von Nazis ge­nutzt wurden.
Chile: kein Wunschziel
Eine Bilanz der Akkul­tu­ra­tion, deren Probleme auch als ge­nerationsspezi­fisch zu cha­rak­te­risieren sind, muß die “Rück­wärtsgewandtheit des Exils” berücksichtigen.
Der Berufseinstieg fing nur zum Teil die durch die Flucht be­dingte soziale De­klassierung auf und ließ nicht immer den Wie­der­einstieg in eine bürgerliche Existenz erhoffen. Das Exil en­dete keineswegs mit dem Ab­schluß eines Arbeitsver­trages, der Eröffnung eines Geschäftes oder Kleinun­ternehmens in Chi­le. In Südamerika erkannte jeder sogleich die EmigrantInnen, und daß man überhaupt als Emigrant bezeichnet wurde, “das machte es umso schwerer, zum Im­mi­granten zu werden.”
Da die Europäer in den Län­dern Lateinamerikas den Ruf hö­herer Bildung genossen, kam die Bevöl­kerung den ImmigrantIn­nen zwar mit Respekt ent­gegen, allerdings ebenso mit ironischer Distanzie­rung von deutschem Fleiß und deutscher Pedanterie, Pünktlichtkeit und Ar­beit­sam­keit, aber auch Überheblichkeit. Dennoch zählten die Deutschen in Chile zur beliebtesten aus­län­dischen Minderheit: Wer heute unter EmigrantInnen zu wählen hätte, meinte der von 1939 bis 1943 amtie­rende US-ame­ri­kanische Botschafter in Chile Claude G. Bowers, der würde die Deutschen vorziehen.
Von den Einheimischen als Deutsche betrachtet, re­prä­sentierten die deutsch-jüdischen Emi­grantInnen die von Chile­nen als “typisch deutsch” bezeich­neten Tugenden. Dieser Rückzug brachte teilweise eine enorme Ab­grenzung gegenüber der chilenischen Kultur mit sich.
Indem sie die chilenische Staatsbürgerschaft erwar­ben, drückten die Immi­grantInnen zu­mindest in den ersten Jahren des Exils weniger ihre Dankbarkeit oder nationale Solidarität aus, als ihre Distanz zum Herkunftsland, das sie, wenn nicht bereits vor 1941, so doch seitdem kol­lektiv aus­gebürgert hatte. Sie wollten die allenfalls als Rehabilitation, keinesfalls jedoch als Wieder­gut­ma­chung zu bezeichnende Wie­der­einbürgerung nicht erwerben und sich nicht den hiermit ver­bun­denen , häufig ent­wür­di­gen­den und quälenden Ver­fahren aus­setzen, das sich über Jahre hin­ziehen konnte. Die Chile-Emi­grantInnen grif­fen die Frage der Staats­bürgerschaft insofern nicht im Kontext der Integration in das Exilland auf- viel­leicht, weil man erfahren hatte, wie we­nig die Staats­bürgerschaft zählen konnte.
Dennoch beantragte die zweite Generation der NS-Ver­folg­ten und ihre Kinder die chi­le­nische Staatsbür­gerschaft offen­bar weder sehr früh noch in über­wie­gender Mehrheit. Gründe hier­für sind nur mutzuma­ßen. Sie können wie in Ar­gentinien auf die unsiche­ren politischen Ver­hältnisse zurückzuführen sein, die viele ImmigrantInnen in La­teinamerika zur Wieder­an­nah­me der deutschen Staats­bür­ger­schaft veranlaß­ten. Im Jahr 1970 führte beispielsweise die Wahl Sal­vador Allendes zum Staats­prä­sidenten Chiles, die eine weit­aus stärkere Flucht­bewegung der deutsch­sprachigen Emigra­tion aus­löste, als der Putsch der Mi­li­tärs unter General Augusto Pi­nochet 1973, zu einem Anstieg der Wie­dereinbürgerungsanträge. Über 2.000 jüdische Emi­grant­Innen verließen 1970 in kür­ze­ster Zeit ihr Exilland.
“Selbstisolierung”
Den älteren jüdischen Emi­grant­Innen war und ist es be­wußt, daß sie trotz jahrelanger An­sässigkeit im Land “zu ihren ein­heimi­schen Nachbarn noch im­mer nicht den richtigen Kon­takt gefunden haben.” Handelte es sich um eine “Selbstisolierung”? Ein Teil der jüdischen Emi­grantInnen, von denen hier die Rede ist, schloß sich der 1938 gegründeten deutsch-jüdischen “B`ne Jisroel” an, um an ihrem Gemeindeleben, den Got­tesdiensten, Veranstal­tun­gen etc. teilzuhaben. Die Ge­mein­de übernahm die Funktion einer “Heimat in der Fremde” und gab den Flüchtlingen Halt und soziale Sicherheit. Die Teil­nahme beziehungsweise Mit­glied­schaft implizierte nur in gewissem Maße eine Hin­wendung zum religiösen Le­ben, in jedem Fall aber zu einem be­wußten Juden­tum und dessen na­tio­naler Heimat Israel.
Der eingangs erwähnte para­doxe Eindruck eines Rückzugs auf das Deutschtum sollte nicht vor­wiegend als Abgrenzung von der Kultur des Auf­nahmelandes, wel­che ein­zelnen häufig fremd ge­blie­ben ist, oder als “Ko­lo­ni­sten­mentalität” be­wertet werden. Die Emi­grantInnen bewahrten sich ein “deutsches Kulturle­ben”, von dem sie sich nicht trennen woll­ten, und über­brückten auf diese Weise die Fremdheit in der neuen Umgebung. Unter den deutsch-jüdischen Im­mi­grant­Innen der ersten bei­den Gene­rationen bil­dete sich viel­fach eine “drei­geteilte Identität” heraus: Man bekannte sich zum Juden­tum, fühlte sich der deutschen Kultur ver­bunden und be­trachtete das Auf­nahmeland weit über das Gefühl der Dank­bar­keit hin­aus als seine Heimat. Die chilenische Gesellschaft hat die­se Identität, wenn­gleich sie nach Auschwitz durchaus einer er­neuten Selbstversicherung be­durf­te, keinem Assi­mi­la­tions­druck ausgesetzt. Weitaus die Mehr­heit der deutsch-jü­di­schen Emi­grantInnen ist in Chile ge­blie­ben, eine Rückkehr nach Deutsch­land stand nicht zur Dis­kussion.

Von der Autorin liegt eine Dissertation über das “Exil in Chile” vor. Dort wird auch das politische Exil und die Haltung der deutschen Ko­lonie berücksichtigt.
Irmtrud Wojak, Exil in Chile. Die deutsch-jüdische und politische Emigration wäh­rend des Nationalsozialis­mus 1933-1945, Berlin, METROPOL;1994)

Lebenswege – Zwischen Europa und Lateinamerika

“Exil ist wie wenn Blätter und Wurzeln eines Baumes keinen Kontakt mehr zu Luft und Erde, ihrem Lebensraum, haben. Es ist das plötzliche Ende einer Liebe; es ist wie ein unvorstellbar schreckliches Sterben, weil es ein Sterben ist, das man bewußt erlebt.”
Dieses Zitat von Julio Cortá­zar spiegelt vermutlich das Ge­fühl der meisten Menschen wi­der, die in dem Buch zu Wort kommen. Ihre Flucht und die verzweifelte Suche nach einem Exilland verlief oft unter drama­tischen Umständen. Der Ab­schied von ihrer Heimat und die Trennung von Familie und Freunden bedeutete für sie eine sehr schmerzvolle Erfahrung. Im Gegensatz aber zu vielen ande­ren, denen die Flucht nicht mög­lich war oder die am Exil zerbra­chen, gelang es ihnen, der Ver­folgung zu entgehen und sich in ihrem Zufluchtsland eine neue Existenz aufzubauen.
Es kommen hier aber nicht nur Menschen zu Wort, die in das Exil flüchten mußten, son­dern auch Fluchthelfer wie Gil­berto Bosques, der während des Zweiten Weltkriegs als General­konsul von Mexiko vielen Ver­folgten die Emigration über Frankreich nach Mexiko ermög­lichte. Die Schauspielerin Steffi Spira gelangte mit Bos­ques Hilfe nach Mexiko: “Wir waren glücklich, daß wir die Möglich­keit hatten, nach Mexiko zu ge­hen. Natürlich sind wir gerne dorthin gegangen, wir ha­ben nicht etwa Hemmungen ge­habt, nein, wir waren an und für sich sogar glücklich, nicht nach Nordamerika zu gehen, weil wir fanden, Mexiko sei eben doch ein unbetretener Boden”. Ob­wohl sie nicht das Exilland aus­wählen konnte, machte sie sehr positive Erfah­rungen in Mexiko und hatte so­gar die Möglichkeit, in ihrem Beruf zu arbeiten.
Ein weiteres Land, das zahl­reiche Flüchtlinge aufnahm war Argentinien. Nelly Meffert schil­dert das Leben in der Exilge­meinschaft in Buenos Aires, zu der viele politisch aktive Künst­lerInnen und Intellektuelle gehör­ten. Dazu zählte auch die Familie von August Siemsen. Sein Sohn Pieter berichtet von der Arbeit für die Zeitschrift und Bewegung “Das andere Deutsch­land”, die sein Vater leitete und die in der linken und demokrati­schen Strömung eine wichtige Rolle spielte. Für ihn, wie für die mei­sten Flüchtlinge war es wichtig, ihre politische Arbeit, die auch oft der Grund für ihr Exil war, dort weiterzu­führen.
Von dem Weg in die andere Richtung spricht der argentini­sche Schriftsteller und Publizist Osvaldo Bayer. Nach dem Mili­tärputsch 1976 mußte er Argen­tinien verlassen und flüchtete nach Deutschland. Doch das Exil erlebte er als sehr zwiespältig, denn er flüchtete in ein Land, daß dem Militärregime in Ar­gentinien kritiklos gegen­überstand und es teilweise sogar unterstützte: “… die Verzweif­lung, sich da zu befinden, wo das System entwickelt wird, das die Tragödie des Exils, den Tod und die Verhaftung von Freunden ja möglich macht. […] Und da erle­ben wir schon die Zwiespältig­keit in der Existenz des latein­amerikanischen Exilierten, der sich gezwungen sieht in irgend­einem industrialisierten Land der westlichen Hemisphäre zu le­ben.” Dies ist nur ein Teil des Deutschlandbildes das Osvaldo Bayer 1976 in seinem Referat “Bundesrepublik Deutschland: Das Bild eines lateinamerikani­schen Exilierten” dargestellt hat.
Die Interviews ermöglichen es, einen wichtigen Teil Ge­schichte zu verstehen und zeigen die Parallelen zur heuti­gen Flücht­lingsproblematik.

Gert Eisenbürger (Hg.): Le­bens­wege – 15 Bio­gra­phien zwi­schen Europa und La­tein­ame­rika; Verlag Li­ber­tä­re As­so­ziation, Ham­burg 1995, 240 S., DM 24,-

Stabilität auf Zeit

Die kleine Minderheit von vier Millionen BürgerInnen, die nach Jahren der Deindustrialisie­rung und Deregulierung von der argentini­schen Mittelklasse noch übriggeblieben sind, haben wohl am mei­sten von der Währungs­stabilität profitiert. Gestiegene Gehälter in der Pri­vatwirtschaft und in leitenden Positionen der Verwaltung bei einer erleichter­ten Kreditaufnahme haben ihr Zugang zu den mo­dernsten Im­portprodukten ermöglicht. In den Jahren galoppierender Inflation unter der Regierung Alfonsín schien ein gewisser Nach­holbedarf entstanden zu sein, der in den letzten Jahren befriedigt werden kann wie zu Zeiten des “süßen Geldes” (plata dulce) unter der letzten Militärdiktatur. In erster Linie wurden die flüssi­gen Dollar-paritätischen Pesos in langlebige Konsumgüter, Ap­partements und Reisen umge­setzt.
Mehr denn je ist der Konsum nicht nur auf die unmittelbare Bedürfnis­befriedigung ausge­richtet, sondern darauf, das neu Erwor­bene zeigen zu können. Ein Auto sollte importiert sein, auch wenn auf dem heimischen Markt vergleichbare Qualität zu bekommen ist. Bei Bekleidung und Schuhen zählt nichts mehr als das sicht­bare Markenzeichen. Reisen werden danach gebucht, was gerade “in” ist. Dazu zählen Disneyland in Orlando, Florida, oder Cancun in Mexico.
Heute fährt der Mittel­klasse-Argentinier allerdings auch nach Punta del Este, in den uruguayi­schen Badeort der “Reichen und Schönen” des Cono Sur, und wenn’s nur für eine Woche ist.
Konsum und Image
als Lebensinhalt
Natür­lich wird auch an die Bedürf­nisse der Kinder gedacht. So rechnete das bedeutendste politische Wochenmagazin “Noticias” kürzlich vor, was die Spröß­linge der Mittelklasse so benötigen: Für Studium, Un­terhaltung, Bekleidung, Miete und Fahrtkosten kommen mo­natlich ca. 850 US-Dollar zu­sammen, etwa das Dop­pelte ei­nes argentinischen Min­destlohns.
Viele haben sich zur Erfül­lung dieser lang gehegten Wün­sche bis über die Oh­ren ver­schuldet. Selbstverständlich sind Kredite in US-Dollars aufzu­nehmen. An­sonsten gilt nach wie vor die beliebte Zah­lungsweise mit Kreditkarte, wobei man bis zur Abbuchung im besten Fall zwei Monate gewinnen kann, und es wird auf Raten gekauft.
An­gesichts seiner eigenen Ver­schuldungssituation resü­miert ein selbstkritischer Gesprächs­partner, die Ar­gentinierInnen hätten wohl eine ökonomi­sche Harakiri-Mentalität entwickelt: Was zähle, sei der Konsum im Augenblick, auch wenn die Verschuldung beispiels­weise bei einer Abwer­tung des Peso sicher in den fi­nanziellen Ruin führe.
Für Aufsehen sorgte Ende 1994 die Veröffentlichung der offiziellen Arbeitslo­senstatistik. Mit über 13 Prozent wurde ein neuer Rekord aufge­stellt, in ei­nem Land, dem sein Präsident vor fünf Jahren eine “produktive Revolution” versprochen hatte. Gleich nach der Veröffentli­chung meldeten sich Regie­rungsvertreter und schließlich der Präsident, an dem Besorg­nis über die soziale Lage im Lande sonst abperlen wie an einem Re­gencape, höchstpersönlich zu Wort, um die Daten als übertrie­ben zu demen­tieren. Bei höchstens 9 Prozent liege die Arbeitslo­sigkeit, rechnete Menem vor.
Tatsächlich jedoch, so belegt Susana Torrado, ehe­mals hohe Funktionärin des nationalen Sta­tistikinstituts INDEC, haben rund 40 Prozent der Argenti­nierInnen Probleme mit dem Ar­beitsplatz. Offiziell würden je­doch le­diglich die Personen stati­stisch berück­sichtigt, die sich ar­beitslos gemeldet hät­ten. Wer sich dagegen innerhalb der letz­ten Woche nicht mehr arbeitslos gemeldet habe, falle aus der Sta­tistik. Ebensowenig tauchten diejenigen in der Da­tensamm­lung auf, die hoffnungslos unter­be­schäf­tigt seien, mit Ein­künften unter­halb des Ex­istenzminimums auskommen müßten oder schwarz arbeiteten. Dabei gebe es von Mal zu Mal weniger Lohnab­hängige und immer mehr unabhängig Be­schäftigte, womit in erster Linie infor­melle Tätig­keiten gemeint sind – etwa ambulante Händ­lerInnen.

An der Spitze der Arbeitslo­senstatistik stehen Städte wie San Mi­guel de Tucu­mán, die wichtigen Hafenstädte Bahía Blanca und Rosa­rio und die Provinzhaupt­stadt Santa Fé. Im Großstadtgürtel um Buenos Ai­res liegt die offi­zielle Arbeitslo­senquote bei 14,9 Prozent, und die Industriebetriebe sterben weiter. Gerade hier hat man Angst vor den Kon­sequenzen der Marktöffnung im Zuge des Mer­cosur. Der brasilianischen Industrie­produktion fühlt man sich nicht gewachsen. Schon jetzt sind in den Straßen zahlrei­che Volkswagen do Brasil zu se­hen, und auf den Landstraßen aus Richtung Norden rollen im­mer mehr brasilianische LKWs, ob nun mit Auto­teilen oder Brahma-Bier bela­den.
Der Besitzstand
wird verteidigt
Wichtigste Antwort der Poli­tik auf die wachsende Arbeitslo­sigkeit ist ein Geset­zespaket zur weiteren Flexibilisierung der Ar­beit. Erwartet werden Produktivitäts­zuwächse und eine Verbesserung der in­ternationalen Konkurrenzsitua­tion, denn die Arbeitskraft sei in Argentinien nach wie vor teurer als in den Nachbarländern – ver­sprochen wird eine rasche Ab­nahme der Arbeitslosenzahlen.
Publikums­wirk­samer ist aller­dings eine mit Unter­stüt­zung der Medien betriebene Kampa­gne ge­gen illegal Beschäftigte, die über­wiegend aus Chile, Peru und Bolivien kommen. Daß diese auf dem Bau und in einfachen Dienstleistungen Eingesetzten zahlenmäßig eigentlich keine Rolle spie­len, stört dabei wenig. “Die Chilenen nehmen uns die Ar­beitsplätze weg”, heißt es.
Der Staat, hier personifiziert durch den Innenminister, veran­laßt Raz­zien, und das Fernsehen setzt alles ent­sprechend ins Bild: Illegale ausländische Arbeiter werden wie Schwerverbrecher in Handschellen abgeführt, als erste Mel­dung in den Abendnach­richten. Die neue­sten Daten des INDEC belegen dagegen: Selbst wenn alle in den letzten fünf Jah­ren nach Argentinien ge­kommenen Arbeits­kräfte in ihre Heimat­länder zurückkehren würden, sänke die Arbeitslosig­keit um le­diglich 0,2 Prozent.
Insbesondere im Großstadt­gürtel von Buenos Aires sind Armut und soziale Ungerechtig­keit weiter gewachsen. Hier tei­len sich 54 Prozent der am unte­ren Rand der Einkommenspyra­mide Angesiedelten un­ter­einander ebensoviel wie die 6 Prozent an ihrer Spitze. Die so­zialen Konflikte und die Krimi­nalität nehmen drastisch zu, und auch hier reagiert der Staat demon­strativ mit harter Hand. Immer häufiger werden beson­ders jugendliche Delin­quenten von Polizisten umgebracht.
Medien, Glanz und Glitter trüben die Wahrnehmung
Wäh­rend die Reichsten in pri­vat bewachten Vierteln des Hauptstadtbezirks wohlge­schützt leben, sind in dieser Region ange­siedelte Kleinun­ternehmen und Mittel­klasse-Wohnungen Ziel von Einbrüchen und Rau­büberfällen. Immer häufiger verteidigen die Besitzer ihr Ei­gentum mit der Waffe in der Hand, und die Justiz zeigt dabei weitgehend Verständnis.
Vor etwa zwei Jahre erregte der Fall eines Mannes Aufsehen, dem mehr­fach sein Cassettenre­corder aus dem Wagen gestohlen worden war. Als er bei einem weiteren Diebstahlversuch den Täter stellen konnte, erschoß er ihn auf of­fener Straße. Nach wie vor befindet sich der Schütze, ein Ingenieur und braver Fami­lienvater, auf freiem Fuß. Das Ge­richt gestand ihm zu, er habe sich in einer Schocksituation be­funden.
Ähnliches wer­den wohl ein Vater und sein Sohn geltend ma­chen können, die im Dezember nach dem Diebstahl ihres Autos den po­tentiellen Täter verfolg­ten, mit mehreren Schüssen verletz­ten, auf ein leeres Grund­stück warfen und dort verbluten lie­ßen.
Daß die Wahrnehmung der wirklichen sozialen Lage allzumal bei der konsumorien­tierten Mittelklasse getrübt er­scheint, dafür sorgen die Wer­bung und die Me­dien, allen voran das Fernsehen. Geradezu obszön erscheinen in diesem Kontext die Hinweise auf Schlankheits­kuren, Diäten und Fitness, die neben der Markenklei­dung die äußere Er­scheinung der moder­nen Argen­tinierin und ihres männlichen Pendants vervollkommnen sol­len. Vor- und Nachmittagspro­gramme des Fernse­hens sind mit Telenovelas argentinischer Pro­duktion, venezo­lanischen oder mexi­kanischen Culebrones, die unendli­chen Fernseheserien, oder Spielshows ge­füllt.
Unterhaltung ist alles, je greller und lauter, um so besser. Die höchsten Ein­schaltquoten erzielt nach wie vor die nie al­ternde Mirta Legrand, die seit Jahren Gäste aus Politik, Sport und Showbusiness zum Small­talk beim Mittagessen einlädt. Einmal im Jahr darf auch der Präsident kommen und nach Herzenslust plaudern.
In den Abendprogrammen dominieren seit zwanzig Jahren dieselben Namen die Diskussionssen­dungen. Bernardo Neu­stadt (“Tiempo Nuevo”) ver­breitete seine reaktionären Weis­heiten schon unter der Militärdikta­tur. Mariano Gron­dona tat dies frü­her mit ihm ge­meinsam, hat mittlerweile jedoch sein eigenes Programm (“Hora Clave”). Die beiden Altmeister haben inzwi­schen mit “Hadad y Longobardi” eine ju­gendliche Konkurrenz bekommen. Und bei allen haben in den letzten Mo­naten Sex und Crime als Thema gegenüber der Politik an Ge­wicht gewonnen.
Die Korruption ist öffentlich wie selten – macht nichts
Die Korruption grassiert. Pa­gina/12 als einzige bedeutende kritische Tageszeitung mit einer Auflage von über 100.000 Ex­emplaren denun­ziert zwar nach wie vor unermüdlich die zahlrei­chen Korruptions­fälle. Aber auch sie mußte zum Jah­resende fest­stellen, daß zwar einige Fälle vor Gericht verhandelt wurden, kein einziger aber auch zur Verurtei­lung kam.
Zwar stehen über 70 hohe FunktionäInnen und persön­liche FreundInnen des Präsidenten aus Unter­nehmerkreisen vor Gericht, aber längst ist die Justiz selbst Teil des Korrupti­onssystems ge­worden. Um so un­verfrorener wird in die Kameras der Nach­richtenprogramme gelogen, um so heftiger werden Journali­stInnen der Ver­leumdung be­schimpft.
Während die argentinischen RentnerInnen nach wie vor für die pünkt­liche Auszahlung ihrer Renten demon­strieren müs­sen, wurden in der staatlichen Ren­tenversicherung PAMI in den Jah­ren der Menemregierung 1500 sogenannte ñoquis in den Gehaltslisten geführt. Das sind Funktionäre, die ledig­lich am Monatsende an ihrem Arbeits­platz erscheinen, um den Ge­haltsscheck entge­genzunehmen. Hier bediente die peronisti­sche Regierung ihre Klientel teilweise mit Gehältern zwischen 3.000 und 5.000 US-Dollar monatlich.
Lästig scheint die Denunzia­tion der Korruptionsskandale in den Me­dien für die Regierung trotzdem zu sein. Wie sonst er­klären sich die Versuche der Re­gierung, die Presse mundtot zu ma­chen. Der dritte Anlauf wurde Anfang des Jahres gestar­tet: Die neueste Gesetzesvorlage zum soge­nannten Ley Mordaza (Knebel) wurde von Menem selbst eingebracht. Es droht Jou­nalistInnen, die “Verleum­dun­gen” publi­zieren oder “falsch be­richten”, mit ho­hen Strafen. Für die veröffentli­chenden Me­dien sollen Geldstra­fen bis zu 200.000 US-Dollar und Ver­pflichtungen zur Ent­schädigung der Betroffenen bis zu 500.000 US-Dollar fällig werden.
Ein weiterer Schritt, kleinere, kritische Me­dien ökonomisch auszuschalten, ist die Verpflich­tung, sich unabhängig von ihrer Größe in Höhe von 500.000 US-Dollar versichern zu lassen. Zu­sätzlich soll eine neue Rechtsfi­gur geschaffen werden, die so­genannte “falsche Beschuldi­gung”. Da­nach dürfen keine Verdächtigungen, die “auf falschen Tat­sachen beruhen”, mehr veröffentlicht werden.
Die Mittelklasse steckt ob ih­rer vielen Kredite tief in der menemistischen Schuldenfalle. Sie wird den Präsiden­ten wählen, der am glaub­würdigsten die Fortsetzung der Währungs­stabilität ver­spricht. Menem machte mit der Wahl des jetzi­gen In­nenministers Ruckauf zu seinem Kandidaten auf die Vizepräsident­schaft ein weiteres Angebot an die Mittel­klasse.
Ruckauf, unter Isabel Peron 1975 schon einmal Mi­nister, ist ein aalglatter Law and Order-Vertreter. Er verspricht hartes Durch­greifen gegen Kriminelle und Schutz des Besitzstandes. Menem selbst scheint Garant für den Wahlsieg im alles entschei­denden Stim­menbezirk des ver­armenden Großstadtgürtels von Buenos Ai­res.
Ausschlaggebend auch hier: die Währungsstabi­lität nach den Jahren der Geldentwertung unter der Regierung Alfonsín mit sei­ner “Radikalen Bürgerunion”, UCR. Zudem bietet eben diese zweite große Volkspar­tei keine Alternative. Ihr erst vor wenigen Monaten gekürter Spit­zenkandidat Massa­chessi, bisher Gouverneur der Agrarpro­vinz Rio Negro, scheint von vorne­herein weit abgeschlagen. Auch er ver­spricht die Fortführung der Stabilität allerdings mit mehr so­zialer Gerechtigkeit. Die wich­tigsten wichtigsten Schritte der ökono­mischen Umstrukturie­rung hatte die UCR in den letzten Jah­ren mitgetragen.

Der politi­sche Pakt zwischen den beiden großen Parteien, der zur Verfas­sungsänderung zwi­schen dem aktuellen Präsidenten und seinem Vor­gänger arran­giert worden war, scheint für die Wäh­lerInnen ein weite­rer Grund, sich eher für eine be­reits bekannte Regie­rungspolitik zu entscheiden, anstatt mit der UCR ein neues Risiko einzuge­hen.
Die Frente Grande (FG), das linke Op­positionsbündnis, hat in den letzten Mona­ten vor allem personalpoli­tisch von sich hören lassen. Unter Protest gegen den Führungsstil und den Verlust linken Profils trennte sich Pino Solanas von der FG. Es gehe an­scheinend nur noch darum, wer Präsident­schaftskandidat werde, monierte der Filmema­cher. In­zwischen hat er selbst eine neue Partei gegrün­det, die ihn sicher als Präsident­schaftskandidaten auf­stellen wird.
In der FG selbst ist der pero­nistische Dissident Chacho Alva­rez Spit­zenkandidat. Unter seiner Führung schloß sich die FG mit anderen Oppositionsgrup­pie­run­gen zusammen, deren wichtigste von einem weiteren Sprößling des Anti­menemismus, dem Gou­verneur von Neu­quén, José Octavio Bordón, geführt wird. FREPASO heißt dieses neue Oppositions­bündnis nun, Frente País Solidario.
Zum Gründungs­akt im De­zember in Buenos Aires kamen immerhin rund 10.000 Men­schen. Nach der end­gültigen Verabschie­dung von radikalen Positionen etwa der PC und der Vereinigung mit Bordón, der al­lerdings ein relevanteres Stim­menpotential mitbringt, soll nun bald durch eine offene Wahl ent­schieden wer­den, wer von den beiden Ex-Peronisten gemeinsa­mer Präsident­schaftskandidat der FREPASO werden soll. Bisher treten Alvarez und Borbón ge­meinsam auf, Hauptthemen: Korruption und soziale Unge­rechtigkeit. Auf ihr wirt­schafts­po­liti­sches Konzept angespro­chen, läßt sich die Kernaussage der Link­sopposition jedoch so zu­sammenfassen: “Wir ga­ran­tie­ren die Stabilität besser als der Mene­mismus”, so Chacho Alva­rez in einem Inter­view.
Bei solch offen­sichtlichem Mangel an politi­schen Alter­nativen scheint die Wiederwahl Carlos Menems sicher. Politik ist darauf reduziert, Währungs­stabilität zu garan­tie­ren. Obwohl offensichtlich ist, daß auch die jetzige Regie­rung dies längerfri­stig nicht kann, hat die argen­tinische Mit­tel­klasse doch keine Wahl, sie hat nur eine Hoffnung und eine Op­tion.

Die Stadt, der Müll und das Leben

Lateinamerika ist ein Kontinent der Städte. In Argentinien, Venezuela und Uru­guay leben bereits mehr als 80 Prozent der Bevölkerung nicht mehr auf dem Land. Die Hälfte der lateinamerikani­schen Bevölkerung lebt in Städten mit mehr als 100.000 EinwohnerIn­nen. Der Anteil der Men­schen, die in Millio­nenstädten leben, liegt bei 30 Prozent. Zwar hat sich der Wachstumsprozeß der meisten Millionenstädte verlangsamt, dafür wach­sen nun die mit­telgroßen Städte mit höherer Ge­schwin­dig­keit. Etwa die Hälfte des Wachs­tums entsteht inzwischen nicht mehr durch Zuwande­rung, sondern durch die Vermeh­rung der bereits ansässigen Stadt­be­völ­ke­rung. Alle Versuche, die Entwicklung auf dem Land zu fördern und die Mi­grationsströme zu kontrollieren, sind geschei­tert. Die Armut auf dem Land ist weiter gewach­sen, Vertreibung durch Großgrund- oder Planta­genbesitzer oder zuneh­mende Unfruchtbarkeit der Böden zwingen die Menschen weiterhin in die Städte zu ziehen. Noch immer sind für sie die Lichter der Großstadt An­ziehungspunkte, trotz der städtischen Wohnungs­not und des harten Konkur­renzkampfes um das tägliche Ein­kommen. Auf­grund einer besseren Gesund­heitsversorgung und informeller Verdienst­möglichkeiten ist die Über­lebenschance im­mer noch höher. In den 80er Jah­ren, dem “verlorenen Jahrzehnt” Lateinamerikas, sind die Aussichten der jungen Generation von StädterIn­nen auf ein besseres Leben aller­dings nicht besser geworden.
Mehr denn je ist das Gesicht der Großstädte durch eine Spaltung in zwei Lebens­welten ge­kennzeichnet. Oft leben über die Hälfte der Stadt­bewohnerInnen in Ar­mensiedlungen, fave­las, poblaciones, villas de emergencia, turgu­rios… Neuankömmlinge oder die junge Gene­ra­tion sind gezwungen, an den immer weiter vom Stadtzen­trum ent­fernten Rändern zu sie­deln. Immer häufi­ger werden Flächen besie­delt, die durch extreme Trockenheit (Lima), Überschwemmungen (Buenos Aires) oder Erdrutsche (Caracas) gefähr­det sind. Der Wohnraum ist völlig überbelegt und die hy­gienischen Bedin­gun­gen sind katastrophal. Die Beiträge zu Lima und Caracas versu­chen, die Lebensbedingungen in diesen Vierteln zu erfassen.
Die schmale Oberschicht zieht sich zuneh­mend in Festungen des Wohlstands zurück. Nur hier zeigt sich die Stadtverwaltung in der Lage, eine Versorgung mit sozialer und tech­nischer Infra­struktur zu gewährleisten. Gute Trinkwasserver­sorgung, Kanalisation, Müllabfuhr, gefegte Stra­ßen, bewässerte Parkanlagen findet man nur in den reprä­sentativen Zentren und den Wohnvier­teln der Reichen. Strukturanpassung und neolibe­rale Wirtschaftspolitik setzen rücksichtslos das Prinzip durch, daß nur derjenige Leistungen in Anspruch nehmen kann, der auch in der Lage ist, dafür zu bezahlen.
Die Armen finanzieren jedoch den Wohl­stand der Reichen mit. Denn hinter den hinter den Lei­stungen, die einer Minderheit der Be­völkerung zur Verfügung gestellt werden, ver­stecken sich erheb­liche indirekte Subventio­nen. Das Wasser zum Beispiel, das hier hem­mungslos verschwendet wird, um Swimming­pools zu füllen und Parks zu beregnen, wird zu extrem niedrigen Preisen abge­geben. Währenddessen sind zwischen 20 und 30 Pro­zent der Armen ge­zwungen, ihr Trinkwas­ser von Händlern kau­fen, die ihnen dafür überdurch­schnittliche Preise abverlangen. Auch das kosten­aufwendige Straßen­netz, von dem nur die privile­gierte Schicht von Autobe­sitzern pro­fitiert, wird indirekt subventioniert. Dage­gen müssen die im­mer weiter an den Rand ge­drängten Armen teil­weise ein Drittel ihres Tageslohnes für die Fahrt zum Arbeits­platz in oft unsicheren und überfüllten Ver­kehrs­mitteln aufwen­den.
Zur bevorzugten Erlebniswelt gehobener Ein­kommensschichten gehören die soge­nannten Shoppings, große Einkaufs- und Unterhaltungs­zentren nach US-amerikani­schem Muster. In Bue­nos Aires und Rio de Janeiro sind sie angesichts städtischer Armut geradezu obszön. In einer so ländlichen und durch das Erd­beben zentrumslosen Stadt wie Managua müssen diese glänzenden Kon­sumtempel jedoch noch ab­surder wirken.
Trotz der räumlichen Trennung zwischen arm und reich, gibt es allerdings auch zahl­reiche Über­schneidungen der Lebensberei­che. Der durch die Deindustrialisierung ge­wachsene informelle Sek­tor konzentriert sich räumlich auf das Stadtzen­trum. Ambulanter Handel und einfache Dienstlei­stungen stützen die Ökonomie der mo­dernen Wirtschaftssek­toren. Schließlich sind Dienstmäd­chen und Gärtner aus den Wohnvier­teln der Rei­chen nicht mehr wegzudenken.
Im Beitrag zu Rio de Janeiro wird deut­lich, daß es trotz aller medialen Inszenie­rung, die die “Zersetzung des gesunden Stadt­körpers” räumlich den Favelas und damit so­zial den Armen zuordnen möchte, sogar kul­turelle Phänomene gibt, die die Grenzen zwi­schen Favela und Rest­stadt (Asphalt) ver­schwimmen lassen, die soge­nannten bailes funk. Der Drogenhandel, hauptsächliche Legiti­mation zur militäri­schen In­tervention der Favelas, stellt eine weitere ökono­mische Verbindung zur Au­ßenwelt dar.
Der Beitrag zu Bue­nos Aires zeigt, wie die Stadtverwal­tung ver­sucht, sozial-räumli­che Gren­zen zu setzen und Armut und Krimi­nalität zumin­dest aus dem Hauptstadtbe­zirk zu verdrän­gen. Darüber hinaus macht er deut­lich, daß trotz der so­zial extrem unglei­chen Versor­gungssituation und in­folgedessen der unglei­chen Verteilung der Lebensrisiken die Um­weltkrise auch vor den pri­vilegierten Stadtbe­reichen nicht halt­macht. Es er­scheint symptomatisch für die aktuelle Stadtent­wicklung, daß zu den wenigen boomenden Bran­chen des Kontinents private Sicherheit­dienste ebenso gehö­ren wie Mineralwasser­hersteller.
Curitiba ist bisher eines der wenigen Bei­spiele in Lateinamerika, in der die Initia­tive zur Verbes­serung der Infrastruktur unter der Berück­sichtigung der Interessen der ar­men Bevölkerung trotz begrenzter Mittel von einer Stadtregierung ausging. Jaime Lerner, Architekt und zweifacher Bürgermeister die­ser Millionenstadt im brasiliani­schen Süden, schob diesen Prozess noch unter der Militär­diktatur an, der inzwischen von seinen Nach­folgern weitergeführt wird. Für Lerner selbst bedeuteten seine umweltpolitischen Erfolge politi­sches Renomee. Curitiba ist im interna­tionalen Kontext zu Modellstadt geworden, von deren Kon­zepten so manche europäische Stadt lernen könnte.

Patriotische Parolen als Allheilmittel?

“Es sei wohl nicht sein Jahr gewesen”, hieß es im Rückblick auf das Jahr 1994 in der Tageszeitung El Comercio über den ecuatorianischen Staatspräsidenten Sixto Durán Ballén. Dieser hatte im vergange­nen Jahr durch Korruptionsaffären in sei­ner unmittelbaren Nähe und durch seine Ohnmacht gegenüber dem Kongreß stark an Ansehen verloren und wegen der so­zialen Konsequenzen seiner Modernisie­rungspolitik die letzten Sympathien im Volk einbüßen müssen. Darüber hinaus brachten die spontanen Alleingänge seines Vizepräsidenten Alberto Dahik die Frage nach der eigentlichen Macht immer wie­der in die Schlagzeilen.
Seit 1992 fährt Ecuador unter Präsident Sixto Durán Ballén als eines der letzten lateinamerikanischen Länder den Kurs ei­ner harten Strukturanpassung, die im ver­gangenen Jahr die ersten Erfolge zeigte: Senkung der Inflation von 70 auf 20 Pro­zent, Stabilisierung des Wechselkurses und eine Rekordhöhe der Währungs­re­ser­ven. Sie wurden aber ange­sichts der Liste der nach langem Hin und Her letztendlich doch nicht privatisierten Betriebe wenig ge­wür­digt. Neben der für 1995 ange­setz­ten Privatisierung der EMETEL, dem Be­reich der Telekommu­nikation, sorgten be­son­ders die geplante Privatisierung des IESS, des Instituts für Sozialversicherung, und der staatlichen Ölgesellschaft Petro­e­cua­dor für einigen Zündstoff.
Der IESS zog von öffentlichen Ange­stellten ein Zwangsbeitrag ein und finan­zierte so gewisse soziale Bereiche wie Krankenhäuser, die auch für die unteren Schichten zugänglich wären. In diesem Sinne ist das IESS wohl die einzige Insti­tution in Ecuador, in der sozial umverteilt wird. Der Staat schuldet dem IESS mehr als 500 Millionen US-Dollar, was dieses Thema zu einem der heikelsten für den 1983 ins Leben gerufenen CONAM, den Nationalen Rat zur Modernisierung des Staates, macht. Die Bevölkerung fürchtet, die Schulden könnten bei der Privatisie­rung “verloren” gehen, und fühlt sich um ihre Beiträge betrogen, so daß es auch bei Erwähnung dieses Themas zu Demonstra­tionen und Ankündigungen von Streiks kam.
Streiks gegen Streikverbot
Streiks der Lehrer, der Gewerkschaften, im Gesundheitswesen, der Telekom, der Justiz – die Liste der im vergangenen Jahr durchgeführten Streiks nimmt kein Ende. Streiks in allen Bereichen sind in Ecuador ein probates Mittel, seinen Unmut kund­zutun, gibt es doch sonst kaum Instru­mente der Opposition. Im Januar letzten Jahres zum Beispiel verbarrikadierten ver­schiedene Indígena-Organisationen als Reaktion auf das zum Jahresbeginn verab­schiedete “Agrarentwicklungsgesetz” zehn Tage lang sämtliche Hauptverkehrskno­tenpunkte des Landes und legten den ge­samten Verkehr lahm. Die Regierung ver­tritt die Ansicht, die ständigen Streiks seien ein Hauptgrund der schleppend ver­laufenden Modernisierung.
Vorgesehen ist ein Gesetz zur Eindäm­mung von Streiks, die “einen Großteil der Bevölkerung betreffen”; ausgeführt durch das Militär. Die Bevölkerung sieht ihr letztes Instrument des Protestes auf der Abschußliste und ihr Recht auf Mei­nungsäußerung vom Militär bedroht. Die Reaktion hätte kaum deutlicher sein kön­nen: Mitte Januar kündigte sich in Quito eine ganze Welle von Streiks an.
Sixto scheitert im Kongreß
Die versprochenen Verfassungsände­rungen, zu denen Ende August eine sehr umstrittene Volksbefragung stattgefunden hatte, scheiterten am Widerstand des Kongresses. Am 10. Januar lief ein 100-Tage-Ultimatum ab, das Durán Ballén selbst gesetzt hatte. In dieser Zeit wollte er seine 113 Gesetzentwürfe im Kongreß verabschieden, die er aufgrund eines er­stellten Meinungsbildes vorgestellt hatte. Eine weitere Volksumfrage ist nun für den 21. Mai angesetzt. Doch die Begeiste­rung hält sich in Grenzen, “das würde nur noch mehr Zeit und Geld kosten, und man habe doch wahrhaftig besseres zu tun.”
Neben Fragen zu den Blöcken Elektri­zität, dem Energiesektor und der Tele­kommunikation soll es vor allem um die Neustrukturierung des IESS und die Ver­änderung bestehender Gewerkschafts­strukturen gehen.
Moralunterricht statt soziale Ver­besserungen
Parallel zur Ankündigung einer neuen Volksbefragung und damit einer neuen moralischen Niederlage des Präsidenten vor dem Kongreß, sorgte ein Gesetzent­wurf, der Religionsunterricht als Pflicht­fach in den Schulen vorsieht, für große Aufregung unter den SchülerInnen und StudentInnen und entfachte eine grund­sätzliche Diskussion über das Bildungssy­stem in Ecuador. Erziehungsministerin Rosalía Arteaga mußte wie auch ihr Amtsvorgänger ihre Sachen packen, nachdem sie das von der katholischen Kirche initiierte Gesetz öffentlich verur­teilt hatte. Das sogenannte “Ley religiosa” erwies sich insofern als hochbrisant, als es die seit langem schwelende Unzufrieden­heit mit bestehenden Bildungseinrichtun­gen mit einem Schlag explodieren ließ. Der Gesetzentwurf sieht zwei Pflichtstun­den “Religion und Moral” pro Woche an allen Schulen vor, mit speziell dazu aus­gebildeten “MorallehrerInnen”. Es wird geschätzt, daß zwischen 5000 und 6800 neue LehrerInnen ausgebildet und einge­stellt werden müßten, um diesem An­spruch zu genügen.
In Ecuador gibt es rund vierhundert re­ligiöse Gruppierungen neben dem Katho­lizismus, so daß der Gesetzentwurf auch scharfen Attacken wegen Diskriminierung und indirektem Rassismus ausgesetzt war.
Die kirchlichen Schulen und Universi­täten besitzen in der Regel eine ganze Menge Geld, dazu kommen Schenkungen und nicht zuletzt die hohen Gebühren ihrer SchülerInnen und StudentInnen. So lassen die Padres der Katholischen Universität in Quito ein schickes Hochhaus nach dem anderen zur Erweiterung bereits bestehender Fakultä­ten bauen, während an der staatlichen Universität die Gebäude verkommen und es an den nötigsten Lehrmitteln fehlt.
Höhere Preise für den öffentlichen Transport
Anfang Januar diesen Jahres wurden dann die Preise für die Benutzung von öf­fentlichen Verkehrsmitteln von 150 auf 200 Sucres (etwa 7 Pf) heraufgesetzt. Das mag auf den ersten Blick nicht besonders viel erscheinen, war aber die dritte Erhö­hung der Fahrpreise innerhalb von drei Jahren von ursprünglich 50 Sucres, also um insgesamt 300 Prozent. Die schritt­weise Erhöhung – jedesmal angekündigt als die letzte – wechselte sich mit der ge­staffelten Erhöhung der Benzinpreise ab, die allein im letzten Jahr um 75 Prozent anstiegen. Ebenfalls bereits die dritte “letzte” Steigerung. Beides wirkt sich un­mittelbar auf die allgemeinen Lebenshal­tungskosten aus.
Heftige StudentInnenunruhen und ein Toter
So kam es dann in der zweiten Januar­woche während einiger Demonstrationen zu heftigen Ausschreitungen zwischen StudentInnen und der Polizei. Am fünften Tag aufeinanderfolgender Straßen­schlach­ten wurden mehrere StudentInnen wie auch Polizisten schwer verletzt. Der 16jährige Juan Carlos Luna Carillo erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen. Nach einem Wochenende der scheinbaren Ruhe ging es in der darauffolgenden Wo­che umso erbitterter weiter. Juan Carlos wurde feierlich beerdigt. Seine Mutter fordert, die Verantwortlichen zur Rechen­schaft zu ziehen, und der Abgeordnete Iván Rodríguez des Movimiento Popular Democrático versprach eine genaue Un­tersuchung der Vorfälle, worauf innerhalb der Polizei das im vergangenen Jahr viel­fach praktizierte Spiel der gegenseitigen Schuldzuweisungen von vorne losging.
Die StudentInnen streikten in einigen Teilen des Landes gemeinsam mit den Gewerkschaften, Indígenas und andere Campesinos in seltener Eintracht, vereint durch den gemeinsamen Protest gegen die Privatisierungsprogramme und somit ge­gen die Regierung. Als dann auch noch die staatliche Ölgesellschaft Petroecuador einen Generalstreik für den 26. Januar an­kündigte, um gegen das Vorhaben des neuen Energieministers Galo Abril an­zugehen, auch die erst vor wenigen Jahren verstaatlichte Petroecuador für private In­vestoren zu öffnen, drohte Ecuador der totale Kollaps.
Hinzu kommen immer neue Schrek­kensmeldungen aus der Küstenprovinz Guayas über Cholera-Erkrankungen und erste Tote, man befürchtet eine Epidemie. Auch in den Provinzen Manabí und Esme­raldas werden Erkrankungen gemeldet. Als ob es nicht schon genug wäre, wurden die Dörfer Calderón und Carapungo nörd­lich von Quito – im Gebiet des heftig dis­kutierten neuen Flughafens – am 13. Ja­nuar von einem mittleren Erdbeben heim­gesucht.
Wenn 1994 kein gutes Jahr gewesen sein soll, so läßt sich 1995 um seine Kata­strophen jedenfalls nicht lange bitten.
Wirtschaftliche Rolle des Militärs
Die Modernisierungsansätze des Präsi­denten – insbesondere die Pläne zur Ver­staatlichung der Ölgesellschaft Petroecua­dor – beobachtet das Militär mit größtem Mißtrauen. Bei Ölförderungen in den an ausländische Investoren vergebenen Ab­schnitten im Oriente erhalten die Militärs rund 30 Prozent der Gewinne. Sie stellen einen beträchtlichen Teil der Wirtschaft, unter anderem sind eine Fluggesellschaft und eine Bank in ihrem Besitz, sowie die Schürfungsrechte in dem von ihnen kon­trollierten ecuatorianischen Oriente. Die starke militärische Präsenz im gesamten ecuatorianischen Amazonastiefland wird offiziell durch die ungeklärte Grenzsitua­tion zum Nachbarn Peru gerechtfertigt. Die Militärs haben außerdem das Mono­pol zur Veröffentlichung von Landkarten und sind so Urheber des Festhaltens am Amazonaszugang – nicht zuletzt deshalb haben ecuatorianische Schulkinder eine ganz andere Silhouette ihres Landes im Kopf als die, die der internationalen Re­alität entspricht.
Verlagerung der innenpolitischen Spannungen an die Grenze
Bereits am 7. Januar schwirrten Ge­rüchte von Zusammenstößen an der ecuatorianisch-peruanischen Grenze durch die Presse, die Verteidigungsminister José Gallardo dementierte. Die erfolgten Trup­penbewegungen seien reine Übungen. Eine Woche später folgten dann die ersten Darstellungen der Zwischenfälle, die offi­zielle Version berichtete von einer vier­köpfigen peruanischen Patrouille, die am 9. Januar in – unbestritten – ecuatoriani­schem Territorium, nämlich im oberen Verlauf des Río Cenépa nördlich von Cueva de los Tayos, überrascht wurde. Sie wurde gefangengenommen und gemäß den zwischen Ecuador und Peru bestehen­den Vereinbarungen am nächsten Tag zu ihrem Bataillon zurückgebracht. Am Mittwoch sei erneut eine Gruppe von diesmal 11 peruanischen Soldaten in ihr Territorium eingedrungen, so der Vertei­digungsminister José Gallardo, wobei es zu ersten Toten kam.
In der Tat geht es in diesem nunmehr fast 150 Jahre andauernden Konflikt schon lange nicht mehr darum, den bis auf gelegentliche Scharmützel ansonsten friedlichen Status Quo in Frage zu stellen. Viel eher, ob es politisch opportun ist, einen Zwischenfall als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” hochzuspielen.
Wäre dieser Konflikt vom ecuatoriani­schen Präsidenten Sixto Durán Ballén di­rekt oder indirekt inszeniert worden, so hätte dieser gut daran getan, schon auf die ersten Gerüchte und den ersten Zwischen­fall hin die Sache zur obersten Priorität zu machen. Statt dessen hielt er sich bedeckt, erst am 26. Januar, nach dem Abschuß eines peruanischen Helikopters, wird der nationale Notstand erklärt.
Das Protokoll von Rio: ein ecuato­ri­anisches Trauma
Ob Zufall oder nicht, der 26. Januar war der 53. Jahrestag der Unterzeichnung des Protokolls von Rio de Janeiro, ein trau­matischer Augenblick für das ecuatoriani­sche Nationalbewußtsein. In Geschichts­büchern unter der Bezeichnung “Das ter­ritoriale Desaster” aufgeführt, ist es ein Thema, das bis heute Bitterkeit und Fru­stration auslöst. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und somit un­gültig. Man fühlt sich ungerecht behandelt nicht nur vom “Bruderstaat Peru”, der mit Salamitaktik immer noch ein weite­ren Scheibchen vom ecuatorianischen Ge­biet abgeschnitten hat, sondern auch von den vier Garantiestaaten und der Weltöf­fentlichkeit insgesamt, die das 1942 unter­zeichnete Protokoll als rechtskräftig aner­kennt. Ecuador, der “Zwerg” unter den Andenstaaten, fühlte sich schon immer als “Verteilmasse” zwischen den beiden großen Nachbarn Peru und Kolumbien. Diese hatten im vergangenen Jahrhundert mehrere geheime Zusatzprotokolle über eine mögliche Aufteilung Ecuadors unter­einander abgeschlossen, so zumindest die offizielle ecuatorianische Geschichts­schreibung.
Die von Ecuador veröffentlichten Landkarten zeigen die 1942 an Peru verlo­renen Gebiete bis an den Amazonas. Der im Protokoll von Rio de Janeiro festge­legte Grenzverlauf ist zwar eindeutig markiert, bis auf die 80 km, um die es in den derzeitigen Auseinandersetzungen geht. Die eingezeichnete internationale Grenze verläuft aber jenseits des umstrit­tenen Gebiets. Besonders erbost ist man in Ecuador, daß Peru den in Artikel VI des Protokolls garantierten Zugang zum Amazonas die konkrete Ausführung ver­wehrt. “Ecuador ist, war und wird ein Amazonas-Staat sein”, heißt es auf vielen Schulheften direkt unter der ambivalent interpretierbaren Karte. Aus der Entdek­kung des Amazonas 1542 durch Kapitän Francisco de Orellana leitet die ecuato­rianische Geschichtsschreibung einen zu­sätzlichen Anspruch auf den Amazonas­zugang ab: “Den Titel des ersten Entdek­kers des Amazonas konnte Ecuador bis heute niemand streitig machen.”
Ecuador distanzierte sich 1960 von dem Vertrag, seither bestand ein mehr oder weniger friedlicher Status Quo. Daß die­ses Thema jedoch nichts an seiner Aktua­lität verloren hat, war bereits vor Aus­bruch des Krieges mit Peru deutlich. Der 1988-92 amtierende sozialdemokratische Präsident Rodrígo Borja setzte den Grenzkonflikt wieder ganz oben auf die Tagesordnung. Man wolle endlich eine dauerhafte und friedliche Lösung, signali­sierte er nach Lima. Fujimori kam dreimal nach Quito, um dieses heikle Thema an­zugehen. Aber der geplante Gegenbesuch Durán Balléns in Lima löste eine so kon­troverse Diskussion im Kongreß und in der Öffentlichkeit aus, daß der Besuch zweimal verschoben wurde und schließ­lich ganz vom Tisch war. Besonders sei­tens des Militärs und allen voran bei Ver­teidigungsminister José Gallardo herrschte die Meinung vor, Sixto würde durch einen Gegenbesuch in Lima bereits klein beigeben.
Rückendeckung für Durán Ballén
In dem Konflikt mit Peru war für Ecua­dors Präsidenten nicht vorauszusehen, daß er die Bevölkerung, die in allen Teilen des Landes zum Streik gegen ihn rüstete, und den Kongreß, der ihn mit Ablaufen des Ultimatums zur Ver­fassungsänderung gerade erneut auflaufen lassen hatte, auf seiner Seite haben würde. Und: Sixto ist alles andere als ein Drauf­gänger. Das von der Opposition gezeich­nete Bild eines gutmütigen Greises, der nicht mit­be­kommt, was um ihn herum vorgeht, hat sich schon mehrmals bestä­tigt. Sixto hat im übrigen seine erneute Kandidatur für die 1996 anstehenden Wahlen bereits dementiert, über eine Wiederwahl macht sich der 80jährige keinerlei Illusionen. Bei diesem so bri­santen Thema des Grenz­konflikts in der Öffentlichkeit als Ver­lierer zu erscheinen, sei es auch nur durch zu schnelles Einlen­ken, wäre politischer Selbstmord gewesen. Den Zu­spruch an­de­rer Staaten zu bekom­men scheint genauso un­wahrscheinlich wie dem bis an die Zähne bewaffneten Peru auch nur einen Quadratmeter Land zu entreißen. Außer­dem hätte es wahrhaf­tig bessere Zeit­punkte gegeben, den bis vor kurzer Zeit von einem internen Krieg aus­gelaugten Nach­barn anzugreifen.
Viel eher erschien Sixto Durán Ballén bemüht, den Konflikt mit dem Nachbarn so schnell wie möglich beizule­gen, ohne jedoch das Gesicht zu verlieren.
Das Militär in neuem Glanz
Anders hingegen das Militär, das seine Position behauptet und seine Daseinsbe­rechtigung erneuert hat. Das Feindbild Peru erstrahlte in neuem Glanz. Ecuador sah sich eindeutig in der Rolle des un­schuldigen Opfers innenpolitischer Span­nungen in Peru, nämlich der anstehenden Wahlen und Fujimoris eigenen “Grenz­strei­tigkeiten” mit Ex-Frau Susana. Fah­nen wurden geschwenkt, Bilder von Mäd­chen in knappen Röckchen, die den Soldaten an der Front zujubelten. Gegen­stimmen hatten in diesem Aufschrei des Patriotismus keine Chance. Eine kurzfri­stig angesetzte zusätzliche Kriegssteuer wurde sofort verabschiedet und so der im Haushaltsentwurf angesetzte Etat für das Militär entscheidend aufgebessert.
Mit der am 17. Februar in der brasilia­nischen Hauptstadt Brasilia unterzeichne­ten beiderseitigen Friedenserklärung schie­nen die konkreten Auseinanderset­zungen vorerst ein Ende zu haben. Jedoch bereits nach wenigen Tagen flammten die Feindseligkeiten und gegenseitigen Be­schuldigungen wieder auf, nachdem der Generalstab die vom ecuatorianischen Unterhändler unterzeichnete Waffenstill­standserklärung kurzerhand ablehnte. Die vier Vermittlerstaaten Argentinien, Brasi­lien, Chile und die USA, unter deren Mit­wirkung auch das 1942 unterzeichnete Protokoll zustande kam, stoppten vorerst die geplante Beobachtertruppe, die die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone in dem fraglichen Grenzabschnitt erwir­ken sollte. Die Organisation Amerikani­scher Staaten OAS erwägt inzwischen wirtschaftliche Sanktionen gegen die kriegsführenden Parteien, die Situation er­zeugt zunehmend Nervosität unter den anderen Staaten des Kontinents.

“Anatomie einer Niederlage”

LN: Beim Anschauen des Films stellt sich der Eindruck ein, als hätte sich Che Guevara von vornherein auf ein recht aussichtsloses Unternehmen eingelassen. Ist das so gewollt?
Richard Dindo: Der Che war Südame­rikaner, Argentinier, ein von Natur aus sehr generöser und optimistischer Mensch, sehr zukunftsgläubig, überzeugt, daß die Geschichte den Völkern gehört und daß der Sozialismus unumgänglich ist in den Ländern der Dritten Welt. Seine Strategie war, in Bolivien eine kontinen­tale Revolution anzufangen. Sein eigentli­cher Traum war, in seinem Heimatland Argentinien eine Revolution zu machen. Alle diese Dinge hat er in einem sehr großen Zeitrahmen gesehen, auf Jahre hinaus, vielleicht sogar Jahrzehnte. Und er hatte den Eindruck, daß er hier nur einen Anfang macht, und daß er vielleicht hier auch sterben wird. Er war jemand, der im­mer wieder auch mit dem Tod rechnete. Sei­ne Energie, seinen eisernen Willen, hat er auch bekommen durch den jahrelangen täglichen Kampf gegen sein Asthma, das dann ja auch wieder dramatisch wurde während der Kämpfe in Bolivien, als er keine Medikamente mehr hatte und immer kranker wurde.
Die Situation wurde nach und nach immer verzweifelter, aber Che selbst hat immer und bis zum Schluß seinen Opti­mismus behalten. Er hat noch einen Tag vor seiner Verhaftung von der idyllischen Atmosphäre geschrieben, in der sie ge­frühstückt haben.
Nun hat Che Guevara sich aber in den Tagebüchern sehr verzweifelt und frustriert über die Reaktion der bolivia­nischen Landbevölkerung geäußert. Die schien dem revolutionären Kampf ja eher gleichgültig oder gar ablehnend ge­genüberzustehen. War das Unternehmen ei­ne Kopfgeburt?
Ich muß wieder die Begriffe verzweifelt und frustriert ablehnen. Das sind deutsche Begriffe. Das hat mit Che Guevara nichts zu tun. Ich habe das Tagebuch dutzende­mal gelesen, weil ich für meinen Film Sät­ze auswählen mußte. Natürlich hat er fest­gestellt, die Bauern machen nicht mit. Das hat ihn nicht in Verzweiflung ge­stürzt. Er war viel zu zukunftsgläubig. Aber der Che hat­te überhaupt keine Mög­lichkeit, mit der Be­völkerung zu kommu­nizieren. Die Me­dien waren ihm völlig verschlossen, wur­den vollständig von der Armee und dem US-amerikanischen CIA kontrolliert. Nicht wie der Marcos, der heute über Fernsehen, Radio und Zeitun­gen ständig mit der Öffentlichkeit kom­muniziert. Das heißt, alles, was die Be­völkerung wußte von Che Guevaras Kampf, das wußten sie von der Armee, und die hat gesagt, das wä­ren alles Ver­brecher und Ausländer und Mörder und Vergewaltiger und Diebe usw.. Die Be­völkerung hatte geradezu Angst vor dieser Guerilla.
Natürlich, mein Film ist auch eine Ana­tomie einer Niederlage. Und durch dieses Sys­tematische, Unaufhörliche, Bild für Bild, Satz für Satz im Nachhinein er­zäh­len, kommt etwas Zwangsläufiges, Fatales in die Ereignisse. Im Nachhinein ist man im­mer schlauer, ist es einfacher, eine Ana­lyse zu machen. Aber an Ort und Stelle sind die Dinge immer komplizierter. Das hat man ja gesehen im Sozialismus. So­bald man die Geduld nicht hat, die es braucht, um diesen unglaublich komple­xen Apparat einer Gesellschaft in Bewe­gung zu setzen, dann kommt die Diktatur oder die Niederlage, eines von beidem. Im Sozialismus war es die Diktatur und bei Che war es die Niederlage.
Warum wurde der Film ausschließlich aus Che Guevaras Perspektive gedreht? Wa­rum hast du kein Feature gemacht, keinen analytischeren oder kritischeren Film?
Ich bin ein Geschichtenerzähler, ein Erinnerungsarbeiter, auch ein Trauerar­beiter. Ich wollte nicht analysieren, was er für Fehler gemacht hat. Ich mag nicht die­se Arroganz derjenigen, die alles im Nach­hinein wissen. Ich gehe eigentlich im­mer von der autobiographischen Mate­rie aus, das heißt, von der Selbstdarstel­lung der Person. Deshalb ein Film über das Tagebuch, ein Film über die Ereig­nisse in Bolivien aus der Sicht des Che. Ich bin solidarisch mit ihm von Anfang an, die bürgerliche Objektivität interes­siert mich nicht.
Ich wollte den Che heute in die Erinne­rung zurückrufen, weil ich glaube, daß er in Würde und in Größe verloren hat. Der Che ist einer der wenigen in der Ge­schichte des Sozialismus, der es verdient, mo­ralisch und historisch zu überleben.
Gibt es keine Punkte, wo du Schwierig­keiten mit Che Guevaras Position hast?
Was das Tagebuch angeht, habe ich überhaupt keine Bruchstellen. Ich bin zu­erst und vor allem Filmemacher. Ich muß nur überlegen, wie mache ich mit meiner eigenen Philosophie, die identisch ist mit der Philosophie meines Darstellers, einen Film. Von einem bestimmten Moment an stelle ich mir nur noch filmische Fragen. Wohin gehe ich, welche Sätze zitiere ich aus seinem Tagebuch, mache ich noch ein Interview mit einem Augenzeugen, was für Dokumente zeige ich, wie mache ich mei­ne filmische Arbeit, meine Wiederher­stellung der verlorenen oder der vergan­genen Zeit.
Warum ausgerechnet jetzt ein Film über Che Guevara?
Eigentlich wollte ich das schon in der 68er Zeit machen. Heute will ich mit mei­nem Film eine Debatte über Che Gue­vara provozieren, ihn in die Aktualität zu­rückzurufen. Ich habe übrigens während meiner Arbeit mehrere Leute getroffen, ei­nen Amerikaner in Havanna, eine Ar­gen­tinierin in London, einen Franzosen in Pa­ris, die daran sind, größere Biographien zu schreiben über Che Guevara, die auch spü­ren, daß er eine aktuelle Bedeutung hat.
Wie waren die Reaktionen auf den Film in Bolivien?
Die Leute waren sehr bewegt. Da kam nichts von Analyse.
Was für ein Publikum hat den Film ge­sehen?
Der Film hatte etwa fünftausend Zu­schauer in zehn Vorführungen. In Santa Cruz hatte ich ein mehr bürgerliches Pu­bli­kum, in Cochabamba waren es sehr viele ar­me Leute, Arbeiter und Bauern, und in La Paz wieder mehrheitlich Intel­lektuelle. Viele haben zum ersten Male er­fahren, was damals genau geschehen ist. Die Bo­li­vianer waren sehr betroffen von den Au­gen­zeugen, die alle zum ersten Mal vor einer Kamera reden. Sie haben den Film vor allem auch als Aktualität emp­funden. Es wurde der Eindruck geäußert, es habe sich eigentlich nichts verändert in den letzten fünfundzwanzig Jahren.
Zurück nach Europa: Sagt der Name Che Guevara heute jüngeren Leuten noch etwas, außer daß es wieder in Mode kommt, T-Shirts mit seinem Porträt zu tragen?
Ich glaube, Jugendliche, die den Film an­schauen, haben vage etwas gehört von ihm, und kommen mit dieser diffusen Neu­gierde und Sehnsucht nach einer Fi­gur, die irgendetwas wie Utopie repräsen­tieren könnte. Ich glaube, viele Junge ha­ben das Bedürfnis nach einer neuen Poli­tik, einer neuen Zukunftsvision. Für mich ist der Che eine Figur, die so etwas wie die gestorbene Utopie wiederbeleben könn­te, der uns daran erinnert, worum es in der sozialen Revolution ursprünglich ge­gangen ist, bevor Leute wie Ulbricht und andere kleinbürgerliche Despoten an die Macht kamen. Es ist darum gegangen, daß Intellektuelle sich mit dem Volk ver­bünden und gegen die Ausbeutung und die Armut kämpfen.
Aber mittlerweile scheint ja auch in Lateinamerika die Zeit der Utopien vor­bei. Die Guerillagruppen, die es noch gibt, führen mehr oder weniger eine mar­ginale Existenz. Was würde Che Guevara denn tun, wenn er heute leben würde?
Ich glaube, Marcos in Mexico ist ganz klar jemand, der in der Nachfolge von Che Guevara lebt. Eine chilenische Filmema­cherin, die für das französische Fernsehen einen Film über die Zapatisten gedreht hat, hat mir erzählt, daß dort überall Por­träts von Che Guevara hängen.

Programm der Superreichen

Die herausragende Tatsache der post-kommunistischen Welt ist die wa­chsende Konkurrenz zwischen USA, Japan und Deutschland um die Vor­herrschaft auf den Weltmärkten. Jede wirtschaftliche Super­macht hat sich Herrschaftsgebiete ge­schaffen, von denen aus die Wettbewerber aus dem Feld geschlagen werden sollen. Die USA haben während der letzten zwei Jahr­zehnte ihre Wettbewerbsvorteile in vie­len Produktgebieten verloren, zum Bei­spiel im Automobil- und Elektro­nik­be­reich. Hieraus ergab sich für die USA ein riesiges Handelsdefizit sowohl mit Japan (und anderen asiatischen Ländern) als auch in einem geringerem Ausmaß mit Deu­tsch­land.
Der Rückzug der US-Truppen aus Eu­ropa und Japan bewirkt, daß die NATO und andere militärische Bünd­nisse den US-amerikanischen Politi­kern nicht länger als “wirt­schaftspolitischer” Hebel dient. Dro­hende Handelskriege sind scharfe Schwerter, die sowohl US-ameri­kanische Exporteure und Impor­teure als auch die US-KosumentInnen ins­besondere der nie­drigen Einkom­mens­schichten treffen kön­nen. Der kon­genialste und am besten mit histo­rischen US-Strategien (Monroe-Dok­trin, Panamerikanische Union, Allianz für den Fortschritt) zu vereinbarende Weg ist eine regionale Blockstrategie. Inner­halb dieses Blocks könnte die USA als hegemoniale Kraft Handels-, Investitions-, Zins- und Patentein­künfte aus Lateiname­rika herausziehen. Von diesem Stand­punkt aus gesehen, sind Lateinamerika und Kanada strate­gische Quellen für die Akkumulation und den Gewinntransfer, für Zins- und Patenteinkünfte, um die ne­gativen Trans­fers hinsichtlich anderer Regi­onen zu kompensieren. Die Handels­bilanz­überschüsse mit den latein­amerikani­schen Ländern dienen zur Kompensa­tion der negativen Handels­bilanzen bezüglich Asiens und Westeuro­pas. Die kostengünstige Pro­duk­tion in La­teinamerika (Billiglöhne in Mexiko und der Karibik) erlaubt es US-amerikani­schen ProduzentInnen in Übersee und auf dem heimischen Markt, mit den weltweiten Wettbe­werbern zu konkur­rieren.
In diesem Zusammenhang war die Li­beralisierung in Lateinamerika not­wendig, um dem US-amerikanischen Kapital Zu­gang zu Märkten und Ein­künften zu lie­fern und somit wettbe­werbsfähig zu blei­ben. In diesem Sinne ist die Liberalisie­rung eng mit den glo­balen strategischen Interessen der USA verbunden. Diese Po­litik wird von den USA seit den frühen siebziger Jahren konsistent und konti­nentweit betrieben. Liberalisierung wurde mittels IWF und Weltbank durch US-ame­rikanische Of­fizielle verfolgt: Lateiname­rikanische Diktatoren, die die Liberalisie­rung för­derten, wurden finanziert und unter­stützt, ein Übergang zu demokrati­schen Systemen wurde von Washington unter der Bedingung gefördert, daß die neuen demokratischen Systeme die Li­beralisierung vertieften. Liberalisierung ist Teil und Grundbaustein der US-amerika­nischen globalen Politikstrate­gie: Inso­weit, als Liberalisierung funk­tioniert hat, hat sie vorrangig zum Nutzen der US-amerikanischen Trans­nationalen Konzerne (TNC) und Ban­ken funktioniert, aber noch wichtiger war sie für die US-amerikani­sche Wirtschaft als Ganzes. Liberalisierte lateinamerikanische Volkswirtschaften liefern den USA strategischen Nutzen, um ihre Bilanzen auszugleichen.
Patent- und Lizenzeinkünfte
Der Kampf der USA um die Be­rück­sichtigung von Bestimmungen zum “geistigen Eigentum” innerhalb der Ver­handlungen zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) ba­siert auf der Tatsache, daß die Ein­künfte aus Pa­tenten und Lizenzen immer wichtiger in der Zahlungsbilanz der USA wurden. Zwischen 1972 und dem ersten Vierteljahr von 1994 belie­fen die Einkünfte sich auf insgesamt 1,06 Milliarden US-Dollar. Von den sechziger bis zu den neunziger Jahren wuchsen sie förmlich in den Himmel: Be­trug der jährliche Durchschnitt in der Dekade 1962/71 2,6 Millionen US-Dollar, stieg der Jahresdurch­schnitt in der Periode 1972/81 auf 24,2 Millionen US-Dollar und in der Dekade 1982/91 auf 39,5 Mil­lionen US-Dollar. 1992/93 betrug der Jahres­durchschnitt 189,8 Millionen US-Dol­lar. Patent- und Lizenzgebühren sind eine Art Renteneinkommmen, das nicht auf produktiven Investitionen beruht. Pa­tent- und Lizenzeinkünfte ziehen Ein­kom­men ab, ohne daß Wertschöpfung statt­findet.
Die wachsende Bedeutung der “Renteneinkünfte” für die Bilanzen der USA ist offensichtlich, wenn wir die US-amerikanischen Erträge aus Inve­stitionen mit denen aus Patenten und Lizenzen ver­gleichen. Zwischen 1961 und 1971 betru­gen die gesamten Pa­tent- und Lizenzein­künfte ein Drittel des Gesamtgewinns aus Direktinvesti­tionen (26 zu 76 Millionen US-Dollar). In der Periode von 1972 bis 1981 sank das Verhältnis von Patent- und Lizenzein­künften zu den Gewinnen aus Direk­tinvestitonen auf sechs Prozent (242 zu 4176 Millionen US-Dollar). Während der Phase von 1982 bis 1991 stiegen die Einnahmen aus Patenten und Lizenzen auf 395 Millionen US-Dollar, während die Di­rektinvestitionen in Lateiname­rika einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar erbrachten. In der Zeit von 1992 bis 1993 waren die Einkünfte aus Patenten und Li­zenzen dreimal so groß, wie die Profite aus den Direk­tinvestitionen.
Profite aus Direktinvestitionen
In der zwanzigjährigen Periode von 1962 bis 1981 führten die US-amerikani­schen Transnationalen Konzerne 4,25 Milliarden US-Dollar an Gewinnen zu­rück. Dies war die Boomphase der latein­amerikanischen Ökonomien. Insbesondere von 1972 bis 1981 profitierten die US-amerika­nischen Gesellschaften von der er­sten Liberalisierungswelle und dem star­ken Zufluß von ausländischem Kapital nach Lateinamerika.
Mit dem Beginn der Weltrezession 1982 verursachten die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme (SAP) ein Schrumpfen des lateinameri­kanischen Marktes. Die Konsumaus­gaben gingen zu­rück und die meisten Volkswirtschaften der Region gerieten ins Trudeln. Durch die massive Kana­lisierung der Ressourcen in devisener­zeugende Sektoren, um den Schulden­dienst leisten zu können, sanken die Gewinnrückführungen in die USA steil ab. In der Phase von 1982 bis 1991 gab es einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar. Wie sich noch zeigen wird, gibt es eine inverse Bezie­hung zwischen Zinszahlungen und Ge­winn­rück­füh­­rungen: Sofern die Banken große Sum­men an Zins- und Til­gungszahlungen her­aus­ziehen, fallen die Profite aus den produktiven Inve­stitionen. Nichts­desto­trotz lieferte die Schuldenkrise für den IWF und die Weltbank einen He­bel, um die Privati­sierung von öffentli­chen Unternehmen zu puschen. Viele die­ser Firmen wurden von US-amerikani­schen TNCs gekauft. Als die begrenzte wirt­schaft­liche Erholung einsetzte, stiegen auch die Gewinnrückführungen US-ameri­kanischer Unternehmen wieder an. Im Zeitraum von 1992 bis zum ersten Quartal 1994 wurden 150 Millionen US-Dollar zu­rücktransferiert. Gegen­über den schlech­ten Ergebnissen in den achtziger Jahren eine klare Ver­besserung, jedoch wurde das Niveau der Periode 1972 bis 1981 bei weitem nicht erreicht. Die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme hat­ten nicht nur einen nachteiligen Effekt auf die lateinamerikanischen Ökonomien, sondern ebenso eine substantiell nega­tive Auswirkung auf die Ertragslage der US-amerikanischen TNCs.
Zinszahlungen
Zinserträge waren im Untersu­chungszeitraum die Hauptquelle bei Pri­vaterträgen aus überseeischen Wirt­schaftsaktivitäten. Die wachsende Libera­lisierung des Kapitalverkehrs und die Wandlung der USA in einen Gläubiger der lateinamerikanischen Investoren pri­vater oder öffentlicher Provenienz, führte zu erhöhten Schul­denlasten in Lateiname­rika. Spiralen­förmig ansteigende Zinsen führten zu einem massiven Anstieg der Zah­lungen an die USA. Zinszahlungen von Lateinamerika an die USA waren ein bedeutendes Gegengewicht zum US-ame­ri­kanischen Handelsdefizit gegen­über Japan und Deutschland. Während die USA dabei gegenüber Lateiname­rika in der Gläubigerposition waren, befanden sie sich gegenüber dem Rest der fortge­schrittenen kapitalistischen Staaten in der Schuldnerstellung. Die gesamten Zins­zahlungen von Latein­amerika in die USA in der Zeit von 1972 bis 1992 betrugen mehr als 233 Milliarden US-Dollar, wobei 206 Milliarden US-Dollar zwischen 1982 und dem ersten Quartal 1994 transfe­riert wurden. Diese ausgedehnten Transfers hatten einen äußerst negati­ven Effekt auf das lateinamerikanische Wachstum und die Im- und Export­nachfrage des Subkon­tinents. Hinge­gen boten sie den USA eine ziemlich große Einkommensquelle, um die De­fizite gegenüber Japan und Deutsch­land zu kompensieren.
“Liberalisierung” hat die Folge stei­gender Zins- und Rentenzahlungen an die USA zu Lasten des Wachstums an Pro­duktivvermögen. Liberale Wirt­schafts­politik erhöhte die Abflüsse durch Zinszahlungen, während es gleichzeitig den Abschluß von Lizenz- und Patentver­trägen erleichterte. Pri­vatisierung ermög­lichte den Ausverkauf öffentlicher Unter­nehmen und belebte die Gewinnaussichten wieder.
Die Zahlungsströme in die USA zei­gen ein insgesamt spektakuläres An­steigen im Zuge der Vertiefung der Li­beralisierung – insbesondere der Zins- und Rentenzahlun­gen. Es ist kein Wunder, daß auf einen “freien Markt” gerichtete Politikmaßnah­men zum Kernstück der US-Politik wur­den und dies ist ein Grund, warum US-Poli­tikerInnen bereit sind, demokratische Regierungen, die auf den “freien Markt” orientiert sind, gegen Militär­putsche zu unterstützen.
Handel USA-Lateinamerika
Wenn wir nun den US-amerikani­schen Handelsüberschuß gegenüber La­tein­amerika untersuchen, fügen wir eine an­dere Dimension der asymetri­schen Bezie­hungen zwischen den USA und Latein­amerika hinzu. Eine Dimen­sion, die für die Unterstützung von “Freihandels­abkommen” durch die USA grundlegend ist. Von den sechzi­ger Jahren bis zum Beginn der Schul­denkrise in den Achtzigern hatten die USA einen substan­tiellen Handels­überschuß gegenüber La­teinamerika. In der Phase 1962 bis 1971 betrug der jährliche Überschuß 426 Mil­lionen US-Dollar, in der Zeit von 1972 bis 1981 wuchs der jährliche Überschuß auf 4,3 Milliarden US-Dollar. Das Umschla­gen in ein Defizit begann 1983 und hielt bis 1989 an. Das durch­schnittliche jährli­che Defizit in der Pe­riode 1972/81 betrug 1,725 Milliarden US-Dollar. Mit der öko­nomischen Er­holung in Lateinamerika be­gannen die USA erneut einen Handels­bilanzüber­schuß zu akkumulieren. Der jährliche Überschuß betrug 1992/93 2,2 Milliar­den US-Dollar. Der Handels­überschuß der USA hatte in der ersten Dekade der Liberalisierung (1970-82) steigende Tendenz. Mit der Schuldenkrise und den Strukturanpassungsprogrammen san­ken die US-amerikanischen Exporte nach Lateinamerika, während die Im­porte infolge der lateinamerikanischen “Export­strategie” anstiegen. Die vom IWF entworfene “Exportstrategie” sollte Ein­kommen schaffen, um den Schuldendienst an die Banken zu ge­währleisten. Nichts­destotrotz haben langfristig gesehen, die Strukturanpas­sungsprogramme neue Möglichkeiten für die USA geschaffen, die lateiname­rikanischen Märkte wieder zu erobern und noch tiefer einzudringen. Wenn wir die vier der Schuldenkrise vorange­gangenen Jahre (1979-82) mit den Jahren nach der Anpassung (1990-93) vergleichen, beobachten wir, daß die Kon­sequenzen der vertieften Liberali­sierung ein Ansteigen des US-ameri­kanischen Handelsüberschusses über seine histori­schen Höchstmarken ist. Während einer­seits die Schuldenkrise und die Struktu­ranpassungsprogramme für die USA einen zeitweisen Verlust an Märkten mit sich brachte, führten sie langfristig über den Wegfall von Schutzmaßnahmen zu einem stärkeren Eindringen und der Übernahme von lateinamerikanischen Märkten. Wenn wir die Handelsbilanz USA-Lateiname­rika mit der Handelsbilanz USA-Japan in der Zeit von 1970-82 ver­gleichen, sehen wir, daß die vorteil­haften Bilanzen gegenüber Lateiname­rika teilweise für die Defizite mit Japan aufkommen. Während der Schuldenkrise (1983-1989) machte das Defizit der USA gegenüber Latein­amerika nur ein Bruchteil des Defizites gegenüber Japan aus. Mit der wirt­schaft­lichen Erholung in Lateinamerika tauchte der Überschuß gegenüber La­teinamerika wieder auf, ist allerdings nur ein Bruchteil des Defizites gegen­über Ja­pan und deckt kaum das Defi­zit gegenüber Deutschland.
Lateinamerika:
Die kumulative Bilanz
Wenn wir die drei Quellen US-ame­rikanischen Einkommens aus Latein­amerika addieren (Rente, Handelsge­winn, Unternehmensprofit) und mit den Han­delsdefiziten gegenüber Japan und Deutschland vergleichen, verste­hen wir die strategische Bedeutung Lateinameri­kas für die US-amerikani­sche Gobalpoli­tik. Lateinamerikas Bei­trag zur weltweiten Stellung der USA wird noch deutlicher, wirft mensch einen Blick auf die Gesamt­einkünfte aus Handel, Investitionen, Dar­lehen und Lizenzabkommen. Zwischen 1962 und 1971 betrug der kumulative Rück­fluß in die USA 6,5 Milliarden US-Dollar, 1972 bis 1981 waren es 75,5 Milliarden US-Dollar und im Zeitraum von 1982 bis 1991 156,4 Milliarden US-Dollar und 1992/93 38,1 Milliar­den US-Dollar. Ohne die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas hätte sich der Niedergang der USA stärker zu Buche geschlagen.
In der Zeit von 1962 bis 1971 betrug das US-amerikanische Einkommen aus Lateinamerika drei Viertel des Han­delsdefizits gegenüber Japan und übertraf das Handelsdefizit gegenüber Deutschland um 50 Prozent. In der folgenden Dekade entsprachen die Einkünfte aus Lateiname­rika dem Handelsdefizit gegenüber Japan. Im letzten Jahrzehnt von 1982 bis 1991 verdoppelten die USA zwar ihr Ein­kommen aus Lateinamerika, jedoch wuchs das Handelsdefzit gegenüber Japan um das fünfeinhalbfache und das gegenüber Deutschland gar um das siebenfache. Das selbe Muster scheint sich im gegenwärti­gen Jahr­zehnt fortzusetzen. Die Liberali­sierung Lateinamerikas hat den von den USA angeeigneten Überschuß erhöht. Die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas korrespondiert mit der sich ver­schlechternden Handelsposition der USA gegenüber den Haupthan­delspartnern auf dem Weltmarkt.
Milliardäre in Lateinamerika
Parallel zur erhöhten Ausbeutung La­teinamerikas durch die USA haben die auf einen “freien Markt” zielenden Politik­maßnahmen zu einer tiefen Po­larisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften ge­führt und eine neue Klasse von super­reichen Milliardären hervorgebracht. Diese Klasse ist ein direktes Produkt des Liberalisierungs­prozesses: 1987 gab es in Lateiname­rika weniger als sechs Milliar­däre, 1990 waren es acht, 1991 zwanzig und 1994 gab es schon deren 41. Die mei­sten der Superreichen waren vor der Libe­ralisierung Millionäre. Sie wurden Mil­liardäre durch den Ausverkauf der öf­fentlichen Unternehmen während der späten achtziger und der neunziger Jahre. Zwangsläufig kontrolliert diese Klasse von Milliardären mit ihrem aus­gedehnten Mediennetzwerk und ihren Verbündeten im Staatsapparat die Wirtschaftspolitik und die Wahlpro­zesse. In Mexiko durch die PRI, in Brasilien durch die korrupte politische Klasse, in Chile durch die Con­certación, und in Argentinien, Vene­zuela und Kolumbien durch die tradi­tionellen zwei großen Parteien. Die Superreichen haben wertvolle Minen­konzessionen, Telekommunikationssy­steme, Vermögen im Tourismus und der Industrie erlangt.
Die große Konzentration des Wohl­stands auf eine kleine Gruppe von Fami­lien ist eine der auffälligsten “Erfolgsstories” in Lateinamerika: Diese Gruppen haben das Oberge­schoß der “Ersten Welt” im wahrsten Sinne des Wortes erreicht. Sie haben nicht nur von der Liberalisierung pro­fitiert – zu Lasten der Bevölkerungs­mehrheit – sondern wa­ren dank ihrer Verbindungen zu den libe­ralen Regierungen die größten Unterstüt­zer der neoliberalen Politik.
Dabei ist der Prozeß der Vermö­genskonzentration in Lateinamerika Teil eines weltweiten Prozesses – Pro­dukt der “neoliberalen Konterrevolu­tion.” Im Zeit­raum von 1987 bis 1994 stieg die Anzahl der Superreichen in den USA von 49 auf 120, in Asien von 40 auf 86, in Europa von 36 auf 91 und im Mittleren Osten und Afrika von 8 auf 14.
Der Begriff Zentrum/Peripherie er­faßt die Verflechtungen zwischen den super­reichen Klassen im Norden und Süden nicht. Diese sind durch eine Vielzahl von Investitionen, Finanz- und Handelskreisen als auch Lizenzie­rungsabkommen mitein­ander verbun­den. Die Integration der Su­perreichen in den Weltmarkt und ihre Fä­higkeit, den Nationalstaat zu lenken und zu re­gulieren, damit er ihre internationalen Verbindungen finanziert und subven­tioniert, ist zur auffälligsten Erschei­nung in der Weltpolitik geworden. Globalismus ist das Programm der Su­perreichen.
Das gleichzeitige Wachstum der Klasse der Milliardäre in Lateinmerika und der Ausbeutung Lateinamerikas durch die USA sind duale Ergebnisse der “neo­liberalen Konterrevolution”. Dies ist am offensichtlichsten in den Ländern, die auf dem neoliberalen Pfad am weitesten fortgeschritten sind: Mexiko hat 24 Milliar­däre und war die Hauptquelle des Handelsgewinns, der Lizenz- und Pro­fiteinkommen für die USA. Brasilien mit sechs, Argentinien, Chile und Kolumbien mit jeweils drei und Venezuela mit zwei Milliardären folgen.
Der Hauptgrund für die wachsende Armut und den Abbau im Gesund­heits- und Bildungswesen liegt in der Umver­teilung der öffentlichen Res­sourcen zum Privatsektor und inner­halb des Privatsek­tors zu den sehr Reichen. “Neo­liberalismus” ist in sei­ner Essenz eine Beschönigung für die Konzentration des Einkommens durch die internationale Regulierung der Staatspolitik. Einkommen wird nach oben und nach außen transfe­riert. Die Armen werden dem Überlebens­kampf überlassen: Mit marginalen Kleinst­un­ternehmen, mit informeller Be­schäfti­gung und mit Almosen aus Pro­jekten, die von Nicht-Regierungs-Orga­nisa­tionen gesponsert werden, versu­chen sie, sich über Wasser zu halten.
Jedenfalls ist Liberalisierung nicht oder nicht bloß eine “Entwicklungsstrategie”, die ausgear­beitet wurde, um Lateinameri­kas Inte­gration in den Weltmarkt zu erleich­tern. Noch ist sie ein unvermeidli­ches Produkt eines immanenten “Glob­alisierungsprozesses”. Eher ist Libe­ra­lisierung ein Produkt von US-amerika­nischen Wirtschaftspolitikern, Bankern und Transnationalen Gesell­schaften, die mit lateinamerikanischen transnationalen Ka­pitalisten verbunden sind. Es sind spe­zifische Klassen und Staatsinteressen und nicht Imperative des Weltsystems, die die neue liberale politische Ökonomie dik­tieren. In die­sem Sinne muß die Um­kehrung der Liberalisierung auf der natio­nalen Ebene innerhalb der Klassenstruktur beginnen und dann nach oben und außen weitergetragen werden.

Im Sog der Integrationswelle

WirtschaftswissenschaftlerInnen be­kom­men bei Begriffen wie Freihandels­zone, Zoll­union oder gar Ge­mein­samer Markt feu­chte Augen. Wach­sende Märkte ohne Gren­zen bedeuten stei­genden Han­del, er­höhte Binnennachfrage und intensi­vierte In­ves­titionstätigkeit, Pro­dukt­ivitätsge­winne und freien Kapital- und Personen­verkehr. Soviel zur Theorie.
Die Europäische Union (EU) hat vorge­führt, wie ein Zusammenschluß funktio­niert: Zunächst wird eine Freihandelszone ver­einbart, innerhalb der die Zölle schritt­weise abgebaut werden. Dann folgt der Über­gang zu einer Zollunion mit ge­meinsamem Außenzoll und immer mal wieder werden ein paar neue Mitglieder auf­genommen. Schließlich versucht mensch sich am Gemeinsamen Markt, also der makroökonomischen Koordinie­rung und Harmonisierung des Personen-, Ka­pi­tal-, Güter- und Technologieverkehrs und stößt dabei auf Grenzen, wie die Rück­schläge bei der angestrebten Wäh­rungs­union zeigen.
Der Trend des Sich-Zusammenschließ­ens ist also nicht neu; wohl aber hat er sich seit Anfang der 90er Jahre weltweit enorm verstärkt. Nach der jahrzehntelan­gen Binnenorientierung, die mit der Zah­lungs­unfähigkeit Mexikos 1982 ein ab­ruptes Ende nahm, kann sich auch Lateinamerika der zunehmenden Block­bildung nicht mehr entziehen, wenn es auf dem Weltmarkt bestehen will. Einzelne Länder erweisen sich gegenüber den Ko­lossen in Europa, Asien und Nordamerika als Peanuts, deren Handlungsfähigkeit und Beeinflussungsmöglichkeiten des Welt­marktes ständig weiter sinken.
Von den vielen subregionalen Freihan­delszonen, die sich im Laufe der letzten 30 Jahre in Lateinamerika gebildet haben, heben sich die beiden jüngsten – MER­COSUR und NAFTA – durch ihre Größe und das Tempo hervor, mit dem sie in Kraft traten: Der MERCOSUR hat bereits den Sprung zur Zollunion zumindest ein­beinig vollbracht.
Appetithappen Uruguay
Der MERCOSUR besteht aus äußerst ungleichen Ländern, was sich sowohl auf die geographische als auch auf die wirt­schaftliche Größe bezieht.
Brasilien dominiert den MERCOSUR wirtschaftlich und ist gleichzeitig auch das von diesem Markt unabhängigste Land, da es nur jeweils 14 Prozent seiner Ex- und Importe mit den Nachbarländern abwik­kelt. Diese Dominanz drückt sich vor al­lem in einem wettbewerbs- und damit ex­portfähigen Industriesektor, insbesondere dem Kraftfahrzeug- und Maschinenbau, aus. Brasilien hat daher seit Einrichtung der Freihandelszone 1991 am meisten pro­fitiert, indem es seine Exporte um knapp 130 Prozent steigern konnte. Seit Cardosos Wahl redet auch niemand mehr von der Instabilität des Landes in Sachen Währung und Inflation. Auch die von Mexiko ausgehende Finanzkrise wird das Land aufgrund seiner exportorientierten Technologiesektoren nicht so schwer tref­fen wie den Partner Argentinien. Brasilien ist der unangefochtene Motor des Integra­tionsprojektes MERCOSUR. Wie auch im Falle Deutschlands in der EU zeigt sich, daß das dominante Land die positivsten wirtschaftlichen Effekte aus fortschreiten­den Wirtschaftszusammenschlüssen für sich verbuchen kann.
Argentinien folgt Brasilien mit weitem Abstand, trotz des angegebenen höchsten Pro-Kopf-Einkommens. Während Brasi­lien hauptsächlich kapitalintensive Indu­st­riegüter nach Argentinien exportiert, be­wegen sich die Exporte in die andere Rich­tung vorwiegend im traditionellen Be­reich der Rohstoffe und der wenig ver­ar­beiteten Produkte. Das Land muß nach der derzeitigen mexikanischen Finanz­krise am stärksten mit dem Übergreifen die­ser Krise, dem sogenannten “Tequila-Effekt”, rechnen. Schließlich gilt Argenti­nien als Abwertungs- und Krisenkandidat Num­mer eins. Jahrelanges Festhalten am per Gesetz festgelegten 1:1-Wechselkurs zum US-Dollar haben zu einer starken Über­bewertung des Pesos geführt, da die Inflationsraten der beiden Länder weit auseinander liegen. Durch hohe Zinsen wur­den massiv Kapitalanlagen aus dem Ausland angezogen – allerdings nur kurz­fristige. Für Investitionen sind jedoch mittel- und langfristige Kredite erforder­lich, für deren Vergabe die Banken wie­derum mittel- und langfristige Einlagen von KapitalanlegerInnen benötigen. So wurde Argentinien die letzten vier Jahre stabilisiert, ohne daß starke Produktivitäts­steigerungen durch Investitionen ereicht wurden. Die Verbesserung der Wettbe­werbsfähigkeit ist zu kurz gekommen, das Handelsbilanzdefizit gestiegen. Sollte es noch vor oder kurz nach dem Ende der Amtszeit Menems zu einer Abwertung kommen, die auf bis zu 45 Prozent ge­schätzt wird, so wäre kurzfristig mit einer weiteren Verschlechterung der Handels­bilanz zu rechnen, da inbesondere Großunternehmen, die hohe Importrechnungen zu begleichen haben, in arge Zahlungs­schwierigkeiten geraten würden.
Die Einbeziehung Uruguays und Para­guays hat rein strategische Gründe. Böse Zungen behaupten, Paraguay sei nur in den MERCOSUR gekommen, weil es über genügend Wasser für die Stromver­sorgung der Nachbarländer verfügt (vgl. hierzu den Paraguay-Artikel über den Yasyretá-Staudamm in diesem Heft). Uruguay liegt als kleiner Sandwichhappen zwischen Brasilien und Argentinien. Wäh­rend in vielen Ländern der Kauf eines di­rekt am Heimatland liegenden Grund­stückes durch AusländerInnen verboten ist, ist in Uruguay der Nordosten des Lan­des mittlerweile sozusagen eine Provinz von Südbrasilien geworden: Brasiliani­sche UnternehmerInnen beschäftigen bra­silianische ArbeitnehmerInnen.
Als Trostpflaster und zur Beruhigung der Uruguayos ist in Montevideo das ständige Sekretariat des MERCOSUR eingerichtet worden, durch welches die weitere Integration koordiniert werden soll.
Die beiden kleinen Länder haben Angst davor, von den großen – zumindest wirt­schaftlich – geschluckt zu werden, können sich aber gleichzeitig nicht alleine auf dem Weltmarkt behaupten und sind daher auf eine Integration angewiesen. Sowohl Paraguay als auch Uruguay sind extrem ab­hängig von ihren Nachbarländern: Für Uruguay liegt die Exportquote in die MERCOSUR-Länder bei 42 Prozent, die Importe bei 56 Prozent, für Paraguay nur unwesentlich darunter. Beide Staaten ver­suchen, den Integrationsprozeß so weit wie möglich zu bremsen, ohne tatsächlich hin­ausgeworfen zu werden. Ihre Anpas­sungslast an zunehmende Konkurrenz soll durch Ausnahmeregelungen und Kompen­sationsmechanismen verringert werden. Viele der Ausnahmen der verkappten Zollunion, für die noch kein gemeinsamer Nenner gefunden werden konnte und die bis zum Jahre 2006 beseitigt sein sollen, beruhen auf paraguayischen und uru­guayischen Einwänden.
Die Ungleichgewichte werden sich in ab­sehbarer Zeit kaum abbauen lassen. Selbst in der EU, die über einen Regional­fonds als Kompensationsinstrument ver­fügt, kann von einer merklichen Anglei­chung kaum die Rede sein: Portugal und Grie­chen­land bilden weiterhin die Schluß­lich­ter der Gemeinschaft, und auch die üb­rigen “rückständigen” Regionen kom­men durch die Fondszahlungen kaum an die “fortschrittlichen” heran.
Gewissensfrage: NAFTA oder MER­COSUR?
Trotz der Schwierigkeiten bei der Ver­wirklichung der Zollunion, haben sich be­reits weitere Kandidaten für den Beitritt aus­gesprochen. Bolivien hat Interesse an einer Aufnahme angemeldet – in der Re­gion um Santa Cruz haben sich immer mehr bra­silianische Unternehmen an­ge­sie­delt und sind zu einem wichtigen Faktor der bo­livianischen Wirtschaft geworden -, even­tuell wollen auch Kolumbien und Vene­zuela beitreten. Chile ist grundsätz­lich interessiert, hat aber seinen Spagat zwi­schen NAFTA und MERCOSUR durch die Verhand­lungsaufnahme mit der NAFTA seit kurzem sogar noch vergrö­ßert.
Hat der MERCOSUR Chancen gegen die NAFTA? Das US-Angebot des NAFTA-Beitritts könnte auf der einen Seite gerade durch die Mexiko-Krise für andere Länder attraktiv werden: massive Zah­lungen des reichen Partners im Nor­den sollen ein komplettes Ausscheren Mexi­kos verhindern. Innerhalb des MER­COSURS verfügt kein Land über aus­reichende Möglichkeiten, die Krise ei­nes anderen aufzufangen: Brasilien steht noch am Anfang einer Stabilitätsphase und Ar­gentinien am Ende. Beide Länder wer­den sich hüten, kriselnde MERCOSUR-Mit­glieder durch Stüt­zung­s­käufe zu retten.
Auf der anderen Seite zeigt die Mexi­ko­krise, wie schwierig eine Integration selbst für ein im lateinamerikanischen Raum wirtschaftlich so fortschrittliches Land wie Mexiko sein kann. Eine großa­meri­kanische Gemeinschaft rückt erst einmal in weite Ferne; wer sich der NAFTA anschließt, muß sich auf eine längere Zeit der lockeren Zusammenarbeit einrichten.
Derweil hat sich der MERCOSUR schon einen Schritt weiter gewagt als die NAFTA und will zum Ende der 90er Jahre eine gewisse Eigenständigkeit vorweisen, mit der er dann geschlossen in Verhand­lun­gen mit anderen Blöcken auftreten kann, beispielsweise eben mit der NAFTA. Ein regionaler Zusammenschluß, der ausnahmsweise nicht unter der Herr­schaft Nordamerikas steht, sondern eine ei­gene Regionalmacht – Brasilien – hat, ist eine nicht zu unterschätzende Option, um den USA nicht nur als Rohstoffversorger und verlängerte Werkbank zu dienen.

Wasmosy in Bedrängnis

In den 35 Jahren seiner Herrschaft hatte Stroessner seine Getreuen fest im Griff. Durch Einschüchterungen, öffentliche Exekutionen, drakonische Strafen und ein unüberschaubares Herr von Spitzeln, die Pyragués (was in der Indianersprache Guaraní diejenigen bezeichnet, die sich zum Anschleichen Fell an die Fußsohlen kleben), machte er Paraguay in kürzester Zeit zur Tierra de paz y sol, zu seinem “Land des Friedens und der Sonne”.
Doch auf einmal waren der Karaí Guazú, der große Herrscher und sein Par­teiapparat, deren Liebe offiziell nur dem einfachen Volk galt, verschwunden, ver­trieben von anderen Militärs, über deren Lippen ein neues Zauberwort kam: De­mokratie.
Nach der Interimspräsidentschaft des Generals Rodriguez wurde im Mai 1993 der erste zivile Präsident des Landes ge­wählt, der Ingenieur Juan Carlos Was­mosy, Mitglied der Colorado-Partei, die seit fünfzig Jahren die Regierung stellt. Doch schnell schwand seine Popularität, besonders bei seinen eigenen Parteigenos­sen. Wasmosy habe, so wird heute offen behauptet, bei den internen Wahlen um die Präsidentschaftskandidatur der Partei Wahlfälschung zu seinen Gunsten betrie­ben. Sein Gegner, der ehemalige Chef des Justizapparates Luis Argaña, der mit seinen populistischen Reden und seinem Wunsch nach der Rückkehr Stroessners große Teile der Landbevölkerung hinter sich wußte, führt nun verärgert die Riege der Stronistas an, deren Herzenswunsch die Herstellung alter Verhältnisse ist.
Wasmosy, der durch den Bau des Stau­dammes Itaipú vermögend wurde, ist für die meisten Paraguayos ziemlich un­glaub­würdig, wenn es um die Demokrati­sierung des Staates und die Reform des Jus­tiz­wesens geht. Wasmosy ist sicherlich der fal­sche Mann, um den Schmuggel, von dem ein Großteil der Volkswirtschaft lebt, und die Korruption zu unterbinden. Seine Lip­pen­bekenntnisse verhallen un­be­ach­tet.
Positive Veränderungen gibt es den­noch: Neben der Justiz- und Verfassungs­reform ist die Zensur abgeschafft. Mutige JournalistInnen werden allerdings immer wieder Opfer von Verfolgungen. Plötzlich ist der so lange geheimgehaltene Drogen­handel ein Thema: Dutzende von kokain­beladenen Flugzeugen, die von den An­denländern nach Rio und Sâo Paulo un­terwegs sind, landen angeblich täglich auf entlegenen Militärflugplätzen in Paraguay und werden hier gegen Entgelt gewartet und aufgetankt.
Da unter Stroessner Korruption und Schmuggel als Mittel zur Sicherung des sozialen Friedens gebilligt wurden, haben viele Großgrundbesitzer, Kaufleute und Militärs durch undurchsichtige Transak­tionen unermeßliche Reichtümer ange­häuft und öffentliche Posten besetzt. Die riesigen Villen der Nobelviertel zeugen davon. Ein besonders krasses Beispiel ist da der Ex-Präsident selber. Im Viertel Las Carmelitas hat sich General Rodríguez ein Loire-Schloß nachbauen lassen, das von mehreren Hundertschaften Soldaten be­wacht wird. Im Bad des Ex-Präsidenten sind alle Armaturen angeblich aus purem Gold, wie die Gerüchteküche auf dem Pettirossimarkt zu berichten weiß. Auf die erwirtschafteten Pfründe will verständli­cherweise kein Nutznießer der Diktatur freiwillig verzichten, eine wirksame Trans­formation der ungleichen paraguayi­schen Gesellschaft wird von vielen wis­sentlich verhindert.
Neoliberalismus all überall
Die Wirtschaftspolitik Wasmosys schwimmt voll auf der neoliberalen Woge, die in Südamerika um sich greift. Staats­betriebe sollen privatisiert werden und die Wirtschaft wird nicht zuletzt durch den Mercosur seit dem 1. Januar weiter geöff­net. Die möglichen Auswirkungen des Mercosur sind noch nicht klar abzusehen. Paraguay steuert zum gesamten Brutto­sozialpodukt der vier Länder nur ein Pro­zent bei. Bestenfalls, so hofft man, kommt es durch den Mercosur zu einer Entkrimi­nalisierung des Schmuggels und zur Ver­ringerung des Autodiebstahls in den Mit­gliedstaaten, für den Paraguay in den letzten zwanzig Jahren hauptsächlich ver­antwortlich war, und der generalstabs­mäßig vom Militär organisiert wurde. Im schlimmsten Fall aber wird durch die in­dustrielle Übermacht Argentiniens und Brasiliens auch der letzte Keim industri­eller Eigenproduktion erstickt.
Die politische und ökonomische Reali­tät nach anderthalb Jahren Wasmosy ist ernüchternd: Die Reallöhne fallen kon­stant, die Inflation ist mit über zwanzig Prozent im internationalen Vergleich zu hoch, Arbeit gibt es immer weniger. Laut Economist benehmen sich die Politiker Paraguays, die sich seit fünf Jahren in der Demokratie üben, wie im Kindergarten. Die ganze Situation sei a great mess, ein großes Durcheinander.
In dieses Durcheinander und in die schwierige wirtschaftliche Situation des durchschnittlichen Paraguayos mischt sich eine weitere Sorge. Die starke Zunahme von Raubüberfällen und Einbrüchen ver­unsichert die BewohnerInnen Asuncións zusehends, obwohl die Kriminalitätsrate auch im Vergleich zu europäischen Maß­stäben immer noch gering ist. Es sind Boulevardblätter wie La Crónica, die mit unappetitlichen Farbfotos jedes Ermorde­ten die Angst noch weiter schüren.
Und immer wieder: Putschgerüchte
Rufe nach einem neuen starken Mann im Staat werden immer lauter. Für viele ist dieser Mann General Lino Oviedo. Als Chef des ersten Heereskorps ist er der mächtigste Offizier im Staat, untersteht ihm doch die einzig wirklich kampffähige Einheit der Streitkräfte. Putschgerüchte in Asunción gibt es immer wieder, und die politischen Ambitionen Oviedos sind seit langem bekannt. Öffentlich beteuerte Oviedo beim Amsantritt Wasmosys, es sei seine Pflicht, “als Soldat und Bürger der Demokratie und der Freiheit” loyal zu sei­nem Präsidenten zu stehen. So bleibt für Paraguay zu hoffen, daß Oviedo eine Tra­dition der paraguayischen Militärs bricht und sein Wort hält. Einen Putsch könnte er sich aufgrund der folgenden internatio­nalen Isolation kaum leisten. Er hätte ihn auch gar nicht nötig, seine Wahl zum nächsten Präsidenten gilt als sicher.

Kasten:

Der Präsident und der Staudamm
Die Fische bereiteten den Ingenieuren von Yasyretá, dem zweitgrößten Staudamm Süd­amerikas am Rio Paraná an der Grenze zwischen Argentinien und Paraguay, be­sonderes Kopfzerbrechen. Um ihnen das Überwinden des neuen Höhen­unterschiedes zu ermögli­chen, ersann mensch etwas sehr Skurilles: einen Fischaufzug. An­scheinend waren tau­sende Surubís, Dorados und andere Tropen­fische aber von der Technik hilflos überfodert. Tot trieben sie kurz vor der feierlichen Ein­weihung des Staudam­mes am 2. September letzten Jahres auf dem Paraná.
Drei­zehn Jahre nach dem geplanten Fertigstellungstermin ging nun die erste von insge­samt zwanzig Turbinen des Wasserkraftwerkes endlich ans Netz, alle 72 Tage soll eine weitere folgen. Yasyretá erreicht jedoch im Durchschnitt mit 3080 Megawatt nur ein Viertel der Kapazität des Itaipú-Staudammes, des größten Wasserkraftwerks der Erde, das ebenfalls am Paraná von Paraguay und Brasilien betrieben wird.
Als 1973 der Vertrag von Itaipú zwischen Brasilia und Asunción unterschrieben war, er­wachte die alte Rivalität zwischen den Giganten Argentinien und Brasilien. Der be­reits schwer erkrankte argentinische Präsident Perón schickte umgehend seine Frau Isabel in die paraguayische Hauptstadt, wo sie mit dem Diktator Stroessner den Ver­trag über die hydroelektrische Nutzung des Paraná nahe der Insel Yasyretá abschloß.
Das paraguayische Volk nimmt die Existenz des neuen Staudamms außerordentlich ge­lassen hin. Mit der ökologischen Katastrophe, die eine künstliche Anhäufung sol­cher ge­waltiger Wassermassen verursacht, hat mensch ja Erfahrung, schließlich hat das Auf­stauen des Paraná durch Itaipú ab 1982 das gesamte Klima Paraguays durcheinander­gebracht. Der Regenkalender des Forschers Moises Bertoni, der Anfang dieses Jahrhun­derts durch intensive Wetterbeobachtung eine Tabelle entwickelte, mit deren Hilfe man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Regentage vor­ausberechnen konnte und die in keinem paraguayischen Haushalt fehlt, ist unbrauch­bar geworden. “El tiempo hace lo que quiere”, das Wetter macht was es will, sagt Carolina Acosta, eine junge Verkäuferin aus dem immerschwülen Asunción und zeigt belustigt auf einen dicken wollenen Strampelanzug: “So etwas trugen die Babies frü­her, als es im Juli noch kalt wurde”, lacht sie.
Daß die Anrainer des angestauten Beckens von Itaipú ein erhöhtes Auftreten von Leis­hmaniose und anderen durch Stechmücken übertragbare Krankheiten beobachten, bringt niemanden aus der Ruhe. Eher schon die Tatsache, daß durch Itaipú die angeb­lich schön­sten Wasserfälle der Erde, die Sete Quedas, für immer verschwunden sind.
Für Yasyretá erwartet man ähnliche Folgen: 800 Quadratkilometer des paraguayi­schen Territoriums werden in den nächsten Monaten für immer überschwemmt, aber “nur” 200 Quadratkilometer auf der argentinischen Seite. 27 paraguayische Inseln werden unter den Wassermassen verschwinden, darunter auch diejenige, die dem Damm den Namen gab und die als eines der letzten Refugien subtropischer Flora und Fauna gilt. Auch die Men­schen sind betroffen: 3.974 Familien müssen allein in Para­guay umge­siedelt werden, und ein ganzer Stadtteil der drittgrößten paraguayischen Stadt Encar­nación wird evakuiert.
12 Milliarden US-Dollar wird Yasyretá bei seiner endgültigen Fertigstellung verschlun­gen haben. Die Finanzierung teilen sich die Weltbank, die Interamerican Development Bank, die argentinische Regierung und einige private Investoren. Bei der Finanzierung von Yasyretá wird analog wie bei dem Kreditmodell Itaipús vorge­gangen: Argentinien gibt das Geld, Paraguay das Wasser seiner Flüsse. Die dadurch entstandene Geldschuld Paraguays wird mit dem Strom des neuen Kraftwerks abbe­zahlt. Im Klartext heißt das, daß Paraguay in den nächsten zwanzig Jahren so gut wie keine einzige Kilowattstunde von Yasyretá beziehen wird. Einen dringenden Bedarf Paraguays an Strom gibt es ohne­hin nicht. Durch Itaipú erhält das kleine Land mit sei­nen fünf Millionen EinwohnerInnen mehr Elektrizität als es jemals verbrauchen könnte, so daß über 80 Prozent des Stroms nach Brasilien exportiert wird.
Kritik an dem Projekt Yasyretá kommt dem Präsidenten sehr ungelegen. Die mutige Zeitung ABC Color wies in einem Editorial unmißverständlich daraufhin, daß Para­guay den neuen Staudamm nicht benötige. Den Strom brauche man sowieso nicht, der sei schließlich für Buenos Aires, aber der ökologische Preis, den Paraguay zahlt, sei, wie die Redakteure befanden, einfach zu hoch.
Offizielle Stellen, allen voran Wasmosy selber, reagieren gereizt auf solche unpatrioti­schen Meinungen. Die Hauptsache sei schließlich, daß das technische Wun­der der hydro­elektischen Energieerzeugung mit paraguayischem Wasser zustande komme. Darauf könne doch jeder Paraguayo und jede Paraguaya stolz sein, heißt es.
Auf den Präsidenten hört das paraguayische Volk jedoch kaum. Wasmosy, so sagt man in Asunción, sei bola, ein Mensch, der meist die Unwahrheit erzählt. Der Staats­mann besitzt die größten Baufirmen des Landes und wurde durch den Bau von Itaipú vermögend. Sein argentinischer Kollege Menem provozierte vor fünf Jahren, als die Fer­tigstellung Yasyretás noch in den Sternen stand, eine diplomatische Krise zwischen bei­den Ländern. Yasyretá, so sagte er damals, sei nichts anderes als ein Betondenkmal der Korruption.
Philipp Lepenies

Die Seifenblase ist geplatzt

Salinas de Gortari, der erst im Dezem­ber das Prä­sidentenamt an Zedillo ab­gegeben hatte, ist davon überzeugt, daß Mexiko den Peso bereits zu einem frü­heren Zeitpunkt hätte ab­werten sollen. Seine Re­gierung habe jedoch im Vor­feld der Wahlen im Herbst aus Stabilitätsgrün­den nicht von ihrer Wechselkurs­politik abweichen wollen. Der PRI blieb so bis zum 20. Dezem­ber immer noch ihre öko­nomi­sche Er­folgsbilanz, die sich eben­falls auf Stabilität gründete: Geringe In­fla­tion, die allerdings nur wegen eines immer größer werden­den Kapitalbilanz­defizites möglich war, machte die Staatspartei, im Be­wußtsein der Wähler, zum einzigen Ga­ranten der Stabilität und sicherte ihr bei den Prä­sident­schaftswahlen den Sieg. Die Oppositionsparteien PRD und PAN wer­fen dem Ex-Präsidenten Salinas in­zwi­schen persönliche Be­reiche­rung vor. Doch die USA, de­ren Präsident Bill Clinton immer wieder die unbe­schränkten Importe von US-Waren nach Mexiko ohne ent­sprechende Peso­abwertungen lobte, för­dern die Kandida­tur Salinas zum Vorsit­zenden der GATT-Nachfolgers WTO (Welt­handelsorganisation) wei­terhin. Sa­linas zeige her­vorragende Führungs­quali­täten, erklärte US-Handels­minister Ron Brown. Der ve­nezo­lan­ische Wirtschafts­wis­sen­schaftler Moises Naim betonte dagegen, schon vor einem Jahr sei be­kannt ge­wesen, daß der We­chselkurs des Peso kor­rigiert werden mußte. Die Re­gierung habe aber nichts unternommen, weil sie sich damals durch die günstigen makroökonomi­schen Daten gut nach au­ßen habe darstellen können. Diese Seifen­blase ist jetzt geplatzt. Der PRI ist zwar ihr wichtigstes Ziel, der Machterhalt, wie­der einmal gelungen. Doch der Preis dafür ist hoch. Das Schock­programm Zedillos wird na­türlich vom In­ternationalen Wäh­rungsfond (IWF) unter­stützt, in der Be­völkerung dürfte der Rückhalt aller­dings nicht groß sein. Im Notstands­programm sind in­nerhalb der nächsten zwei Jahre le­diglich Lohnsteige­rungen von sieben Pro­zent vorgesehen. Die Unter­nehmen konn­ten nur zu dem Ver­sprechen gebracht werden, die Preise nicht “un­gerechtfertigt” zu erhö­hen. Dieses “Ab­kom­men für die Einheit”, das Anfang Januar von der Re­gierung mit dem Gewerk­schaftsdach­verband und den Unternehmen aus­gehandelt wurde, soll die Inflation 1995 nicht über 19 Prozent schnellen lassen. Auch ist vor­gesehen, die Staats­aus­gaben zu kürzen. Und die Preise bleiben für zwei Monate eingefroren, wohl vor allem, um den Sturz der mexikanischen Börse ins Bodenlose zu ver­hin­dern.
Doch inzwischen meldete die Gewerk­schaft der Elek­trizitätsarbeiter den An­spruch an, die Tarife frei auszuhandeln. Auch die Ange­stellten der staatlichen Presseagentur Notimex ver­langen eine Lohnerhöhung von 22 Prozent. Und die Natio­nale Kammer der Weiter­ver­arbei­tenden Industrie (Canacintra), die 85 Pro­zent aller industriel­len Ar­beitsplätze in Mexi­ko reprä­sentiert, for­derte ein sechs­monatiges Schuldenmo­ra­torium und die Stundung von Steuerrückständen. Außer­dem forderte der Ver­band Hilfe für Un­ternehmen, die vor der Ab­wertung Kre­dite bei ausländischen Ban­ken auf­genommen hatten. Alle Importprodukte sind we­sent­lich teurer ge­worden, ebenso Benzin. Zwar ist die Erdölge­sellschaft PEMEX seit 1938 in den Händen des Staates und soll es nach Aussagen von Regierungs­vertretern auch bleiben. Doch der Druck aus den USA, PEMEX zu pri­vatisieren, wächst. Immerhin war die mexi­kanische Regie­rung erst­mals gezwungen, Kredite der USA und Kanadas zu Stützungskäufen zu ver­wenden. Denn die Kapital­flucht setzte sofort bei der Abwertung des Peso ein. Ausländische Anleger haben angeb­lich bis zu zehn Milli­arden Dollar an der Börse in Mexiko verloren. Damit muß wieder um Kapitalanlagen in Mexiko ge­worben werden. Zwar sind diese Summen überwie­gend im nicht­produktiven Bereich ein­gesetzt worden, denn Spekulation ver­spricht höhere Gewinne, doch die Siche­rung ausländischer Ka­pitalanlagen in Me­xiko steht bei den Geberländern ganz oben.
Das Ausland fängt den Peso auf
Vertreter der mexikani­schen Regierung reisten deshalb nach New York und Tokio und priesen auch in Frankfurt am Main die Vor­züge des Standortes Mexiko. Enri­que Vilatela, Präsident der Banco Na­cional de Co­mercio Ex­terior und Leiter der vom mexikanischen Fi­nanz­mi­nis­terium nach Europa entsandten Dele­ga­tion, ver­kündete in Frankfurt, daß über kon­krete Finanz­arrange­ments nicht ge­sprochen worden sei. Doch mit der Deut­schen Bank und der Dresdner Bank, so hieß es in Bankenkreisen, be­teiligten sich zwei deutsche Großban­ken an einem Stüt­zungskredit von drei Milliarden Dollar. An diesem Kredit, über des­sen Moda­li­tä­ten nichts be­kannt wurde und der Teil ei­nes 18 Milliarden Dollar – Paketes ist, sind ins­gesamt 30 inter­na­tionale Geldinsti­tute beteiligt. Zusätzlich wollen die USA Kre­dit­bürg­schaften von bis zu 40 Mil­liarden Dollar bereitstellen, um Mexi­kos kurz­fristige Zahlungs­verpflichtungen auf einen längeren Zeitraum um­schulden zu können.
Durch diese offene Un­ter­stützung der US-Regierung stiegen die Börsenkurse am 13. Januar erstmals wieder um 4,61 Pro­zent an. Auch der Peso konnte sich um 30 Centavos auf 5,30 pro Dol­lar verbessern.
Produktion vorübergehend gestoppt
Währenddessen plant VW de México, die Auto­produktion ab dem 23. Januar für eine Woche zu unterbrechen, da die mexi­ka­nische Inlands­nachfrage zusammen­ge­brochen ist. Die Arbeiter des VW-Werkes in Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzar­beit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorüber­gehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gott­schalk, betonte dagegen die Vorteile der Peso­abwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnko­sten “nicht un­bedingt wett­bewerbs­fähig” gewesen. Die Krise verbil­ligt die ar­beits­intensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nord­grenze besteht. In den dortigen maquiladoras werden oft unter Umgehung der Ar­beitsrechte Halb­fertigpro­dukte aus den USA zusam­mengefügt und wieder in die USA re-im­portiert. Jede Lohn­senkung erhöht die Pro­fite beträchtlich.
Börsensturz in Brasilien und Argentinien
Der Einfluß der mexi­kani­schen Krise auf ganz La­teinamerika ist wäh­renddes­sen un­über­sehbar. Mexiko als eines der größ­ten und ent­wickeltsten Länder des Sub­kontinents, das zudem durch den NAFTA-Vertrag mit den USA und Kanada verbun­den ist, symboli­sierte bis zum 1. Jn Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzar­beit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorüber­gehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gott­schalk, betonte dagegen die Vorteile der Peso­abwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnko­sten “nicht un­bedingt wett­bewerbs­fähig” gewesen. Die Krise verbil­ligt die ar­beits­intensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nord­grenze besteht. In den dortigen maquSA, die auf die­se Weise den ge­samten Kontinent sta­bili­sieren wollen, be­ginnt nun zu wanken. Auch Brasiliens erst letztes Jahr neuge­schaffene Wäh­rung Real, die noch immer höher als der Dollar bewertet wird, wird ab­gewertet werden müssen. Bereits jetzt ist der Bör­senkurs in Sao Paulo um fast 12 Prozent ge­fallen. Ähnliches gilt für den Nach­barstaat Ar­gentinien: Dort mußte die Börse einen Sturz von 10 Prozent hinneh­men. Falls sich die Krise ausweiten sollte, könnte die von den USA geplante Aus­wei­tung des Freihandelsab­kommens NAFTA auf den ge­samten Kontinent auf Schwie­rigkeiten stoßen. Der extrem un­gleich verteilte Reichtum in Lateiname­rika erscheint zwar in den Han­delsbilanzen nicht, könnte aber langfristig die Stabi­lität der Wirtschaftsent­wicklung gefährden.

Kasten:

Situation in Chiapas eskaliert, doch der Dialog beginnt
Der Bischof von San Cristóbal de las Casas, Samuel Ruíz, der CONAI (Nationale Vermittlungskommission) angehört, verneinte einen Zusammenhang zwischen der Pesoabwertung und “dem erneuten Ausbruch von Feindseligkeiten in Chiapas und dem Beginn von einigen Gesprächen.” Der massive Polizeieinsatz am 6. Januar gegen eine Kundgebung für die Auszahlung ausstehender Löhne der Coalición Campesina Estudiantil del Soconusco (COCES) in Tapachula, bei der ein sechsjähriges Mädchen ermordet wurde, ist nur ein Beispiel für den Regierungsstil der Regierung Robledo in Chiapas. Nachdem am 10. Januar in 5 Regierungsbezirken Rathäuser von unabhängigen Campesinoorganisationen besetzt wurden, kam es in der Gemeinde Chicomuselo zu 7 Toten, darunter drei Polizisten. Bischof Samuel Ruíz äußerte dazu in einem Interview, dort sei “jetzt eine gewisse Ruhe eingetreten. So weit ich weiß, wird dort mit Verhandlungen begonnen, die dieses spezielle Feld betreffen.” Immerhin seien allerdings die ganaderos, Viehzüchter, die private Todesschwadronen befehligen, bei zwei der Besetzungen zusammen mit der Polizei aufgetaucht. Trotzdem könne nicht von einer Koordination der ganaderos mit den Sicherheitskräften gesprochen werden. Da in Chiapas zum selben Zeitpunkt und am selben Ort zwei Regierungen gebildet wurden, besteht das Problem der Übergangsregierung im Aufstand, die von Amado Avendaño repräsentiert wird, darin, anerkannt zu werden. Samuel Ruíz sagte dazu: “Ihr Programm besteht in der Ausarbeitung einer Verfassung, damit in Chiapas eine neue Verfassung verabschiedet werden kann. Dies wird ein wichtiger Impuls sein, um die mexikanische Verfassung zu ändern. Denn die Dinge, die sich hier in Chiapas ändern müssen, werden über Chiapas hinaus wichtig sein. Beispielsweise die Anerkennung der Ethnien als konstituierender Bestandteil der nationalen Realität und nicht als marginale Gruppen, die man respektieren muß. Der Kursverfall des Peso wird die indigene Bevölkerung besonders hart treffen, denn trotz Subsistenzproduktion sind sie doch auf Kredite angewiesen. Kredite, die jetzt unter erschwerten Bedingungen zurückzuzahlen sind. Denn an stabile Devisen gelangen in Chiapas nur die Viehzüchter, die in die USA exportieren und Hotelbesitzer, die vom Tourismus profitieren.
Am 15. Januar trafen sich erstmals seit den gescheiterten Gesprächen vom vergangenen März wieder VertreterInnen der Regierung und der EZLN. Innenminister Esteban Moctezuma traf auf dem Territorium der EZLN mit drei Repräsentanten der EZLN zusammen, um einen Ausweg aus der gegenwärtigen Gefahr eines erneut ausbrechenden Krieges zu finden. Zuvor hatten die Zapatistas den Waffenstillstand nochmals bis zum 18. Januar verlängert. Ergebnisse dieses Treffens wurden nicht bekanntgegeben, doch Folgetreffen sind vorgesehen. Zuvor schon hatte die EZLN nach der Besetzung mehrerer Ortschaften und dem anschließenden Eindringen von Regierungstruppen in das Territorium der Zapatistas den Waffenstillstand erst bis zum 6., dann nochmals bis zum 12. Januar verlängert. Mittlerweile verkündete die EZLN einen unbefristeten Waffenstillstand und strebt in Verhandlungen mit der Regierung einen dauerhaften Frieden an.

Was bleibt von den Intellektuellen?

Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz ver­loren hat. Heute konkurriert es mit Musik und Fernsehbildern – oder wird sogar gänzlich ersetzt.
Der Schwarze Zeitabschnitt
Immanuel Wallerstein behauptete kürz­lich, der “Schwarze Zeitabschnitt” habe begonnen, “der symbolisch betrachtet be­reits 1989 begann und mindestens 20 bis 25 Jahre dauern wird.” In unserer Zeit gebe es keinen gemeinsamen sozialen Diskurs mehr, so daß in naher Zu­kunft “die Menschen blind handeln wer­den.” Wallerstein ist gewiß nicht der Ein­zige, der meint, die Gegenwart sei verwir­rend und die Zukunft unvorhersehbar. In La­teinamerika tragen Jugendliche aus Rand­gruppen T-Shirts mit dem Aufdruck “sin futuro”. Diesen Slogan könnten sich auch die Intellektuellen zu eigen machen, von denen viele immer noch dem Ende der Utopie nachtrauern. Wenn die Unsi­cherheit in dieser Region besonders tief verwurzelt ist, dann vielleicht deshalb, weil Lateinamerika von der Kolonialzeit an ein ausgewählter Ort für die Verwirkli­chung utopischer Projekte war, so wie die Gründung von Vera Paz durch die Domi­nikaner im 16. Jahrhundert, die tolstoi­schen Zurück-aufs-Land-Utopien jener, die die europäische Industriali­sierung An­fang dieses Jahrhunderts ab­lehnten sowie die politischen Utopien der Guerillabewe­gungen in den letzten Jahren. Die utopi­sche Zukunftsvision ist jedoch ver­schwunden. Wenn es überhaupt eine Vor­stellung von der Zukunft gibt, dann gleicht sie einer Stadt in Trümmern so wie in dem Roman “Maytas Gechichte” des peruani­schen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, oder bestenfalls der gemäßigten sozial­demo­kratischen Form der “Utopía Desar­ma­da” des mexikani­schen Politik­wissen­schaft­lers Jorge Castañeda.
Das Projekt Kuba
Die utopische Vision wurde von einer lite­rarisch gebildeten Intelligenz aufrechter­halten, deren Medium die Schrift ist. Diese Intellektuellen formten die Identität von Nationen. Sie waren es, die als kriti­sches Bewußtsein der Gesellschaft agier­ten, als Stimme der Unterdrückten, als Lehrer der künftigen Generationen. Sie standen nicht nur in hohem Ansehen, son­dern hatten auch von sich selbst eine hohe Meinung. Kubas Unabhängigkeitsheld José Martí gilt noch immer als “der Apo­stel”. Der Mexikaner José Vasconcelos verglich sich selbst mit Moses, und für den nicaraguanischen Dichter Rubén Darío waren Dichter die “Bollwerke Got­tes”. Dieses Ansehen muß im Zusammen­hang von Gesellschaften mit einer gerin­gen Lesefähigkeit verstan­den werden. Die Intellektuellen traten nicht nur als Haupt­akteure auf der öffent­lichen Bühne hervor, sondern auch – zu­mindest in der öffentli­chen Wahrneh­mung- als Vermittler für die unteren Klassen und Anwälte sozialer Verände­rung.
Die kubanische Revolution war sowohl ein Ereignis von kultureller als auch poli­tischer Bedeutung für die lateinamerikani­sche Intelligenz. Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Julio Cortázar und Mario Vargas Llosa gehörten zu ihren ersten Anhängern. Länger als ein Jahrzehnt hatte Kuba die politische Kultur in der Hemi­sphäre mitgestaltet. In den späten sechzi­ger Jahren wurde die Definition von re­volutionärem Schreiben immer enger ge­faßt. Die Homosexuellenverfolgung in Kuba sowie die Maßregelung und spätere Gefangenschaft des Dichters Heberto Pa­dilla Anfang der 70er Jahre spalteten die Autoren in jene, die wie García Márquez weiterhin die Revolution unter­stützten, und jene, die wie Vargas Llosa zu deren Kritikern wurden.
Die herrschende Unsicherheit
Aber die Desillusionierung bezüglich des Sozialismus, die Wahlniederlage der San­dinisten und der Zusammenbruch des Kommunismus erklären die herrschende Unsicherheit nicht vollständig. Die Werke der Gegenwartsautoren in Süd- und Zen­tralamerika spiegeln auch die traumati­schen Nachwirkungen repressiver Militär­regierungen und Bürgerkriege, gefolgt von einer neuen Ära der Modernisierung unter der Ägide des Neoliberalismus wider, die extreme Armut und schnelle technologi­sche Entwicklung vermischt hat. Diese Modernisierung macht sich besonders durch dramatische Veränderungen der Stadt bemerkbar. Die sonst so vertrauten Stadtlandschaften mit ihren Kneipen, zentral gelegenen Theatern und öffentli­chen Plätzen haben sich in einen urbanen Alptraum verwandelt. Kulturelle Orte wurden praktisch vernichtet. Zuhause Vi­deos anzusehen wird als sicherer und praktischer empfunden als abends in den gefährlichen Stadtzentren auszugehen.
Überall im heutigen Lateinamerika ver­spürt man die schwindende Bedeutung der Literatur und ihre Verdrängung aus den öffentlichen Diskursen. Diese Verdrän­gung wird von der wachsenden Pri­vatisierung der Kultur noch verschärft. Zuneh­mend werden kulturelle Institutio­nen wie Galerien, Musikunternehmen und Fern­sehkanäle von Privatunternehmern ge­führt. Sogar die nationalen Universitä­ten, traditionell Zentren politischer Akti­vitäten, konkurrieren heute mit un­zähligen privaten Universitäten, die in der Mehr­zahl eher auf Wirtschaft denn auf Kultur ausgerichtet sind. In Mexiko, wo die Kultur immer unter starker staatlicher Schirmherrschaft stand, ist der Fernseh­magnat Emilio Azcárraga, der Telenove­las in so entfernten Ländern wie Rußland und China vertreibt, heute zu einem der füh­renden Akteure der Kunstwelt gewor­den.
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine neue Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit der visuellen und oralen Kultur oder wird so­gar gänzlich abgelöst. Gleichzeitig hat die industrielle Herstellung volkstümlicher Kunst – wie Kunsthandwerk und regionale Musik – eingesetzt. Hinzu kommt die wachsende Massenkulturindustrie, vor al­lem die des Fernsehens. Der argentini­sche Kulturkritiker Nestor García Canclini be­zeichnet die Neuordnung des kulturel­len Terrains als “Rekonversion”. Im Zeit­alter von High-tech erfährt Kultur einen Be­deutungswandel. Ein hohes Niveau an Le­sefähigkeit ist nicht länger unbedingte Voraussetzung für Modernität. Nicht das gedruckte Wort, sondern Musik und Fern­sehbilder werden heute erforscht, wenn es um lateinamerikanische Identität geht. Sie sind zum Inbegriff der Modernität gewor­den.
Die Moderne ist nicht kreativ
Die Kritik der mexikanischen Literatin Elena Poniatowska, die in der kürzlich er­schienenen Ausgabe des Magazins Nexos den Verlust der goldenen Jahre der Volks­kunst beklagte, hört sich in diesem Zu­sammenhang anachronistisch an. “Heute produzieren sie in Unmengen San Martín de Porras, die alle nach demselben Muster geschaffen sind”, schreibt sie. “Die Jesus­kinder, die von den Gemeinden ein­gekleidet werden, die kleinen Babies, das heilige Kind von Atocha: sie alle hatten ihre eigene Persönlichkeit. Heute tragen sie den gleichen Hut, die gleichen Sanda­len und haben die gleichen Kürbisflaschen und Körbe. Populäre religiöse Kunst ist übel. Modernität ist nicht kreativ.”
Obwohl diese Furcht vor der Homogeni­sierung und Massenherstellung seit dem neunzehnten Jahrhundert ein Leitmotiv der Schriftsteller war, sagen uns heute die postmodernen Kulturkritiker, wir sollten diese Authentizität vergessen. Sie be­haupten, daß Fernsehen, Massenmarke­ting und neue Technologien die Kultur demo­kratisieren, die Grenzen zwischen “oben” und “unten” abbauen, und Hybrid­kreuzungen (wie zum Beispiel Salsa) möglich machen, was zur Bereicherung der lateinamerikanischen Kultur beiträgt. Ihrer Meinung nach war die lateinameri­kanische Kultur schon immer heterogen, hat sich immer aller Repertoires bedient und kann deshalb für sich beanspruchen, postmodern avant-la-lettre zu sein. Gegen die Position vom Sterben der lokalen Kulturen setzt García Canclini das Argu­ment, der Markt rege zu Neuerungen in der Kunstgestaltung an und ermögliche es der Kultur, ein neues Publikum zu errei­chen. Der Markt zwinge die Menschen, eine neue politische Symbolik und eine neue Form der sozialen Aktion zu erfin­den. Als Beispiel für das letztere verweist er auf den maskierten Superbarrio aus Mexiko-Stadt, dessen Kostüm sowohl an Supermann als auch an das kitschige Aus­sehen der Ringer erinnert und Fürsprecher der marginalisierten Bevölkerungsschich­ten ist. Eines der wichtigsten Merkmale des Aufstands in Chiapas war die Art und Weise, wie die Rebellen sich der moder­nen Technologie, besonders e-mail, Fax und Video bedient haben, um ihre Forde­rungen zu übermitteln.
Kulturelles Rückspiel Süd-Nord
Selbst wenn Technologien und Informa­tionen vorwiegend von Nord nach Süd fließen, verweisen viele Kritiker darauf, daß bestimmte Merkmale postmoderner Kultur – wie Persiflage, Zitat und Parodie – schon immer charakteristisch für latein­amerikanische Kultur gewesen seien. Was früher einmal als “Kulturimpe­rialismus” galt, in dem Lateinamerika der passive Abnehmer von Hollywood- und Mickey-Maus-Filmen war, wird nun als kulturelles Rückspiel betrachtet, bei dem importierte Technolo­gien und Moden be­nutzt werden, um Neues zu schaffen. Die Modernisierung des 19. Jahrhunderts, die eine rassisch heterogene Bevölkerung in die großen Städte zog, hat nicht nur die Erneuerung in der Kunst stimuliert, son­dern ließ auch einen Stil entstehen, der heute gern als “Latin” bezeichnet wird: eine Mischung aus afrikanischen, europäi­schen und indi­genen Einflüssen. Die eta­blierte Kultur hat sich später Tango, Bo­lero und Samba, die ihre Ursprünge in den ärmeren Stadtvier­teln haben, als die Ver­körperung des “Lateinamerikanischen” zu eigen gemacht. Romane wie “Der schön­ste Tango der Welt” des Argentiniers Ma­nuel Puig und “La importancia de llamarse Daniel Santos” (Wie wichtig es ist, Daniel Santos zu heißen) des puertoricanischen Autors Luis Rafael Sánchez, die Essays von Carlos Monsivais über Agustín Lara in “Lost Love” und Filme wie “Danzón” von der Mexikanerin Marla Novaro oder der des Argentiniers Fernando Solanas “Tangos: Das Exil Gardels” erkunden die Wege, wie populäre Lyrik, Tanz und Rhythmus eine gemeinsame regionale Sprache bilden, die soziale Gruppen und individuelle Verhältnisse miteinander ver­bindet.
Rockmusik und kultureller Wandel
Rockmusik ist ein hervorstechendes Bei­spiel für den kulturellen Wandel. Trotz­dem sie vom Zentrum der Macht ausging und Teil einer internationalen Musikindu­strie ist, wurde Rock zur Vorhut des Wi­derstandes gegen strenge Moral und Fa­milienhierarchien. Die südamerikani­schen Militärregierungen machten die Rock­musik zum Mittel einer Wider­standsbewegung, indem sie Musikmaga­zine verboten und junge Leute, die die falsche Kleidung trugen, verhaften ließen. In ganz Lateinamerika greift die Rock­musik den Autoritarismus der älteren Ge­neration, aber auch die idealistische Nost­algie der Linken an. Wie im Fall von Samba oder Tango kann man Rockmusik in unterschiedlicher Weise verstehen. Der enge Begriff des “rock nacional”, der in Argentinien benutzt wird, symbolisiert den Versuch, die Musik von ihren “satanischen” Ursprüngen in den USA zu säubern. Gerade während des Malvi­nen/Falkland-Kriegs organisierte die Mi­litärregierung ein Rockkonzert der Natio­nalen Solidarität, um so um die Unterstüt­zung der Jugend zu werben. Ebenso machte es Ex-Präsident Fernando Collor de Mello. Er ließ in Brasilien ein großes Rockkonzert veranstalten, um sei­nen neo­liberalen Sieg zu feiern. Auf der anderen Seite machen sich die marginali­sierten Gruppen der lateinamerikanischen Gesell­schaften Punk und Funk zu eigen.
Merengue: Rhythmus für die Füße, Botschaft für den Kopf
Popularität und Populismus hängen in Lateinamerika eng zusammen. Als der aus der dominikanischen Republik stammende Musiker Juan Luis Guerra in Lima ein Konzert gab, wurde es mit einem Fußball­spiel oder dem Besuch des Papstes vergli­chen. Wie der Salsa-Sänger Rubén Blades nutzte Guerra seine Popularität, um auf Armut und andere soziale Mißstände hin­zuweisen. Die Titel seiner Lieder sprechen für sich: “El costo de la vida” (Die Le­benshaltungskosten), “Si saliera petró­leo” (Wenn Erdöl sprudeln würde) und “Ojalá que llueva café” (Hoffentlich reg­net es Kaffee). Er beschreibt Merengue als einen Rhythmus für die Füße und eine Botschaft für den Kopf und meint, daß seine Texte von den Leiden des Konti­nents handeln. Bezeichnenderweise kan­didierte nicht nur ein Schriftsteller, wie der neoliberale Var­gas Llosa für die Prä­sidentschaft, sondern auch der progressive Musiker Blades.
Die gegenwärtige Verkünderin des “Lateinamerikanischen” ist die kubanisch-amerikanische Salsa-Sängerin Celia Cruz und nicht Rodó oder Bolívar. In “Pasaporte Latinoamericano” singt sie von “einem Volk Lateinamerikas”, das in der gemeinsamen Sprache des Sambas, Gua­rachas und der Salsa kommuniziert. Es sind Musiker wie Rubén Blades, der Bra­silianer Caetano Veloso und Juan Luis Guerra, die Themen wie soziale Gerech­tigkeit aufnehmen und – im Falle von Ve­loso – das Verhältnis zwischen Kon­sumkultur und “Authentizität” unter­suchen.
An der Musik wird deutlich, daß zwischen Tradition und Moderne, einheimischer Reinheit und aufgenommener Importe nicht mehr klar unterschieden werden kann. Musik formt die Konsumkultur, sie konzentriert Wünsche und Erwartungen in unberechenbarer Weise – einer Weise, die die literarische Intelligenz nicht unbedingt vermitteln kann.
Der mächtige Rivale des geschriebenen Wortes
Der andere mächtige Rivale des gedruck­ten Wortes ist das Fernsehen, dessen Ein­fluß auf das Publikum viel größer ist als der eines Buches oder einer Zeitschrift. Der mäßige Erfolg als Gastgeber von Fernsehshows von vielen bekannten Schriftstellern, wie Vargas Llosa, Octavio Paz und José Arreola, ist also kaum ver­wunderlich. In Chile macht der Roman- und Stückeschreiber Antonio Skármeta Literatur durch das Fernsehen populär. Durch zahlreiche Fernsehauftritte wurde Carlos Fuentes bis in die Vereinig­ten Staaten hinein zu einem der Sprecher für Lateinamerika.
García Márquez ist sich der Tatsache be­wußt, daß die durchschnittliche Teleno­vela ein viel größeres Publikum erreicht als die gesamte Leserschaft all seiner Romane. Márquez: “An einem einzigen Abend kann eine Episode allein in Ko­lumbien 10 bis 15 Million Menschen er­reichen. Ich habe noch immer nicht 10 bis 15 Millionen Exemplare meiner Bücher verkauft. Werdas Publikum erreichen will, findet Telenovelas selbstverständlich at­traktiv. Dieses Medium ist ein Mittel zur massenhaften Verbreitung der eigenen Ideen und muß daher genutzt werden. In einer Telenovela verfüge ich über diesel­ben Ausdrucksmöglichkeiten wie in der Literatur und im Film. Da bin ich absolut sicher.” Brasili­anische Produzenten über­nehmen häufig Romane für das Fernse­hen. Und das Melodrama als Standbein des populären Theaters ist jetzt wieder­entdeckt worden, wobei ein Typ von Tele­novelas produziert wird, der die US-Pro­dukte auf dem Weltmarkt übertrifft.
Während das gedruckte Wort früher Aus­druck der Modernität und der Bildung ei­nes nationalen Bewußtseins war, ist das Fernsehen der Wegweiser heutiger glo­baler Kultur geworden. Wie der argentini­sche Politikwissenschaftler Oscar Landi bemerkt, hat das Fernsehen eine zweideu­tige Wirkung auf die Kultur. Es “kolonisiert und zerstört unsere vorherige Lebensweise”, aber es “setzt uns auch in Verbindung mit der Welt und bringt uns dazu, Dinge zu verstehen, die wir ohne Fernsehen nie erfahren hätten.” Der frü­here Anspruch der Literatur, Einblicke in die tiefen Untertöne der Geschichte und der Natur der Sprache zu gewähren, ist heutzutage zur Domäne des Fernsehens geworden.
Aber der Gebrauch des Fernsehens ist in der jüngsten Vergangenheit zu eng mit autoritären oder Militärregierungen ver­knüpft gewesen. Es war in einigen Län­dern in ideologischer Hinsicht zu stark mit dem Staat verbunden, als daß die literari­sche Intelligenz in Bezug auf seine päd­agogischen Möglichkeiten optimistisch sein könnte.
Die argentinische Kritikerin Beatriz Sarlo führt aus, daß der öffentliche Raum, die einstige Domäne der Intelligenz, jetzt von den Massenmedien beansprucht wird. Die Parameter einer sozialen Debatte in einer massenmedialen Gesellschaft werden eher von impliziten als von expliziten Regeln bestimmt.
Marktkonformes Schreiben
Die Literatur ist außerdem in zunehmen­den Maße selbst massenmedialisiert. Mit der Globalisierung der Buchindustrie, mit Übersetzungen und Bestsellern sind die Anforderungen an Verallgemeinerbarkeit und Übersetzbarkeit gestiegen. Der Markt verhält sich nicht tolerant gegenüber den literarischen Werken, die zu experimentell oder “nicht übersetzbar” sind. Manche Schriftsteller bemühen sich jetzt um Kommerzialisierung, anstatt sie abzuleh­nen. Beispielsweise ist es offensichtlich, daß “Bittersüße Schokolade” der mexika­nischen Schriftstellerin Laura Esquivel geschrieben wurde, um einen breiten Markt zu erreichen. Auch der älteren Schriftsteller-Generation ist die Marktfä­higkeit nicht gleichgültig. In diesem Sinne ist es interessant, Vargas Llosas im Plau­derton geschriebenen “El Pez en el Agua” (Der Fisch im Wasser, 1993) mit seinem tiefschichtigen politischen Roman “Gespräch in der Kathedrale” (1969) oder den klaren Erzählstil von García Márquez in “Der General in seinem Labyrinth” (1989) mit dem barocken und verschlun­genen “Herbst des Patri­archen” (1975) zu vergleichen. Experimentelles Schreiben, das früher von kleinen Verlagsunterneh­men wie Joaquín Mortiz und Sudameri­cana gefördert wurde, ist jetzt auf der Strecke geblieben.
Rütteln an Tabus
Doch trotzdem floriert die Literatur – zu­mindest oberflächlich betrachtet. Es gibt eine Fülle neuer Schriftsteller, junger Dichter und Künstler, die in jedem denk­baren Stil, über jedes denkbare Thema schreiben. Literatur wird noch immer die Aufgabe zugewiesen, diejenigen zu ver­treten, die früher schon von der Staatsbür­gerschaft der “ciudad letrada” (Stadt der Schriftgelehrten) ausgeschlossen waren – wie Angel Rama sie nannte: Indígenas, Schwarze, Mulatten, Frauen und Homo­sexuelle. Die Literatur stellt sich noch immer gegen die offizielle Geschichts­schreibung, untersucht die Bedeutung des Exils und der Erinnerung und rüttelt an den Tabus, die der weiblichen Sexualität auferlegt wurden.
Zu einer Zeit, da die Grenzen zwischen den Gattungen und die Unterschiede zwi­schen oben und unten, Fiktion und Reali­tät verschwimmen, ist es schwierig, die Besonderheit der Literatur in ihrer oppo­sitionellen Bedeutung zu verteidigen. Octavio Paz hat vor kurzem behauptet, daß “die Lyrik eine Kunst an den Rändern der Gesellschaft geworden ist. Sie ist die andere Stimme. Sie lebt in den Katakom­ben, aber sie wird nicht verschwinden.” Nach Paz erlaubt dieser marginalisierte Status der “klandestinen Poesie” als “Kritik an der Konsumgesellschaft” zu handeln. Es ist schon eine Ironie, wenn Paz, dessen Achtung vor der abstrakten Frei­heit ihn oft als Freiheitlich-Konserva­tiven erscheinen ließ, sich nun in einer Allianz mit einigen jungen Kritikern in Opposition gegen die Kulturindustrie und den Markt wiederfindet.
Die Versuchung der Konsumgesellschaft
Was der Literatur in der Vergangenheit zu ihrem besonderen Anspruch – der Kon­sumgesellschaft zu widerstehen – verhol­fen hat, hatte mit der Natur des Lesens zu tun. Avantgardistische und modernistische Literatur lenkten die Aufmerksamkeit auf die Sprache, erforderten langsames und sorgsames Lesen und verlangten das Ent­schlüsseln von Kodes sowie das Lesen zwischen den Zeilen. Es galt als Autono­mie des literarischen Textes, wenn darin schnöde Populärität und All­gemeinverständlichkeit abgelehnt wurden. Durch diese Autonomie sollte die Oppo­sition zu sozialen Konventionen deutlich werden. Noch in den 60er Jahren konnte getrost behauptet werden, Literatur sei re­volutionär und der Schriftsteller führe Guerillakämpfe mit seinem Kugelschrei­ber.
Was für heutige Schriftsteller problema­tisch ist, ist nicht nur die Verlockung der Popularität, sondern die schnelle Verein­nahmung und Verwandlung des früher schockierenden oder innovativen Schrei­bens in Trend oder Stil. “Magischer Re­alismus” war einst ein Wegweiser für la­teinamerikanische Originalität und ist heute nur noch ein Markenname für Exo­tik. Es ist kein Wunder, daß für linke Kri­tiker die politischen und ethischen Funk­tionen der Literatur schon lange von der Zeugnisliteratur erfüllt wird.
Vielleicht das größte Problem für die Kri­tiker ist das der Wertung. In der heutigen Kultur scheint kritisches Urteils­vermögen im Hinblick auf gute und schlechte Kunst verschwunden zu sein. In einer Diskussion über Kunst, die auch auf Literatur bezo­gen werden kann, kritisiert Beatriz Sarlo die Verbreitung des “kulturellen Populis­mus” der Sozialkritik, der jede Kunst auf ihre Funktion redu­ziere. “In Anbetracht der Relativierung der Werte und des Feh­lens anderer Unter­scheidungskriterien wird der Markt als der ideale Raum für Pluralismus betrachtet.” Anstatt neutral zu bleiben, könnte mit dem Markt argumen­tiert werden, der Publikum und Künstler beeinflußt. Der Markt übt die absolute Macht aus, besonders über die künstleri­schen Produkte, die mit der Kulturindu­strie verbunden sind, und ver­drängt so die hierarchische Autorität der Fachleute tra­ditioneller Prägung. Hierar­chien stürzen ist eine Sache, aber kriti­sches Urteilsver­mögen zurückzuweisen, ist Sarlos Mei­nung nach eben schlimmer, weil der Ver­zicht, über Werte zu diskutie­ren, zur pas­siven Zusammenarbeit mit neoliberalen Demokratiemodellen führt und die Kunst ihres Widerstandcharakters beraubt.
Die Wiederaufwertung des Ästhetischen
Es ist gewiß nicht zufällig, daß die Forde­rung nach Wiederaufwertung des Ästheti­schen gerade im Zusammenhang mit Re­demokratisierung und angesichts wach­sender sozialer Unterschiede erhoben wird. Massenkultur und Neoliberalismus reduzieren das Widerstandspotential der Ästhetik. Andererseits kann Sarlos Ver­teidigung der ästhetischen Werte nicht so einfach aus der elitären Kultur enträtselt werden, wie sie dies gehofft hatte.
Für literarische Praktiker ist nicht das kri­tische Urteilsvermögen das entscheidende Problem, sondern die Schwierigkeit, den Versuchungen der Konsumwelt zu trot­zen. Diamela Eltit zum Beispiel, die mit dem Schreiben während der Pinochet-Diktatur begann, empfindet es als ihre Aufgabe, als Schriftstellerin “etwas ins Schreiben zu stecken, was sich Waren und Zeichen widersetzt.”
Vom Apostel zum Nomaden
Dies könnte sich anhören wie die Rück­kehr zu avantgardistischen Programmen, würde Eltit in ihren Romanen nicht die totale Wiedergestaltung von Geschlecht und Sexualität auf sich nehmen – etwas, das die Avantgarde als selbstverständlich betrachtet hatte. Eltit nutzt ein traditio­nelles Genre – in diesem Fall den Roman – obwohl sie seine Syntax völlig verändert. Interessanterweise ist dies eine literarische Gattung, die die Stimmung der Zeit sehr gut gestaltet, ohne sich dem Zeitgeist zu unterwerfen: “eine Chronik”, die durch das liberalistische Netz hindurchschlüpft. Auch das Essay hat sich verändert: es be­freit sich von pedantischem Anliegen und umfaßt das Phantastische.
Die Beispiele ähneln sich, indem sie sich weigern, die Grenzen der Gattung oder den klaren Unterschied zwischen Fiktion und Tatsachen zu respektieren. Gleichzei­tig betonen sie die Ausdrucksfähigkeit der Sprache als die zentrale Metapher für Künstler und für das Alltagsleben allge­mein.
Dies sind natürlich willkürlich gewählte Beispiele, aber sie zeigen doch die grundlegende Verschiebung vom Schrift­steller als Apostel zum Schriftsteller als Teil nomadische Randgruppen – was wie­derum die Ära der internationale Bennet­ton-Epoche und den E-mail-Universalis­mus kennzeichnet. Die Schlußfolgerung ist nicht so widersprüchlich wie sie er­scheinen mag: In der Epoche globaler In­formationsflüsse und Netzwerke sind die begrenzten lokalen Zusammenhänge zu den Orten mit der größten Intensität ge­worden.

Nein zur Gewalt gegen Frauen

Während das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) kon­statiert, daß in Nicaragua inzwischen über zwei Drittel aller Menschen unterhalb der Ar­mutsgrenze leben, beobachten Menschen­rechts- und Frauenorganisationen gleich­zeitig eine kontinuierliche Zunahme der Gewalt gegen Frauen und Kinder. “Nicaragua charakterisiert sich durch seine mit Gewalt beladene Geschichte. Die Dik­tatur, der lange Bürgerkrieg … und auch heute noch sind bewaffnete Aus­einandersetzungen und Entführungen gängige Mittel im Kampf gegen das herr­schende politische und ökonomi­sche Sy­stem. In den letzten vier Jahren hat zudem die Gewalt innerhalb der Familie spürbar zugenommen. Viele Männer haben ihre Arbeit verloren, sind frustriert, flüchten in den Alkohol, und zu Hause fangen sie dann an, ihre Frauen und Kinder zu schla­gen”, so Paola Zuniga, eine der Aktivi­stinnen vom “Frauennetz gegen Gewalt”.
Die weibliche Bevölkerung Nicaraguas hat hauptsächlich zwei Möglichkeiten, Schlagzeilen in der Presse zu machen: Entweder als Opfer vergewaltigt, er­mordet und zerstückelt oder – genauso sensatio­nalistisch – vermarktet als strahlende Ge­winnerin eines regiona­len, nationalen oder weltweiten Schön­heitswettbewerbes. We­der die Gewalt noch die Misswahlen ken­nen dabei eine untere Altersgrenze. Miss Baby aus Leon erscheint auf der sel­ben Seite der Tageszeitung wie ein gleichaltri­ges, mißhandeltes Mädchen. Umfassende Daten über das Ausmaß der Gewalt gibt es trotz der vielen Pressemeldun­gen nicht. Ein für Zen­tralamerika ein­maliges “Frauenkomissariat”, das nur mit weibli­chen Polizistinnen besetzt ist, re­gistriert nur einen Bruchteil der Ge­walttaten, die in der Hauptstadt be­gangen werden. Und obwohl viele an­dere Gewaltopfer sich an eines der über zwanzig landesweiten Frauenzen­tren wenden, ist die Zahl der tatsäch­lichen Übergriffe nur schwer zu schätzen.
Frauennetz
Im “Frauennetz gegen Gewalt” haben sich mehr als 20 Frauenzentren lose zusam­mengeschlossen. Das Netz ge­hört damit zu den wenigen Bewegun­gen Nicaraguas, die noch nicht von in­neren Streitigkeiten oder Finanznöten aufgerieben worden sind. An diesem Aktionsbündnis sind u.a. die Frauen­gesundheitszentren von Si Mu­jer und Ixchen, die Stiftungen Xochi­quetzal und Puntos de Encuentro und seit diesem Jahr sogar einige Frauenzen­tren von AMNLAE, der sandinisti­schen Frau­enorganisation, die bisher mit den unab­hängigen Frauen nicht zusammenarbeiten wollten, beteiligt. “Es werden jedes Jahr mehr Frauen, die wegen Mißhandlungen, Vergewalti­gungen oder Morddrohungen zu uns kommen. Dies ist für uns ein Indiz, daß die häusliche Gewalt stetig zu­nimmt. Gleichzeitig wissen aber jetzt auch immer mehr Frauen, wohin sie sich wenden kön­nen und daß sie dieses Unrecht nicht still­schweigend ertragen müssen. Das werten wir als einen Er­folg unserer Kampagne”, so Paola.

Das “Frauennetz gegen Gewalt” hat u.a. zwei Broschüren erarbeitet und veröffent­licht, die kostenlos landesweit mit Aufla­gen von über 50 000 Exem­plaren verteilt wurden. In der leicht verständlich ge­schriebenen Broschüre mit dem Titel “Was machen und wohin gehen im Falle von Gewalt?”, werden die verschiedenen Arten von emotio­naler, körperlicher und sexueller Ge­walt und der Gewaltzyklus innerhalb der Familie beschrieben. Ebenso wird auf anschauliche Weise die rechtli­che Situation der Frauen dargestellt. Ein Extrakapitel erläutert, was frau erwar­tet, wenn sie Anzeige erstattet. Indirekt ist das Gesetz dabei auch in Nicaragua noch im­mer auf der Seite des Mannes: Verläßt eine Frau das Haus, z.B. auf der Flucht vor ihrem Agressor, hat sie kaum Chan­cen, dorthin wieder zu­rückzukehren, da es üblicherweise auf den Namen des Mannes in das Grundbuch eingeschrieben ist. Ein Schwangerschaftsabbruch, selbst nach Vergewaltigung, ist in Nicaragua, wie in den meisten Ländern Lateinameri­kas, ille­gal. Vergewaltigung in der Ehe kennt das Gesetz nicht. Obwohl es im Strafgesetz­buch Artikel gibt, die bei körperlichen oder sexuellen Mißhand­lungen Bestrafung der Täter vorsehen, ist die Beweisführung schwierig, und es kommt letztlich nur zu wenigen Ver­urteilungen.
In der Broschüre “Seien wir anders – Nein zur Gewalt in der Straße, im Haus und im Bett”, wenden sich die Autorinnen an Ju­gendliche beiderlei Geschlechts und zei­gen, wie Gewalt­strukturen entstehen und wie sie abge­baut werden können. In einem Land, in dem die staatliche Sozial- und Bil­dungspolitik weit davon entfernt ist, ähnlich gutes didaktisches Material zu produzieren, sind die beiden Publika­tionen Mangelware und sehr begehrt. Sie werden im ganzen Land sowohl von Ein­zelpersonen als auch von Gruppen ge­nutzt, um Wege aus der Gewalt zu finden.
Interamerikanische Konvention als Druckmittel
Im Juni diesen Jahres hat Nicaragua zu­sammen mit Argentinien, Brasilien, Costa Rica, Honduras, der Dominika­nischen Republik und Venezuela bei der General­versammlung der latein­amerikanischen Staaten (OEA) eine interamerikanische Konvention zur Vorbeugung, Sanktionie­rung und Ver­nichtung der Gewalt gegen Frauen unterzeichnet. Die 25 Artikel umfas­sende Konvention bietet die rechtli­che Grundlage, um Frauen umfassend vor körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt im öffentlichen und im privaten Bereich zu schützen. Gleichzeitig zu einer veränderten Rechtspraxis zugun­sten der Frauen sieht die Konvention weiterhin vor, daß der Staat den Ge­waltopfern Hilfe anbieten muß. Dazu zählt die Einrichtung von Frauenhäu­sern und psychologischen Beratungs­stellen, die Anstellung speziell ge­schulten Personals in den Justizappa­raten, sowie die Bereitstellung staatli­cher Mittel zur Zahlung von Wieder­gutmachung. Die Aktivistinnen wissen, daß es noch Jahre dauern kann – wenn überhaupt – bis diese Konvention im Par­lament ratifiziert und in die Praxis umge­setzt wird. Dennoch läuft die Kampagne auf Hochtouren und die Frauenbewegung setzt auf den Trumpf der Konvention. Die Regierung Violeta Chamorros, deren Frauen- und Ge­sundheitspolitik seit der Weltbevölke­rungskonferenz vom Opus-Dei-Mit­glied und Erziehungsminister Hum­berto Belli diktiert wird, gerät da­durch zunehmend in Widersprüche.” Die Konvention stärkt uns den Rücken und ist ein wichtiges Instrument, um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen, da­her brauchen wir die 40 000 Unterschrif­ten”, so Norma Rivera, Schauspielerin und Feminstin.

Die Ästhetik der Herrschaft

Eine Untersuchung der verblüffend leicht erreichten Veränderungen während der Amtszeit Menems muß zwei Aspekte be­rücksichtigen: Zum einen haben die kon­kreten Auswirkungen der sozioökonomi­schen Krisensituation weite Teile der ar­gentinischen Bevölkerung dazu gebracht, ein stark geschwächtes Parlament, eine bis in die Reihen des Obersten Gerichts der Regierung untertänige Justiz, sowie eine immer machtvollere Exekutive zu akzep­tieren. Zum anderen ändert sich das Wahrnehmungsverhalten von Politik durch “postmoderne” oder “post-politi­sche” Betrachtungsweisen, die eng mit dem Aufstieg des Fernsehens als politi­schem Medium verbunden sind.
Innenpolitische Befriedung
Menems Vorgänger Raúl Alfonsín war es weder gelungen, dem sich ständig ver­schlechternden Verhältnis zwischen Zivil­regierung und Militär entgegenzuwirken, noch die teilweise galoppierende Inflation in den Griff zu bekommen. Trotzdem schon unter Alfonsín die meisten Verfah­ren gegen die Verantwortlichen der Men­schenrechtsverletzungen unter der Militär­regierung eingestellt worden waren, stellte erst Menem eine innenpolitische Befrie­dung her, indem er auch die im Gefängnis sitzenden ehemaligen Junta-Mitglieder begnadigte. Die Strafverfolgung und die Verurteilung von denjenigen, die verant­wortlich für die brutalste Repression wa­ren, die Argentinien je erlebt hat, war ein überaus bedeutsamer Moment in der Wie­derherstellung eines Gerechtigkeitsideals und des kollektiven Erinnerungsvermö­gens an die Ereignisse unter der Diktatur gewesen. Der plötzliche Abbruch von Hunderten von Gerichtsverhandlungen und vor allem die Begnadigung von verurteil­ten und inhaftierten Militärs aber machten Menschenrechte zu einem Thema von ge­stern, einer Vergangenheit, die Menem hinter sich bringen wollte. Somit leitete er einen Kurs des “Vergessens” ein, von dem das Militär profitierte. Durch das von der Regierung betriebene Zuschlagen der Aktendeckel – die so mit jeder Form von Gerechtigkeitsempfinden brach – wurde die Instabilität des Verhältnisses zwischen Regierung und Militär deutlich verringert. Aber anderseits wurde damit auch die Er­innerung an die Ereignisse des letzten Jahrzehnts stark geschwächt. Die Begna­digungen beenden ein Thema, das nicht nur politisch oder rechtlich bedeut­sam ist, sondern auch eine herausragende morali­sche und kulturelle Relevanz hat.
Preisstabilität geht vor Sozialpolitik
Die Hyperinflation wurde erst einige Mo­nate nach Menems Amtsantritt durch Maßnahmen des Wirtschaftsministers Domingo Cavallo unter Kontrolle ge­bracht. Die wiederkehrenden Wellen von sprunghafter Geldentwertung hinterließen tiefe Eindrücke politischer wie auch kul­tureller Art in der argentinischen Bevölke­rung. Diese haben mittlerweile den Cha­rakter einer Besessenheit gewonnen, so daß öffentlich und privat fortlaufend wie­derholt wird, alles sei besser als eine Wie­derkehr der Inflation. Somit kam es unter weiten Teilen der Bevölkerung zur unaus­gesprochenen Übereinkunft, der Regie­rung Menem einen “Blankoscheck” unter der Bedingung auszustellen, daß eine mi­nimale Stabilität gewährleistet werde.
Auch heute sind die kulturellen Stempel der Inflation deutlich zu sehen. Zunächst setzte sich die Haltung durch, daß alle an­deren ökonomischen und sozialen Forde­rungen hinter der Erlangung von Preissta­bilität zurückstehen müßten, was sogar von den Hauptbetroffenen der neuen Wirtschaftspolitik geteilt wurde. Die Ge­sellschaft in ihrer Gesamtheit war bereit, den Preis zu zahlen, der von der Regie­rung als notwendig dargestellt wurde, um ein erneutes Abgleiten in eine chaotische wirtschaftliche und soziale Lage zu ver­hindern. Somit wurden die Ausführungen von Menem und Cavallo über die Vorzüge des freien Spiels der Marktkräfte und über die negativen Auswirkungen von Staats­eingriffen als Beschreibung einer Realität angenommen, die man zu akzeptieren habe. Die Wirtschaft wurde nicht mehr als Ausdruck veränderbarer sozialer Verhält­nisse gesehen, sondern wurde zu einem Naturereignis, dessen Auswirkungen man eben ertragen müsse.
Außerdem wurde der Bevölkerung einge­redet, man könne zur schnellen Wieder­herstellung von wirtschaftlicher Stabilität nicht alle institutionellen Formalitäten einhalten. Um die Inflation zu überwin­den, müsse man die Entscheidungsbefug­nisse in der Exekutive und nicht im Par­lament konzentrieren. Da man schnell und einheitlich handeln müsse, seien Debatten im Kongreß zu vermeiden, da sonst kost­bare Zeit zur Erlangung wirtschaftlicher Ordnung verloren ginge. So wurde die Rolle des Parlaments im politischen Pro­zeß als ein Hindernis für das Gemeinwohl dargestellt.
In diesem Zusammenhang bot sich Präsi­dent Menem der Rückgriff auf zwei Handlungsweisen. Zum einen konnte und kann er das Parlament durch das verfas­sungsrechtlich bedenkliche Mittel des Er­lassens von Dekreten übergehen. Diese Vorgehensweise hat die Exekutive zu einer legislativen Kraft gemacht und die Funktionen des Parlaments geschwächt. Zum anderen haben sich Menem wie auch Cavallo zu Vermittlern ihrer Politik in den Massenmedien gemacht und ein demago­gisches Verhältnis zur Öffentlichkeit her­gestellt. Der eine wurde so zum charisma­tischen Retter und der andere zum unfehl­baren Technokraten.
Populismus im nationalistischen Stil
Eine neue Form der Herrschaftsstrategie bildet sich heraus, in der sich Wirtschaft­liberalismus mit dem politischen Stil ver­mischt, den Präsident Menem bei den Pe­ronisten gelernt hat. 1989 erwarteten die Menschen vom neugewählten Menem, daß er ein populistisches Programm im nationalistischen Stil durchführen würde. Innerhalb einiger Monate allerdings über­zeugte er viele seiner Anhänger von der Notwendigkeit, einen scharfen Kurswech­sel hin zu einer neoliberalen und moneta­ristischen Politik zu verfolgen, die von Pe­ronisten bisher stets als Ausdruck oligar­chischer und anti-nationaler Haltung an­gesehen worden war. Diese ideologische Wandlung durchzog sowohl die Handlun­gen, als auch das Auftreten der Regierung.
Es ist erhellend, das öffentliche Auftreten Menems als populistischer Führer wäh­rend der Präsidentschaftskampagne 1988 mit seiner Präsenz bei einer Militärparade zwei Jahre später zu vergleichen, um Zei­chen einer einschneidenden kulturellen Neugestaltung zu verfolgen. Ein Wechsel wird deutlich, von Menem, dem Retter und der Hoffnung der Verarmten zu Menem, dem Garanten der Wiedereinset­zung der Mächtigen. Während des ersten Ereignisses stellte Menem alle Attribute eines plebejischen, massenmedialen Po­pulismus zur Schau, während die Symbole der Aussöhnung von Militär und Zivilre­gierung bei der Parade das Militär erhöh­ten und somit die “Operationen” krönten, die mit der Begnadigung begonnen hatten.
Hoffnungsträger der Armen
Die kulturelle Bedeutung des Wechsels von Kulisse und Aussage ist unschätzbar. Die Veranstaltung 1988 im Fußballstadion griff zurück auf die reichhaltigen Symbole der Geschichte des Peronismus. Menem erschien, ganz in weiß gekleidet, als Hoff­nungsträger, um vergangenes Unrecht wiedergutzumachen, als Anwalt der Nie­deren, als Politiker, der, aus dem Inneren des Landes kommend und verwurzelt im Herzen der Massenbewegung, die Bedürf­nisse und Sorgen der Menschen verstehen könne. Er versprach Umverteilung, Voll­beschäftigung und hohe Löhne in nächster Zukunft. Er benutzte Worte, die zur ideo­logischen Tradition seiner Zuhörerschaft paßten: Arbeit, Respekt, Würde, Zufrie­denheit, Gerechtigkeit. Unter Verwendung von populistischer Rhetorik versuchte er, den Platz einzunehmen, der seit dem Tod Perons verwaist ist: ein charismatischer Staatschef; eine Führungspersönlichkeit außerhalb des bürokratischen Apparates; ein Mann aus dem Landesinneren unter Politikern aus Buenos Aires; jemand mit Ehrfurcht vor den historischen Traditionen der peronistischen Bewegung.
Auf dieses Erscheinungsbild, das durch seine körperliche Präsenz im offenen Wahlkampfwagen “menemóvil” noch un­terstrichen wurde, gründete Menem seine Kandidatur und seine Wahlkampagne. Er bot dem politischen Theater seinen Körper an, der als fleischgewordene Verspre­chung seiner Botschaft sichtbar und be­rührbar war. Im Fußballstadion stieg er von Scheinwerferlicht umfangen in sein “menemóvil” – wie ein wahrer Held der volkstümlichen Erlösung, der mit der Ästhetik von Pop und Rock umzugehen weiß. In fluoreszierendem Weiß und von einem einzelnen Lichtstrahl erleuchtet, bewegte sich Menem durch das Stadion auf die Rednerbühne zu. In seiner Kam­pagne vermittelte Menem ständig das Ge­fühl von Nähe: man konnte ihn ankom­men oder vorbeigehen sehen; man konnte ihm folgen.
Aufwertung der Militärs
Während der Militärparade vom 9. Juli 1990 zeigte der neue Menem, nunmehr Präsident, daß sein kulturelles Zitieren des Peronismus der 50er Jahre nicht mehr war als eben ein Zitat, ein fragmentarisches Ereignis, welches in Anführungszeichen gesetzt werden muß.
Der Anblick der Militärparade war be­merkenswert: Die Streitkräfte breiteten sich durch die Straßen der Stadt aus, und auf einem Podium, umgeben vom ge­samten Kabinett, überschaute der Präsi­dent, unbeweglich, das Vorbeimarschieren der Truppeneinheiten. Auch wenn die Streitkräfte formell den Repräsentanten der Republik salutierten, so legitimierten eben jene Vertreter, mit starren Blicken die Parade fixierend, die umstrittenste In­stitution Argentiniens. Menem, der weiß, wie man kulturelle Ereignisse aufbauen muß, wandelte diese Parade in eine Aus­sage zugunsten der Wiederbegründung des Paktes zwischen Gesellschaft und Armee um.
Menem war sich bewußt, daß die Begna­digung alleine nicht ausreichte, da sie sich auf zunächst juristischem und nicht auf kulturellem Gebiet bewegte. Deswegen trug er dafür Sorge, daß die Aufwertung des Militärs in einem innerstädtischen, bedeutsamen Rahmen stattfand. Der noch immer bestehende Konflikt zwischen Ge­sellschaft und Militär benötigte eine alle­gorische Auflösung in Form einer fünf­stündigen Parade, die in einer langen und ermüdenden Übertragung die Fernsehbild­schirme entlangrollte. Die stete visuelle Wiederholung von Panzern, Flugzeugen und marschierenden Einheiten hatte eine tiefgreifende ideologische Bedeutung, da durch die immer gleichen Bilder nur eine Aussage wahrzunehmen war: Die Zeit des Debattierens über die Diktatur ist vorbei. Gleichzeitig wurde zudem deutlich, daß jedwede Diskussion über eine Zukunft, deren Gestalt bereits in ihren Umrissen feststand, ebenfalls nicht erwünscht ist. Die Versöhnung der Regierung Menem mit den Streitkräften nahm andere Allian­zen sowohl mit einheimischen Wirt­schaftskräften wie auch mit den USA vorweg, was sich in der Zusammenkunft von Truppenverbänden, Mitgliedern der Zivilregierung und ausländischen Bot­schaftern deutlich widerspiegelte.
Einfache Lösungen gesucht
In einem Land mit einer starken Prä­sidentschaft wie Argentinien spielt der Staatschef eine bedeutsame Rolle bezüg­lich der Diskursbestimmung. Menems Stil ist auf die Massenmedien zugeschnitten: er verachtet Ideen; er klammert komple­xere Fragen häufig aus; er folgt den Re­zepten für einfache Lösungen; er sieht auf nachdenkliche und beratschlagende Arten der politischen Entscheidungsfindung herab und er weist zynisch alle Werte der peronistischen Tradition zurück, die auf das Ideal einer gerechten Gesellschaft ab­zielen. Dieser Stil hat bedeutendes Ge­wicht in der gegenwärtigen kulturell-poli­tischen Krise.
Die Konsequenzen sind deshalb so be­denklich, weil heutzutage nur vorsichtig abwägende Politikgestaltung, die Unab­hängigkeit der drei Regierungsgewalten sowie das vollständige Funktionieren der politischen Institutionen einem präsiden­tialen Willen Paroli bieten könnten, der ganz und gar an den Interessen der Mäch­tigen ausgerichtet ist. Durch massenme­diale Moral, Ästhetik und Kultur wurden die Grundwerte einer gerechten und ko­operativen Gesellschaft durch einen Wirt­schaftdarwinismus ersetzt, der prägend für eine neue, individualistische Ellenbogen­kultur wirkt.
Audiovisuelle Hegemonie
Ein Aspekt der gegenwärtigen Auseinan­dersetzung zwischen Politik und Gesell­schaft ist die Schwächung der öffentlichen Kultur. Als politische Diskussionen, par­lamentarische Vertretung und andere Formen kollektiver Partizipation weniger bedeutsam wurden, besetzten die Medien und insbesondere das Fernsehen einen entscheidenden Platz zur Herstellung von Öffentlichkeit.
Heute ist es unmöglich, an Politik ohne Fernsehen zu denken. Diese Entwicklung gilt zwar für alle westlichen Länder, hat aber in Argentinien eine andere Bedeu­tung, da eine Bildungskrise sowie stei­gende Analphabetenraten mit einer audio­visuellen Hegemonie über die symboli­sche Dimension des Sozialgefüges zu­sammentreffen. Dieser Prozeß wird von privaten Fernsehkanälen vorangetrieben, die sich einzig an Profitmaximierung aus­richten. Im argentinischen Fernsehen gibt es kein starkes Gegengewicht zum Kapi­talismus: Der einzige Staatssender befin­det sich fest in Regierungshand, und es gibt keinerlei sonstige öffentliche Kanäle. Der Markt entscheidet derzeit alleine über Beschaffenheit, Ästhetik und Ideologie der audiovisuellen Sphäre.
In diesem Raum werden Politik und poli­tische Kultur geformt, lediglich in Reak­tion auf Verschiebungen und Interessen des kapitalistischen Marktes der symboli­schen Güter, ohne daß es Gegengewichte oder Ausgleichsmechanismen gäbe. Eine gemeinsame Kultur wird vorgespiegelt, die Darsteller verbindet, deren symboli­sche und tatsächliche Macht sehr unter­schiedlich sind. Dies mag zwar ein Mini­mum von kulturellem Zusammenhalt ga­rantieren, ist aber nicht im Sinne einer Gemeischaft verbindend.
Politik nach Mediendiktat
Der Diskurs der Massenmedien kompri­miert die Gesellschaft und gibt das Bild einer einheitlichen kulturellen Landschaft vor, in der Widersprüche in einem weit­läufigen Raum vieler Stimmen aufgelöst werden, die sich nicht unbedingt aufein­ander beziehen. Es ist nicht so, daß die Medien besonders demokratisch wären, sondern sie müssen einfach alle Diskurse mit einbeziehen, um einen umfassenden, universalen Raum präsentieren zu können. Dieser Medienästhetik gibt die Politik nach. Die Medien werden als Vertreter der Allgemeinheit akzeptiert. Die Politik nimmt sogar die formalen und rhetori­schen Limitierungen an, die ihnen die Medien auferlegen: Geschwindigkeit, Vielfalt, Redefluß – Eigenschaften, die häufig an eine politische Show oder an akustische Bruchstücke aus den USA er­innern.
Überzeugt von der Bedeutung der Medien bei der Herstellung von Öffentlichkeit, akzeptieren Politiker die Auffassung, daß Ideenaustausch, längere Debatten, kom­plizierte Ausführungen und die Darstel­lung tiefgründiger Positionen nicht fern­sehgerecht seien. Sie pflegen eine mediale Selbstdarstellung, die sowohl auf der Ver­einfachung ihrer Aussagen, wie auch auf der Illusion von Nähe und Vertrautheit ba­siert: “Wir sind nicht anders als ihr; wir repräsentieren euch und umgeben uns gleichzeitig mit Fernseh-Berühmtheiten. Wir vertreten die Menschen durch das, was ihnen am nächsten ist: der Fernseher im Wohnzimmer oder in der Küche.” Da­durch entsteht eine Armut an Meinungen, ein Ausdünnen immer komplexerer Pro­bleme und ein Bilderfluß, in dem das “hier und jetzt” auf Vergeßlichkeit baut. Um zu existieren, brauchen Politiker – die klassi­schen Vermittler zwischen Bürgern und Institutionen – das Fernsehen, um zum Großen Allumfassenden Vermittler zu werden. Sie sind Gefangene der Massen­medien.
Dieser Wechselwirkung ist schwer zu wi­derstehen. Politik wird durch den Nach­richtensprecher aufgebaut, die Nachrich­tensendungen gewichten die eingehenden Meldungen. Die Glaubwürdigkeit wird den politischen Köpfen genommen und nunmehr von den Chefetagen der Mas­senmedien aus verwaltet. Streitkultur wurde durch ein politisches Trugbild ver­drängt, welches nicht in politischen Insti­tutionen gedeiht, sondern in der Welt des Fernsehens beheimatet ist. Politik in den Massenmedien wird den Gesetzen unter­geordnet, die den audiovisuellen Fluß steuern: starker Eindruck, große Mengen undifferenzierter visueller Information und eine künstliche Schwarz/Weiß-Male­rei, die eher an eine Seifenoper als an ein öffentliches Forum erinnert.
Präsident Menem ist fraglos ein Meister der audiovisuellen Kommunikation. Sein Stil hat sich nahtlos dem Stil des Fernse­hens angepaßt. Er hat sein Image nicht durch Darlegung von Ideen begründet, was eine kritische Auseinandersetzung verschiedener Werte und Interessen er­laubt hätte, sondern durch eindrucksvolle Kurzauftritte, die vorsichtig aufeinander abgestimmt sind und in denen ein simples Freund/Feind-Schema präsentiert wird.
Politik braucht Ideen und Bilder
Obwohl es nicht realistisch ist, nostalgisch von der Rückkehr der Politikformen zu träumen, die vor der Kulturrevolution der Massenmedien existierten, ist es doch schwer zu akzeptieren, daß Politik nur in dem von den Medien erlaubten Rahmen besteht. Man kann sich Veränderungen in der Politik der Medien vorstellen. Zwei­fellos sind Fernsehnachrichten nicht über­all so schlecht wie in Argentinien, und müssen nicht alle Korrespondenten sensa­tionssüchtige Agitatoren sein. Es gibt kein mit dem Fernsehen verbundenes Schick­sal, dem man nicht entkommen könnte.
Das Erscheinungsbild der Politiker ent­steht nicht nur in den Medien. Wir können hoffen, daß Politiker ihrem Auftrag ge­recht werden: einem Bedürfnis Ausdruck zu geben, das über das eigene hinausgeht und an deren Ausformung sie mitarbeiten. Politik braucht heute sowohl intellektuelle Perfektion wie auch mediale Vermittlung. Sie braucht Ideen ebenso wie Bilder. Die Ästhetik der audiovisuellen Medien neigt zum Ausschluß von Diskursen mit einem intellektuellen Anstrich. Dieser Konflikt drückt ein tief verwurzeltes Verhältnis aus, das von Intellektuellen und Politikern gleichermaßen angenommen wurde.
Politiker, Intellektuelle und Fernsehkom­mentatoren beziehen zumeist eine neutrale und “beschreibende” Haltung, wenn sie sich mit den Konsequenzen der Hegemo­nie der Massenmedien über die symboli­sche Dimension des gesellschaftlichen Lebens befassen. Einige bezweifeln die negativen Auswirkungen des Fernsehens, da die Öffentlichkeit Nachrichten umdeute und so neue Inhalte produziere. Sie ver­gessen dabei allerdings, daß die Bevölke­rung sich nur begrenzt neue Inhalte schaf­fen kann, da sie mit dem begrenzten Mate­rial arbeiten muß, das ihnen das Fernsehen anbietet. Natürlich werden von dieser Seite keine größeren Veränderungen im Umgang mit den Medien vorgeschlagen und auch nicht befürchtet, daß die Pri­vatinteressen der Medienmogule aus­schlaggebend bei der Bildung der öffentli­chen Meinung sind.
Reformperspektiven
Dieser Meinung, die durch ihren Opti­mismus bezüglich der Ergebnisse des ka­pitalistischen Marktes gekennzeichnet ist, kann man kritische und reformerische Perspektiven entgegensetzen. Intellektu­elle – besonders linke Intellektuelle – kön­nen eine entscheidende Rolle spielen, in­dem sie neue Denkanstöße geben, wie Medien auf eine demokratische, nach­denkliche, phantasievolle und durch­schaubare Weise genutzt werden können. Sicher, diese neuen Ideen würden auf eine enorm konzentrierte Macht treffen. Doch neue ideologisch-kulturelle Perspektiven können ein befriedigendes Echo in den Medien finden, gerade weil diese verplichtet sind, alles von einer gewissen öffentlichen Bedeutung einzubeziehen.
Die jüngsten Wahlen in Argentinien vom April dieses Jahres haben gezeigt, daß man sich Elemente einer politischen Kul­tur vorstellen kann, die nicht zwangsläufig zu Gefangenen der audiovisuellen Ideolo­gie und Ästhetik werden. Die Mitte-Links-Partei Frente Grande wurde in diesen Wahlen zur drittstärksten Kraft. Die Kan­didaten benutzten die Medien mit dem Ziel, vielschichtigere Diskussionen einzu­führen. Die Frente Grande wurde auf so­ziale Bedürfnisse aufmerksam, die weder vom Peronismus noch vom Radikalismus vertreten wurden, und verstanden es, aus den zunehmenden Rufen nach Transpa­renz, Ehrlichkeit und Fähigkeit im politi­schen Leben Vorteile zu ziehen.
Die Situation ist besonders lehrreich. Ei­nerseits bemerkten diese neuen politischen Akteure – einige kamen aus der Men­schenrechtsbewegung, andere aus künstle­rischen und intellektuellen Bereichen – die Macht der audiovisuellen Medien in der Herstellung von Öffentlichkeit. Gleich­zeitig aber lernten sie, mit dem Fernsehen umzugehen, ohne sich allen seinen Ri­tualen zu unterwerfen. Sie schlugen sogar eine neue Art des politischen Diskurses im Fernsehen vor.
Ein anderer politischer Stil, ein bewußt kritischer Umgang mit den Medien ist somit möglich. Grundlage dafür muß die Erkenntnis sein, daß die bedingungslose Akzeptanz der schlechtesten Aspekte der jetzigen massenmedialen Kultur das Her­vortreten neuer Ideen verhindert.

Ein neues Kapitel der Vergangen­heitsbewältigung

Wenige Wochen zuvor hatte Präsident Menem den Senat bereits dafür kritisiert, daß er die Beförderung zweier Marineof­fiziere abgelehnt hatte. Die beiden hatten sowohl ihre persönliche Beteiligung, als auch die der gesamten Marine an syste­matischen Folterungen in den siebziger Jahren, sowie an der Ermordung zweier französischer Nonnen zugegeben. Vor mehreren hundert Offizieren des Heeres wurde der Staatspräsident Anfang No­vember aber noch deutlicher: “Dank der Anwesenheit der Armee und der Polizei konnten wir den “Schmutzigen Krieg” gewinnen, der unsere Gesellschaft an den Rand der Auflösung getrieben hatte.”
Aufschrei der Empörung
Als Reaktion auf seine Äußerungen schloß die Menschenrechtsorganisation ADPH (Asamblea Permanente por los Derechos Humanos) Menem aus, mit der Begründung, er habe den Staatsterroris­mus gerechtfertigt. Prominente Mitglieder der ADPH sind unter anderem Ex-Präsi­dent Raúl Alfonsín und der Schriftsteller Ernesto Sábato, der die staatliche Unter­suchung der Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur als Präsident der Untersuchungskommission CONADEP geleitet hatte. “Die Tatsache daß diese Rechtfertigung der Diktatur von derjeni­gen Person ausgesprochen wurde, die das höchste Amt im Staat innehat, ist unüber­sehbar schwerwiegend” unterstreicht die Stellungnahme der ADPH. “Der Präsident hat so Entführungen, Folter, Attentate, Exil, Kindesraub und Verkauf derselben als Kriegsbeute und andere irrsinnige Vorkommnisse gerechtfertigt. Alle waren Teil der Machtaneignung durch Waffen­gewalt, die die Diktatur als System eta­blierte und aufrechterhielt sowie zuließ, daß der Staatsterrorismus das Land re­gierte.”
Auch die Familienangehörigen der über 20.000 Verschwundenen und ihre politi­schen und juristischen VertreterInnen protestierten gegen die Äußerungen Men­ems. “Damit hat er uns ins Gesicht ge­spuckt. Das ist wirklich sehr schwerwie­gend”, äußerte sich Julio César Strassera, Bundesstaatsanwalt bei den Prozessen ge­gen die Verantwortlichen der Menschen­rechtsverletzungen.
“Illegale Praktiken”
Menem warf der Menschenrechtsorgani­sation Böswilligkeit und bewußte Falsch­interpretation seiner Worte vor. “Die mich heute ausschließen, das sind dieselben, die damals die Subversion und die Guerilla unterstützten.” Er habe nicht die Folter ge­rechtfertigt, aber auf beiden Seiten des Krieges seien “illegale Prakti­ken” ange­wendet worden. Fünfzehn Jahre lang habe Argentinien Anschläge überall im Land erleben müssen, die sehr viele Tote, Ver­schwundene und Verletzte ver­ursacht hätten, “aber glücklicherweise kam es zur totalen Konfrontation gegen die Subver­sion aufgrund des Entschlusses der Präsi­dentin Perón”.
Er betonte, daß er sich als damaliger Gou­verneur der Provinz La Rioja hinter die Entscheidung der Regierung Isabel Perón gestellt habe, der Armee die “Vernichtung” der Guerilla zu befehlen.
Meinungswechsel half nicht
Der heutige Militärfreund Menem hatte zu Beginn der siebziger Jahre noch zu den VerteidigerInnen der peronistischen Gue­rilleros/as, speziell der Montoneros ge­hört, sogar noch nach seiner Wahl zum Gouverneur 1973. Als deutlich wurde, daß die Aktionen des rechtsperonistischen Flügels nicht nur im “Schmutzigen Krieg” gegen die Guerillaorganisationen bestan­den, der mittels Terrororganisationen wie der Triple A (Antikommunistische Allianz Argentiniens) geführt wurde, änderte Menem schnell seine Meinung Denn auch Gouverneure, die als Symphatisanten der peronistischen Guerilla und ihrer linken Jugendorganisationen galten, sollten aus dem Amt gejagt werden. Trotz seines Meinungswechsels wurde Menem weiter­hin als “Subversiver” be­zeichnet, so daß er schließlich verhaftet wurde und selbst fünf Jahre im Gefängnis verbrachte.
Ein Projekt der Zukunft
Carlos Menem hat schon bald nach sei­nem Amtsantritt 1989 versucht, das Ver­hältnis zwischen Staat und Militär durch immer weiterreichende Zugeständnisse an das Militär zu verbessern. Das wichtigste dieser Zugeständnisse war die Amnestie­rung der wenigen Militärs, die für ihre Menschenrechtsverletzungen im Gefäng­nis saßen.
Der jüngste Konflikt über Solderhöhungen konnte jedoch nicht zur Zufriedenheit der Militärs gelöst werden, da Wirtschaftsmi­nister Cavallo sich dem hartnäckig wider­setzte. Umso wichtiger ist es deshalb für die “Wiederbelebung des Paktes zwischen Staat und Militär”, welche Menem sich wünscht, die Militärs wenigstens in ihrem Selbstverständnis zu bestätigen. Dafür muß natürlich mit der Vergangenheit aufge­räumt werden. Für Menem gilt jetzt nur der Blick in die Zukunft. Um das zu illustrieren war ihm auch die Bibel nicht zu schade: Schließlich sei Ruth deshalb zur Salzsäule erstarrt, weil sie zurück ge­schaut habe.

Öko-Zuschüsse als entwicklungspolitische Neuerung

Was ist von der noch relativ jungen GEF zu halten? Handelt es sich tatsächlich nur um ein weiteres Kreditangebot im Menü von IWF und Weltbank, wodurch sich die beiden einen grünen Touch geben können? Oder steckt diesmal vielleicht mehr als nur ein Lippenbekenntnis dahin­ter?
Wie alles anfing
Die GEF wurde 1990 auf Initiative der deutschen und französischen Regierung in erstaunlichem Tempo eingerichtet: bereits 1992 erfolgten die ersten Auszahlungen. Sie hat – trotz des IWF-typischen Begriffs “Fazilität” – nichts mit diesem zu tun; da­für aber ist die Weltbank als Durchfüh­rungsorganisation beteiligt – neben dem Nuten Nations Development Pro­gramme (UNDP) und dem United Nations Environment Programme (UNEP). Diese Konstellation ist grundsätzlich neu, da ge­rade Weltbank und UNDP ansonsten in vielen Bereichen konsequent aneinander vorbeiarbeiten. Zwar sind auch bei der GEF die Aufgaben nach dem üblichen Muster – Weltbank für finanzielle und UNDP für technische Projekte – getrennt, immerhin aber unter einem Dach zusam­mengefaßt. Die UNEP darf in einer Ne­benrolle einen Wis­sen­schaftlichen und Tech­nischen Bei­rat einsetzen, der die Kriterien für die Mit­tel­vergabe er­ar­bei­tet. Diese werden als reine Zu­schüsse, also nicht als Kredite, vergeben.
Da in den meisten Fällen staatliche Orga­nisationen die Empfänger dieser GEF-Zu­schüsse sind, wurde von Anfang an ein Programm für Klein(st)zuschüsse über die UNDP für Projekte auf kommunaler, nichtstaatlicher Ebene als Gegengewicht etabliert. 10-15 Mio. US-Dollar bei Pro­jekten in über 30 Ländern machen aus diesem Programmteil aber höchstens ein Fliegengewicht.
In der Pilotphase wurden insgesamt 750 Mio. US-Dollar für die genannten Berei­che verwendet, davon allein 42 Prozent für die Erhaltung der Artenvielfalt. (Zum Ver­gleich: Die Weltbank zahlt jährlich ca. 20 Mrd. US-Dollar aus.) Dieser Topf ist für Lateinamerika besonders interessant, da aus ihm die meisten Gelder nach Latein­amerika fließen, allen voran nach Mexiko und Brasilien mit jeweils 30 Mio. US-Dollar.
Kritische Stimmen und Reform
Die GEF wurde seit ihrer Einrichtung von vielen Seiten scharf kritisiert, insbeson­dere auch von internationalen Natur­schutzorganisationen, die über die GEF Zuschüsse erhalten. Eine 1993 vom World Wildlife Fonds veröffentlichte Studie von über 100 Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Lateinamerika, Afrika und Asien kommt zu den folgenden Ergebnis­sen:
– Die GEF wurde von einigen wenigen Nord-Ländern unter Mißachtung jeglicher Süd-Perspektive (Umweltprobleme durch Armut, Bevölkerungsentwicklung, Ver­schuldung und mangelhaften Zugang zu Ressourcen) gegründet. Mit dem Stichwort “global” versuchen die Länder des Nor­dens in die Politik der Entwicklungsländer hineinzuregieren, wobei sie gleichzeitig von ihrer Verantwortung ablenken wollen.
– Die Weltbank, UNDP und UNEP sind für die GEF-Aufgaben ungeeignet. Die Bank hat bisher grundsätzlich soziale und Umweltaspekte von Projekten beflissent­lich übersehen und ist nicht gerade für Transparenz und demokratische Konsul­tationen bekannt. UNDP und UNEP sind zu bürokratisch, um effektiv arbeiten zu können.
– Die GEF konzentriert sich auf kurzfri­stige Projekte, obwohl gerade der Um­weltbereich langfristige Investitionen und Programme erfordert.
– Der Schwerpunkt der GEF liegt im Be­reich staatlicher Unterstützung und läßt NRO fast überall außen vor.
Zu besonders heftigen Kontroversen hat die Beteiligung der Weltbank an der GEF geführt. Während einige NRO die Beteili­gung der Weltbank an der finanziellen Verwaltung der GEF akzeptieren, bezwei­feln die meisten die allgemeine Kompe­tenz der Bank im Bereich Umwelt. Die Kompetenz einzelner MitarbeiterInnen aus der Weltbank wird hingengen hoch gelobt.
Die Kritik an der GEF hat dazu geführt, daß sie nach der Pilotphase im März 1994 restrukturiert wurde bzw. werden soll. Um den Entwicklungsländern mehr Mitspra­che zu verschaffen, wurde der GEF-Auf­sichtsrat tatsächlich paritätisch besetzt: 16 Sitze gehen an die Entwicklungsländer, 14 an Industrie- und zwei an osteuropäische Transformationsländer. Für die Projekt­durchführung bleiben allerdings weiterhin die drei genannten Organisationen ver­antwortlich, so daß von einer “grund­sätzlichen Reform”, wie es die Ge­ber­län­der gerne darstellen, bisher nicht die Rede sein kann.
Artenvielfalt: wann gibt’s Geld wofür?
Die von der UNEP aufgestellten Vergabe­kriterien für GEF-Zuschüsse sind sehr vage und werden teilweise recht fragwür­dig gehandhabt.
Die GEF finanziert grundsätzlich nur Projekte, bei denen die Kosten für das Land gegenüber dem Nutzen zu hoch sind, als daß das Land das Vorhaben durchführen könnte. Einfaches Beispiel: Der Aufbau eines Nationalparks zum Schutz bedrohter Tierarten wird von der GEF als förderungswürdig eingestuft. Komplizierter wird es, wenn dieser Park für den Tourismus attraktiv sein könnte und das Land dadurch höhere Einnahmen (= höheren Nutzen) besäße. Aufgrund die­ser Annahme finanziert die GEF nur die “Zusatzkosten”, die ihrer Ansicht nach nicht aus nationaler Tasche bezahlt wer­den können. Daraus ergeben sich so ab­surde Situationen wie die in Costa Rica: Durch den vom IWF-Programm aufge­zwungenen Sparkurs mußte Costa Rica zwei Drittel des Personals für die Natio­nalparks entlassen. Dies erschwerte die Erhaltung des erreichten Parkstandards. Überdies sanken die Einnahmen durch den Ökotourismus, da nicht mehr ausrei­chend ReiseführerInnen zur Verfügung standen. Gleichzeitig finanzierte die GEF lediglich zwei Projekte zur “biologischen Forschung und Training des Parkmana­gements”, da potentiell Einnahmen aus dem Ökotourismus vorhanden wären.
Die Vergabe von Geldern richtet sich weiterhin danach, ob das Projekt innovativ ist. Großvaters Lehren über den Umgang mit natürlichen Ressourcen sind nicht ge­fragt: neu ist gleich gut. Daß bei moderner Technologie oftmals die Kostenkontrolle aus den Augen verloren wird, liegt auf der Hand. Viele Pilotprojekte haben sich als so teuer erwiesen, daß sie nach Vergabe der GEF-Gelder nicht weitergeführt, ge­schweige denn auf andere Gebiete über­tragen werden können.
In Lateinamerika werden neben den ge­nannten in Costa Rica, folgende Projekte im Bereich Artenvielfalt gefördert:
Weltbank:
– Bolivien: Stärkung des Schutzzonen-Managements und der nationalen Institu­tionen über bolivianischen Treuhand­fonds. (5 Mio. US-Dollar)
– Brasilien: noch kein Projekt festgelegt. (30 Mio. US-Dollar)
– Ecuador: Schutz der Artenvielfalt durch Stärkung der legalen Rahmenbedingungen und des Parkmanagements. (6 Mio. US-Dollar)
– Mexiko: Unterstützung des Manage­ments von 20 Schutzgebieten. (30 Mio. US-Dollar)
– Peru: Etablierung eines Treuhandfonds für Management, Training, Ausbildung usw. im Bereich Artenschutz. (4 Mio. US-Dollar)
UNDP:
– Amazonasregion: Strategien zur Erhal­tung natürlicher Ressourcen. (5 Mio. US-Dollar)
– Argentinien: Entwicklung eines regio­nalen Managementplans für Patagonien. (3 Mio. US-Dollar)
– Belize: Forschung und Beobachtung so­wie Entwicklung eines Managementplans für das längste Felsenriff Lateinamerikas. (3 Mio. US-Dollar)
– Costa Rica: Finanzierung von biologi­scher Forschung und Training von Park­management (8 Mio. US-Dollar)
– Dominikanische Republik: Protektion von Samana Bay, incl. wissenschaftliche Basisstudien. (3 Mio. US-Dollar)
– Guayana: Programm für nachhaltiges Tropenwaldmanagement. (3 Mio. US-Dollar)
– Kolumbien: Bewahrung der Artenvielfalt im Chocó. (9 Mio. US-Dollar)
– Kuba: Schutz und nachhaltige Entwick­lung des Sabana-Camaguey Archipels. (2 Mio. US-Dollar)
– Uruguay: Schutz der Artenvielfalt in den östlichen Feuchtgebieten. (3 Mio. US-Dollar)

Bemerkenswert ist zunächst einmal die vage Formulierung der meisten Projekte und insbesondere auch der Fall Brasilien. Gerade dieses Beispiel zeigt, daß die Auswahl der Länder und Schutzgebiete eher aus politischen als aus ökologischen Gründen erfolgte.
Die oben genannte Kritik an kurzfristiger Finanzierung gilt auch für die aufgeliste­ten lateinamerikanischen Projekte: sie machen nur Sinn, wenn sie auch nach der GEF-Projektperiode (2-5 Jahre) weiterge­führt werden. Die meisten Länder sind aber zur Zeit nicht in der Lage (oder auch nicht willens), für Projekte zum Schutz der Artenvielfalt Geld bereitzustellen. Ein geplanter Treuhandfonds wie in Peru oder die Unterstützung eines bereits existieren­den wie in Bolivien ist unter diesen Um­ständen besser als stark eingegrenzte Pro­jekte, da hierdurch Zahlungen über einen langen Zeitraum garantiert werden kön­nen. Eine Weiterfinanzierung der meisten anderen Projekte ist unwahrscheinlich, da bei der bisherigen Projektfinanzierung Länder mit großer Artenvielfalt wie Gua­temala, Indien, Madagaskar, Malaysia, Tansania und Zaire ausgelassen wurden, die sich bei einer weiteren Runde stark zu Wort melden werden.
Die Projekte decken zudem sehr unter­schiedliche Ökosysteme ab, vom tropi­schen Regenwald über Meeresbiotope, Feucht- und Trockengebiete. Wenn man sich die zur Verfügung stehenden Gelder ins Gedächtnis ruft und bedenkt, daß mehr oder weniger zu jedem Projekt intensive Studien aufgestellt und ausländische Ex­perten bezahlt werden, dann entsteht der Eindruck, die GEF wolle ihre Vielfalt be­weisen und übernimmt sich ganz ordent­lich. Viele der genannten Projekte wurden unter – politischem – Zeitdruck bereits Ende 1993 eingeführt; Diskussionen und Evaluierungen von unabhängigen Gut­achter oder NRO haben so gut wie gar nicht stattgefunden bzw. wurden mit der Entschuldigung “Mittelabflußdruck” un­terbunden. Die meisten lateinamerikani­schen Projekte fallen in die Kategorie der “wenig beeindruckenden Mittelabfluß­druckprojekte”, allen voran Brasilien und auch Mexiko.
Erstaunlich ist auch die mangelhafte Aufmerksamkeit gegenüber politischen Zwängen. Selbst bestens geplante Projekte können scheitern, wenn Wirtschaftspoli­tik, Handelsabkommen, Strukturanpas­sungsprogramme und Gesetze über Bo­deneigentum einen dauerhaften Schutz der Artenvielfalt behindern. Hinzu kommen noch Entwicklungsprojekte, die den Um­weltschutz konterkarieren und oft von derselben Durchführungsorganisation stammen. Eine Aufstockung der GEF-Gelder, wie sie von allen Seiten berech­tigterweise gefordert wird, wird unter die­sen Umständen keine erhebliche Verbes­serung des Artenschutzes bringen.
Scheitern an alten Strukuren
Nach dem bisher Gesagten verlief die GEF-Pilotphase nicht sehr beeindruckend. Auch in Zukunft wird sich daran nicht viel ändern, da insbesondere die Weltbank an ihrer üblichen Praxis festhalten wird: Auswahl nach politischen Gesichtspunk­ten, fast nur öffentliche Organisationen als Ansprechpartner, mangelnde Flexibilität bei Projektdesign und -durchführung, keine sozioökonomischen Studien, kurze Projektzyklen, Einsatz ausländischer Ex­pertInnen und rein symbolische Beteili­gung der lokalen Bevölkerung. Bei der GEF können diese Probleme allerdings wenigstens abgemildert werden, wenn die beteiligten NRO – und gerade die großen – ihren Einfluß so stark wie möglich geltend machen. Die Weltbank läßt sich sonst normalerweise nicht in die Karten sehen, daher sollte jede Möglichkeit der Einflußnahme ausgenutzt werden. Bei der derzeitigen fi­nanziellen Ausstattung ist die Auswirkung der GEF auf globale Umweltschutzmaßnahmen jedoch nur von marginaler Be­deutung. Die GEF bleibt ein Trostpflaster, das die eigentlichen Ursachen der Um­weltzerstörung nicht angeht.

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