Wasmosy in Bedrängnis

In den 35 Jahren seiner Herrschaft hatte Stroessner seine Getreuen fest im Griff. Durch Einschüchterungen, öffentliche Exekutionen, drakonische Strafen und ein unüberschaubares Herr von Spitzeln, die Pyragués (was in der Indianersprache Guaraní diejenigen bezeichnet, die sich zum Anschleichen Fell an die Fußsohlen kleben), machte er Paraguay in kürzester Zeit zur Tierra de paz y sol, zu seinem “Land des Friedens und der Sonne”.
Doch auf einmal waren der Karaí Guazú, der große Herrscher und sein Par­teiapparat, deren Liebe offiziell nur dem einfachen Volk galt, verschwunden, ver­trieben von anderen Militärs, über deren Lippen ein neues Zauberwort kam: De­mokratie.
Nach der Interimspräsidentschaft des Generals Rodriguez wurde im Mai 1993 der erste zivile Präsident des Landes ge­wählt, der Ingenieur Juan Carlos Was­mosy, Mitglied der Colorado-Partei, die seit fünfzig Jahren die Regierung stellt. Doch schnell schwand seine Popularität, besonders bei seinen eigenen Parteigenos­sen. Wasmosy habe, so wird heute offen behauptet, bei den internen Wahlen um die Präsidentschaftskandidatur der Partei Wahlfälschung zu seinen Gunsten betrie­ben. Sein Gegner, der ehemalige Chef des Justizapparates Luis Argaña, der mit seinen populistischen Reden und seinem Wunsch nach der Rückkehr Stroessners große Teile der Landbevölkerung hinter sich wußte, führt nun verärgert die Riege der Stronistas an, deren Herzenswunsch die Herstellung alter Verhältnisse ist.
Wasmosy, der durch den Bau des Stau­dammes Itaipú vermögend wurde, ist für die meisten Paraguayos ziemlich un­glaub­würdig, wenn es um die Demokrati­sierung des Staates und die Reform des Jus­tiz­wesens geht. Wasmosy ist sicherlich der fal­sche Mann, um den Schmuggel, von dem ein Großteil der Volkswirtschaft lebt, und die Korruption zu unterbinden. Seine Lip­pen­bekenntnisse verhallen un­be­ach­tet.
Positive Veränderungen gibt es den­noch: Neben der Justiz- und Verfassungs­reform ist die Zensur abgeschafft. Mutige JournalistInnen werden allerdings immer wieder Opfer von Verfolgungen. Plötzlich ist der so lange geheimgehaltene Drogen­handel ein Thema: Dutzende von kokain­beladenen Flugzeugen, die von den An­denländern nach Rio und Sâo Paulo un­terwegs sind, landen angeblich täglich auf entlegenen Militärflugplätzen in Paraguay und werden hier gegen Entgelt gewartet und aufgetankt.
Da unter Stroessner Korruption und Schmuggel als Mittel zur Sicherung des sozialen Friedens gebilligt wurden, haben viele Großgrundbesitzer, Kaufleute und Militärs durch undurchsichtige Transak­tionen unermeßliche Reichtümer ange­häuft und öffentliche Posten besetzt. Die riesigen Villen der Nobelviertel zeugen davon. Ein besonders krasses Beispiel ist da der Ex-Präsident selber. Im Viertel Las Carmelitas hat sich General Rodríguez ein Loire-Schloß nachbauen lassen, das von mehreren Hundertschaften Soldaten be­wacht wird. Im Bad des Ex-Präsidenten sind alle Armaturen angeblich aus purem Gold, wie die Gerüchteküche auf dem Pettirossimarkt zu berichten weiß. Auf die erwirtschafteten Pfründe will verständli­cherweise kein Nutznießer der Diktatur freiwillig verzichten, eine wirksame Trans­formation der ungleichen paraguayi­schen Gesellschaft wird von vielen wis­sentlich verhindert.
Neoliberalismus all überall
Die Wirtschaftspolitik Wasmosys schwimmt voll auf der neoliberalen Woge, die in Südamerika um sich greift. Staats­betriebe sollen privatisiert werden und die Wirtschaft wird nicht zuletzt durch den Mercosur seit dem 1. Januar weiter geöff­net. Die möglichen Auswirkungen des Mercosur sind noch nicht klar abzusehen. Paraguay steuert zum gesamten Brutto­sozialpodukt der vier Länder nur ein Pro­zent bei. Bestenfalls, so hofft man, kommt es durch den Mercosur zu einer Entkrimi­nalisierung des Schmuggels und zur Ver­ringerung des Autodiebstahls in den Mit­gliedstaaten, für den Paraguay in den letzten zwanzig Jahren hauptsächlich ver­antwortlich war, und der generalstabs­mäßig vom Militär organisiert wurde. Im schlimmsten Fall aber wird durch die in­dustrielle Übermacht Argentiniens und Brasiliens auch der letzte Keim industri­eller Eigenproduktion erstickt.
Die politische und ökonomische Reali­tät nach anderthalb Jahren Wasmosy ist ernüchternd: Die Reallöhne fallen kon­stant, die Inflation ist mit über zwanzig Prozent im internationalen Vergleich zu hoch, Arbeit gibt es immer weniger. Laut Economist benehmen sich die Politiker Paraguays, die sich seit fünf Jahren in der Demokratie üben, wie im Kindergarten. Die ganze Situation sei a great mess, ein großes Durcheinander.
In dieses Durcheinander und in die schwierige wirtschaftliche Situation des durchschnittlichen Paraguayos mischt sich eine weitere Sorge. Die starke Zunahme von Raubüberfällen und Einbrüchen ver­unsichert die BewohnerInnen Asuncións zusehends, obwohl die Kriminalitätsrate auch im Vergleich zu europäischen Maß­stäben immer noch gering ist. Es sind Boulevardblätter wie La Crónica, die mit unappetitlichen Farbfotos jedes Ermorde­ten die Angst noch weiter schüren.
Und immer wieder: Putschgerüchte
Rufe nach einem neuen starken Mann im Staat werden immer lauter. Für viele ist dieser Mann General Lino Oviedo. Als Chef des ersten Heereskorps ist er der mächtigste Offizier im Staat, untersteht ihm doch die einzig wirklich kampffähige Einheit der Streitkräfte. Putschgerüchte in Asunción gibt es immer wieder, und die politischen Ambitionen Oviedos sind seit langem bekannt. Öffentlich beteuerte Oviedo beim Amsantritt Wasmosys, es sei seine Pflicht, “als Soldat und Bürger der Demokratie und der Freiheit” loyal zu sei­nem Präsidenten zu stehen. So bleibt für Paraguay zu hoffen, daß Oviedo eine Tra­dition der paraguayischen Militärs bricht und sein Wort hält. Einen Putsch könnte er sich aufgrund der folgenden internatio­nalen Isolation kaum leisten. Er hätte ihn auch gar nicht nötig, seine Wahl zum nächsten Präsidenten gilt als sicher.

Kasten:

Der Präsident und der Staudamm
Die Fische bereiteten den Ingenieuren von Yasyretá, dem zweitgrößten Staudamm Süd­amerikas am Rio Paraná an der Grenze zwischen Argentinien und Paraguay, be­sonderes Kopfzerbrechen. Um ihnen das Überwinden des neuen Höhen­unterschiedes zu ermögli­chen, ersann mensch etwas sehr Skurilles: einen Fischaufzug. An­scheinend waren tau­sende Surubís, Dorados und andere Tropen­fische aber von der Technik hilflos überfodert. Tot trieben sie kurz vor der feierlichen Ein­weihung des Staudam­mes am 2. September letzten Jahres auf dem Paraná.
Drei­zehn Jahre nach dem geplanten Fertigstellungstermin ging nun die erste von insge­samt zwanzig Turbinen des Wasserkraftwerkes endlich ans Netz, alle 72 Tage soll eine weitere folgen. Yasyretá erreicht jedoch im Durchschnitt mit 3080 Megawatt nur ein Viertel der Kapazität des Itaipú-Staudammes, des größten Wasserkraftwerks der Erde, das ebenfalls am Paraná von Paraguay und Brasilien betrieben wird.
Als 1973 der Vertrag von Itaipú zwischen Brasilia und Asunción unterschrieben war, er­wachte die alte Rivalität zwischen den Giganten Argentinien und Brasilien. Der be­reits schwer erkrankte argentinische Präsident Perón schickte umgehend seine Frau Isabel in die paraguayische Hauptstadt, wo sie mit dem Diktator Stroessner den Ver­trag über die hydroelektrische Nutzung des Paraná nahe der Insel Yasyretá abschloß.
Das paraguayische Volk nimmt die Existenz des neuen Staudamms außerordentlich ge­lassen hin. Mit der ökologischen Katastrophe, die eine künstliche Anhäufung sol­cher ge­waltiger Wassermassen verursacht, hat mensch ja Erfahrung, schließlich hat das Auf­stauen des Paraná durch Itaipú ab 1982 das gesamte Klima Paraguays durcheinander­gebracht. Der Regenkalender des Forschers Moises Bertoni, der Anfang dieses Jahrhun­derts durch intensive Wetterbeobachtung eine Tabelle entwickelte, mit deren Hilfe man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Regentage vor­ausberechnen konnte und die in keinem paraguayischen Haushalt fehlt, ist unbrauch­bar geworden. “El tiempo hace lo que quiere”, das Wetter macht was es will, sagt Carolina Acosta, eine junge Verkäuferin aus dem immerschwülen Asunción und zeigt belustigt auf einen dicken wollenen Strampelanzug: “So etwas trugen die Babies frü­her, als es im Juli noch kalt wurde”, lacht sie.
Daß die Anrainer des angestauten Beckens von Itaipú ein erhöhtes Auftreten von Leis­hmaniose und anderen durch Stechmücken übertragbare Krankheiten beobachten, bringt niemanden aus der Ruhe. Eher schon die Tatsache, daß durch Itaipú die angeb­lich schön­sten Wasserfälle der Erde, die Sete Quedas, für immer verschwunden sind.
Für Yasyretá erwartet man ähnliche Folgen: 800 Quadratkilometer des paraguayi­schen Territoriums werden in den nächsten Monaten für immer überschwemmt, aber “nur” 200 Quadratkilometer auf der argentinischen Seite. 27 paraguayische Inseln werden unter den Wassermassen verschwinden, darunter auch diejenige, die dem Damm den Namen gab und die als eines der letzten Refugien subtropischer Flora und Fauna gilt. Auch die Men­schen sind betroffen: 3.974 Familien müssen allein in Para­guay umge­siedelt werden, und ein ganzer Stadtteil der drittgrößten paraguayischen Stadt Encar­nación wird evakuiert.
12 Milliarden US-Dollar wird Yasyretá bei seiner endgültigen Fertigstellung verschlun­gen haben. Die Finanzierung teilen sich die Weltbank, die Interamerican Development Bank, die argentinische Regierung und einige private Investoren. Bei der Finanzierung von Yasyretá wird analog wie bei dem Kreditmodell Itaipús vorge­gangen: Argentinien gibt das Geld, Paraguay das Wasser seiner Flüsse. Die dadurch entstandene Geldschuld Paraguays wird mit dem Strom des neuen Kraftwerks abbe­zahlt. Im Klartext heißt das, daß Paraguay in den nächsten zwanzig Jahren so gut wie keine einzige Kilowattstunde von Yasyretá beziehen wird. Einen dringenden Bedarf Paraguays an Strom gibt es ohne­hin nicht. Durch Itaipú erhält das kleine Land mit sei­nen fünf Millionen EinwohnerInnen mehr Elektrizität als es jemals verbrauchen könnte, so daß über 80 Prozent des Stroms nach Brasilien exportiert wird.
Kritik an dem Projekt Yasyretá kommt dem Präsidenten sehr ungelegen. Die mutige Zeitung ABC Color wies in einem Editorial unmißverständlich daraufhin, daß Para­guay den neuen Staudamm nicht benötige. Den Strom brauche man sowieso nicht, der sei schließlich für Buenos Aires, aber der ökologische Preis, den Paraguay zahlt, sei, wie die Redakteure befanden, einfach zu hoch.
Offizielle Stellen, allen voran Wasmosy selber, reagieren gereizt auf solche unpatrioti­schen Meinungen. Die Hauptsache sei schließlich, daß das technische Wun­der der hydro­elektischen Energieerzeugung mit paraguayischem Wasser zustande komme. Darauf könne doch jeder Paraguayo und jede Paraguaya stolz sein, heißt es.
Auf den Präsidenten hört das paraguayische Volk jedoch kaum. Wasmosy, so sagt man in Asunción, sei bola, ein Mensch, der meist die Unwahrheit erzählt. Der Staats­mann besitzt die größten Baufirmen des Landes und wurde durch den Bau von Itaipú vermögend. Sein argentinischer Kollege Menem provozierte vor fünf Jahren, als die Fer­tigstellung Yasyretás noch in den Sternen stand, eine diplomatische Krise zwischen bei­den Ländern. Yasyretá, so sagte er damals, sei nichts anderes als ein Betondenkmal der Korruption.
Philipp Lepenies


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Die Seifenblase ist geplatzt

Salinas de Gortari, der erst im Dezem­ber das Prä­sidentenamt an Zedillo ab­gegeben hatte, ist davon überzeugt, daß Mexiko den Peso bereits zu einem frü­heren Zeitpunkt hätte ab­werten sollen. Seine Re­gierung habe jedoch im Vor­feld der Wahlen im Herbst aus Stabilitätsgrün­den nicht von ihrer Wechselkurs­politik abweichen wollen. Der PRI blieb so bis zum 20. Dezem­ber immer noch ihre öko­nomi­sche Er­folgsbilanz, die sich eben­falls auf Stabilität gründete: Geringe In­fla­tion, die allerdings nur wegen eines immer größer werden­den Kapitalbilanz­defizites möglich war, machte die Staatspartei, im Be­wußtsein der Wähler, zum einzigen Ga­ranten der Stabilität und sicherte ihr bei den Prä­sident­schaftswahlen den Sieg. Die Oppositionsparteien PRD und PAN wer­fen dem Ex-Präsidenten Salinas in­zwi­schen persönliche Be­reiche­rung vor. Doch die USA, de­ren Präsident Bill Clinton immer wieder die unbe­schränkten Importe von US-Waren nach Mexiko ohne ent­sprechende Peso­abwertungen lobte, för­dern die Kandida­tur Salinas zum Vorsit­zenden der GATT-Nachfolgers WTO (Welt­handelsorganisation) wei­terhin. Sa­linas zeige her­vorragende Führungs­quali­täten, erklärte US-Handels­minister Ron Brown. Der ve­nezo­lan­ische Wirtschafts­wis­sen­schaftler Moises Naim betonte dagegen, schon vor einem Jahr sei be­kannt ge­wesen, daß der We­chselkurs des Peso kor­rigiert werden mußte. Die Re­gierung habe aber nichts unternommen, weil sie sich damals durch die günstigen makroökonomi­schen Daten gut nach au­ßen habe darstellen können. Diese Seifen­blase ist jetzt geplatzt. Der PRI ist zwar ihr wichtigstes Ziel, der Machterhalt, wie­der einmal gelungen. Doch der Preis dafür ist hoch. Das Schock­programm Zedillos wird na­türlich vom In­ternationalen Wäh­rungsfond (IWF) unter­stützt, in der Be­völkerung dürfte der Rückhalt aller­dings nicht groß sein. Im Notstands­programm sind in­nerhalb der nächsten zwei Jahre le­diglich Lohnsteige­rungen von sieben Pro­zent vorgesehen. Die Unter­nehmen konn­ten nur zu dem Ver­sprechen gebracht werden, die Preise nicht “un­gerechtfertigt” zu erhö­hen. Dieses “Ab­kom­men für die Einheit”, das Anfang Januar von der Re­gierung mit dem Gewerk­schaftsdach­verband und den Unternehmen aus­gehandelt wurde, soll die Inflation 1995 nicht über 19 Prozent schnellen lassen. Auch ist vor­gesehen, die Staats­aus­gaben zu kürzen. Und die Preise bleiben für zwei Monate eingefroren, wohl vor allem, um den Sturz der mexikanischen Börse ins Bodenlose zu ver­hin­dern.
Doch inzwischen meldete die Gewerk­schaft der Elek­trizitätsarbeiter den An­spruch an, die Tarife frei auszuhandeln. Auch die Ange­stellten der staatlichen Presseagentur Notimex ver­langen eine Lohnerhöhung von 22 Prozent. Und die Natio­nale Kammer der Weiter­ver­arbei­tenden Industrie (Canacintra), die 85 Pro­zent aller industriel­len Ar­beitsplätze in Mexi­ko reprä­sentiert, for­derte ein sechs­monatiges Schuldenmo­ra­torium und die Stundung von Steuerrückständen. Außer­dem forderte der Ver­band Hilfe für Un­ternehmen, die vor der Ab­wertung Kre­dite bei ausländischen Ban­ken auf­genommen hatten. Alle Importprodukte sind we­sent­lich teurer ge­worden, ebenso Benzin. Zwar ist die Erdölge­sellschaft PEMEX seit 1938 in den Händen des Staates und soll es nach Aussagen von Regierungs­vertretern auch bleiben. Doch der Druck aus den USA, PEMEX zu pri­vatisieren, wächst. Immerhin war die mexi­kanische Regie­rung erst­mals gezwungen, Kredite der USA und Kanadas zu Stützungskäufen zu ver­wenden. Denn die Kapital­flucht setzte sofort bei der Abwertung des Peso ein. Ausländische Anleger haben angeb­lich bis zu zehn Milli­arden Dollar an der Börse in Mexiko verloren. Damit muß wieder um Kapitalanlagen in Mexiko ge­worben werden. Zwar sind diese Summen überwie­gend im nicht­produktiven Bereich ein­gesetzt worden, denn Spekulation ver­spricht höhere Gewinne, doch die Siche­rung ausländischer Ka­pitalanlagen in Me­xiko steht bei den Geberländern ganz oben.
Das Ausland fängt den Peso auf
Vertreter der mexikani­schen Regierung reisten deshalb nach New York und Tokio und priesen auch in Frankfurt am Main die Vor­züge des Standortes Mexiko. Enri­que Vilatela, Präsident der Banco Na­cional de Co­mercio Ex­terior und Leiter der vom mexikanischen Fi­nanz­mi­nis­terium nach Europa entsandten Dele­ga­tion, ver­kündete in Frankfurt, daß über kon­krete Finanz­arrange­ments nicht ge­sprochen worden sei. Doch mit der Deut­schen Bank und der Dresdner Bank, so hieß es in Bankenkreisen, be­teiligten sich zwei deutsche Großban­ken an einem Stüt­zungskredit von drei Milliarden Dollar. An diesem Kredit, über des­sen Moda­li­tä­ten nichts be­kannt wurde und der Teil ei­nes 18 Milliarden Dollar – Paketes ist, sind ins­gesamt 30 inter­na­tionale Geldinsti­tute beteiligt. Zusätzlich wollen die USA Kre­dit­bürg­schaften von bis zu 40 Mil­liarden Dollar bereitstellen, um Mexi­kos kurz­fristige Zahlungs­verpflichtungen auf einen längeren Zeitraum um­schulden zu können.
Durch diese offene Un­ter­stützung der US-Regierung stiegen die Börsenkurse am 13. Januar erstmals wieder um 4,61 Pro­zent an. Auch der Peso konnte sich um 30 Centavos auf 5,30 pro Dol­lar verbessern.
Produktion vorübergehend gestoppt
Währenddessen plant VW de México, die Auto­produktion ab dem 23. Januar für eine Woche zu unterbrechen, da die mexi­ka­nische Inlands­nachfrage zusammen­ge­brochen ist. Die Arbeiter des VW-Werkes in Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzar­beit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorüber­gehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gott­schalk, betonte dagegen die Vorteile der Peso­abwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnko­sten “nicht un­bedingt wett­bewerbs­fähig” gewesen. Die Krise verbil­ligt die ar­beits­intensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nord­grenze besteht. In den dortigen maquiladoras werden oft unter Umgehung der Ar­beitsrechte Halb­fertigpro­dukte aus den USA zusam­mengefügt und wieder in die USA re-im­portiert. Jede Lohn­senkung erhöht die Pro­fite beträchtlich.
Börsensturz in Brasilien und Argentinien
Der Einfluß der mexi­kani­schen Krise auf ganz La­teinamerika ist wäh­renddes­sen un­über­sehbar. Mexiko als eines der größ­ten und ent­wickeltsten Länder des Sub­kontinents, das zudem durch den NAFTA-Vertrag mit den USA und Kanada verbun­den ist, symboli­sierte bis zum 1. Jn Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzar­beit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorüber­gehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gott­schalk, betonte dagegen die Vorteile der Peso­abwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnko­sten “nicht un­bedingt wett­bewerbs­fähig” gewesen. Die Krise verbil­ligt die ar­beits­intensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nord­grenze besteht. In den dortigen maquSA, die auf die­se Weise den ge­samten Kontinent sta­bili­sieren wollen, be­ginnt nun zu wanken. Auch Brasiliens erst letztes Jahr neuge­schaffene Wäh­rung Real, die noch immer höher als der Dollar bewertet wird, wird ab­gewertet werden müssen. Bereits jetzt ist der Bör­senkurs in Sao Paulo um fast 12 Prozent ge­fallen. Ähnliches gilt für den Nach­barstaat Ar­gentinien: Dort mußte die Börse einen Sturz von 10 Prozent hinneh­men. Falls sich die Krise ausweiten sollte, könnte die von den USA geplante Aus­wei­tung des Freihandelsab­kommens NAFTA auf den ge­samten Kontinent auf Schwie­rigkeiten stoßen. Der extrem un­gleich verteilte Reichtum in Lateiname­rika erscheint zwar in den Han­delsbilanzen nicht, könnte aber langfristig die Stabi­lität der Wirtschaftsent­wicklung gefährden.

Kasten:

Situation in Chiapas eskaliert, doch der Dialog beginnt
Der Bischof von San Cristóbal de las Casas, Samuel Ruíz, der CONAI (Nationale Vermittlungskommission) angehört, verneinte einen Zusammenhang zwischen der Pesoabwertung und “dem erneuten Ausbruch von Feindseligkeiten in Chiapas und dem Beginn von einigen Gesprächen.” Der massive Polizeieinsatz am 6. Januar gegen eine Kundgebung für die Auszahlung ausstehender Löhne der Coalición Campesina Estudiantil del Soconusco (COCES) in Tapachula, bei der ein sechsjähriges Mädchen ermordet wurde, ist nur ein Beispiel für den Regierungsstil der Regierung Robledo in Chiapas. Nachdem am 10. Januar in 5 Regierungsbezirken Rathäuser von unabhängigen Campesinoorganisationen besetzt wurden, kam es in der Gemeinde Chicomuselo zu 7 Toten, darunter drei Polizisten. Bischof Samuel Ruíz äußerte dazu in einem Interview, dort sei “jetzt eine gewisse Ruhe eingetreten. So weit ich weiß, wird dort mit Verhandlungen begonnen, die dieses spezielle Feld betreffen.” Immerhin seien allerdings die ganaderos, Viehzüchter, die private Todesschwadronen befehligen, bei zwei der Besetzungen zusammen mit der Polizei aufgetaucht. Trotzdem könne nicht von einer Koordination der ganaderos mit den Sicherheitskräften gesprochen werden. Da in Chiapas zum selben Zeitpunkt und am selben Ort zwei Regierungen gebildet wurden, besteht das Problem der Übergangsregierung im Aufstand, die von Amado Avendaño repräsentiert wird, darin, anerkannt zu werden. Samuel Ruíz sagte dazu: “Ihr Programm besteht in der Ausarbeitung einer Verfassung, damit in Chiapas eine neue Verfassung verabschiedet werden kann. Dies wird ein wichtiger Impuls sein, um die mexikanische Verfassung zu ändern. Denn die Dinge, die sich hier in Chiapas ändern müssen, werden über Chiapas hinaus wichtig sein. Beispielsweise die Anerkennung der Ethnien als konstituierender Bestandteil der nationalen Realität und nicht als marginale Gruppen, die man respektieren muß. Der Kursverfall des Peso wird die indigene Bevölkerung besonders hart treffen, denn trotz Subsistenzproduktion sind sie doch auf Kredite angewiesen. Kredite, die jetzt unter erschwerten Bedingungen zurückzuzahlen sind. Denn an stabile Devisen gelangen in Chiapas nur die Viehzüchter, die in die USA exportieren und Hotelbesitzer, die vom Tourismus profitieren.
Am 15. Januar trafen sich erstmals seit den gescheiterten Gesprächen vom vergangenen März wieder VertreterInnen der Regierung und der EZLN. Innenminister Esteban Moctezuma traf auf dem Territorium der EZLN mit drei Repräsentanten der EZLN zusammen, um einen Ausweg aus der gegenwärtigen Gefahr eines erneut ausbrechenden Krieges zu finden. Zuvor hatten die Zapatistas den Waffenstillstand nochmals bis zum 18. Januar verlängert. Ergebnisse dieses Treffens wurden nicht bekanntgegeben, doch Folgetreffen sind vorgesehen. Zuvor schon hatte die EZLN nach der Besetzung mehrerer Ortschaften und dem anschließenden Eindringen von Regierungstruppen in das Territorium der Zapatistas den Waffenstillstand erst bis zum 6., dann nochmals bis zum 12. Januar verlängert. Mittlerweile verkündete die EZLN einen unbefristeten Waffenstillstand und strebt in Verhandlungen mit der Regierung einen dauerhaften Frieden an.


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Nein zur Gewalt gegen Frauen

Während das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) kon­statiert, daß in Nicaragua inzwischen über zwei Drittel aller Menschen unterhalb der Ar­mutsgrenze leben, beobachten Menschen­rechts- und Frauenorganisationen gleich­zeitig eine kontinuierliche Zunahme der Gewalt gegen Frauen und Kinder. “Nicaragua charakterisiert sich durch seine mit Gewalt beladene Geschichte. Die Dik­tatur, der lange Bürgerkrieg … und auch heute noch sind bewaffnete Aus­einandersetzungen und Entführungen gängige Mittel im Kampf gegen das herr­schende politische und ökonomi­sche Sy­stem. In den letzten vier Jahren hat zudem die Gewalt innerhalb der Familie spürbar zugenommen. Viele Männer haben ihre Arbeit verloren, sind frustriert, flüchten in den Alkohol, und zu Hause fangen sie dann an, ihre Frauen und Kinder zu schla­gen”, so Paola Zuniga, eine der Aktivi­stinnen vom “Frauennetz gegen Gewalt”.
Die weibliche Bevölkerung Nicaraguas hat hauptsächlich zwei Möglichkeiten, Schlagzeilen in der Presse zu machen: Entweder als Opfer vergewaltigt, er­mordet und zerstückelt oder – genauso sensatio­nalistisch – vermarktet als strahlende Ge­winnerin eines regiona­len, nationalen oder weltweiten Schön­heitswettbewerbes. We­der die Gewalt noch die Misswahlen ken­nen dabei eine untere Altersgrenze. Miss Baby aus Leon erscheint auf der sel­ben Seite der Tageszeitung wie ein gleichaltri­ges, mißhandeltes Mädchen. Umfassende Daten über das Ausmaß der Gewalt gibt es trotz der vielen Pressemeldun­gen nicht. Ein für Zen­tralamerika ein­maliges “Frauenkomissariat”, das nur mit weibli­chen Polizistinnen besetzt ist, re­gistriert nur einen Bruchteil der Ge­walttaten, die in der Hauptstadt be­gangen werden. Und obwohl viele an­dere Gewaltopfer sich an eines der über zwanzig landesweiten Frauenzen­tren wenden, ist die Zahl der tatsäch­lichen Übergriffe nur schwer zu schätzen.
Frauennetz
Im “Frauennetz gegen Gewalt” haben sich mehr als 20 Frauenzentren lose zusam­mengeschlossen. Das Netz ge­hört damit zu den wenigen Bewegun­gen Nicaraguas, die noch nicht von in­neren Streitigkeiten oder Finanznöten aufgerieben worden sind. An diesem Aktionsbündnis sind u.a. die Frauen­gesundheitszentren von Si Mu­jer und Ixchen, die Stiftungen Xochi­quetzal und Puntos de Encuentro und seit diesem Jahr sogar einige Frauenzen­tren von AMNLAE, der sandinisti­schen Frau­enorganisation, die bisher mit den unab­hängigen Frauen nicht zusammenarbeiten wollten, beteiligt. “Es werden jedes Jahr mehr Frauen, die wegen Mißhandlungen, Vergewalti­gungen oder Morddrohungen zu uns kommen. Dies ist für uns ein Indiz, daß die häusliche Gewalt stetig zu­nimmt. Gleichzeitig wissen aber jetzt auch immer mehr Frauen, wohin sie sich wenden kön­nen und daß sie dieses Unrecht nicht still­schweigend ertragen müssen. Das werten wir als einen Er­folg unserer Kampagne”, so Paola.

Das “Frauennetz gegen Gewalt” hat u.a. zwei Broschüren erarbeitet und veröffent­licht, die kostenlos landesweit mit Aufla­gen von über 50 000 Exem­plaren verteilt wurden. In der leicht verständlich ge­schriebenen Broschüre mit dem Titel “Was machen und wohin gehen im Falle von Gewalt?”, werden die verschiedenen Arten von emotio­naler, körperlicher und sexueller Ge­walt und der Gewaltzyklus innerhalb der Familie beschrieben. Ebenso wird auf anschauliche Weise die rechtli­che Situation der Frauen dargestellt. Ein Extrakapitel erläutert, was frau erwar­tet, wenn sie Anzeige erstattet. Indirekt ist das Gesetz dabei auch in Nicaragua noch im­mer auf der Seite des Mannes: Verläßt eine Frau das Haus, z.B. auf der Flucht vor ihrem Agressor, hat sie kaum Chan­cen, dorthin wieder zu­rückzukehren, da es üblicherweise auf den Namen des Mannes in das Grundbuch eingeschrieben ist. Ein Schwangerschaftsabbruch, selbst nach Vergewaltigung, ist in Nicaragua, wie in den meisten Ländern Lateinameri­kas, ille­gal. Vergewaltigung in der Ehe kennt das Gesetz nicht. Obwohl es im Strafgesetz­buch Artikel gibt, die bei körperlichen oder sexuellen Mißhand­lungen Bestrafung der Täter vorsehen, ist die Beweisführung schwierig, und es kommt letztlich nur zu wenigen Ver­urteilungen.
In der Broschüre “Seien wir anders – Nein zur Gewalt in der Straße, im Haus und im Bett”, wenden sich die Autorinnen an Ju­gendliche beiderlei Geschlechts und zei­gen, wie Gewalt­strukturen entstehen und wie sie abge­baut werden können. In einem Land, in dem die staatliche Sozial- und Bil­dungspolitik weit davon entfernt ist, ähnlich gutes didaktisches Material zu produzieren, sind die beiden Publika­tionen Mangelware und sehr begehrt. Sie werden im ganzen Land sowohl von Ein­zelpersonen als auch von Gruppen ge­nutzt, um Wege aus der Gewalt zu finden.
Interamerikanische Konvention als Druckmittel
Im Juni diesen Jahres hat Nicaragua zu­sammen mit Argentinien, Brasilien, Costa Rica, Honduras, der Dominika­nischen Republik und Venezuela bei der General­versammlung der latein­amerikanischen Staaten (OEA) eine interamerikanische Konvention zur Vorbeugung, Sanktionie­rung und Ver­nichtung der Gewalt gegen Frauen unterzeichnet. Die 25 Artikel umfas­sende Konvention bietet die rechtli­che Grundlage, um Frauen umfassend vor körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt im öffentlichen und im privaten Bereich zu schützen. Gleichzeitig zu einer veränderten Rechtspraxis zugun­sten der Frauen sieht die Konvention weiterhin vor, daß der Staat den Ge­waltopfern Hilfe anbieten muß. Dazu zählt die Einrichtung von Frauenhäu­sern und psychologischen Beratungs­stellen, die Anstellung speziell ge­schulten Personals in den Justizappa­raten, sowie die Bereitstellung staatli­cher Mittel zur Zahlung von Wieder­gutmachung. Die Aktivistinnen wissen, daß es noch Jahre dauern kann – wenn überhaupt – bis diese Konvention im Par­lament ratifiziert und in die Praxis umge­setzt wird. Dennoch läuft die Kampagne auf Hochtouren und die Frauenbewegung setzt auf den Trumpf der Konvention. Die Regierung Violeta Chamorros, deren Frauen- und Ge­sundheitspolitik seit der Weltbevölke­rungskonferenz vom Opus-Dei-Mit­glied und Erziehungsminister Hum­berto Belli diktiert wird, gerät da­durch zunehmend in Widersprüche.” Die Konvention stärkt uns den Rücken und ist ein wichtiges Instrument, um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen, da­her brauchen wir die 40 000 Unterschrif­ten”, so Norma Rivera, Schauspielerin und Feminstin.


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Die Ästhetik der Herrschaft

Eine Untersuchung der verblüffend leicht erreichten Veränderungen während der Amtszeit Menems muß zwei Aspekte be­rücksichtigen: Zum einen haben die kon­kreten Auswirkungen der sozioökonomi­schen Krisensituation weite Teile der ar­gentinischen Bevölkerung dazu gebracht, ein stark geschwächtes Parlament, eine bis in die Reihen des Obersten Gerichts der Regierung untertänige Justiz, sowie eine immer machtvollere Exekutive zu akzep­tieren. Zum anderen ändert sich das Wahrnehmungsverhalten von Politik durch “postmoderne” oder “post-politi­sche” Betrachtungsweisen, die eng mit dem Aufstieg des Fernsehens als politi­schem Medium verbunden sind.
Innenpolitische Befriedung
Menems Vorgänger Raúl Alfonsín war es weder gelungen, dem sich ständig ver­schlechternden Verhältnis zwischen Zivil­regierung und Militär entgegenzuwirken, noch die teilweise galoppierende Inflation in den Griff zu bekommen. Trotzdem schon unter Alfonsín die meisten Verfah­ren gegen die Verantwortlichen der Men­schenrechtsverletzungen unter der Militär­regierung eingestellt worden waren, stellte erst Menem eine innenpolitische Befrie­dung her, indem er auch die im Gefängnis sitzenden ehemaligen Junta-Mitglieder begnadigte. Die Strafverfolgung und die Verurteilung von denjenigen, die verant­wortlich für die brutalste Repression wa­ren, die Argentinien je erlebt hat, war ein überaus bedeutsamer Moment in der Wie­derherstellung eines Gerechtigkeitsideals und des kollektiven Erinnerungsvermö­gens an die Ereignisse unter der Diktatur gewesen. Der plötzliche Abbruch von Hunderten von Gerichtsverhandlungen und vor allem die Begnadigung von verurteil­ten und inhaftierten Militärs aber machten Menschenrechte zu einem Thema von ge­stern, einer Vergangenheit, die Menem hinter sich bringen wollte. Somit leitete er einen Kurs des “Vergessens” ein, von dem das Militär profitierte. Durch das von der Regierung betriebene Zuschlagen der Aktendeckel – die so mit jeder Form von Gerechtigkeitsempfinden brach – wurde die Instabilität des Verhältnisses zwischen Regierung und Militär deutlich verringert. Aber anderseits wurde damit auch die Er­innerung an die Ereignisse des letzten Jahrzehnts stark geschwächt. Die Begna­digungen beenden ein Thema, das nicht nur politisch oder rechtlich bedeut­sam ist, sondern auch eine herausragende morali­sche und kulturelle Relevanz hat.
Preisstabilität geht vor Sozialpolitik
Die Hyperinflation wurde erst einige Mo­nate nach Menems Amtsantritt durch Maßnahmen des Wirtschaftsministers Domingo Cavallo unter Kontrolle ge­bracht. Die wiederkehrenden Wellen von sprunghafter Geldentwertung hinterließen tiefe Eindrücke politischer wie auch kul­tureller Art in der argentinischen Bevölke­rung. Diese haben mittlerweile den Cha­rakter einer Besessenheit gewonnen, so daß öffentlich und privat fortlaufend wie­derholt wird, alles sei besser als eine Wie­derkehr der Inflation. Somit kam es unter weiten Teilen der Bevölkerung zur unaus­gesprochenen Übereinkunft, der Regie­rung Menem einen “Blankoscheck” unter der Bedingung auszustellen, daß eine mi­nimale Stabilität gewährleistet werde.
Auch heute sind die kulturellen Stempel der Inflation deutlich zu sehen. Zunächst setzte sich die Haltung durch, daß alle an­deren ökonomischen und sozialen Forde­rungen hinter der Erlangung von Preissta­bilität zurückstehen müßten, was sogar von den Hauptbetroffenen der neuen Wirtschaftspolitik geteilt wurde. Die Ge­sellschaft in ihrer Gesamtheit war bereit, den Preis zu zahlen, der von der Regie­rung als notwendig dargestellt wurde, um ein erneutes Abgleiten in eine chaotische wirtschaftliche und soziale Lage zu ver­hindern. Somit wurden die Ausführungen von Menem und Cavallo über die Vorzüge des freien Spiels der Marktkräfte und über die negativen Auswirkungen von Staats­eingriffen als Beschreibung einer Realität angenommen, die man zu akzeptieren habe. Die Wirtschaft wurde nicht mehr als Ausdruck veränderbarer sozialer Verhält­nisse gesehen, sondern wurde zu einem Naturereignis, dessen Auswirkungen man eben ertragen müsse.
Außerdem wurde der Bevölkerung einge­redet, man könne zur schnellen Wieder­herstellung von wirtschaftlicher Stabilität nicht alle institutionellen Formalitäten einhalten. Um die Inflation zu überwin­den, müsse man die Entscheidungsbefug­nisse in der Exekutive und nicht im Par­lament konzentrieren. Da man schnell und einheitlich handeln müsse, seien Debatten im Kongreß zu vermeiden, da sonst kost­bare Zeit zur Erlangung wirtschaftlicher Ordnung verloren ginge. So wurde die Rolle des Parlaments im politischen Pro­zeß als ein Hindernis für das Gemeinwohl dargestellt.
In diesem Zusammenhang bot sich Präsi­dent Menem der Rückgriff auf zwei Handlungsweisen. Zum einen konnte und kann er das Parlament durch das verfas­sungsrechtlich bedenkliche Mittel des Er­lassens von Dekreten übergehen. Diese Vorgehensweise hat die Exekutive zu einer legislativen Kraft gemacht und die Funktionen des Parlaments geschwächt. Zum anderen haben sich Menem wie auch Cavallo zu Vermittlern ihrer Politik in den Massenmedien gemacht und ein demago­gisches Verhältnis zur Öffentlichkeit her­gestellt. Der eine wurde so zum charisma­tischen Retter und der andere zum unfehl­baren Technokraten.
Populismus im nationalistischen Stil
Eine neue Form der Herrschaftsstrategie bildet sich heraus, in der sich Wirtschaft­liberalismus mit dem politischen Stil ver­mischt, den Präsident Menem bei den Pe­ronisten gelernt hat. 1989 erwarteten die Menschen vom neugewählten Menem, daß er ein populistisches Programm im nationalistischen Stil durchführen würde. Innerhalb einiger Monate allerdings über­zeugte er viele seiner Anhänger von der Notwendigkeit, einen scharfen Kurswech­sel hin zu einer neoliberalen und moneta­ristischen Politik zu verfolgen, die von Pe­ronisten bisher stets als Ausdruck oligar­chischer und anti-nationaler Haltung an­gesehen worden war. Diese ideologische Wandlung durchzog sowohl die Handlun­gen, als auch das Auftreten der Regierung.
Es ist erhellend, das öffentliche Auftreten Menems als populistischer Führer wäh­rend der Präsidentschaftskampagne 1988 mit seiner Präsenz bei einer Militärparade zwei Jahre später zu vergleichen, um Zei­chen einer einschneidenden kulturellen Neugestaltung zu verfolgen. Ein Wechsel wird deutlich, von Menem, dem Retter und der Hoffnung der Verarmten zu Menem, dem Garanten der Wiedereinset­zung der Mächtigen. Während des ersten Ereignisses stellte Menem alle Attribute eines plebejischen, massenmedialen Po­pulismus zur Schau, während die Symbole der Aussöhnung von Militär und Zivilre­gierung bei der Parade das Militär erhöh­ten und somit die “Operationen” krönten, die mit der Begnadigung begonnen hatten.
Hoffnungsträger der Armen
Die kulturelle Bedeutung des Wechsels von Kulisse und Aussage ist unschätzbar. Die Veranstaltung 1988 im Fußballstadion griff zurück auf die reichhaltigen Symbole der Geschichte des Peronismus. Menem erschien, ganz in weiß gekleidet, als Hoff­nungsträger, um vergangenes Unrecht wiedergutzumachen, als Anwalt der Nie­deren, als Politiker, der, aus dem Inneren des Landes kommend und verwurzelt im Herzen der Massenbewegung, die Bedürf­nisse und Sorgen der Menschen verstehen könne. Er versprach Umverteilung, Voll­beschäftigung und hohe Löhne in nächster Zukunft. Er benutzte Worte, die zur ideo­logischen Tradition seiner Zuhörerschaft paßten: Arbeit, Respekt, Würde, Zufrie­denheit, Gerechtigkeit. Unter Verwendung von populistischer Rhetorik versuchte er, den Platz einzunehmen, der seit dem Tod Perons verwaist ist: ein charismatischer Staatschef; eine Führungspersönlichkeit außerhalb des bürokratischen Apparates; ein Mann aus dem Landesinneren unter Politikern aus Buenos Aires; jemand mit Ehrfurcht vor den historischen Traditionen der peronistischen Bewegung.
Auf dieses Erscheinungsbild, das durch seine körperliche Präsenz im offenen Wahlkampfwagen “menemóvil” noch un­terstrichen wurde, gründete Menem seine Kandidatur und seine Wahlkampagne. Er bot dem politischen Theater seinen Körper an, der als fleischgewordene Verspre­chung seiner Botschaft sichtbar und be­rührbar war. Im Fußballstadion stieg er von Scheinwerferlicht umfangen in sein “menemóvil” – wie ein wahrer Held der volkstümlichen Erlösung, der mit der Ästhetik von Pop und Rock umzugehen weiß. In fluoreszierendem Weiß und von einem einzelnen Lichtstrahl erleuchtet, bewegte sich Menem durch das Stadion auf die Rednerbühne zu. In seiner Kam­pagne vermittelte Menem ständig das Ge­fühl von Nähe: man konnte ihn ankom­men oder vorbeigehen sehen; man konnte ihm folgen.
Aufwertung der Militärs
Während der Militärparade vom 9. Juli 1990 zeigte der neue Menem, nunmehr Präsident, daß sein kulturelles Zitieren des Peronismus der 50er Jahre nicht mehr war als eben ein Zitat, ein fragmentarisches Ereignis, welches in Anführungszeichen gesetzt werden muß.
Der Anblick der Militärparade war be­merkenswert: Die Streitkräfte breiteten sich durch die Straßen der Stadt aus, und auf einem Podium, umgeben vom ge­samten Kabinett, überschaute der Präsi­dent, unbeweglich, das Vorbeimarschieren der Truppeneinheiten. Auch wenn die Streitkräfte formell den Repräsentanten der Republik salutierten, so legitimierten eben jene Vertreter, mit starren Blicken die Parade fixierend, die umstrittenste In­stitution Argentiniens. Menem, der weiß, wie man kulturelle Ereignisse aufbauen muß, wandelte diese Parade in eine Aus­sage zugunsten der Wiederbegründung des Paktes zwischen Gesellschaft und Armee um.
Menem war sich bewußt, daß die Begna­digung alleine nicht ausreichte, da sie sich auf zunächst juristischem und nicht auf kulturellem Gebiet bewegte. Deswegen trug er dafür Sorge, daß die Aufwertung des Militärs in einem innerstädtischen, bedeutsamen Rahmen stattfand. Der noch immer bestehende Konflikt zwischen Ge­sellschaft und Militär benötigte eine alle­gorische Auflösung in Form einer fünf­stündigen Parade, die in einer langen und ermüdenden Übertragung die Fernsehbild­schirme entlangrollte. Die stete visuelle Wiederholung von Panzern, Flugzeugen und marschierenden Einheiten hatte eine tiefgreifende ideologische Bedeutung, da durch die immer gleichen Bilder nur eine Aussage wahrzunehmen war: Die Zeit des Debattierens über die Diktatur ist vorbei. Gleichzeitig wurde zudem deutlich, daß jedwede Diskussion über eine Zukunft, deren Gestalt bereits in ihren Umrissen feststand, ebenfalls nicht erwünscht ist. Die Versöhnung der Regierung Menem mit den Streitkräften nahm andere Allian­zen sowohl mit einheimischen Wirt­schaftskräften wie auch mit den USA vorweg, was sich in der Zusammenkunft von Truppenverbänden, Mitgliedern der Zivilregierung und ausländischen Bot­schaftern deutlich widerspiegelte.
Einfache Lösungen gesucht
In einem Land mit einer starken Prä­sidentschaft wie Argentinien spielt der Staatschef eine bedeutsame Rolle bezüg­lich der Diskursbestimmung. Menems Stil ist auf die Massenmedien zugeschnitten: er verachtet Ideen; er klammert komple­xere Fragen häufig aus; er folgt den Re­zepten für einfache Lösungen; er sieht auf nachdenkliche und beratschlagende Arten der politischen Entscheidungsfindung herab und er weist zynisch alle Werte der peronistischen Tradition zurück, die auf das Ideal einer gerechten Gesellschaft ab­zielen. Dieser Stil hat bedeutendes Ge­wicht in der gegenwärtigen kulturell-poli­tischen Krise.
Die Konsequenzen sind deshalb so be­denklich, weil heutzutage nur vorsichtig abwägende Politikgestaltung, die Unab­hängigkeit der drei Regierungsgewalten sowie das vollständige Funktionieren der politischen Institutionen einem präsiden­tialen Willen Paroli bieten könnten, der ganz und gar an den Interessen der Mäch­tigen ausgerichtet ist. Durch massenme­diale Moral, Ästhetik und Kultur wurden die Grundwerte einer gerechten und ko­operativen Gesellschaft durch einen Wirt­schaftdarwinismus ersetzt, der prägend für eine neue, individualistische Ellenbogen­kultur wirkt.
Audiovisuelle Hegemonie
Ein Aspekt der gegenwärtigen Auseinan­dersetzung zwischen Politik und Gesell­schaft ist die Schwächung der öffentlichen Kultur. Als politische Diskussionen, par­lamentarische Vertretung und andere Formen kollektiver Partizipation weniger bedeutsam wurden, besetzten die Medien und insbesondere das Fernsehen einen entscheidenden Platz zur Herstellung von Öffentlichkeit.
Heute ist es unmöglich, an Politik ohne Fernsehen zu denken. Diese Entwicklung gilt zwar für alle westlichen Länder, hat aber in Argentinien eine andere Bedeu­tung, da eine Bildungskrise sowie stei­gende Analphabetenraten mit einer audio­visuellen Hegemonie über die symboli­sche Dimension des Sozialgefüges zu­sammentreffen. Dieser Prozeß wird von privaten Fernsehkanälen vorangetrieben, die sich einzig an Profitmaximierung aus­richten. Im argentinischen Fernsehen gibt es kein starkes Gegengewicht zum Kapi­talismus: Der einzige Staatssender befin­det sich fest in Regierungshand, und es gibt keinerlei sonstige öffentliche Kanäle. Der Markt entscheidet derzeit alleine über Beschaffenheit, Ästhetik und Ideologie der audiovisuellen Sphäre.
In diesem Raum werden Politik und poli­tische Kultur geformt, lediglich in Reak­tion auf Verschiebungen und Interessen des kapitalistischen Marktes der symboli­schen Güter, ohne daß es Gegengewichte oder Ausgleichsmechanismen gäbe. Eine gemeinsame Kultur wird vorgespiegelt, die Darsteller verbindet, deren symboli­sche und tatsächliche Macht sehr unter­schiedlich sind. Dies mag zwar ein Mini­mum von kulturellem Zusammenhalt ga­rantieren, ist aber nicht im Sinne einer Gemeischaft verbindend.
Politik nach Mediendiktat
Der Diskurs der Massenmedien kompri­miert die Gesellschaft und gibt das Bild einer einheitlichen kulturellen Landschaft vor, in der Widersprüche in einem weit­läufigen Raum vieler Stimmen aufgelöst werden, die sich nicht unbedingt aufein­ander beziehen. Es ist nicht so, daß die Medien besonders demokratisch wären, sondern sie müssen einfach alle Diskurse mit einbeziehen, um einen umfassenden, universalen Raum präsentieren zu können. Dieser Medienästhetik gibt die Politik nach. Die Medien werden als Vertreter der Allgemeinheit akzeptiert. Die Politik nimmt sogar die formalen und rhetori­schen Limitierungen an, die ihnen die Medien auferlegen: Geschwindigkeit, Vielfalt, Redefluß – Eigenschaften, die häufig an eine politische Show oder an akustische Bruchstücke aus den USA er­innern.
Überzeugt von der Bedeutung der Medien bei der Herstellung von Öffentlichkeit, akzeptieren Politiker die Auffassung, daß Ideenaustausch, längere Debatten, kom­plizierte Ausführungen und die Darstel­lung tiefgründiger Positionen nicht fern­sehgerecht seien. Sie pflegen eine mediale Selbstdarstellung, die sowohl auf der Ver­einfachung ihrer Aussagen, wie auch auf der Illusion von Nähe und Vertrautheit ba­siert: “Wir sind nicht anders als ihr; wir repräsentieren euch und umgeben uns gleichzeitig mit Fernseh-Berühmtheiten. Wir vertreten die Menschen durch das, was ihnen am nächsten ist: der Fernseher im Wohnzimmer oder in der Küche.” Da­durch entsteht eine Armut an Meinungen, ein Ausdünnen immer komplexerer Pro­bleme und ein Bilderfluß, in dem das “hier und jetzt” auf Vergeßlichkeit baut. Um zu existieren, brauchen Politiker – die klassi­schen Vermittler zwischen Bürgern und Institutionen – das Fernsehen, um zum Großen Allumfassenden Vermittler zu werden. Sie sind Gefangene der Massen­medien.
Dieser Wechselwirkung ist schwer zu wi­derstehen. Politik wird durch den Nach­richtensprecher aufgebaut, die Nachrich­tensendungen gewichten die eingehenden Meldungen. Die Glaubwürdigkeit wird den politischen Köpfen genommen und nunmehr von den Chefetagen der Mas­senmedien aus verwaltet. Streitkultur wurde durch ein politisches Trugbild ver­drängt, welches nicht in politischen Insti­tutionen gedeiht, sondern in der Welt des Fernsehens beheimatet ist. Politik in den Massenmedien wird den Gesetzen unter­geordnet, die den audiovisuellen Fluß steuern: starker Eindruck, große Mengen undifferenzierter visueller Information und eine künstliche Schwarz/Weiß-Male­rei, die eher an eine Seifenoper als an ein öffentliches Forum erinnert.
Präsident Menem ist fraglos ein Meister der audiovisuellen Kommunikation. Sein Stil hat sich nahtlos dem Stil des Fernse­hens angepaßt. Er hat sein Image nicht durch Darlegung von Ideen begründet, was eine kritische Auseinandersetzung verschiedener Werte und Interessen er­laubt hätte, sondern durch eindrucksvolle Kurzauftritte, die vorsichtig aufeinander abgestimmt sind und in denen ein simples Freund/Feind-Schema präsentiert wird.
Politik braucht Ideen und Bilder
Obwohl es nicht realistisch ist, nostalgisch von der Rückkehr der Politikformen zu träumen, die vor der Kulturrevolution der Massenmedien existierten, ist es doch schwer zu akzeptieren, daß Politik nur in dem von den Medien erlaubten Rahmen besteht. Man kann sich Veränderungen in der Politik der Medien vorstellen. Zwei­fellos sind Fernsehnachrichten nicht über­all so schlecht wie in Argentinien, und müssen nicht alle Korrespondenten sensa­tionssüchtige Agitatoren sein. Es gibt kein mit dem Fernsehen verbundenes Schick­sal, dem man nicht entkommen könnte.
Das Erscheinungsbild der Politiker ent­steht nicht nur in den Medien. Wir können hoffen, daß Politiker ihrem Auftrag ge­recht werden: einem Bedürfnis Ausdruck zu geben, das über das eigene hinausgeht und an deren Ausformung sie mitarbeiten. Politik braucht heute sowohl intellektuelle Perfektion wie auch mediale Vermittlung. Sie braucht Ideen ebenso wie Bilder. Die Ästhetik der audiovisuellen Medien neigt zum Ausschluß von Diskursen mit einem intellektuellen Anstrich. Dieser Konflikt drückt ein tief verwurzeltes Verhältnis aus, das von Intellektuellen und Politikern gleichermaßen angenommen wurde.
Politiker, Intellektuelle und Fernsehkom­mentatoren beziehen zumeist eine neutrale und “beschreibende” Haltung, wenn sie sich mit den Konsequenzen der Hegemo­nie der Massenmedien über die symboli­sche Dimension des gesellschaftlichen Lebens befassen. Einige bezweifeln die negativen Auswirkungen des Fernsehens, da die Öffentlichkeit Nachrichten umdeute und so neue Inhalte produziere. Sie ver­gessen dabei allerdings, daß die Bevölke­rung sich nur begrenzt neue Inhalte schaf­fen kann, da sie mit dem begrenzten Mate­rial arbeiten muß, das ihnen das Fernsehen anbietet. Natürlich werden von dieser Seite keine größeren Veränderungen im Umgang mit den Medien vorgeschlagen und auch nicht befürchtet, daß die Pri­vatinteressen der Medienmogule aus­schlaggebend bei der Bildung der öffentli­chen Meinung sind.
Reformperspektiven
Dieser Meinung, die durch ihren Opti­mismus bezüglich der Ergebnisse des ka­pitalistischen Marktes gekennzeichnet ist, kann man kritische und reformerische Perspektiven entgegensetzen. Intellektu­elle – besonders linke Intellektuelle – kön­nen eine entscheidende Rolle spielen, in­dem sie neue Denkanstöße geben, wie Medien auf eine demokratische, nach­denkliche, phantasievolle und durch­schaubare Weise genutzt werden können. Sicher, diese neuen Ideen würden auf eine enorm konzentrierte Macht treffen. Doch neue ideologisch-kulturelle Perspektiven können ein befriedigendes Echo in den Medien finden, gerade weil diese verplichtet sind, alles von einer gewissen öffentlichen Bedeutung einzubeziehen.
Die jüngsten Wahlen in Argentinien vom April dieses Jahres haben gezeigt, daß man sich Elemente einer politischen Kul­tur vorstellen kann, die nicht zwangsläufig zu Gefangenen der audiovisuellen Ideolo­gie und Ästhetik werden. Die Mitte-Links-Partei Frente Grande wurde in diesen Wahlen zur drittstärksten Kraft. Die Kan­didaten benutzten die Medien mit dem Ziel, vielschichtigere Diskussionen einzu­führen. Die Frente Grande wurde auf so­ziale Bedürfnisse aufmerksam, die weder vom Peronismus noch vom Radikalismus vertreten wurden, und verstanden es, aus den zunehmenden Rufen nach Transpa­renz, Ehrlichkeit und Fähigkeit im politi­schen Leben Vorteile zu ziehen.
Die Situation ist besonders lehrreich. Ei­nerseits bemerkten diese neuen politischen Akteure – einige kamen aus der Men­schenrechtsbewegung, andere aus künstle­rischen und intellektuellen Bereichen – die Macht der audiovisuellen Medien in der Herstellung von Öffentlichkeit. Gleich­zeitig aber lernten sie, mit dem Fernsehen umzugehen, ohne sich allen seinen Ri­tualen zu unterwerfen. Sie schlugen sogar eine neue Art des politischen Diskurses im Fernsehen vor.
Ein anderer politischer Stil, ein bewußt kritischer Umgang mit den Medien ist somit möglich. Grundlage dafür muß die Erkenntnis sein, daß die bedingungslose Akzeptanz der schlechtesten Aspekte der jetzigen massenmedialen Kultur das Her­vortreten neuer Ideen verhindert.


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Ein neues Kapitel der Vergangen­heitsbewältigung

Wenige Wochen zuvor hatte Präsident Menem den Senat bereits dafür kritisiert, daß er die Beförderung zweier Marineof­fiziere abgelehnt hatte. Die beiden hatten sowohl ihre persönliche Beteiligung, als auch die der gesamten Marine an syste­matischen Folterungen in den siebziger Jahren, sowie an der Ermordung zweier französischer Nonnen zugegeben. Vor mehreren hundert Offizieren des Heeres wurde der Staatspräsident Anfang No­vember aber noch deutlicher: “Dank der Anwesenheit der Armee und der Polizei konnten wir den “Schmutzigen Krieg” gewinnen, der unsere Gesellschaft an den Rand der Auflösung getrieben hatte.”
Aufschrei der Empörung
Als Reaktion auf seine Äußerungen schloß die Menschenrechtsorganisation ADPH (Asamblea Permanente por los Derechos Humanos) Menem aus, mit der Begründung, er habe den Staatsterroris­mus gerechtfertigt. Prominente Mitglieder der ADPH sind unter anderem Ex-Präsi­dent Raúl Alfonsín und der Schriftsteller Ernesto Sábato, der die staatliche Unter­suchung der Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur als Präsident der Untersuchungskommission CONADEP geleitet hatte. “Die Tatsache daß diese Rechtfertigung der Diktatur von derjeni­gen Person ausgesprochen wurde, die das höchste Amt im Staat innehat, ist unüber­sehbar schwerwiegend” unterstreicht die Stellungnahme der ADPH. “Der Präsident hat so Entführungen, Folter, Attentate, Exil, Kindesraub und Verkauf derselben als Kriegsbeute und andere irrsinnige Vorkommnisse gerechtfertigt. Alle waren Teil der Machtaneignung durch Waffen­gewalt, die die Diktatur als System eta­blierte und aufrechterhielt sowie zuließ, daß der Staatsterrorismus das Land re­gierte.”
Auch die Familienangehörigen der über 20.000 Verschwundenen und ihre politi­schen und juristischen VertreterInnen protestierten gegen die Äußerungen Men­ems. “Damit hat er uns ins Gesicht ge­spuckt. Das ist wirklich sehr schwerwie­gend”, äußerte sich Julio César Strassera, Bundesstaatsanwalt bei den Prozessen ge­gen die Verantwortlichen der Menschen­rechtsverletzungen.
“Illegale Praktiken”
Menem warf der Menschenrechtsorgani­sation Böswilligkeit und bewußte Falsch­interpretation seiner Worte vor. “Die mich heute ausschließen, das sind dieselben, die damals die Subversion und die Guerilla unterstützten.” Er habe nicht die Folter ge­rechtfertigt, aber auf beiden Seiten des Krieges seien “illegale Prakti­ken” ange­wendet worden. Fünfzehn Jahre lang habe Argentinien Anschläge überall im Land erleben müssen, die sehr viele Tote, Ver­schwundene und Verletzte ver­ursacht hätten, “aber glücklicherweise kam es zur totalen Konfrontation gegen die Subver­sion aufgrund des Entschlusses der Präsi­dentin Perón”.
Er betonte, daß er sich als damaliger Gou­verneur der Provinz La Rioja hinter die Entscheidung der Regierung Isabel Perón gestellt habe, der Armee die “Vernichtung” der Guerilla zu befehlen.
Meinungswechsel half nicht
Der heutige Militärfreund Menem hatte zu Beginn der siebziger Jahre noch zu den VerteidigerInnen der peronistischen Gue­rilleros/as, speziell der Montoneros ge­hört, sogar noch nach seiner Wahl zum Gouverneur 1973. Als deutlich wurde, daß die Aktionen des rechtsperonistischen Flügels nicht nur im “Schmutzigen Krieg” gegen die Guerillaorganisationen bestan­den, der mittels Terrororganisationen wie der Triple A (Antikommunistische Allianz Argentiniens) geführt wurde, änderte Menem schnell seine Meinung Denn auch Gouverneure, die als Symphatisanten der peronistischen Guerilla und ihrer linken Jugendorganisationen galten, sollten aus dem Amt gejagt werden. Trotz seines Meinungswechsels wurde Menem weiter­hin als “Subversiver” be­zeichnet, so daß er schließlich verhaftet wurde und selbst fünf Jahre im Gefängnis verbrachte.
Ein Projekt der Zukunft
Carlos Menem hat schon bald nach sei­nem Amtsantritt 1989 versucht, das Ver­hältnis zwischen Staat und Militär durch immer weiterreichende Zugeständnisse an das Militär zu verbessern. Das wichtigste dieser Zugeständnisse war die Amnestie­rung der wenigen Militärs, die für ihre Menschenrechtsverletzungen im Gefäng­nis saßen.
Der jüngste Konflikt über Solderhöhungen konnte jedoch nicht zur Zufriedenheit der Militärs gelöst werden, da Wirtschaftsmi­nister Cavallo sich dem hartnäckig wider­setzte. Umso wichtiger ist es deshalb für die “Wiederbelebung des Paktes zwischen Staat und Militär”, welche Menem sich wünscht, die Militärs wenigstens in ihrem Selbstverständnis zu bestätigen. Dafür muß natürlich mit der Vergangenheit aufge­räumt werden. Für Menem gilt jetzt nur der Blick in die Zukunft. Um das zu illustrieren war ihm auch die Bibel nicht zu schade: Schließlich sei Ruth deshalb zur Salzsäule erstarrt, weil sie zurück ge­schaut habe.


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Was bleibt von den Intellektuellen?

Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz ver­loren hat. Heute konkurriert es mit Musik und Fernsehbildern – oder wird sogar gänzlich ersetzt.
Der Schwarze Zeitabschnitt
Immanuel Wallerstein behauptete kürz­lich, der “Schwarze Zeitabschnitt” habe begonnen, “der symbolisch betrachtet be­reits 1989 begann und mindestens 20 bis 25 Jahre dauern wird.” In unserer Zeit gebe es keinen gemeinsamen sozialen Diskurs mehr, so daß in naher Zu­kunft “die Menschen blind handeln wer­den.” Wallerstein ist gewiß nicht der Ein­zige, der meint, die Gegenwart sei verwir­rend und die Zukunft unvorhersehbar. In La­teinamerika tragen Jugendliche aus Rand­gruppen T-Shirts mit dem Aufdruck “sin futuro”. Diesen Slogan könnten sich auch die Intellektuellen zu eigen machen, von denen viele immer noch dem Ende der Utopie nachtrauern. Wenn die Unsi­cherheit in dieser Region besonders tief verwurzelt ist, dann vielleicht deshalb, weil Lateinamerika von der Kolonialzeit an ein ausgewählter Ort für die Verwirkli­chung utopischer Projekte war, so wie die Gründung von Vera Paz durch die Domi­nikaner im 16. Jahrhundert, die tolstoi­schen Zurück-aufs-Land-Utopien jener, die die europäische Industriali­sierung An­fang dieses Jahrhunderts ab­lehnten sowie die politischen Utopien der Guerillabewe­gungen in den letzten Jahren. Die utopi­sche Zukunftsvision ist jedoch ver­schwunden. Wenn es überhaupt eine Vor­stellung von der Zukunft gibt, dann gleicht sie einer Stadt in Trümmern so wie in dem Roman “Maytas Gechichte” des peruani­schen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, oder bestenfalls der gemäßigten sozial­demo­kratischen Form der “Utopía Desar­ma­da” des mexikani­schen Politik­wissen­schaft­lers Jorge Castañeda.
Das Projekt Kuba
Die utopische Vision wurde von einer lite­rarisch gebildeten Intelligenz aufrechter­halten, deren Medium die Schrift ist. Diese Intellektuellen formten die Identität von Nationen. Sie waren es, die als kriti­sches Bewußtsein der Gesellschaft agier­ten, als Stimme der Unterdrückten, als Lehrer der künftigen Generationen. Sie standen nicht nur in hohem Ansehen, son­dern hatten auch von sich selbst eine hohe Meinung. Kubas Unabhängigkeitsheld José Martí gilt noch immer als “der Apo­stel”. Der Mexikaner José Vasconcelos verglich sich selbst mit Moses, und für den nicaraguanischen Dichter Rubén Darío waren Dichter die “Bollwerke Got­tes”. Dieses Ansehen muß im Zusammen­hang von Gesellschaften mit einer gerin­gen Lesefähigkeit verstan­den werden. Die Intellektuellen traten nicht nur als Haupt­akteure auf der öffent­lichen Bühne hervor, sondern auch – zu­mindest in der öffentli­chen Wahrneh­mung- als Vermittler für die unteren Klassen und Anwälte sozialer Verände­rung.
Die kubanische Revolution war sowohl ein Ereignis von kultureller als auch poli­tischer Bedeutung für die lateinamerikani­sche Intelligenz. Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Julio Cortázar und Mario Vargas Llosa gehörten zu ihren ersten Anhängern. Länger als ein Jahrzehnt hatte Kuba die politische Kultur in der Hemi­sphäre mitgestaltet. In den späten sechzi­ger Jahren wurde die Definition von re­volutionärem Schreiben immer enger ge­faßt. Die Homosexuellenverfolgung in Kuba sowie die Maßregelung und spätere Gefangenschaft des Dichters Heberto Pa­dilla Anfang der 70er Jahre spalteten die Autoren in jene, die wie García Márquez weiterhin die Revolution unter­stützten, und jene, die wie Vargas Llosa zu deren Kritikern wurden.
Die herrschende Unsicherheit
Aber die Desillusionierung bezüglich des Sozialismus, die Wahlniederlage der San­dinisten und der Zusammenbruch des Kommunismus erklären die herrschende Unsicherheit nicht vollständig. Die Werke der Gegenwartsautoren in Süd- und Zen­tralamerika spiegeln auch die traumati­schen Nachwirkungen repressiver Militär­regierungen und Bürgerkriege, gefolgt von einer neuen Ära der Modernisierung unter der Ägide des Neoliberalismus wider, die extreme Armut und schnelle technologi­sche Entwicklung vermischt hat. Diese Modernisierung macht sich besonders durch dramatische Veränderungen der Stadt bemerkbar. Die sonst so vertrauten Stadtlandschaften mit ihren Kneipen, zentral gelegenen Theatern und öffentli­chen Plätzen haben sich in einen urbanen Alptraum verwandelt. Kulturelle Orte wurden praktisch vernichtet. Zuhause Vi­deos anzusehen wird als sicherer und praktischer empfunden als abends in den gefährlichen Stadtzentren auszugehen.
Überall im heutigen Lateinamerika ver­spürt man die schwindende Bedeutung der Literatur und ihre Verdrängung aus den öffentlichen Diskursen. Diese Verdrän­gung wird von der wachsenden Pri­vatisierung der Kultur noch verschärft. Zuneh­mend werden kulturelle Institutio­nen wie Galerien, Musikunternehmen und Fern­sehkanäle von Privatunternehmern ge­führt. Sogar die nationalen Universitä­ten, traditionell Zentren politischer Akti­vitäten, konkurrieren heute mit un­zähligen privaten Universitäten, die in der Mehr­zahl eher auf Wirtschaft denn auf Kultur ausgerichtet sind. In Mexiko, wo die Kultur immer unter starker staatlicher Schirmherrschaft stand, ist der Fernseh­magnat Emilio Azcárraga, der Telenove­las in so entfernten Ländern wie Rußland und China vertreibt, heute zu einem der füh­renden Akteure der Kunstwelt gewor­den.
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine neue Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit der visuellen und oralen Kultur oder wird so­gar gänzlich abgelöst. Gleichzeitig hat die industrielle Herstellung volkstümlicher Kunst – wie Kunsthandwerk und regionale Musik – eingesetzt. Hinzu kommt die wachsende Massenkulturindustrie, vor al­lem die des Fernsehens. Der argentini­sche Kulturkritiker Nestor García Canclini be­zeichnet die Neuordnung des kulturel­len Terrains als “Rekonversion”. Im Zeit­alter von High-tech erfährt Kultur einen Be­deutungswandel. Ein hohes Niveau an Le­sefähigkeit ist nicht länger unbedingte Voraussetzung für Modernität. Nicht das gedruckte Wort, sondern Musik und Fern­sehbilder werden heute erforscht, wenn es um lateinamerikanische Identität geht. Sie sind zum Inbegriff der Modernität gewor­den.
Die Moderne ist nicht kreativ
Die Kritik der mexikanischen Literatin Elena Poniatowska, die in der kürzlich er­schienenen Ausgabe des Magazins Nexos den Verlust der goldenen Jahre der Volks­kunst beklagte, hört sich in diesem Zu­sammenhang anachronistisch an. “Heute produzieren sie in Unmengen San Martín de Porras, die alle nach demselben Muster geschaffen sind”, schreibt sie. “Die Jesus­kinder, die von den Gemeinden ein­gekleidet werden, die kleinen Babies, das heilige Kind von Atocha: sie alle hatten ihre eigene Persönlichkeit. Heute tragen sie den gleichen Hut, die gleichen Sanda­len und haben die gleichen Kürbisflaschen und Körbe. Populäre religiöse Kunst ist übel. Modernität ist nicht kreativ.”
Obwohl diese Furcht vor der Homogeni­sierung und Massenherstellung seit dem neunzehnten Jahrhundert ein Leitmotiv der Schriftsteller war, sagen uns heute die postmodernen Kulturkritiker, wir sollten diese Authentizität vergessen. Sie be­haupten, daß Fernsehen, Massenmarke­ting und neue Technologien die Kultur demo­kratisieren, die Grenzen zwischen “oben” und “unten” abbauen, und Hybrid­kreuzungen (wie zum Beispiel Salsa) möglich machen, was zur Bereicherung der lateinamerikanischen Kultur beiträgt. Ihrer Meinung nach war die lateinameri­kanische Kultur schon immer heterogen, hat sich immer aller Repertoires bedient und kann deshalb für sich beanspruchen, postmodern avant-la-lettre zu sein. Gegen die Position vom Sterben der lokalen Kulturen setzt García Canclini das Argu­ment, der Markt rege zu Neuerungen in der Kunstgestaltung an und ermögliche es der Kultur, ein neues Publikum zu errei­chen. Der Markt zwinge die Menschen, eine neue politische Symbolik und eine neue Form der sozialen Aktion zu erfin­den. Als Beispiel für das letztere verweist er auf den maskierten Superbarrio aus Mexiko-Stadt, dessen Kostüm sowohl an Supermann als auch an das kitschige Aus­sehen der Ringer erinnert und Fürsprecher der marginalisierten Bevölkerungsschich­ten ist. Eines der wichtigsten Merkmale des Aufstands in Chiapas war die Art und Weise, wie die Rebellen sich der moder­nen Technologie, besonders e-mail, Fax und Video bedient haben, um ihre Forde­rungen zu übermitteln.
Kulturelles Rückspiel Süd-Nord
Selbst wenn Technologien und Informa­tionen vorwiegend von Nord nach Süd fließen, verweisen viele Kritiker darauf, daß bestimmte Merkmale postmoderner Kultur – wie Persiflage, Zitat und Parodie – schon immer charakteristisch für latein­amerikanische Kultur gewesen seien. Was früher einmal als “Kulturimpe­rialismus” galt, in dem Lateinamerika der passive Abnehmer von Hollywood- und Mickey-Maus-Filmen war, wird nun als kulturelles Rückspiel betrachtet, bei dem importierte Technolo­gien und Moden be­nutzt werden, um Neues zu schaffen. Die Modernisierung des 19. Jahrhunderts, die eine rassisch heterogene Bevölkerung in die großen Städte zog, hat nicht nur die Erneuerung in der Kunst stimuliert, son­dern ließ auch einen Stil entstehen, der heute gern als “Latin” bezeichnet wird: eine Mischung aus afrikanischen, europäi­schen und indi­genen Einflüssen. Die eta­blierte Kultur hat sich später Tango, Bo­lero und Samba, die ihre Ursprünge in den ärmeren Stadtvier­teln haben, als die Ver­körperung des “Lateinamerikanischen” zu eigen gemacht. Romane wie “Der schön­ste Tango der Welt” des Argentiniers Ma­nuel Puig und “La importancia de llamarse Daniel Santos” (Wie wichtig es ist, Daniel Santos zu heißen) des puertoricanischen Autors Luis Rafael Sánchez, die Essays von Carlos Monsivais über Agustín Lara in “Lost Love” und Filme wie “Danzón” von der Mexikanerin Marla Novaro oder der des Argentiniers Fernando Solanas “Tangos: Das Exil Gardels” erkunden die Wege, wie populäre Lyrik, Tanz und Rhythmus eine gemeinsame regionale Sprache bilden, die soziale Gruppen und individuelle Verhältnisse miteinander ver­bindet.
Rockmusik und kultureller Wandel
Rockmusik ist ein hervorstechendes Bei­spiel für den kulturellen Wandel. Trotz­dem sie vom Zentrum der Macht ausging und Teil einer internationalen Musikindu­strie ist, wurde Rock zur Vorhut des Wi­derstandes gegen strenge Moral und Fa­milienhierarchien. Die südamerikani­schen Militärregierungen machten die Rock­musik zum Mittel einer Wider­standsbewegung, indem sie Musikmaga­zine verboten und junge Leute, die die falsche Kleidung trugen, verhaften ließen. In ganz Lateinamerika greift die Rock­musik den Autoritarismus der älteren Ge­neration, aber auch die idealistische Nost­algie der Linken an. Wie im Fall von Samba oder Tango kann man Rockmusik in unterschiedlicher Weise verstehen. Der enge Begriff des “rock nacional”, der in Argentinien benutzt wird, symbolisiert den Versuch, die Musik von ihren “satanischen” Ursprüngen in den USA zu säubern. Gerade während des Malvi­nen/Falkland-Kriegs organisierte die Mi­litärregierung ein Rockkonzert der Natio­nalen Solidarität, um so um die Unterstüt­zung der Jugend zu werben. Ebenso machte es Ex-Präsident Fernando Collor de Mello. Er ließ in Brasilien ein großes Rockkonzert veranstalten, um sei­nen neo­liberalen Sieg zu feiern. Auf der anderen Seite machen sich die marginali­sierten Gruppen der lateinamerikanischen Gesell­schaften Punk und Funk zu eigen.
Merengue: Rhythmus für die Füße, Botschaft für den Kopf
Popularität und Populismus hängen in Lateinamerika eng zusammen. Als der aus der dominikanischen Republik stammende Musiker Juan Luis Guerra in Lima ein Konzert gab, wurde es mit einem Fußball­spiel oder dem Besuch des Papstes vergli­chen. Wie der Salsa-Sänger Rubén Blades nutzte Guerra seine Popularität, um auf Armut und andere soziale Mißstände hin­zuweisen. Die Titel seiner Lieder sprechen für sich: “El costo de la vida” (Die Le­benshaltungskosten), “Si saliera petró­leo” (Wenn Erdöl sprudeln würde) und “Ojalá que llueva café” (Hoffentlich reg­net es Kaffee). Er beschreibt Merengue als einen Rhythmus für die Füße und eine Botschaft für den Kopf und meint, daß seine Texte von den Leiden des Konti­nents handeln. Bezeichnenderweise kan­didierte nicht nur ein Schriftsteller, wie der neoliberale Var­gas Llosa für die Prä­sidentschaft, sondern auch der progressive Musiker Blades.
Die gegenwärtige Verkünderin des “Lateinamerikanischen” ist die kubanisch-amerikanische Salsa-Sängerin Celia Cruz und nicht Rodó oder Bolívar. In “Pasaporte Latinoamericano” singt sie von “einem Volk Lateinamerikas”, das in der gemeinsamen Sprache des Sambas, Gua­rachas und der Salsa kommuniziert. Es sind Musiker wie Rubén Blades, der Bra­silianer Caetano Veloso und Juan Luis Guerra, die Themen wie soziale Gerech­tigkeit aufnehmen und – im Falle von Ve­loso – das Verhältnis zwischen Kon­sumkultur und “Authentizität” unter­suchen.
An der Musik wird deutlich, daß zwischen Tradition und Moderne, einheimischer Reinheit und aufgenommener Importe nicht mehr klar unterschieden werden kann. Musik formt die Konsumkultur, sie konzentriert Wünsche und Erwartungen in unberechenbarer Weise – einer Weise, die die literarische Intelligenz nicht unbedingt vermitteln kann.
Der mächtige Rivale des geschriebenen Wortes
Der andere mächtige Rivale des gedruck­ten Wortes ist das Fernsehen, dessen Ein­fluß auf das Publikum viel größer ist als der eines Buches oder einer Zeitschrift. Der mäßige Erfolg als Gastgeber von Fernsehshows von vielen bekannten Schriftstellern, wie Vargas Llosa, Octavio Paz und José Arreola, ist also kaum ver­wunderlich. In Chile macht der Roman- und Stückeschreiber Antonio Skármeta Literatur durch das Fernsehen populär. Durch zahlreiche Fernsehauftritte wurde Carlos Fuentes bis in die Vereinig­ten Staaten hinein zu einem der Sprecher für Lateinamerika.
García Márquez ist sich der Tatsache be­wußt, daß die durchschnittliche Teleno­vela ein viel größeres Publikum erreicht als die gesamte Leserschaft all seiner Romane. Márquez: “An einem einzigen Abend kann eine Episode allein in Ko­lumbien 10 bis 15 Million Menschen er­reichen. Ich habe noch immer nicht 10 bis 15 Millionen Exemplare meiner Bücher verkauft. Werdas Publikum erreichen will, findet Telenovelas selbstverständlich at­traktiv. Dieses Medium ist ein Mittel zur massenhaften Verbreitung der eigenen Ideen und muß daher genutzt werden. In einer Telenovela verfüge ich über diesel­ben Ausdrucksmöglichkeiten wie in der Literatur und im Film. Da bin ich absolut sicher.” Brasili­anische Produzenten über­nehmen häufig Romane für das Fernse­hen. Und das Melodrama als Standbein des populären Theaters ist jetzt wieder­entdeckt worden, wobei ein Typ von Tele­novelas produziert wird, der die US-Pro­dukte auf dem Weltmarkt übertrifft.
Während das gedruckte Wort früher Aus­druck der Modernität und der Bildung ei­nes nationalen Bewußtseins war, ist das Fernsehen der Wegweiser heutiger glo­baler Kultur geworden. Wie der argentini­sche Politikwissenschaftler Oscar Landi bemerkt, hat das Fernsehen eine zweideu­tige Wirkung auf die Kultur. Es “kolonisiert und zerstört unsere vorherige Lebensweise”, aber es “setzt uns auch in Verbindung mit der Welt und bringt uns dazu, Dinge zu verstehen, die wir ohne Fernsehen nie erfahren hätten.” Der frü­here Anspruch der Literatur, Einblicke in die tiefen Untertöne der Geschichte und der Natur der Sprache zu gewähren, ist heutzutage zur Domäne des Fernsehens geworden.
Aber der Gebrauch des Fernsehens ist in der jüngsten Vergangenheit zu eng mit autoritären oder Militärregierungen ver­knüpft gewesen. Es war in einigen Län­dern in ideologischer Hinsicht zu stark mit dem Staat verbunden, als daß die literari­sche Intelligenz in Bezug auf seine päd­agogischen Möglichkeiten optimistisch sein könnte.
Die argentinische Kritikerin Beatriz Sarlo führt aus, daß der öffentliche Raum, die einstige Domäne der Intelligenz, jetzt von den Massenmedien beansprucht wird. Die Parameter einer sozialen Debatte in einer massenmedialen Gesellschaft werden eher von impliziten als von expliziten Regeln bestimmt.
Marktkonformes Schreiben
Die Literatur ist außerdem in zunehmen­den Maße selbst massenmedialisiert. Mit der Globalisierung der Buchindustrie, mit Übersetzungen und Bestsellern sind die Anforderungen an Verallgemeinerbarkeit und Übersetzbarkeit gestiegen. Der Markt verhält sich nicht tolerant gegenüber den literarischen Werken, die zu experimentell oder “nicht übersetzbar” sind. Manche Schriftsteller bemühen sich jetzt um Kommerzialisierung, anstatt sie abzuleh­nen. Beispielsweise ist es offensichtlich, daß “Bittersüße Schokolade” der mexika­nischen Schriftstellerin Laura Esquivel geschrieben wurde, um einen breiten Markt zu erreichen. Auch der älteren Schriftsteller-Generation ist die Marktfä­higkeit nicht gleichgültig. In diesem Sinne ist es interessant, Vargas Llosas im Plau­derton geschriebenen “El Pez en el Agua” (Der Fisch im Wasser, 1993) mit seinem tiefschichtigen politischen Roman “Gespräch in der Kathedrale” (1969) oder den klaren Erzählstil von García Márquez in “Der General in seinem Labyrinth” (1989) mit dem barocken und verschlun­genen “Herbst des Patri­archen” (1975) zu vergleichen. Experimentelles Schreiben, das früher von kleinen Verlagsunterneh­men wie Joaquín Mortiz und Sudameri­cana gefördert wurde, ist jetzt auf der Strecke geblieben.
Rütteln an Tabus
Doch trotzdem floriert die Literatur – zu­mindest oberflächlich betrachtet. Es gibt eine Fülle neuer Schriftsteller, junger Dichter und Künstler, die in jedem denk­baren Stil, über jedes denkbare Thema schreiben. Literatur wird noch immer die Aufgabe zugewiesen, diejenigen zu ver­treten, die früher schon von der Staatsbür­gerschaft der “ciudad letrada” (Stadt der Schriftgelehrten) ausgeschlossen waren – wie Angel Rama sie nannte: Indígenas, Schwarze, Mulatten, Frauen und Homo­sexuelle. Die Literatur stellt sich noch immer gegen die offizielle Geschichts­schreibung, untersucht die Bedeutung des Exils und der Erinnerung und rüttelt an den Tabus, die der weiblichen Sexualität auferlegt wurden.
Zu einer Zeit, da die Grenzen zwischen den Gattungen und die Unterschiede zwi­schen oben und unten, Fiktion und Reali­tät verschwimmen, ist es schwierig, die Besonderheit der Literatur in ihrer oppo­sitionellen Bedeutung zu verteidigen. Octavio Paz hat vor kurzem behauptet, daß “die Lyrik eine Kunst an den Rändern der Gesellschaft geworden ist. Sie ist die andere Stimme. Sie lebt in den Katakom­ben, aber sie wird nicht verschwinden.” Nach Paz erlaubt dieser marginalisierte Status der “klandestinen Poesie” als “Kritik an der Konsumgesellschaft” zu handeln. Es ist schon eine Ironie, wenn Paz, dessen Achtung vor der abstrakten Frei­heit ihn oft als Freiheitlich-Konserva­tiven erscheinen ließ, sich nun in einer Allianz mit einigen jungen Kritikern in Opposition gegen die Kulturindustrie und den Markt wiederfindet.
Die Versuchung der Konsumgesellschaft
Was der Literatur in der Vergangenheit zu ihrem besonderen Anspruch – der Kon­sumgesellschaft zu widerstehen – verhol­fen hat, hatte mit der Natur des Lesens zu tun. Avantgardistische und modernistische Literatur lenkten die Aufmerksamkeit auf die Sprache, erforderten langsames und sorgsames Lesen und verlangten das Ent­schlüsseln von Kodes sowie das Lesen zwischen den Zeilen. Es galt als Autono­mie des literarischen Textes, wenn darin schnöde Populärität und All­gemeinverständlichkeit abgelehnt wurden. Durch diese Autonomie sollte die Oppo­sition zu sozialen Konventionen deutlich werden. Noch in den 60er Jahren konnte getrost behauptet werden, Literatur sei re­volutionär und der Schriftsteller führe Guerillakämpfe mit seinem Kugelschrei­ber.
Was für heutige Schriftsteller problema­tisch ist, ist nicht nur die Verlockung der Popularität, sondern die schnelle Verein­nahmung und Verwandlung des früher schockierenden oder innovativen Schrei­bens in Trend oder Stil. “Magischer Re­alismus” war einst ein Wegweiser für la­teinamerikanische Originalität und ist heute nur noch ein Markenname für Exo­tik. Es ist kein Wunder, daß für linke Kri­tiker die politischen und ethischen Funk­tionen der Literatur schon lange von der Zeugnisliteratur erfüllt wird.
Vielleicht das größte Problem für die Kri­tiker ist das der Wertung. In der heutigen Kultur scheint kritisches Urteils­vermögen im Hinblick auf gute und schlechte Kunst verschwunden zu sein. In einer Diskussion über Kunst, die auch auf Literatur bezo­gen werden kann, kritisiert Beatriz Sarlo die Verbreitung des “kulturellen Populis­mus” der Sozialkritik, der jede Kunst auf ihre Funktion redu­ziere. “In Anbetracht der Relativierung der Werte und des Feh­lens anderer Unter­scheidungskriterien wird der Markt als der ideale Raum für Pluralismus betrachtet.” Anstatt neutral zu bleiben, könnte mit dem Markt argumen­tiert werden, der Publikum und Künstler beeinflußt. Der Markt übt die absolute Macht aus, besonders über die künstleri­schen Produkte, die mit der Kulturindu­strie verbunden sind, und ver­drängt so die hierarchische Autorität der Fachleute tra­ditioneller Prägung. Hierar­chien stürzen ist eine Sache, aber kriti­sches Urteilsver­mögen zurückzuweisen, ist Sarlos Mei­nung nach eben schlimmer, weil der Ver­zicht, über Werte zu diskutie­ren, zur pas­siven Zusammenarbeit mit neoliberalen Demokratiemodellen führt und die Kunst ihres Widerstandcharakters beraubt.
Die Wiederaufwertung des Ästhetischen
Es ist gewiß nicht zufällig, daß die Forde­rung nach Wiederaufwertung des Ästheti­schen gerade im Zusammenhang mit Re­demokratisierung und angesichts wach­sender sozialer Unterschiede erhoben wird. Massenkultur und Neoliberalismus reduzieren das Widerstandspotential der Ästhetik. Andererseits kann Sarlos Ver­teidigung der ästhetischen Werte nicht so einfach aus der elitären Kultur enträtselt werden, wie sie dies gehofft hatte.
Für literarische Praktiker ist nicht das kri­tische Urteilsvermögen das entscheidende Problem, sondern die Schwierigkeit, den Versuchungen der Konsumwelt zu trot­zen. Diamela Eltit zum Beispiel, die mit dem Schreiben während der Pinochet-Diktatur begann, empfindet es als ihre Aufgabe, als Schriftstellerin “etwas ins Schreiben zu stecken, was sich Waren und Zeichen widersetzt.”
Vom Apostel zum Nomaden
Dies könnte sich anhören wie die Rück­kehr zu avantgardistischen Programmen, würde Eltit in ihren Romanen nicht die totale Wiedergestaltung von Geschlecht und Sexualität auf sich nehmen – etwas, das die Avantgarde als selbstverständlich betrachtet hatte. Eltit nutzt ein traditio­nelles Genre – in diesem Fall den Roman – obwohl sie seine Syntax völlig verändert. Interessanterweise ist dies eine literarische Gattung, die die Stimmung der Zeit sehr gut gestaltet, ohne sich dem Zeitgeist zu unterwerfen: “eine Chronik”, die durch das liberalistische Netz hindurchschlüpft. Auch das Essay hat sich verändert: es be­freit sich von pedantischem Anliegen und umfaßt das Phantastische.
Die Beispiele ähneln sich, indem sie sich weigern, die Grenzen der Gattung oder den klaren Unterschied zwischen Fiktion und Tatsachen zu respektieren. Gleichzei­tig betonen sie die Ausdrucksfähigkeit der Sprache als die zentrale Metapher für Künstler und für das Alltagsleben allge­mein.
Dies sind natürlich willkürlich gewählte Beispiele, aber sie zeigen doch die grundlegende Verschiebung vom Schrift­steller als Apostel zum Schriftsteller als Teil nomadische Randgruppen – was wie­derum die Ära der internationale Bennet­ton-Epoche und den E-mail-Universalis­mus kennzeichnet. Die Schlußfolgerung ist nicht so widersprüchlich wie sie er­scheinen mag: In der Epoche globaler In­formationsflüsse und Netzwerke sind die begrenzten lokalen Zusammenhänge zu den Orten mit der größten Intensität ge­worden.


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Öko-Zuschüsse als entwicklungspolitische Neuerung

Was ist von der noch relativ jungen GEF zu halten? Handelt es sich tatsächlich nur um ein weiteres Kreditangebot im Menü von IWF und Weltbank, wodurch sich die beiden einen grünen Touch geben können? Oder steckt diesmal vielleicht mehr als nur ein Lippenbekenntnis dahin­ter?
Wie alles anfing
Die GEF wurde 1990 auf Initiative der deutschen und französischen Regierung in erstaunlichem Tempo eingerichtet: bereits 1992 erfolgten die ersten Auszahlungen. Sie hat – trotz des IWF-typischen Begriffs “Fazilität” – nichts mit diesem zu tun; da­für aber ist die Weltbank als Durchfüh­rungsorganisation beteiligt – neben dem Nuten Nations Development Pro­gramme (UNDP) und dem United Nations Environment Programme (UNEP). Diese Konstellation ist grundsätzlich neu, da ge­rade Weltbank und UNDP ansonsten in vielen Bereichen konsequent aneinander vorbeiarbeiten. Zwar sind auch bei der GEF die Aufgaben nach dem üblichen Muster – Weltbank für finanzielle und UNDP für technische Projekte – getrennt, immerhin aber unter einem Dach zusam­mengefaßt. Die UNEP darf in einer Ne­benrolle einen Wis­sen­schaftlichen und Tech­nischen Bei­rat einsetzen, der die Kriterien für die Mit­tel­vergabe er­ar­bei­tet. Diese werden als reine Zu­schüsse, also nicht als Kredite, vergeben.
Da in den meisten Fällen staatliche Orga­nisationen die Empfänger dieser GEF-Zu­schüsse sind, wurde von Anfang an ein Programm für Klein(st)zuschüsse über die UNDP für Projekte auf kommunaler, nichtstaatlicher Ebene als Gegengewicht etabliert. 10-15 Mio. US-Dollar bei Pro­jekten in über 30 Ländern machen aus diesem Programmteil aber höchstens ein Fliegengewicht.
In der Pilotphase wurden insgesamt 750 Mio. US-Dollar für die genannten Berei­che verwendet, davon allein 42 Prozent für die Erhaltung der Artenvielfalt. (Zum Ver­gleich: Die Weltbank zahlt jährlich ca. 20 Mrd. US-Dollar aus.) Dieser Topf ist für Lateinamerika besonders interessant, da aus ihm die meisten Gelder nach Latein­amerika fließen, allen voran nach Mexiko und Brasilien mit jeweils 30 Mio. US-Dollar.
Kritische Stimmen und Reform
Die GEF wurde seit ihrer Einrichtung von vielen Seiten scharf kritisiert, insbeson­dere auch von internationalen Natur­schutzorganisationen, die über die GEF Zuschüsse erhalten. Eine 1993 vom World Wildlife Fonds veröffentlichte Studie von über 100 Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Lateinamerika, Afrika und Asien kommt zu den folgenden Ergebnis­sen:
– Die GEF wurde von einigen wenigen Nord-Ländern unter Mißachtung jeglicher Süd-Perspektive (Umweltprobleme durch Armut, Bevölkerungsentwicklung, Ver­schuldung und mangelhaften Zugang zu Ressourcen) gegründet. Mit dem Stichwort “global” versuchen die Länder des Nor­dens in die Politik der Entwicklungsländer hineinzuregieren, wobei sie gleichzeitig von ihrer Verantwortung ablenken wollen.
– Die Weltbank, UNDP und UNEP sind für die GEF-Aufgaben ungeeignet. Die Bank hat bisher grundsätzlich soziale und Umweltaspekte von Projekten beflissent­lich übersehen und ist nicht gerade für Transparenz und demokratische Konsul­tationen bekannt. UNDP und UNEP sind zu bürokratisch, um effektiv arbeiten zu können.
– Die GEF konzentriert sich auf kurzfri­stige Projekte, obwohl gerade der Um­weltbereich langfristige Investitionen und Programme erfordert.
– Der Schwerpunkt der GEF liegt im Be­reich staatlicher Unterstützung und läßt NRO fast überall außen vor.
Zu besonders heftigen Kontroversen hat die Beteiligung der Weltbank an der GEF geführt. Während einige NRO die Beteili­gung der Weltbank an der finanziellen Verwaltung der GEF akzeptieren, bezwei­feln die meisten die allgemeine Kompe­tenz der Bank im Bereich Umwelt. Die Kompetenz einzelner MitarbeiterInnen aus der Weltbank wird hingengen hoch gelobt.
Die Kritik an der GEF hat dazu geführt, daß sie nach der Pilotphase im März 1994 restrukturiert wurde bzw. werden soll. Um den Entwicklungsländern mehr Mitspra­che zu verschaffen, wurde der GEF-Auf­sichtsrat tatsächlich paritätisch besetzt: 16 Sitze gehen an die Entwicklungsländer, 14 an Industrie- und zwei an osteuropäische Transformationsländer. Für die Projekt­durchführung bleiben allerdings weiterhin die drei genannten Organisationen ver­antwortlich, so daß von einer “grund­sätzlichen Reform”, wie es die Ge­ber­län­der gerne darstellen, bisher nicht die Rede sein kann.
Artenvielfalt: wann gibt’s Geld wofür?
Die von der UNEP aufgestellten Vergabe­kriterien für GEF-Zuschüsse sind sehr vage und werden teilweise recht fragwür­dig gehandhabt.
Die GEF finanziert grundsätzlich nur Projekte, bei denen die Kosten für das Land gegenüber dem Nutzen zu hoch sind, als daß das Land das Vorhaben durchführen könnte. Einfaches Beispiel: Der Aufbau eines Nationalparks zum Schutz bedrohter Tierarten wird von der GEF als förderungswürdig eingestuft. Komplizierter wird es, wenn dieser Park für den Tourismus attraktiv sein könnte und das Land dadurch höhere Einnahmen (= höheren Nutzen) besäße. Aufgrund die­ser Annahme finanziert die GEF nur die “Zusatzkosten”, die ihrer Ansicht nach nicht aus nationaler Tasche bezahlt wer­den können. Daraus ergeben sich so ab­surde Situationen wie die in Costa Rica: Durch den vom IWF-Programm aufge­zwungenen Sparkurs mußte Costa Rica zwei Drittel des Personals für die Natio­nalparks entlassen. Dies erschwerte die Erhaltung des erreichten Parkstandards. Überdies sanken die Einnahmen durch den Ökotourismus, da nicht mehr ausrei­chend ReiseführerInnen zur Verfügung standen. Gleichzeitig finanzierte die GEF lediglich zwei Projekte zur “biologischen Forschung und Training des Parkmana­gements”, da potentiell Einnahmen aus dem Ökotourismus vorhanden wären.
Die Vergabe von Geldern richtet sich weiterhin danach, ob das Projekt innovativ ist. Großvaters Lehren über den Umgang mit natürlichen Ressourcen sind nicht ge­fragt: neu ist gleich gut. Daß bei moderner Technologie oftmals die Kostenkontrolle aus den Augen verloren wird, liegt auf der Hand. Viele Pilotprojekte haben sich als so teuer erwiesen, daß sie nach Vergabe der GEF-Gelder nicht weitergeführt, ge­schweige denn auf andere Gebiete über­tragen werden können.
In Lateinamerika werden neben den ge­nannten in Costa Rica, folgende Projekte im Bereich Artenvielfalt gefördert:
Weltbank:
– Bolivien: Stärkung des Schutzzonen-Managements und der nationalen Institu­tionen über bolivianischen Treuhand­fonds. (5 Mio. US-Dollar)
– Brasilien: noch kein Projekt festgelegt. (30 Mio. US-Dollar)
– Ecuador: Schutz der Artenvielfalt durch Stärkung der legalen Rahmenbedingungen und des Parkmanagements. (6 Mio. US-Dollar)
– Mexiko: Unterstützung des Manage­ments von 20 Schutzgebieten. (30 Mio. US-Dollar)
– Peru: Etablierung eines Treuhandfonds für Management, Training, Ausbildung usw. im Bereich Artenschutz. (4 Mio. US-Dollar)
UNDP:
– Amazonasregion: Strategien zur Erhal­tung natürlicher Ressourcen. (5 Mio. US-Dollar)
– Argentinien: Entwicklung eines regio­nalen Managementplans für Patagonien. (3 Mio. US-Dollar)
– Belize: Forschung und Beobachtung so­wie Entwicklung eines Managementplans für das längste Felsenriff Lateinamerikas. (3 Mio. US-Dollar)
– Costa Rica: Finanzierung von biologi­scher Forschung und Training von Park­management (8 Mio. US-Dollar)
– Dominikanische Republik: Protektion von Samana Bay, incl. wissenschaftliche Basisstudien. (3 Mio. US-Dollar)
– Guayana: Programm für nachhaltiges Tropenwaldmanagement. (3 Mio. US-Dollar)
– Kolumbien: Bewahrung der Artenvielfalt im Chocó. (9 Mio. US-Dollar)
– Kuba: Schutz und nachhaltige Entwick­lung des Sabana-Camaguey Archipels. (2 Mio. US-Dollar)
– Uruguay: Schutz der Artenvielfalt in den östlichen Feuchtgebieten. (3 Mio. US-Dollar)

Bemerkenswert ist zunächst einmal die vage Formulierung der meisten Projekte und insbesondere auch der Fall Brasilien. Gerade dieses Beispiel zeigt, daß die Auswahl der Länder und Schutzgebiete eher aus politischen als aus ökologischen Gründen erfolgte.
Die oben genannte Kritik an kurzfristiger Finanzierung gilt auch für die aufgeliste­ten lateinamerikanischen Projekte: sie machen nur Sinn, wenn sie auch nach der GEF-Projektperiode (2-5 Jahre) weiterge­führt werden. Die meisten Länder sind aber zur Zeit nicht in der Lage (oder auch nicht willens), für Projekte zum Schutz der Artenvielfalt Geld bereitzustellen. Ein geplanter Treuhandfonds wie in Peru oder die Unterstützung eines bereits existieren­den wie in Bolivien ist unter diesen Um­ständen besser als stark eingegrenzte Pro­jekte, da hierdurch Zahlungen über einen langen Zeitraum garantiert werden kön­nen. Eine Weiterfinanzierung der meisten anderen Projekte ist unwahrscheinlich, da bei der bisherigen Projektfinanzierung Länder mit großer Artenvielfalt wie Gua­temala, Indien, Madagaskar, Malaysia, Tansania und Zaire ausgelassen wurden, die sich bei einer weiteren Runde stark zu Wort melden werden.
Die Projekte decken zudem sehr unter­schiedliche Ökosysteme ab, vom tropi­schen Regenwald über Meeresbiotope, Feucht- und Trockengebiete. Wenn man sich die zur Verfügung stehenden Gelder ins Gedächtnis ruft und bedenkt, daß mehr oder weniger zu jedem Projekt intensive Studien aufgestellt und ausländische Ex­perten bezahlt werden, dann entsteht der Eindruck, die GEF wolle ihre Vielfalt be­weisen und übernimmt sich ganz ordent­lich. Viele der genannten Projekte wurden unter – politischem – Zeitdruck bereits Ende 1993 eingeführt; Diskussionen und Evaluierungen von unabhängigen Gut­achter oder NRO haben so gut wie gar nicht stattgefunden bzw. wurden mit der Entschuldigung “Mittelabflußdruck” un­terbunden. Die meisten lateinamerikani­schen Projekte fallen in die Kategorie der “wenig beeindruckenden Mittelabfluß­druckprojekte”, allen voran Brasilien und auch Mexiko.
Erstaunlich ist auch die mangelhafte Aufmerksamkeit gegenüber politischen Zwängen. Selbst bestens geplante Projekte können scheitern, wenn Wirtschaftspoli­tik, Handelsabkommen, Strukturanpas­sungsprogramme und Gesetze über Bo­deneigentum einen dauerhaften Schutz der Artenvielfalt behindern. Hinzu kommen noch Entwicklungsprojekte, die den Um­weltschutz konterkarieren und oft von derselben Durchführungsorganisation stammen. Eine Aufstockung der GEF-Gelder, wie sie von allen Seiten berech­tigterweise gefordert wird, wird unter die­sen Umständen keine erhebliche Verbes­serung des Artenschutzes bringen.
Scheitern an alten Strukuren
Nach dem bisher Gesagten verlief die GEF-Pilotphase nicht sehr beeindruckend. Auch in Zukunft wird sich daran nicht viel ändern, da insbesondere die Weltbank an ihrer üblichen Praxis festhalten wird: Auswahl nach politischen Gesichtspunk­ten, fast nur öffentliche Organisationen als Ansprechpartner, mangelnde Flexibilität bei Projektdesign und -durchführung, keine sozioökonomischen Studien, kurze Projektzyklen, Einsatz ausländischer Ex­pertInnen und rein symbolische Beteili­gung der lokalen Bevölkerung. Bei der GEF können diese Probleme allerdings wenigstens abgemildert werden, wenn die beteiligten NRO – und gerade die großen – ihren Einfluß so stark wie möglich geltend machen. Die Weltbank läßt sich sonst normalerweise nicht in die Karten sehen, daher sollte jede Möglichkeit der Einflußnahme ausgenutzt werden. Bei der derzeitigen fi­nanziellen Ausstattung ist die Auswirkung der GEF auf globale Umweltschutzmaßnahmen jedoch nur von marginaler Be­deutung. Die GEF bleibt ein Trostpflaster, das die eigentlichen Ursachen der Um­weltzerstörung nicht angeht.


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Die Dinge stehen schlecht

Als der junge Kommunist Carlos Cerda nach dem Putsch im September 1973 wie Tausende seiner Landsleute den Weg ins Ostberliner Exil antritt, beschränkt sich seine literarische Pro­duktion auf einschlä­gig Weltanschau­liches. Der Doktor der Philosophie an der Universidad de Chile, der unter anderem auch Unterricht an der Theaterschule genommen hat, kann auf die Veröffentlichung eines Essays mit dem Titel “El leninismo y la victoria po­pular” (Der Leninismus und der Sieg des Volkes) zurückblicken.
In der DDR weitet Cerda, der dort den Doktortitel für Literaturwissen­schaft er­wirbt und zuletzt an der Humboldt-Uni­versität über lateiname­rikanische Literatur doziert, sein schriftstellerisches Schaffen aus. Er schreibt Erzählungen, Hörspiele, Ro­mane. Im Gegensatz zu vielen anderen ChilenInnen hat er es relativ leicht, auch das Leben westlich der Mauer kennenzu­lernen. Im Dezember 1984 kehrt er nach Chile zurück.
In “Morir en Berlín” zeichnet Cerda den Alltag und die spezifischen Kon­flikte der ExilchilenInnen in kalten Farben und ohne Mitleid. Fremd geblieben in einer grauen und büro­kratischen Welt mit schwer nachvoll­ziehbaren Spielregeln, im Ost­berliner Winter, überschneiden sich und kolli­dieren die Schicksale mehrerer Prot­agonisten(paare):
Zunächst ist da der Chilene Mario, der für die Beziehung mit der Tochter ei­nes Mini­sters seine Frau Lorena ver­lassen hat. Cerda stellt literarischen Bezug zum Mo­tiv der “Medea” aus der griechischen Tra­gödie her: Der Verbannte, der “die Toch­ter des Kö­nigs” zur Frau nimmt, steigt auf, fällt heraus aus dem Chor der Minderpri­vilegierten, der Bewohner des chileni­schen “Ghettos”, für die er zum Fremden wird.
Lorena, die Verlassene, begehrt gegen das enge Korsett staatlicher Bevor­mundung auf und beantragt gegen den erbitterten Protest der mit Partei und Bürokratie kooperierenden chilenischen Oficina die Ausreise nach Mexiko. Sie erfährt vom unerwarteten Besuch ihrer Eltern aus Chile. In einer Szene voll­kommener Trostlosigkeit zerbrechen die “frommen Lügen” der Exilantin, die zur Beruhigung Briefe voller gefäl­liger Schilderungen des Lebens in Deutschland nach Hause ge­schickt hat, aber auch die der Eltern, die in Wirklichkeit im Zuge des wirtschaftli­chen Zusammenbruchs den Glauben an das Pinochet-Regime sowie ihre ganze Habe verloren haben und nun Zuflucht bei der Tochter suchen.
Schließlich der ehemalige Senator, ein alt gewordener orthodoxer Kommunist, des Deutschen nicht mächtig, der aus einer unreflektierten Dankbarkeit dem soziali­stischen Staat und “Gastgeber” gegenüber seine Landsleute zu system­konformem Verhalten anzuleiten sucht. Am Tag, an dem er von seiner tödli­chen Krankheit er­fährt, macht er die Zufallsbekannschaft einer jungen deutschen Tänzerin. In dieser vielleicht ersten echten Begegnung mit ei­ner Bürgerin des von ihm verehrten Staa­tes bekommt er mit einem Mal das ganze Ausmaß seiner Isolation zu spüren. Gleichzeitig aber verschließt er verzwei­felt die Augen vor den Schat­tenseiten ei­nes Sozialismus, der die junge Frau als Vorzeigeobjekt seiner kulturellen “Leistungsfähigkeit” mißbraucht.
Das Buch ist eine – nicht polemische – Abrechnung mit dem System der DDR, das für viele zur Rettung nach der Verfol­gung durch die Militärs ge­worden war, gleichzeitig aber auch eine virtuose und beklemmende Studie über menschliche Abgründe, über das Fest­klam­mern an brüchig gewordenen Ideologien, über Schuld, Lüge und Depression. Dabei be­wahrt Cerda – trotz des kalten, ana­ly­tischen Blicks – eine solidarisch wirkende Anteilnahme am Schei­tern seiner Figuren.

Interview mit Carlos Cerda
Inwieweit spiegeln das Leben und die Konflikte der Personen in Ihrem Buch “Morir en Berlín” Ihre persönlichen Er­fahrungen in der DDR wider?
Jeder Roman ist zu einem guten Teil au­tobiographisch – und jedes Zeugnis einer persönlichen Erfahrung enthält einen großen Anteil an fiktiven und poetischen Elementen. “Morir en Berlín” ist ein Ro­man, der mein Le­ben, aber auch das vieler anderer Chi­lenen in der DDR zum Thema macht. Darüber hinaus ist es aber auch ein Buch über den Zusammenstoß zwi­schen den Idealen, den Utopien, die uns hierher ins Exil gebracht hatten, und der für uns außerordentlich span­nungsreichen, kon­fliktgeladenen und bis zu einem gewissen Grad entfrem­denden Wirklichkeit dieses Staates. Dessen Fehler sind zu Genüge be­kannt, und ich halte es schlichtweg für eine Dummheit, aus einer falsch verstan­denen Loyalität heraus diese Defizite rechtfertigen zu wollen. Wenn nun Chile­nen, aber auch Deutsche, die in der DDR gelebt haben, mein Buch mit dem Hinweis auf heute ge­schehende, von einem ande­ren System verübte Ungerechtigkeiten kri­tisieren, dann hat das eine mit dem ande­ren einfach gar nichts zu tun. Ich habe Ge­spräche mit vielen Exil-Chilenen geführt, die nach dem Anschluß der DDR ihre Ar­beit, aber auch die Aner­kennung ihrer per­sönlichen Würde verloren haben. Das wa­ren Willkürakte, die mit nichts zu recht­fertigen sind. Aber dieses Buch handelt von etwas ganz anderem, von der Realität in der DDR bis zum Jahre 1985, als ich hier lebte. Ich hätte übrigens nach 1989 die Gunst der Stunde nutzen und in Chile einen Roman über den Fall der Mauer veröffentlichen können – aus kommer­zieller Sicht sicherlich ein größerer Erfolg. Aber das hätte ich unredlich gefunden: Ich kann nur über das be­richten, was ich selbst erlebt habe.
In der Tat habe ich auf indirekte Weise von vielen Seiten Kritik an mei­nem Buch erhalten. Der Tenor dieser Kritik – meist von chilenischen Kom­munisten, die mit mir hier im Exil ge­lebt haben, aber auch von solchen, die in der BRD lebten und gleichzeitig das System der DDR vertei­digten – unter­stellt mir eine Art Verrat. Verrat an den kommunistischen Idealen zu einem Zeitpunkt, da es angebracht wäre, diese mehr denn je zu verteidigen.
Ich habe früher nie einen Hehl aus meiner Mitgliedschaft in der Kommu­nistischen Partei gemacht. Ausgetreten bin ich 1983, ein Jahr vor meiner Rückkehr nach Chile. Seitdem habe ich keine Verbindung mehr zur Partei. Mein Austritt hatte zwei Gründe: Ei­nerseits die absolute Unfähig­keit der Kommunisten, zu erkennen, daß das System der DDR sozialistischen Idealen einfach widersprach. Anderer­seits die verfehlte Strategie des bewaff­neten Kampfes gegen die Diktatur in Chile: Er hat nicht zum Erfolg geführt, aber den Tod von hunderten hervorra­genden Ge­nossen bedeutet. Vor die­sem Hintergrund meiner Trennung von der KP läßt sich mein Buch besser verstehen.
Hat sich in den 12 Jahren ihres Exils in der DDR ihr Urteil über diesen Staat zur Kritik hin gewandelt oder waren Ihnen die Widersprüche der re­alsozialistischen Wirklichkeit von An­fang an bewußt?
Für uns Chilenen, die wir aus einem Land der Dritten Welt – und darüber­hinaus aus einer brutalen Diktatur – in die DDR kamen, war der erste Ein­druck außeror­dentlich positiv. Nicht nur aufgrund der Geste umfassender Solidarität, die uns zuteil wurde. Uns beeindruckte zutiefst ein Staat, der so massiv ein kulturelles Leben förderte; uns faszinierte eine Ge­sellschaft, die sich als antirassistisch defi­nierte. Die Ideale von Gleichheit und Menschlich­keit, die beschworen wurden, schienen unsere eigenen zu sein. Und das Le­bensniveau war in unseren Augen – vielleicht nicht im Vergleich zur BRD – relativ hoch. Vor allem aber hatten wir das Gefühl, in einem Land zu sein, das nach vorn schaute und das – so kam es uns damals vor – gar nicht so viel Angst vor Kritik, vor Dissidenz hatte.
Der erste Schritt zu einer realistische­ren Sichtweise war das Erlernen der deut­schen Sprache. Wir begannen uns mit dem Arbeitskollegen, der Sekretä­rin, dem Taxifahrer zu unterhalten, mit dem Nach­barn, der zum selben Fußballspiel ging. Das waren teilweise sehr offene Gesprä­che. Sie fragten mich: “Warum sind Sie eigentlich hierher ge­kommen?” – “Weil es in meinem Land eine Diktatur gibt.” – “Aber wie konnten Sie denn dann hierher aus­reisen?” – “Ich bin hier im Exil.” – “Aber kann denn ein Chilene, der in sei­nem Land lebt, nach Argentinien, nach Peru, nach Bolivien reisen?” – “Wenn ihm das seine ökonomische Situation erlaubt, natürlich.” – “Sehen Sie, ich kann nicht einmal meine Mutter in Bremen besu­chen.” Solche Gespräche waren irgend­wann aus­schlaggebender als das, was uns der Hauswart oder die Lehrerin über Mar­xismus-Leninismus erzählten. In “Morir en Berlín” habe ich dies in eine Szene zu fassen versucht, in der zwei Chileninnen im “Linden-Korso” auf zwei junge Deutsche treffen, die in die Partei­schule gehen. Da kommt es nicht nur zu einem billigen Flirt, sondern zu einer echten Annäherung, als einer der beiden sagt: “Die Dinge stehen schlecht bei euch und hier auch.”
Desillusionierung angesichts innenpo­litischer Verhärtung
Uns Chilenen jedenfalls gingen späte­stens zu dem Zeitpunkt die Augen auf, als sich die Lage in Polen zuspitzte und Jaruzelski an die Macht kam. Plötzlich wurde offenbar, daß die DDR zweierlei Maß an­legte: Was sie im Falle Chiles so scharf verurteilt hatte, lobte sie auf einmal in ih­rem Nach­barland. Und die Ähnlichkeit der Vor­gänge war erschreckend: das Parla­ment aufgelöst, die Gewerkschaft verbo­ten, die im Ansatz kritische Presse zen­siert – mit anderen Worten: eine Diktatur. Selbst der General Jaruzelski mit seiner dunklen Brille glich dem General Pi­nochet – auch wenn das eine zufällige Parallele ist.
Zuletzt begann sich ja das System der DDR unter dem Eindruck der Ereig­nisse in Polen, später in der So­wjetunion, im­mer mehr zu verhärten. In der Humboldt-Uni, wo ich arbei­tete, wurden plötzlich renommierte und beliebte Dozenten, die nicht der SED angehörten, gegen Partei­kader ausge­tauscht. Es wurde an keinem Punkt mehr eine Öffnung zugelassen. Vor dem Hintergrund dieses Prozesses habe ich damals die DDR verlassen.
Als ich zurück in Chile war, war der ge­sellschaftliche Protest gegen die Diktatur in vollem Gange. Die regel­mäßigen De­monstrationen auf den Straßen, die offene Ablehnung des Re­gimes hatten eine ziemlich breite Basis, bis diese zusam­menschmolz – nicht zuletzt aufgrund der Option der KP für den bewaffneten Kampf gegen die Militärherrschaft. In die­sem Zusam­menhang stand auch das At­tentat ge­gen Pinochet 1986, das eine enorme Repression, aber auch einen Stim­mungsumschwung zugunsten der Rechten bewirkte. Der Schluß, den ich daraus ziehe, ist, daß die Kommuni­stische Partei hier und dort die falschen Wege ge­gangen ist. Daß ich dies in meinem Buch benenne, hat mir aus diesem Lager freilich schärfste Ablehnung beschert.
Hätten Sie dann nicht schon viel frü­her, noch in der DDR, offen Kritik an den von Ihnen empfundenen Mißstän­den üben sollen?
Im Rahmen meiner Möglichkeiten glaube ich, das getan zu haben. Bei­spielsweise habe ich Anfang der acht­ziger Jahre ein Hörspiel für den Rundfunk der DDR ge­schrieben. Die Geschichte hieß “Die Zwillinge von Calanda” und schilderte auf metapho­rische, aber ziemlich offensichtli­che Weise die Doppelmoral, die Schizo­phrenie von Menschen, die in einem tota­litären System leben: Den Men­schen von Calanda wächst eine Art siamesischer Zwilling aus dem eigenen Körper, der immer das sagt, was der andere gewohnt war zu verschweigen. Am Ende töten diese Menschen ihr verhaßtes, uner­wünschtes alter ego. Als ich mit dem Ent­wurf zu den verant­wortlichen Redakteuren kam, die sehr offen für kritische Töne waren, sagten sie: “Tja, das könnte ganz schön schwierig werden. Aber wenn man ge­nügend lateinamerikanische Musik unterlegt…” Schließlich wurde es gesen­det, und nicht ohne Erfolg. Für mich ist so etwas durchaus Kritik.
Wie wurde Ihr Buch in Chile aufgenom­men? Beschränkt sich das Interesse auf den Personenkreis derer, die auch das Exil durchgemacht haben, oder gibt es eine breitere Aufmerk­samkeit?
Das Buch erschien in erster Auflage im Sommer 1993. Inzwischen ist die vierte Auflage á 3000 Exemplare ge­druckt wor­den, was für Chile einen enormen Erfolg darstellt. Die Kritik war bis auf Ausnah­men sehr positiv, selbst im Punto Final, einer Zeitschrift des linken MIR, wurde es gelobt. Im Mai diesen Jahres hat es den zweiten Preis beim Premio Pegaso ge­wonnen, einem lateinamerikanischen Lite­raturpreis, an dem über 400 Romane aus den Jahren 1990 bis 1993 teilnah­men.
Welche kulturelle, aber auch politische Rolle kann Literatur heute in Chile spie­len? Welche Rolle sollte sie spie­len?
Ich glaube, die Literatur – und die Kunst im allgemeinen – spielt immer eine positive Rolle, wenn es darum geht, ein von Vernunft, von Respekt gegenüber kontroversen Ansichten ge­prägtes Klima zu schaffen. Vor allen Dingen aber schärft sie das moralische Urteilsvermögen. Die Länder Latein­amerikas sind heutzutage im Begriff, wirtschaftlich wieder Fuß zu fas­sen, meine ich. Sie bieten ihre Produkte mit zunehmendem Erfolg auf dem Welt­markt an und stehen davor, Rück­stände aufzuholen, die sich in Jahr­zehnten aufge­baut haben. Aber dieser Prozeß, der an und für sich positiv zu beurteilen ist, birgt die Gefahr, daß unser alltägliches Leben in zunehmen­dem Maße nur noch von den Charak­teristika des Produktionsprozesses und des Konkurrenzdenkens geprägt wird. Unter dem ökonomischen Druck wird un­ser Lebensstil von Tag zu Tag entfremde­ter, vom Prinzip der Kon­kurrenz diktiert. Die Fähigkeit zur Kritik, zum Urteilen, das Gefühl für unsere Identität als Latein­amerikaner gehen dabei verloren.
Bücher sind in unserem Kontinent – und zumal in Chile – ein knappes Gut: Für den größten Teil der Bevölkerung sind sie zu teuer, und Leihbüchereien gibt es praktisch überhaupt nicht. Freilich muß man in Be­tracht ziehen, daß es immer weitaus mehr Leser als Käufer von Büchern gibt. Pro ver­kaufter Ausgabe zirkulieren oft vier oder fünf kopierte Versionen eines Wer­kes. Aber ich finde sehr interes­sant, was Carlos Fuentes vor­geschlagen hat: Die lateinamerikanischen Regie­rungen sollten bei ihrer nächsten Ver­handlung zum Ab­bau von Handels­hemmnissen als ersten Tagesordnungs­punkt die Frage der Lite­ratur behan­deln. Noch vor allen anderen Gütern – Kiwis, Orangen, Kaffee – vor irgendei­nem Pro­dukt unseres Bodens und un­serer Arbeit sollten Bücher – als gei­stige Produkte der Völker unseres Kontinents – ohne einen Peso Abga­ben oder Zölle die Grenzen passieren. Das hätte auch eine Verbilli­gung der Literatur zur Folge.
Vergangenheitsbewältigung der Dikta­tur
Die Hauptfigur in Ihrem Buch, ein Chi­lene im Ostberliner Exil, erklärt ei­ner Deutschen in einer Metapher, daß es “viele Chilenen gibt, die in Weimar woh­nen und von Buchenwald nichts wissen wollen”. Sie ziehen also Paral­lelen zwi­schen der deutschen und der chileni­schen (jüngsten) Vergangenheit. Kann und muß die Literatur in Chile einen Beitrag zu ei­ner Vergangenheitsbewäl-tigung leisten?
Auf jeden Fall. Das muß in der Kunst, in der Literatur geschehen, denn die Politik kann das in Chile nicht leisten, was ich durchaus nachvollziehen kann. In der lite­rarischen Reflexion, aber auch im Theater und im Film können Rechnungen begli­chen werden, können Konflikte ausgetra­gen werden, die auf dem Gebiet der Poli­tik nur zu unheil­vollen Konfrontationen führen würden. Ein Beispiel aus einem anderen Land: Die Konflikte, die der ku­banische Film Fresa y Chocolate auf­greift, werden auf diese Weise bewußter und kon­kreter, als eine Behandlung des The­mas auf politischer Ebene. Wenn wir also heute drängende ethische Fragen, die unser Land beschäftigen – die To­ten, Ver­schwundenen, das Exil etc. – ins Bewußt­sein rufen wollen, dann funktio­niert das besser in der Einsam­keit des Le­sens als in einer Auseinan­dersetzung zwi­schen Par­teien. Die Romane von Heinrich Böll ha­ben mehr zur Aufarbeitung der deutschen Ver­gangenheit beigetragen als die meisten Diskussionen im Bundestag über dieses Thema. Die moralischen Kon­flikte ei­ner Gesellschaft werden am tief­gründigsten durch ihre kulturellen Akti­vitäten bewäl­tigt.
Was wäre – nach Ihren Erfahrungen mit dem Leben in der DDR und vor dem Hintergrund des politischen Pro­zesses in Chile – Ihre Definition, heute links zu sein?
Eine zutiefst humanistische Antwort auf die heutigen Probleme zu geben. Auf die alten, wie Armut, Ungerech­tigkeit, Ras­sismus, Diskriminierung, und auf die neuen: Umwelt, öffentliche Moral, Indivi­dualismus. Für die Linke, wie ich sie defi­niere, gibt es den un­umstößlichen Wert des Menschen und das Verdienst, gegen jede Art von Diktatur gekämpft zu haben – und ge­gen die egoistischen Partialinteres­sen der Unternehmen. Diese Welt ist mo­mentan eine Welt der Unternehmen. Um sie wieder zu einer Welt des Men­schen zu machen, muß der Staat regulie­rend ein­greifen, die Wirtschaft den Inter­essen der Menschen unter­ordnen.
In Chile, glaube ich, läßt die Demo­kratie selbst in ihrer jetzigen Form Platz für alle möglichen Ziele – auch für dieses. Ob im Jahr 2000, wenn eine neue Regierung ge­wählt wird, die Concertación (die Regierungs­koalition in Chile, Anm. d. Red.) weiter­macht wie bisher, oder ob sich die Macht nach links oder rechts verschiebt, ist voll­kommen offen. Aber genau das führt zu einem größeren Verantwortungsbewußt­sein bei denen, die heute Politik machen.
Gibt es irgendeinen Zusammenhang, ein verbindendes Element zwischen den Auto­ren der sogenannten “Nueva Nar­rativa Chilena”, der auch Sie zu­gerechnet werden?
Es gibt einen Zusammenhang, der über die Tatsache hinausreicht, daß wir mehr oder weniger der selben Genera­tion an­gehören. Ich halte es für ein relativ neues kulturelles Phänomen in Chile, daß ausge­rechnet chilenische Autoren zu den meist­gelesenen gehö­ren. Es ist ungeheuer be­deutend für ein Land wie das unsere, daß auf ein­mal die eigene Literaturproduktion im Mittelpunkt des Interesses steht. Wohlgemerkt: das soll zu keinem kul­turellen Nationalismus führen. Aber früher gab es einfach kein Vertrauen in unsere eigene Literatur. Kein Wunder, denn wer seine Bücher während der Diktatur veröf­fentlichen konnte, mußte ja von vornher­ein das Plazet der Zen­sur erhalten haben. Genauso war es unter der Franco-Herr­schaft in Spa­nien: Plötzlich gab es einen Nachfra­geboom nach latein­ame­rikanischer Li­teratur, denn zensierte Kul­tur hat nun mal einen faden Beige­schmack.
Was die Nueva Narrativa Chilena an­geht, so vereint sie AutorInnen mit teil­weise sehr unterschiedlichen politi­schen Über­zeugungen, mit sehr ver­schiedenen Stilen, und das ist gut so. Wir sind kein Fußball­team, wir suchen kein gemeinsa­mes Pro­gramm, sondern wollen unabhän­gig von­einander dem Beruf des Schrei­bens nach­gehen.
Zu guter letzt: Was machen Sie jetzt, und was sind Ihre Projekte?
Ich schreibe an einem neuen Roman und an einem Hörspiel. Darum dreht sich für mich momentan alles: weiter­schreiben und weiterleben.
Und vom Schreiben leben?
Nie und nimmer! Das können die wenig­sten, und in Chile schon gar nicht. Was mich betrifft, ich arbeite vormittags in ei­ner Werbeagentur, die ich auch leite. Die Nachmittage gehö­ren dann ausschließlich der Schrift­stellerei.
Stellt das für Sie keinen Widerspruch dar, Werbung und Literatur?
Schon. Aber man muß eben lernen, mit Widersprüchen zu leben.
Herr Cerda, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.


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Das Trauma der US-Interventionen

Schon im Vorfeld des umstrittenen Be­schlusses hatte es von Seiten lateinameri­kanischer Staaten Kritik an den Plänen der USA gehagelt, freilich ohne Aussicht dar­auf, die Mitglieder des Sicherheitsrates für eine Entscheidung gegen die Intervention zu bewegen. Der uruguayische UN-Bot­schafter Píriz erklärte, sein Land werde keinerlei militärischen Eingriff unterstüt­zen. Die Krise auf der Karibikinsel stelle mitnichten eine Gefahr für Frieden und Sicherheit auf internationaler Ebene dar. Zuerst müßten alle denkbaren nicht-mili­tärischen Mittel ausgeschöpft werden, um die Diktatur zu beenden. Ähnliche Argu­mente waren von venezolanischer, perua­nischer und kubanischer Seite zu hören. Am schärfsten ließ sich Mexikos Diplo­matie in Anspielung auf die Geschichte US-amerikanischer Invasionen auf dem Kontinent vernehmen: Die Militärinter­ventionen, so der mexikanische UN-Bot­schafter Flores Olea, seien für die Bevöl­kerung der betroffenen Länder trauma­tisch und demoralisierend gewesen und hätten die sozialen und politischen Struk­turen der Staaten tief beschädigt. Trotz enormen Kostenaufwands sei oft das ei­gentliche Ziel nicht erreicht worden.
Druck von den USA
Die Enthaltung Brasiliens scheint darüber hinaus eher das Ergebnis diplomatischen Drucks seitens der USA als ein Ausdruck der Gleichgültigkeit gewesen zu sein: Auch der brasilianische Botschafter in New York sprach sich unzweideutig ge­gen militärische Aktionen aus, von einer Beteiligung daran ganz zu scheigen. Die prekären Zustände auf der Insel seien de­ren “innere Angelegenheit”.
Aus dem Rahmen des lateinamerikani­schen Protests fiel Argentinien: Schon im Rahmen einer Zusammenkunft der Orga­nisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Belem kurz zuvor war das Votum zugun­sten einer Militäraktion – auf Anordnung der UNO – ausgefallen. Nun erklärte der argentinische UN-Repräsentant, ganz im Sinne von Präsident Menem, sein Land werde sich an der Aufstellung der multi­nationalen Eingreiftruppe beteiligen und sich somit der sogenannten “Gruppe der Freunde Haitis” anschließen, der die USA, Kanada und Frankreich angehören. Das führte zu Irritationen im eigenen Kabinett und natürlich von der Opposition: Vom Verteidigungsminister war zu hören, es werde nur an logistische Unterstützung gedacht, im Parlament forderte man eine Rechtfertigung. So war es nicht allzu ver­wunderlich, daß drei Tage später von Menem zu hören war, es gebe eine Betei­ligung nur zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt der Invasion und auch nur mit vorausgehender Genehmigung des Kon­gresses.
Neben Argentinien haben sich auch einige Karibikstaaten, wie Barbados, Jamaika und Grenada, positiv zum Einmarsch in Haiti geäußert. Inzwischen nehmen sie allerdings auch eine gemäßigtere Position ein und bieten einen Einsatz ihrer Streit­kräfte zu einem späteren Zeitpunkt an, wenn – wie gehofft wird – die gewaltsa­men Auseinandersetzungen vorbei sind, und es darum geht, die UNO-Mission zur “Wiederherstellung stabiler Strukturen”, z.B. bei der Ausbildung neuer Polizeiein­heiten, zu unterstützen.
Zu denken geben inoffiziell getroffene Aussagen US-amerikanischer Diplomaten, es gebe seitens der lateinamerikanischen Regierungen eine stillschweigende Mehr­heit für die Invasionspläne: Die Ableh­nung sei meist aus Gründen politischer Rücksichtnahme auf weitverbreitete US- beziehungsweise interventionsfeindliche Tendenzen erfolgt. In der Tat war in der abschließenden Erklärung der OAS-Kon­ferenz nicht mehr die Rede von einer an­zustrebenden ausschließlich friedlichen Lösung des Konfliktes.
Eine ungewohnte Konfliktkonstellation
Die wahre Einstellung vieler Staaten zur Invasion in das Nachbarland bleibt also unklar. Sicherlich ist die Solidarität mit dem französischsprachigen, in kultureller Hinsicht vom iberoamerikanischen Um­feld sehr verschiedenen Staat, nicht so ein­deutig wie in anderen, vorausgegangen Fällen. Auch lassen sich im Falle Haitis nur schwerlich die gleichen imperialisti­schen und Hegemonialinteressen der USA ausmachen, wie dies bei den Invasionen Grenadas oder Panamas der Fall war. Schließlich sprechen sich in den Verei­nigten Staaten gerade konservative Kräfte gegen die Interventionspläne aus. Ob die Konsequenz, die Präsident Clinton in sei­ner Haiti-Politik an den Tag legen will, bei seinen Landsleuten Bewunderung ob außenpolitischer Stärke oder aber Skepsis hervorrufen wird, bleibt ebenso abzuwar­ten: Neuesten Meinungsumfragen zufolge ist eine Mehrheit dafür, sich auf der Insel, mit der in den USA eher Voodoo und Aids als ökonomische Interessen assoziiert werden, nicht “die Finger schmutzig zu machen”.


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Die permanente Invasion

Nun hat der UNO-Sicherheitsrat mit leichtem Zähneknirschen die Clinton-Regierung für eine Invasion in Haiti au­thorisiert. Dies wäre nicht das erste Mal. Bereits 1915 fielen die einschlägig be­rühmten marines in dem Land ein unter dem Vorwand, die haitianische Regierung habe “einige Verpflichtungen nicht einge­halten”. Sie blieben fast 20 Jahre und zo­gen erst 1934 ab. Nach der Amtszeit von Lescot, Estime und Magliore, drei pünkt­lich vom haitianischen Militär gestürzten Präsidenten, setzten die Vereinigten Staa­ten “Papa Doc” Francois Duvalier ein und unterstützten ihn bis zu seinem Tode 1971. Sein Sohn Baby Doc erbte die Prä­sidentschaft, bis er 1985 durch einen wei­teren Militärputsch gestürzt wurde. Unter den Regierungen der beiden Duvaliers herrschte eine grausame Repression. Es wird davon ausgegangen, daß allein unter der Regierung von Baby Doc mehr als 40.000 Personen ermordet wurden. Die Vereinigten Staaten wußten aus guter Quelle, wie auf Haiti mit ihrer tatkräftigen Unterstützung die Menschenrechte ver­letzt wurden.
Mißratener Zögling der USA
Raul Cédras, der gegenwärtige Diktator, der den demokratisch gewählten Priester Jean-Bertrand Aristide durch einen Putsch stürzte, ist lediglich der letzte in der bishe­rigen Reihe von haitianischen Tyrannen. Man weiß nicht genau, warum ausgerech­net er den Vereinigten Staaten so mißfällt, wo sie doch in der Vergan­genheit mit den Duvaliers so gut auska­men. Dem nicht genug, darf man nicht vergessen, daß Cé­dras, wie alle Diktator-Lehrlinge Latein­amerikas, auf einer nord­amerikanischen Militärakademie ausge­bildet wurde.
Die Geschichte Haitis ist wirklich drama­tisch: Der revolutionäre Kampf begann 1791 mit einem Sklaven, dem berühmten Toussaint l`Ouverture. Die Unabhängig­keitserklärung am 28. November 1803 machte Haiti zum ersten entkolonisierten Land Lateinamerikas. Aus dieser histori­schen und politischen Avantgarderolle stieg es zu dem heute ärmsten Land La­teinamerikas und einem der am stärksten geplünderten der Welt ab.
Angesichts des politischen Imageverlu­stes, den jede ihrer Interventionen in ande­ren Ländern nach sich zieht, haben die Nordamerikaner beschlossen, sich für je­den ihrer internationalen Angriffe Partner zu suchen. Die Idealformel ist, daß die Vereinten Nationen sie mit dieser oder je­ner Strafaktion beauftragen, wie sie es beispielsweise beim Golfkrieg erreichten. Aufgrund ihres Insistierens wurden sie schließlich von einigen französischen und englischen Flugzeugen begleitet.
Diplomatische Winkelzüge
Rony Lescouflair, ein haitianischer Dich­ter, der 1967 durch die Polizei Duvaliers ermordet wurde, schrieb dieses kurze Ge­dicht: “Dreimal krähte der Hahn; / Petrus war kein Verräter: / er wurde Diplomat.”
Mit Hilfe eines umfassenden und nach­drücklichen diplomatischen Manövers wollen die USA auch jetzt bei der Inva­sion in Haiti Begleitung haben. Die For­mel ist einfach: Wenn einige Länder zu kleinmütig sind, um Truppen, Schiffe und Flugzeuge zu entsenden, sollen sie zumin­dest applaudieren.
Bei den Regierenden in Lateinamerika kam, wie üblich, der einzige enthusiasti­sche Applaus von Präsident Menem. Bei allen anderen, ob sie jetzt der Rechten, der Mitte oder der Linken angehören, erzeugte die bloße Idee, eine nordamerikanische Invasion zu authorisieren, allergische Re­aktionen.
Nach wie vor mögen einige Arglose oder Einfältige sich fragen, warum das US-State Department nicht die Unterstützung des UNO-Sicherheitsrates erbat, um wäh­rend der Pinochet-Diktatur in Chile zu in­tervenieren, oder während der Videla-Zeit in Argentinien, oder während der Goyo Alvarez-Zeit in Uruguay, oder während der Stroessner-Zeit in Paraguay etcetera. Könnte es daran liegen, daß es sich hier um “befreundete Diktaturen” handelte, wie es Präsident Reagan ausdrückte? Wäre es möglich, daß das Regime Cédras` zufällig eine “feindliche Diktatur” ist? Oder existiert vielleicht ein Motiv, wel­ches nicht öffentlich genannt wird, wie zum Beispiel, daß die geplante Invasion dem ständigen Zustrom haitianischer Flüchtlinge an die Küsten Nordamerikas ein Ende bereiten würde?
Niemand hat das Züchtigungsmittel ver­gessen, das 1990 gegenüber Panama an­gewandt wurde, die sogenannte “Operation Gerechte Sache”. Um einen General gefangenzunehmen, der ihnen lä­stig fiel – er war CIA-Agent gewesen und hatte später mehrfach die Seiten gewech­selt – nahmen sie in Kauf, 2.000 unschul­dige Zivilisten zu töten und ne­benbei ei­nige Viertel der Hauptstadt Pa­namas in Trümmerhaufen zu verwandeln. Damals schrieb ich, daß Panama sich in die absto­ßendste Militäraktion dieses Jahrhunderts verwandelt habe. Man müßte hinzufügen: in die heuchlerischste. Erst 1994 geben einige Medien im Hinblick auf die ange­kündigte Invasion in Haiti zu, daß mehr als 2.000 Todesopfer auf das Konto der “Operation Gerechte Sache” gingen. 1990 dagegen, als das Massaker sich ereignete, war ein Großteil der Me­dien zu schwer­fällig, so viele Leichen zu erwähnen.
Sicherlich ist der Diktator Raoul Cédras nicht vorzeigbar, fügt sich doch sein re­pressives Regime perfekt in die nieder­trächtigsten Traditionen der Duvalier-Dy­nastie ein. Trotzdem scheint eine Invasion auf keinen Fall die adäquateste Lösung zu sein, auch wenn Aristide in den saubersten Wahlen in der Geschichte Haitis gewählt wurde.
Marionetten pflastern den Weg
Der Schlüssel zu dieser Verwirrung liegt wahrscheinlich darin, daß das dichte In­terventions-Curriculum der Vereinigten Staaten weder den Ländern der Dritten Welt allgemein noch speziell denen La­teinamerikas das geringste Vertrauen ein­flößt. Niemand vergißt, daß die USA nach jeder ihrer zahlreichen Invasionen in dem Moment, wo sie einen Rückzug für op­portun hielten, eine Marionettenregierung hinterließen: Somoza in Nicaragua, Bala­guer (immer noch unverwüstlich) in der Dominikanischen Republik, “Quissling” Endara in Panamá – eine Gestalt, deren Ernennung zum Präsidenten beschämen­derweise in einer nordamerikanischen Militärstation stattfand. Nach jeder Inva­sion blieb das jeweilige Land in einem schlimmeren Zustand als vorher zurück, tiefer in seiner Armut versunken, seiner Würde beraubt, in seiner Souveränität verletzt, überbrodelnd vor Groll.
Auch muß bedacht werden, daß es einen zusätzlichen, nicht zu verachtenden Vor­teil gibt, welchen sich die Vereinigten Staaten verschaffen, wenn es ihnen ge­lingt, untergeordnete Verbündete oder Helfershelfer für ihre Militäraktionen zu finden. Wenn sie ohne Alliierte ein Land ihres Hinterhofes angreifen – beispiels­weise Grenada oder Panama, entfallen die hohen Ausgaben für diese Operation not­wendigerweise auf die Posten im US-Haushalt, die für Invasionen, Blockaden und andere Lappalien vorgesehen sind. Heute dagegen, wo es niemand geringeres als der Weltsicherheitsrat ist, der die Ver­einigten Staaten mit der Bestrafung der haitianischen Diktatur beauftragt, handelt es sich um eine kollektive Verantwortung, und der militärische Exekutor muß nur für 25 Prozent der anfallenden Kosten auf­kommen.
Daher handelt es sich für die Vereinigten Staaten um ein rundes Geschäft: Sie füh­ren die geplanten Invasionen durch und kommen billig dabei weg. Zum ersten Mal versucht – und erreicht – es der Imperia­lismus in solch offener Form, daß seine militärischen Aktionen von den direkt oder indirekt untergeordneten Ländern fi­nanziert werden. Vor einigen Jahren gab es den Spruch, daß die Organisation Ame­rikanischer Staaten so etwas wäre wie das Ministerium der nordamerikanischen Ko­lonien. Seit kurzem ist die UNO auf dem Weg, sich in das US-Verteidigungsmini­sterium zu verwandeln.
Folgt die Herde der Stimme des Herrn?
Gibt es nach alldem keine andere Mög­lichkeit als die Kanonenbootpolitik, um die weltweiten Konflikte zu lösen? Die Imaginationskraft der Regierenden ist ge­fragt, um den Dialog als Instrument des Friedens zu nutzen. Während ich diese Zeilen schreibe (in der ersten August­hälfte, Anm. d. Red.), erreicht mich die Nachricht, daß der haitianische Diktator eingewilligt hat, eine Verhandlungskonfe­renz zu empfangen, an der Delegierte von fünf lateinamerikanischen Ländern betei­ligt sind. Hoffen wir, daß daraus eine an­ständige Lösung erwächst.
Auf jeden Fall hat das so konfliktträchtige haitianische Problem einen wichtigen Schritt provoziert: Die lateinamerikani­schen Länder – zumindest diejenigen, die über eine historische Erinnerung verfügen – sind dabei zu lernen, Nein zu sagen an­gesichts des Drucks von “the master`s voice”. Halleluja.


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Nach dem Bombenanschlag wächst die Angst

Der Schaden ist unermeßlich
Die “Mutual”, wie sie von den Porteños genannt wurde, war im Gegensatz zu der vor zwei Jahren gesprengten israelischen Botschaft keine ausländische Vertretung, sondern ein 1894 gegründetes argenti­nisch-jüdisches Zentrum. In dem sieben­stöckigen Gebäude, das völlig zerstört wurde, waren unter anderem eine Anlauf­stelle für bedürftige Menschen, ein Thea­ter und ein Arbeitsvermittlungsbüro un­tergebracht. Auch die Dachorganisation aller jüdischen Vereinigungen DAIA (Delegación de Asociaciones Israelitas Argentinas), eine Art politische Vertre­tung der jüdischen Gemeinschaft in Ar­gentinien, befand sich im Gebäude in der Pasteur Straße. Samuel Rollansky, 92-jäh­riger Leiter des Instituts für jüdische Stu­dien: “Seit dem Anschlag kommt es mir vor, als hätte ich an meiner eigenen Beer­digung teilgenommen.” Das Lebens­werk des polnischen Immigranten, die 70.000 Bände umfassende Bibliothek über jüdische Kultur, ist fast vollständig ver­lorengegangen.
Präsident Menem, der versuchte, das At­tentat für einen weiteren Vorstoß zur Durchsetzung repressiver Politik zu nut­zen, versprach: “Die geistigen und materi­ellen Urheber des Anschlags werden eine unangenehme Überraschung erleben. Ich bin sicher, daß die Geheimdienste in kur­zer Zeit positive Ergebnisse vorweisen werden”. Die Opposition zeigte sich da­gegen wenig beeindruckt vom hektischen Aktivismus der Regierung, der von der Ankündigung eines Anti-Terrorismus- Gesetzes bis zur Schaffung eines Sicher­heitsrates ging. “Unsere Geheimdienste bewegen sich immer noch in einer Logik der kommunistischen Bedrohung”, er­klärte José Manuel Ugarte von der “Radikalen Bürgerunion” (UCR). Aus der ebenfalls angekündigten Einführung der Todesstrafe wurde in der verfassungsge­benden Versammlung in Santa Fe schließlich doch nichts. Gerade Urheber solcher Attentate werden sich kaum von der Todesstrafe abschrecken lassen. Auf dem großen Trauermarsch, an dem 150.000 Menschen teilnahmen, sah sich das Staatsoberhaupt schließlich einer ge­ladenen Stimmung gegenüber. Die Buh­rufe waren auf der Tribüne nicht zu über­hören.
Angesichts dieses zweiten großen Terror­anschlags auf eine jüdische Einrichtung in Argentinien wird deutlich, daß das, was für die “Gerechtigkeitspartei” des Präsi­denten noch vor kurzem als Erfolg ver­bucht werden konnte, sich inzwischen in ein großes Manko verwandelt hat: die Einmischung Argentiniens in das interna­tionale Politikgeschäft. “Die Teilnahme von zwei argentinischen Fregatten an der ‘Operation Wüstensturm’ im Golf hat das Land in das größte Pulverfaß der illusori­schen neuen Weltordnung gezerrt”, schrieb Horacio Verbitsky in seiner Sonntagskolumne in Página 12. Außer­dem sei diese Entscheidung ohne Zu­stimmung des Kongresses per Dekret ver­ordnet worden: “Dabei ging es nicht um argentinische Interessen, sondern darum, sich bei einer Supermacht beliebt zu ma­chen – eine pathetische Hinterwäldler-Phantasie, um in internationalen Ereignis­sen mitmischen zu dürfen.”
Obskure Beziehungen
des Präsidenten
Gerade in Anbetracht der Äußerungen Menems nach dem Anschlag erscheinen die privaten und familiären Beziehungen des syrienstämmigen Präsidenten interes­sant. Immerhin scheint der syrische Waf­fenhändler Al Kassar mehr als nur ein Verwandter der Präsidentenfamilie Me­nem zu sein. Der reiche Geschäfts­mann, dem eine Beteiligung am Lockerbie-Anschlag nachgesagt wird, er­hielt die ar­gentinische Staatsbürgerschaft in der Re­kordzeit von 30 Tagen – eine er­staunliche Leistung der sonst nicht gerade flinken ar­gentinischen Bürokratie. Den argentini­schen Reisepaß erhalten norma­lerweise selbst verheiratete AusländerIn­nen erst nach etwa einem Jahr. Noch leichter hatte es da Ibrahim al Ibrahim, ein Familienan­gehöriger der ehemaligen Prä­siden­ten­gattin. In elf Ta­gen erhielt er nicht nur das blaue Doku­ment, sondern auch noch einen verant­wortungsvollen Posten in der Zoll­behörde des internationalen Flughafens Ezeiza. Schließlich flog der famose nicht einmal des Spanischen mächtige Beamte wegen Korruption und Verwicklung in Dro­gen­geschäfte auf.
Während der mit der Untersuchung des Bombenanschlags beauftragte Staatsan­walt Juán José Galeano außer der zweifel­haften Aussage eines ehemaligen irani­schen Diplomaten noch Spuren nachgeht, die zum Käufer des beim Anschlag ver­wendeten Lieferwagens führen sollen, steht für Präsident Menem der Urheber des Verbrechens längst fest: “Wir können den fast vollständigen Beweis einer irani­schen Mittäterschaft erbringen.” Wie eine solche halbe Beweisführung aussehen soll, ist selbst in diplomatischen Kreisen nicht verstanden worden. Der Jurist Menem scheint sich der Tragweite des Ausdrucks “semiplena prueba” nicht ganz bewußt gewesen zu sein. Seine freie Übersetzung aus dem Juristenkauder­welsch bedeutet in etwa “feste, nicht nachweisbare Vermutung”. Auch die ira­nische Regierung hat das so verstanden: “Wo sind die Beweise?”, fragte das Mit­glied der Hisbollah Nahim Kassen. “Menem ist einem Trick der Vereinigten Staaten und Israels aufgesessen.” Die sonst eher zurückhaltende englischspra­chige Tageszeitung Buenos Aires Herald zweifelte an der Iran-Connection. Der Iran, so deren Herausgeber Andrew Graham-Yooll, habe gar nicht genügend Einfluß auf die schiitischen Fundamentali­sten. In Wirklichkeit habe Syrien hinter dem Attentat auf die israelische Botschaft 1992 gesteckt, diesbezügliche Nachfor­schungen seien aber damals aufgrund in­nenpolitischer Überlegungen und “wegen der persönlichen Verstrickungen des Prä­sidenten Menem mit Syrien” einge­stellt worden. Terroristenexperten gehen davon aus, daß verschiedene Motive Argentinien zum bevorzugten Angriffsziel internatio­naler Fundamentalisten gemacht haben. Hier befindet sich die größte jüdi­sche Gemeinschaft Lateinamerikas. Die etwa 300.000 Mitglieder, die in ihrer Mehrzahl vollständig in die argentinische Gesell­schaft integriert sind, lebten bisher ohne größere Schwierigkeiten mit den etwa 500.000 Moslems zusammen. Das Bemü­hen, dieses Zusammenleben jetzt nicht noch zu belasten, zeigt sich in den Erklä­rungen Rubén Berajas, Präsident der DAIA: “Keiner darf wegen seiner Natio­nalität oder seines Glaubens ver­dächtigt werden.”
Zweite Heimat deutscher Nazis
Neben der halbherzigen Grenzkontrollen wird als weiteres Motiv die Anwesenheit faschistischer Gruppierungen genannt. Der englische Terroristenexperte David Yallop: “Argentinien besitzt eine Vergan­genheit bestehend aus einer übertriebenen Gastfreundschaft für NS-Kriegsverbrecher und einem ausgeprägten Antisemitismus während der Militärjuntas.” Schon in den vierziger und fünfziger Jahren kam es un­ter Juan Domingo Perón zu Ausschreitun­gen gegenüber argentini­schen Juden. Über die “Rattenlinie” ge­langten Hunderte von Nazis ausgestattet mit Pässen des Roten Kreuzes und der Hilfe des Vatikans nach Argentinien. Unter den 30.000 “Vermißten” der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) gibt es eine überdurch­schnittliche Zahl jüdischer Opfer. Gleich­zeitig fanden in Argentinien mehr als 5000 Nazi-Hierarchen Unter­schlupf, unter ihnen Joseph Mengele, Oberst Rudel, Klaus Barbie, Adolf Eichmann und Josef Schwammberger. Seit dem 9. Mai liegt ein Auslieferungs­antrag für einen deut­schen Nazi aus Italien vor: Der amerikani­sche Fernsehsender ABC hatte den ehe­maligen SS-Mann Erich Priebke in Bari­loche (Provincia de Río Negro) auf­gespürt, der nach eigenem Geständnis am Massaker an 335 Geiseln am Stadtrand von Rom beteiligt war. Priebke, der jetzt unter Hausarrest steht, erwartet im Sep­tember eine besondere Überraschung: An­gehörige der 1944 exe­kutierten Italiener beabsichtigen, den ar­gentinischen Luft­kurort in Kürze zu besu­chen, um dem Auslieferungsgesuch Nach­druck zu ver­leihen.
Die intensiven Kontakte dieser “alten Kameraden” zu neo-nazistischen Gruppie­rungen in der Bundesrepublik und Argen­tinien sind bekannt. Ein Forschungspro­jekt der DAIA, “testimonios” (etwa: Zeit­zeugen) genannt, das sich mit dem Thema der deutschen Kriegsverbrecher in Argen­tinien befaßte, fand noch im Dezember letzten Jahres ausführliche Erwähnung in der New York Times unter dem Titel “Argentine Files Show Huge Effort to Harbor Nazi” (14.12.93). In der deutschen Presse wurde diese Untersuchung nie er­wähnt. Die Lehrerin einer deutschsprachi­gen Begegnungsschule in Buenos Aires äußerte: “Wenn man in den Süden runter­geht nach Argentinien oder Chile, da gibt’s noch jede Menge von den alten Ex-Vertretern des tausendjährigen Reiches. Die sind da untergetaucht, leben unter falschem Namen, teilweise mit Wissen der deutschen Botschaft.” Unbekannt dürfte der deutschen Öffentlichkeit auch sein, daß die Goethe-Schule, deren Neubau für 1600 Schüler vor einigen Jahren mit 18 Millionen Mark von der BRD subventio­niert wurde, bis heute keinen jüdischen Schüler aufgenommen hat.
Menem, der der israelischen Regierung öffentlich sein Beileid aussprach, scheint argentinische Juden derweil immer noch mit Israelis zu verwechseln. Lediglich ein Fauxpas des Präsidenten, der auch schon mal behauptet, Sokrates gelesen zu haben? Von Kritikern wird der diplomatische Fehltritt bestenfalls als Ablenkungsmanö­ver bezeichnet. “Wir wissen nicht, warum die Mörder getötet haben. Aber ist es nicht offensichtlich, daß wir alle die Opfer sind?”, schrieb der Cartoonist Rudy erbost in einem Kommentar.
Die Angst wächst
Hundert verschüttete Personen, verzwei­felte Rettungsmanöver der Feuerwehr, täglicher Bombenalarm in jüdischen Schulen und Regierungsgebäuden, Schän­dung eines jüdischen Friedhofs in der Provinz La Pampa. Szenen eines neuen Alltags in Argentinien, zu dem inzwischen auch Skinheads gehören. “In Extremsitua­tionen zeigen sich sowohl die grausamsten Seiten des Menschen, als auch seine be­sten Züge”, erklärte ein Psychologe kurz nach dem Anschlag. Tatsächlich brachten un­zählige Porteños Werkzeuge und Lebens­mittel zu der israelischen Rettungsmann­schaft, die eigens eingeflo­gen worden war. Daß Angehörige von vermißten Per­sonen allerdings Anrufe er­hielten, in denen sie bewußt irregeführt wurden und ihnen neue Hoffnung ge­macht wurde: “Ich habe Ihre Tochter le­bend im Krankenhaus gesehen,” ver­deut­licht, wie weit derlei Grausamkeit gehen kann.
Nachdem die Regierung ankündigte, daß noch im September möglicherweise mit einem neuen Attentat zu rechnen sei, macht sich in der Bevölkerung Angst breit. So kämpfen die Nachbarn des neuen provisorischen Gebäudes der AMIA darum, die “Mutual” irgendwo, “aber nicht bei uns” zu errichten. Der Leiter des katholischen Colegio La Salle, er­klärte, daß viele Eltern ihre Kinder nicht mehr in die Schule gehen ließen, da sie die Nach­barschaft der AMIA fürchteten. Sportver­anstaltungen mit jüdischen Clubs wurden abgesagt. “Opfer sollen keine Nachbarn mehr sein”, entrüstete sich die Süddeut­sche Zeitung daraufhin im August.
Der argentinische Soziologe Juan Corradi sieht die Ursachen dieses unsolidarischen Verhaltens allerdings nicht nur in einer latent antisemitischen Grundhaltung. In­zwischen sei Argentinien in ein System des zwischenstaatlichen Terrors eingetre­ten. Diese neue, schwer begreifbare Di­mension des Terrors stelle die Gesell­schaft vor eine schlimme Entscheidung: “Entweder bist du Opfer oder einfach nur Zuschauer.” Um diesen Teufelskreis der Angst zu durchbrechen, empfiehlt Corradi das Informationsmonopol der Geheim­dienste durch eine eigenständige Bericht­erstattung zu durchbrechen und die Isola­tion der bedrohten Gruppe durch Solida­rität zu überwinden. Zudem sei die Mei­nung politisch unabhängiger Persönlich­keiten in solchen Krisensituationen äu­ßerst wichtig. “Die können eine psy­chologische Schutzfunktion übernehmen und symbolische Signale setzen, nicht nur für diejenigen, die hinter dem Anschlag stecken, sondern auch für die, die politi­sches Kapital daraus schlagen wollen”


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Jenseits des Staates?

Im Editorial weist Albrecht Koschützke darauf hin, daß die Autonomie der latein­amerikanischen Staaten (politisch und ökonomisch) seit jeher begrenzt war, die “Durchsetzung des neoliberalen Paradig­mas (…) jedoch eine extreme Form von außen induzierter Transformation der na­tionalen Gesellschaften mit einer offenbar weiterreichenden Eingriffstiefe” darstellt. Bietet der neoliberale Staat neue Frei­räume für die multinationalen Kapitale, ist seine nationale Autonomie nach dem Um­bauprozeß der achtziger Jahre noch stär­ker reduziert. Auch die Binnenreichweite des lateinamerikanischen Staates war tra­ditionell begrenzt. Er garantierte zumeist weder ein fächendeckendes Bildungs- und Gesundheitssystem, noch kümmerte er sich beispielsweise um die indianische Bevölkerung und die verarmten Massen.
Der Unterschied zu früher liegt darin, “daß die strukturellen Schwächen des Staates nunmehr zu Tugenden erklärt werden, daß die Vernachlässigung seiner sozialen Funktionen nicht mehr vorwerf­bar, sondern lobenswert, weil freiheits­stiftend ist, daß nur rudimentäre staatliche Dienstleistungsangebote statt als Defizit jetzt zum Ziel deklariert werden, kurz, be­stehende Not wird in eine Chance zur Entwicklung umgelogen. Praktisch heißt das: Der immer schon miserable Staat wird noch miserabler; er liquidiert Hoff­nung, Erwartungen, Rechte und Ansprü­che auf Zukunft und Entwicklung gerade für jene, deren eigene materielle Kraft schon bisher nicht ausgereicht hat, indivi­duell Armut, soziale Ungerechtigkeit und Unterentwicklung erfolgreich anzugehen und die jetzt auf die Chancen des Wett­bewerbs und des Marktes reduziert werden.”
Die negativen Auswirkungen der Privati­sierung staatlicher Funktionen beschreibt Thomas Fatheuer in seiner Analyse der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro: Ganze Stadtviertel werden von Drogen­banden, Glücksspielkartellen und Todes­schwadronen kontrolliert. Das Problem ist hierbei, wie so oft, jedoch weniger die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols – die Polizei wird von den BewohnerInnen der Favelas eher als Bedrohung denn als Schutz gesehen und ist zudem mit den Strukturen privater Gewalt “symbiotisch verwachsen” -, sondern ganz allgemein die Macht der Gewalt über die Gesell­schaft. Auch jenseits des Gewaltmonopols werden die staatlichen Aufgaben wie Bil­dungs- und Gesundheitssystem zuneh­mend privatisiert und von Drogen- und Glücksspielbossen übernommen. In der tiefgreifenden sozialen Krise bilden sich laut Fatheuer “neue Formen einer sich barbarisierenden gesellschaftlichen Ver­mittlung, die vielleicht, und das ist das Bestürzende, gar nicht so schlecht funk­tionieren.” Vor allem aber wirken sie sy­stemstabilisierend, begünstigen “autoritäre und faschistische Antworten” und er­schweren den Aufbau basisorientierter Alternativen innerhalb der Favelas.
Daß der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und der Abbau der staatlichen Regulierungsfunktionen auch Chancen bietet und die politische Organisierung der Betroffenen fördern kann, zeigt Juliana Ströbele-Gregor an­hand des Hoch- und Tieflands Boliviens. Der (Wieder-)Aufbau basisorientierter Entscheidungsstrukturen und Organisatio­nen der indianischen Landbevölkerung in den achtziger Jahren resultierte aus der Notwendigkeit, der Austeritätspolitik der bolivianischen Regierungen zu begegnen, wurde aber auch durch die neuen Frei­räume erleichtert, die der Rückzug von “Stiefvater Staat” schuf. Der unabhängige Organisierungsprozeß beförderte gleich­zeitig ein neues Selbstbewußtsein und die Besinnung auf die eigenständige kulturelle Identität und Tradition der indianischen Bevölkerung. Zwei Faktoren spielten in diesem Prozeß eine bedeutsame Rolle: die Führungspersönlichkeiten und die Nicht­regierungsorganisationen (NGOs). Hatten erstere als “soziale Grenzgänger” eine wichtige Funktion als “Mittler von Ideen, Werten, politischen Vorstellungen und Kontakten” nutzten die Basisorganisatio­nen die NGOs insbesondere zur Finanzie­rung notwendiger Projekte und Hilfsmaßnahmen. Dabei erwies sich die massive Ausbreitung der NGOs nicht nur als posi­tiv: mit der Macht des Geldes korrum­pierten sie Führungspersönlichkeiten und zerstörten gewachsene Dorfstrukturen.
Diese Ambivalenz der NGOs in ganz La­teinamerika diskutiert Albrecht Koschützke in seinem Artikel über “Die Lösung auf der Suche nach dem Problem: NGOs diesseits und jenseits des Staates”. Waren diese in den Jahren der Diktatur in vielen lateinamerikansichen Ländern oft dem antidiktatorialen Kampf verpflichtet und nicht selten ein Refugium für Oppo­sitionelle, veränderten sie sich mit dem Redemokratisierungsprozeß der frühen achtziger Jahre und übernahmen oft die Aufgaben, die der neoliberale Staat nicht mehr zu erfüllen bereit war – während der Staat “immer weniger Staat wird und sich qua Privatisierung schrittweise auf reine Vermittlerfunktionen reduziert, also ten­denziell einer NGO ähnlich wird”. Ohne die Bedeutung der NGOs, die seit den achtziger Jahren einen riesigen Boom er­leben, in vielen Teilbereichen in Frage zu stellen, kritisiert Koschützke die verbrei­tete Meinung, daß diese per se effizient, kostengünstig, uneigennützig, demokra­tisch und basisnah seien. In der Realität bilden sich durch den expandierenden Hil­femarkt vielmehr neue Abhängigkeiten. Zudem bestehe die Gefahr, daß die NGOs, statt demokratisches Bewußtsein, Erfah­rung und Organisierung zu fördern, in der Praxis insitutionelle und soziale Prozesse demokratischer Teilhabe untergraben.
Aus einer ganz anderen Perspektive unter­sucht Lothar Witte den Privatisierungs­prozeß der letzten Jahre: Anhand der Re­form der Sozialversicherung in Chile, Peru und Kolumbien macht Witte deut­lich, daß die Ausformung der notwendi­gen Veränderungen in hohem Maße von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt. Das “chilenische Modell”, das während der Diktatur realisiert wurde, trägt vor allem den Interessen des Privat­kapitals Rechnung. Die kolumbianische Reform berücksichtigt zumindest zum Teil auch die sozialen Interessen der ein­kommensschwachen Versicherten. Vor allem aber zeigt Witte – dem das Ver­dienst gebührt, ein so trockenes Thema wie eine Versicherungsreform anregend und anschaulich dargestellt zu haben -, daß weder ein staatliches System automa­tisch sozial gerechter, noch ein privates effizienter ist.
Hans Petter Buvollen und Robert Große zeichnen den schwierigen und wider­sprüchlichen Autonomieprozeß an der ni­caraguanischen Atlantikküste nach. Histo­risch von der Zentralregierung in Mana­gua kaum beachtet, begann erst die sandi­nistische Regierung Anfang der achtziger mit dem verstärkten Aufbau staatlicher In­stitutionen und Entwicklungsprogramme – und machte vieles falsch. Nachdem sich insbesondere die Miskito dem bewaffne­ten Widerstand gegen die Revolutionsre­gierung angeschlossen hatten, initiierte die FSLN einen Verhandlungsprozeß, der 1987 in die Verabschiedung eines Auto­nomiegesetzes mündete. Der Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen und politi­schen Interessen der Zentralregierung und den BewohnerInnen der Atlantikküste, zwischen Staat und Gesellschaft, wurde allerdings bis heute nicht gelöst. Die At­lantikküste ist noch immer “Spielball von Kräften, die außerhalb der Region liegen”.
Den Schwerpunkt des Jahrbuchs be­schließt eine – bereits in den Lateiname­rika Nachrichten Nr. 241/242 vorabge­druckte – sehr persönliche Einschätzung von Ingrid Kummels über die Gleichzei­tigkeit von Sozialismus, Kapitalismus und Santería für die Menschen in Kuba. In Ge­sprächen mit FreundInnen und Familien­mitgliedern hat Kummels festgestellt, wie in den letzten Jahren der ökonomischen Krise die Santería für die Menschen zu ei­nem wichtigen Bezugspunkt ihrer All­tagskultur “jenseits des sozialistischen Staates” wurde. Auch die Regierung hat ihre rigide Haltung gegen diese Volksreli­gion in den achtziger Jahren gelockert: “Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklori­sierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen.” Doch die AnhängerInnen der Santería entzogen sich auf ihre eigene Art dieser Funktionalisierung.
Insgesamt bietet der Schwerpunkt des diesjährigen Jahrbuchs einen interessanten Einblick in die Prozesse, die jenseits des (neoliberalen) Staates vor sich gehen. Er­freulicherweise werden nicht nur die ne­gativen Auswirkungen der neoliberalen Restrukturierung analysiert, sondern auch die Chancen berücksichtigt, die der Rück­zug des Staates bietet. Dies hätte aller­dings noch vertieft werden müssen: Wie in dem Beitrag von Juliana Ströbele-Gregor über die Bauernorganisationen in Bolivien deutlich wurde, sind die sozialen Bewegungen entscheidende Akteure, um der neoliberalen Transformation Wider­stand entgegenzusetzen. Auf sie wird al­lerdings kaum eingegangen. Hier hätte sich – ähnlich dem Beitrag über die NGOs – ein Überblick über die sozialen Bewe­gungen in Lateinamerika angeboten.
Abgerundet wird das Jahrbuch wie in je­dem Jahr durch Länderberichte: Diesmal über Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Gua­temala, Kuba, Mexiko und Peru. Wer keine brandaktuellen Informationen er­wartet – Redaktionsschluß war bereits im April -, wird auch diese Berichte mit Ge­winn lesen.

Jenseits des Staates?. Lateinamerika – Analysen und Berichte 18, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Horlemann Verlag (Bad Honnef), 278 Sei­ten, 29,80 DM, ISBN 3-89502-008-7


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Insektizide auf Santiago

Der Insektizideinsatz über Santiago wurde mit der Entdeckung von rund 20 Frucht­fliegen, Schädlingen an Obstbäumen, be­gründet. Sie waren den Angestellten des “Servicio Agrícola y Ganadero” (SAG – Land- und Viehwirtschaftsbehörde) am 21. Februar bei den regelmäßig stattfin­denden Kontrollen aufgefallen. Zehn Tage ließ die Behörde danach verstreichen, um dann am 2. März völlig unvermittelt mit der Sprühaktion zu beginnen, ohne die zu­ständigen Ratsmitglieder und die Bevölke­rung zu informieren. Am 5.März kündigte der Leiter des SAG an, innerhalb der nächsten vier Wochen seien weitere vier bis neun Sprühflüge über denselben Stadtvierteln notwendig. Die Versuche der BewohnerInnen, sich mit Papiertüchern vor dem Mund zu schützen, konnten dabei nicht mehr sein als eine hilflose Geste.
Schon nach der ersten Sprühaktion herrschte in den betroffenen Gebieten Empörung und Unverständnis. In den Zeitungen wurde relativ breit darüber be­richtet, vor dem SAG-Gebäude fanden Kundgebungen von Umweltschutz-und Jugendorganisationen statt. Die zu Pro­testversammlungen zusammengekomme­nen lokalen BürgermeisterInnen sprachen sich allerdings mehrheitlich nicht gegen die Aktion als solche aus, sondern gegen den Mangel an Information und Abspra­che seitens des SAG. Bei den späteren Sprühflügen wurden die lokalen Stadt­verwaltungen und die Öffentlichkeit vor­her zumindest über den Termin informiert.
Tierfutter ins Haus!
Zur Kanalisation der Unruhe richteten die Kommunen ein Beschwerdetelefon ein. In den ersten drei Tagen gingen dort 460 An­rufe ein. Gemeldet wurden u.a. 97 Asth­maanfälle, 82 Fälle von Augenreizungen, mindestens zehn Menschen mit erhöhtem Blutdruck. Es gab auch einen Todesfall – jeglicher Zusammenhang mit der Be­sprühung wurde allerdings von den Be­hörden kategorisch abgestritten. Über­haupt wurde die Behörde nicht müde zu beteuern, wie absolut ungefährlich Mala­thion für Menschen und Tiere sei, und daß – trotz der gemeldeten und belegten Ge­sundheitsbeschwerden der BewohnerIn­nen – keinerlei Risiko bestehe. Paradox mutet da die Empfehlung an, als Vor­sichtsmaßnahme kein Tierfutter draußen stehen zu lassen, keine Wäsche aufzuhän­gen und im Haus zu bleiben, wenn die Flugzeuge kommen. Das hochtoxische Nervengift beschrieb die Behörde als “Sexuallockstoff für die Fruchtfliegen”, was sich wesentlich freundlicher anhört, aber kaum haltbar sein dürfte.
Exporterfolg Obst
Der Obstexport ist im “Modell Chile” ein so wichtiger Pfeiler der Wirtschaft gewor­den, daß die Behörden zu so drastischen Maßnahmen greifen. Der Präsident der Sociedad Nacional de Agricultura (SNA, Nationale Landwirtschaftsgesellschaft) Ernesto Correa sprach offen aus, worum es geht. Er bezeichnet die Besprühung der Stadtviertel als “tolle Sache” und be­glückwünschte den SAG dazu. Correa weiter: “Wieviele Proteste es auch geben mag, es ist unbedingt notwendig, einen guten Hygienestand zu haben, um Märkte (für Fruchtexporte-Verf.) zu öffnen und weiterhin in andere Länder zu exportie­ren… um den komparativen Vorteil (Chiles gegenüber anderen Obstexport­ländern) zu sichern.” Auch der Präsident der Vereinigung der Exporteure, Ronald Brown, warb bei der Bevölkerung um Verständnis für die “Lösung dieses Pro­blems, das die Wirtschaft des Landes be­einträchtigen kann”. Der Leiter des SAG, Sánchez, prognostizierte, die Lage auf den internationalen Märkten werde sich ver­komplizieren, gelinge es nicht, die Frucht­fliege schnell unter Kontrolle zu bringen. Denn die Importeure chilenischen Obstes, allen voran die USA, die allein 60 Prozent der chilenischen Früchte abnehmen, rea­gierten empfindlich. So mußte das Auf­tauchen der Fruchtfliege umgehend dem Landwirtschaftsministerium der USA ge­meldet werden. Wird die Fruchtfliege dann nicht mit allen Mitteln bekämpft, werden Importbeschränkungen ausgespro­chen.
Die Konkurrenten würde es freuen. Süd­afrika, Neuseeland, Spanien, Italien, Bra­silien und Argentinien bieten ebenfalls Obst an. Für Chile ist es zunehmend schwieriger geworden, seine Früchte auf dem immer weiter abgeschotteten EG-Markt, nach den USA zweitwichtigster Handelspartner, loszuwerden. 1993 be­legte die EG die chilenischen Äpfel mit Schutzzöllen, die Folge waren Verluste von 129 Mio. US-Dollar für die chileni­schen Exporteure. Nur noch halb soviele chilenischen Kiwis dürfen verglichen mit dem Vorjahr auf den EG-Markt, und das noch dazu zu einem schlechteren Preis. Neue Märkte sollen diese Verluste aus­gleichen. Die Exporte in die lateinameri­kanischen Nachbarstaaten konnten von 1993 auf 1994 um 54 Prozent gesteigert werden. Angesichts des enormen Konkur­renzdrucks der beteiligten Länder unter­einander dürften diese Märkte jedoch be­grenzt bleiben. Im März 1994 führte der Fund einer einzigen Raupe in einer La­dung chilenischen Obstes in Mexiko zu einem Importverbot für die gesamte be­troffene Fracht im Gesamtwert von sechs Millionen US-Dollar.
Der Obstanbau für den Export wurde wäh­rend der Pinochet-Diktatur im Rahmen der neoliberalen Umgestaltung besonders gefördert und machte eine atemberau­bende Entwicklung durch. Der “Erfolg” war so groß, daß der Obstexport als einer der Motoren des Modells bezeichnet wurde. In den 80er Jahren entwickelten sich die Obstanbau und Fischerei zu den nach dem Kupferbergbau zweitwichtig­sten Exportbereichen.
1973 exportierte Chile lediglich 45,1 Ton­nen frisches Obst, 1992 1,2 Mio. Tonnen. Chile hat heute einen Weltmarktanteil am Handel mit nicht-tropischen Früchten von 13 Prozent. Der Exportwert der Früchte machte 1987 527 Mio. US-Dollar aus. Der Anteil des Obstes am Gesamtexport Chi­les belief sich 1989 auf 11 Prozent. 1991 hatte sich dieser Betrag fast verdoppelt (993 Mio. US-$) und fiel 1992 wieder leicht.
Monokulturen für Devisen
Die Exporte verteilen sich auf fünf Früchte: Pflaumen, Kiwis, Äpfel, Birnen und vor allem Weintrauben, die 1992 al­lein 425 Mio. US-Dollar ausmachten. Die Zahl der Arbeitsplätze im Obstanbau, von denen die meisten saisonal begrenzt sind, stieg dagegen nur von 33.000 zwischen 1970 und 1973 auf 88.000 im Jahr 1993.
Die extreme Erhöhung der Produktivität in den achtziger Jahren ist darauf zurück­zuführen, daß in der Zeit der Pinochet-Diktatur transnationale Konzerne riesige Ländereien aufkauften, um dort pestizid- und düngeintensive Monokulturen für den Export entstehen zu lassen. Zur Zeit gibt es etwa 300 Exportunternehmen, von denen nur 30 Prozent überhaupt einen nennenswerten Marktanteil haben. Die größten zehn Unternehmen teilen sich da­bei 60 Prozent des Exportvolumens.
Viele ehemalige Kleinbauern ziehen in­zwischen als Saisonkräfte durch das ganze Land, je nachdem, wo gerade Erntezeit ist. Zwar gab es auch schon vor der Um­strukturierung SaisonarbeiterInnen, aber damals kamen auf eine Saisonkraft vier LandarbeiterInnen mit fester Arbeit. Heute ist dieses Verhältnis umgekehrt. Die Zahl der SaisonarbeiterInnen in diesem Bereich bewegt sich zwischen 500.000 und 800.000 bei einer Gesamtbevölkerung von nur 13 Mio. Menschen. Angesichts dieser Zahlen werden auch die offiziellen Ar­beitslosenstatistiken besser verständlich. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt in Chile lediglich bei ca. fünf Prozent. Die Saisonarbeitskräfte, die keine feste Arbeit haben und immer wieder Zeiten der Ar­beitslosigkeit überbrücken müssen, finden in dieser Berechnung keinerlei Berück­sichtigung.


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Lateinamerika im Fußballfieber

Kolumbien – auf leisen Sohlen zum Titel?

Die Vorstellung mit Kolumbien zu begin­nen, rührt aus der schlichten Tatsache, daß die Kolumbianer als einzige Mannschaft die Qualifikation ungeschlagen überstan­den. Zu zwei Siegen über Peru und zwei Unentschieden gegen Paraguay gesellten sich zwei Siege gegen den Topfavoriten und Südamerikameister Argentinien. Nach dem 2:1 Heimsieg gelang den Kolumbia­nern im Rückspiel in Buenos Aires Histo­risches. Mit 5:0 wurde Argentinien die höchste Heimniederlage in seiner Ge­schichte verpaßt. Kurz nach Schlußpfiff füllten sich in Kolumbien landesweit die Straßen mit fünf Finger zeigenden, enthu­siastisch feiernden AnhängerInnen. Über­schäumende Begeisterung mit tödlichen Folgen für Dutzende. Gewalt als Begleit­erscheinung des Massenspektakels Fußball ist leider auch in Kolumbien an der Tagesordnung.
Dem hohen Stellenwert des Fußballs im allgemeinen und dieses Triumphes über Argentinien im besonderen, trug auch Prä­sident Gaviria Rechnung. Alle Spieler und der Trainer wurden mit dem höchsten Or­den des Landes dekoriert. In Kolumbien träumen viele vom Titel, auch die Fußball­fachwelt traut den Supertechnikern den Coup zu. Unbestritten der populärste und schillerndste Fußballer des Landes ist der Kapitän und Mittelfeldregisseur Carlos Alberto Valderrama. Nach einer Kniever­letzung Ende Februar bangte eine ganze Nation um seine Teilnahme. Tausende von Kerzen wurden angezündet, tausende von Gebeten gesprochen. Unerwartet schnell wurde “El Pibe” (der Kleine) wie­der fit und die Träume vom Titel erhielten mit seinem Comeback neue Nahrung.

Der Kopf Kolumbiens: “El Pibe” – “Ich liebe das Leben in seiner ganzen Buntheit”

Schon äußerlich fällt Carlos Valderrama mit seinem blonden Afro-Look aus dem Rahmen. So eigenwillig wie seine Haar­tracht, die er als Ausdruck seiner Lebens­freude beschreibt, so eigenwillig zeigt er sich auf dem Spielfeld. Der Ball als Spiel­zeug und nicht als schnöder Arbeitsgegen­stand. Dieser Spielauffassung zu Folge “streichelt” Valderrama erst ausgiebig den Ball, bevor er ihn zu einem Mitspieler weiterpaßt. All dies mit ausgefeilter Tech­nik, die den ÄsthetInnen unter den FußballanhängerInnen das Herz höher schla­gen läßt. Brillant seine Spielübersicht, die exakten Pässe, die nahezu Ausgang jedes Angriffes seiner Mannschaft sind. Als Kopf von seinen Mitspielern unum­schränkt anerkannt, wird er als Anspiel­station permanent gesucht und meist auch gefunden. Zumindest so lange die Kondi­tion von “El Pibe” reicht. Laufen war vor allem zu Beginn seiner Karriere nicht sein Ding. “Ich bin keiner, der anderen hinter­herrennt. Ich muß das Spiel machen und Tore schießen, sonst nichts.” Im reifen Alter von knapp 33 Jahren hat er sich scheints doch noch besonnen. Bei der “Copa America” (Südamerika­meister­schaft) im letzten Jahr zeigte er neben den ge­wohnten techni­schen Kabinettstückchen auch unge­wohnten kämpferischen Einsatz. Der dem Nationaltrainer Francisco Matu­rana vor Jahren zugeschriebene Satz: “Ein Län­der­spiel ohne Carlos ist wie ein Tag ohne Sonne”, gewinnt so gesehen zusätz­liche Berechtigung. Die Wertschätzung ist in­des nicht auf Kolumbien beschränkt. Sowohl 1987, als Valderrama bei der “Copa America” erstmals international in Erscheinung trat, als auch 1993 wurde er zum südamerikanischen Fußballer des Jah­res gewählt.

Europäische Effizienz und lateinamerikanisches Genie

In Europa gehen die Meinungen bezüglich Valderrama auseinander. Bei den deut­schen Fans ist er durch seine Schauspiel­einlage im WM-Spiel 1990 gegen die deutsche Elf unrühmlich in Erinnerung geblieben. Mehrere Minuten lang spielte er den “toten Mann”, ließ sich mit der Bahre vom Platz tragen, um Sekunden später, wie von Geisterhand genesen, wie­der quicklebendig auf dem Platz aufzutau­chen und zu allem Überfluß mit einem genialen Paß das kolumbianische Aus­gleichstor vorzubereiten.
Als erster Kolumbianer suchte Valder­rama 1988 das lukrative Legionärsdasein in Europa. Seine Leistungen während der drei Jahre im französischen Montpellier und dem halbjährigen Aufenthalt im spa­nischen Valladolid waren aber eher durchwachsen. Seine lateinamerikanische Spielauffassung vertrug sich nicht recht mit europäischem Effizienzdenken. Rich­tig glänzen konnte Valderrama nur bei seinen Auftritten im Nationaltrikot. Folg­lich kehrte er 1992 nach Kolumbien zu­rück. Seit 93 spielt er nun in Barranquila, unweit entfernt von seiner Geburtsstadt Santa Marta an der kolumbianischen Ka­ribikküste. Mit dem dortigen Klub Atlé­tico Junior wurde er erstmals in seiner Laufbahn kolumbianischer Meister. Viel­leicht doch von europäischem Effizienz­denken beeinflußt oder etwa nur ein Aspekt des Lebens in seiner ganzen Bunt­heit?

Mexiko – Heimvorteil im Gringoland

An der Qualifikation zur letzten WM durfte Mexiko nicht teilnehmen. Der Grund: Bei einer Junioren-WM hatte Me­xiko diverse ältere Spieler mit getunten Pässen eingesetzt. Nachdem die Verfeh­lung ruchbar wurde, folgte die empfindli­che Strafe durch den Weltfußballverband (FIFA) auf dem Fuß. Nach achtjähriger WM-Abstinenz war die Freude nun um so größer, daß Mexiko seiner Favoritenrolle in der Nord- und Mittelamerika-Ausschei­dung gerecht wurde und somit neben dem automatisch qualifizierten Veranstalter­land USA als einziges Land diese Region vertritt. Die Spiele der mexikanischen Mannschaft werden wohl die stimmung­vollsten der WM werden – zumindest, was die Atmosphäre auf den Rängen betrifft. Hauptspielort für Mexiko ist Washington. Die riesige mexikanische Gemeinde in den USA wird zu Tausenden in die Hauptstadt pilgern.
Zwei Niederlagen in der Qualifikation in Costa Rica und El Salvador konnte das mexikanische Team verkraften, da der Hauptkonkurrent Kanada zweimal ge­schlagen wurde. In zwölf Spielen nur acht Gegentore. Nicht zuletzt ein Verdienst des Ausnahmetorwarts Jorge Campos, der als populärster Spieler dem in Spanien spie­lenden Hugo Sanchez den Rang abgelau­fen hat.

Der komplette Spieler:Campos – “Ich liebe grelle Farben und verrückte Kleider­kombinationen”

Der jetzige US- und ehemalige mexikani­sche Nationaltrainer Bora Milutinovic hält ihn für den kompletten Spieler der letzten hundert Jahre. Einfach deshalb, weil Jorge Campos auf den zwei gegensätzlichsten Positionen, die es im Fußball gibt, zumin­dest nationale Spitzenklasse darstellt. Sowohl in der Nationalmannschaft, als auch vor allem im Verein, spielt er je nach Lage Torwart oder Mittelstürmer, mitunter gar in einem Spiel. Den Höhepunkt seiner Doppelrolle zelebrierte er 1992 bei einem Erstligaspiel. Zuerst vom Tor in den Sturm gewechselt, sorgte er für den Aus­gleich, um kurz vor Ende der Partie bei einem Elfmeter für die gegnerische Mannnschaft ins Tor zurückzukehren und mit seiner Abwehrparade das Unentschie­den zu sichern. “Das Ganze ist keine in­szenierte Show von mir. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, ob ich nur Tore verhindern oder nur Tore schießen soll.” Aber Entscheidungen über die Aufstellung trifft im Fußball ja gemeinhin der Trainer, womit Campos aus seinem Dilemma be­freit wäre. Seinem Spieltrieb gibt Campos mit Billigung seiner Trainer auch als Tor­wart nach. Da sowohl die mexikanische Nationalmannschaft als auch seine Ver­einsmannschaft UNAM Mexiko ohne letzten Mann (Libero) spielen, bekleidet Campos diese Position ersatzweise.
Seine für einen Torhüter geringe Größe von 175 cm gleicht er mit einem enormen Sprungvermögen aus. Entwickelt hat er diese Sprungkraft nach eigenen Angaben beim Fußballspiel am Strand seiner Hei­matstadt Acapulco. Andere Berichte kol­portieren indessen, daß er seiner Tätigkeit als Hühnerfänger auf der großväterlichen Farm einen Gutteil seiner Fangtechnik und Sprungkraft verdankt.

Kleider machen Leute

Seine Position als Torwart verleiht ihm alle Freiheiten bei der Kleiderwahl. Haben Feldspieler ob des einheitlichen Trikots nur geringen Spielraum, mit ihrer Kluft auf sich aufmerksam zu machen, so sind der Phantasie des Torhüters keine Gren­zen gesetzt. Kein Torhüter nützt dies so weidlich aus, wie Jorge Campos. “Das meiste Geld gebe ich für meine ausgefal­lenen Torhüterausrüstungen aus, ich liebe grelle Farben und verrückte Kleiderkom­binationen.” Wenn er auch verrückte Kleiderkombinationen bevorzugt, verrückt ist er keineswegs, sondern mit einer guten Portion Realitätssinn ausgestattet. Nach Europa will er auf keinen Fall wechseln. Er befürchtet wohl zu Recht, daß er mit seinem Stil im nüchternen Europa nicht ankommen würde.

Bolivien – Höhenflug in dünner Andenluft

Bolivien hatte nun wahrlich bei der Pro­gnose der WM-Teilnehmer niemand auf der Rechnung. Während ihrer zweier WM-Teilnahmen 1930 und 1950 gelang ihnen weder Punkt noch Tor. Einer der “Fußballzwerge” schlechthin. Die Fuß­ballgrößen Brasilien und Uruguay galten vor Beginn der Qualifikation als haushohe Favoriten, Ecuador als Außenseiter und Bolivien als Punktelieferant. Aber es kam ganz anders. Seine Heimspiele trägt Boli­vien auf 3800m Höhe in La Paz aus. Folglich geht den gegnerischen Mann­schaften in La Paz im wahrsten Sinne des Wortes gegen Ende des Spiels die Luft aus. Dies ist nicht neu, doch noch nie schlug Bolivien soviel Kapital daraus wie diesmal. Brasilien mußte in den letzen drei Minuten zwei Gegentore hinnehmen und verlor 0:2. Uruguay bekam in den letzten zehn Minuten gar drei Eier ins Nest gelegt und verlor 1:3. Daß Bolivien in Brasilien mit 0:6 unter die Räder kam, konnte verschmerzt werden. Der zweite Platz hinter Brasilien blieb dank der impo­santen Heimbilanz gewahrt. Die erste WM-Teilnahme seit 44 Jahren war ge­schafft. Der Verkehr brach zusammen. Nicht nur in La Paz, auch in den Exil­gemeinden Washington-Georgetown, Bu­enos Aires, Santiago und Lima.
Sechs aktuelle Nationalspieler entstam­men der berühmten Academia Tahuichi Aguilera (Fußballnachwuchsschule) in Santa Cruz, die 1978 vom jetzigen Staats­sekretär für Sport Rolando Aguilera ge­gründet wurde. Auch der Stürmerstar Marco Antonio Etcheverry erlernte dort sein fußballerisches Rüstzeug.

“El diabolo”: Ein teuflischer Dribbler

Seine Ausbildung an der Tahuichi-Aka­demie verdankt Marco Etcheverry der Antidrogen-Organisation “Seamos”. “Sea­mos” kam für den Monatsbeitrag von 16 DM auf, da dieser die finanziellen Mög­lichkeiten seiner Eltern überstieg. Mit 17 Jahren unterschrieb “El diabolo” (der Teufel) seinen ersten Profivertrag bei Bo­livar La Paz. Mit 21 Jahren feierte er 1991 sein Debüt in der Nationalmannschaft. Im gleichen Jahr glänzte er mit spektakulären Dribblings bei der “Copa America” (Südamerikameisterschaft) so sehr, daß er ins All-Star-Team der besten 11 Spieler des Turniers gewählt wurde. Der Weg ins lukrative Europa war geebnet. Der spani­sche Erstligist Albacete sicherte sich flugs die Dienste des umworbenen Stürmers. Doch alles Geld konnte das überhand­nehmende Heimweh nicht kompensieren. Etcheverry wurde mehr in Kneipen als auf dem Trainigsplatz gesehen. Nach einem halben Jahr brach “El diabolo” seine Zelte im europäischen “Paradies” wieder ab, um nach La Paz zu seinem Stammverein Bo­livar zurückzukehren. Die in Bolivien für einen Fußballprofi kärglichen Verdienst­möglichkeiten von im Schnitt 1700 DM, ließen ihn aber nach einem Jahr das chile­nische “Exil” bei Colo Colo Santiago su­chen. Mit diesem Club wurde er 1993 auf Anhieb Meister, wenngleich eine schwere Knieverletzung im November sein Mit­wirken in der Schlußphase der Meister­schaft verhinderte. Bei der WM soll er aber wieder fit sein und kann somit im Er­öffnungsspiel dem deutschen Team die Hölle heiß machen.

Argentinien

Bei den letzten zwei Weltmeisterschaften jeweils Endspielgegner der deutschen Mannschaft, war der Weltmeister von 1978 und 1986 und amtierende Südamerika­meister (1993) natürlich Top­favorit in seiner Gruppe. Doch Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Das unterentwickelte Kolumbien könne in Ar­gentinien doch gar nicht gewinnen, soll Diego Maradona vor dem Rückspiel in Buenos Aires geäußert haben. Mit dem schon erwähnten 5:0 Sensationssieg gaben die Kolumbianer auf dem Spielfeld eine deutliche Antwort. Das ruhmreiche Ar­gentinien mußte so eine interkontinentale Zusatzqualifikation gegen Australien be­streiten, um das Ticket für die USA zu er­halten. Mit diesen beiden Spielen kehrte auch Argentiniens bester Fußballer aller Zeiten, Diego Armando Maradona nach dreijähriger Abstinenz wieder ins Natio­nalteam zurück. Trotz mangelhafter Fit­ness trug Maradona mit seiner Vorlage zum 1:1 in Australien und beim knappen 1:0 in Buenos Aires mit seinem Mythos entscheidend zur Qualifikation bei. Wenn auch im Moment ohne Verein und von seiner Höchstform weit entfernt, hofft Ar­gentinien, daß Maradona auch bei der WM mit Genieblitzen die Mannschaft führen und inspirieren kann.

“Dieguito”: “Fußballgott” und “Kokain­sünder” – der Mythos Maradona

Neben dem Brasilianer Pelé gilt er als weltbester Spieler aller Zeiten. Schlag­zeilen produziert er im Privatleben ebenso ausgiebig wie auf dem Spielfeld. Seine Größe als Fußballer ist ebenso unumstrit­ten, wie seine Persönlichkeit umstritten. Politisch zeichnet sich Maradona durch wechselnde Positionen aus. Einst Verehrer von Menem, schenkte er als Zeichen sei­ner Wertschätzung unlängst dem máximo líder Fidel Castro sein Trikot. Bei den kürzlichen Kommunalwahlen in Argenti­nien sprach er sich für das Mitte-Links­Bündnis Frente Grande aus.

Teures Wunderkind

Seine von zahlreichen Rekorden und Er­folgen gekrönte Profikarriere begann Diego Armando Maradona schon zehn Tage vor seinem 16. Geburtstag als Ein­wechselspieler der Argentinos Juniors Bu­enos Aires. Vier Monate später feierte das Supertalent als jüngster Nationalspieler des Landes aller Zeiten seinen Einstand in der Nationalmannschaft. Mit 21 Jahren wechselte er für die damalige Rekordablö­sesumme von ca. 20 Millionen DM zum spanischen Club FC Barcelona; 1984, mit 23 Jahren, für die neue Rekordablöse­summe von ca. 24 Millionen DM an den Vesuv zum SSC Neapel. Größere sportli­che Erfolge hatte “Dieguito” bis dato überhaupt noch nicht errungen. Allein sein Ruf als weltbester Fußballspieler ließ die Ablösesumme in ungeahnte Höhen schnellen. Mit der Zeit in Neapel (84 bis 91) ist der Aufstieg zum verehrten “Fußballgott” wie auch der Fall zum “Kokainsünder” verbunden.

Eine Stadt und ihr Spieler – die Symbiose

Schon zu seiner Vorstellung pilgerten 80.000 ZuschauerInnen ins Stadion San Paolo. Maradona, einer, der den Aufstieg geschafft hat, als Symbol der Hoffnung für die Armen. “Bienvenuti a Italia” – so wurde das Afrika zugeordnete Neapel in Genua oder Mailand hämisch empfangen. Maradona als Symbol eines neuen Selbst­bewußtseins gegenüber den reichen Städ­ten des Nordens.
Maradona gab die Sympathien, die ihm in Neapel entgegenschlugen, zurück. Auf dem Spielfeld ließ er mit seinen Tricks Alltagssorgen verblassen. Privat lud er des öfteren Kinder für ein Wochenende in seine Prunkvilla ein. Wenn überhaupt, dann wurde in Argentinien der Gewinn der Weltmeisterschaft 1986 enthusiasti­scher gefeiert als in Neapel. Auch Neapel war Weltmeister geworden, schließlich war es ihr “Dieguito”, der als überragen­der Spieler dem Turnier seinen Stempel aufgedrückt hatte. Unsterblich machte sich Maradona im Jahr darauf. Der Begriff scudetto (italienischer Meistertitel) war aus dem neapolitanischen Vokabular ent­fernt worden, schien doch ein Fluch auf ihm zu lasten oder wie anders konnte er­klärt werden, daß Neapel noch nie Meister geworden war. Maradona, der Magier, lö­ste auch diesen Fluch. Meisterschaft und Pokal in einem Jahr. Maradona war auf dem Höhepunkt seines Ruhms angekom­men. Eine ganze Stadt lag “Dieguito” zu Füßen, umarmte ihn – und hätte ihn fast erdrückt.

Maradona auf der Flucht – die Tragik

Maradona, der sich anfangs in seiner un­antastbaren, gottähnlichen Rolle gefiel, wurde es zuviel. “Ich fühle mich wie ein Gefangener” äußerte er 1989. Er wollte weg, obwohl der sportliche Erfolg immer noch gegeben war. 1990 wurde die Mei­sterschaft ein zweites Mal errungen. Maradona gehen lassen, Neapel ohne Gott und Hoffnung? Wie sollte ein Präsident das verantworten? Maradona im Käfig. Im Februar 91 wurde Maradona mit ersten Drogenvorwürfen konfrontiert. Im März wurde es amtlich. Nach einem Ligaspiel wurde ihm der Kokaingenuß nachgewie­sen. Er habe zu den Drogen gegriffen, um dem Rummel um seine Person zu entflie­hen. Er floh weiter. Zunächst vor der ita­lienischen Justiz nach Argentinien. Dort wiederum in die Drogen. Nach seiner Festnahme wegen Drogenbesitz bewahrte ihn nur sein Name und die Bereitschaft, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, vor einer Haftstrafe. Seine Karriere schien beendet.
Nach Ablauf seiner 15monatigen Spiel­sperre wegen Dopings wollte er seine Kar­riere bei Boca Juniors Buenos Aires fort­setzen. Neapel gab seinen Sohn preis – für 11,3 Millionen DM. Nie war er so billig und dennoch für Boca zu teuer. So hieß der glückliche Erwerber Sevilla. Mit Ma­radona setzte ein Zuschauerboom ein. Der Mythos Maradona hatte an Zugkraft nichts eingebüßt. Glücklich wurde Diego in Sevilla jedoch nicht. Die Eskapaden häuften sich. Im Sommer 93 hatte Mara­dona sein Ziel erreicht. Er wurde entlassen und kehrte nach Argentinien zurück. Sein neuer Club hieß Newell’s Old Boys aus Rosario – bis zum 1. Februar. “Maradonas Vertrag mit unserem Klub ist beendet, weil Diego psychisch nicht in der Lage ist, mit Anstand und Würde in einer ihm ge­mäßen Art zu spielen.” Mit diesen Worten beendete der Vereinspräsident die Zu­sammenarbeit mit dem enfant terrible. Die WM ist Maradonas neuer Fluchtpunkt. “Die Argentinier können beruhigt sein. Ich werde bei der WM dabei sein und in den USA wie um mein Leben spielen” ließ er kurz nach seiner Entlassung verlauten. Wohin sein Weg oder seine Flucht danach führen wird, ist noch offen. Der Mythos lebt weiter. Nur so ist zu erklären, daß dem bald 34jährigen Maradona auch für die Zeit nach der WM schon wieder An­gebote vorliegen. Darunter eins vom SSC Neapel.

Brasilien

Brasilien ist das einzige Land der Welt, das an allen 14 Weltmeisterschaften teil­genommen hat. Brasilien ist das einzige Land, das auf einem fremden Kontinent Weltmeister wurde (1958 in Schweden). Die glorreiche Zeit des dreifachen Welt­meisters liegt indessen weit zurück. Seit 24 Jahren kein Weltmeistertitel mehr. Dennoch gilt Brasilien immer noch als In­begriff für Fußballkunst und Fußballzau­ber. Wenngleich auch die Kolumbianer inzwischen als “die letzten Brasilianer” tituliert werden, gilt Brasilien wie immer als einer der Topfavoriten auf den Titel. Daran ändert auch die erstmals in einer Qualifikation erlittene Niederlage gegen Bolivien nichts. Gruppensieger wurden die Brasilianer trotzdem. Im letzten und entscheidenden Spiel gegen Uruguay be­rief der Nationaltrainer Parreira nach neunmonatiger Verbannung den Stürmer­star Romário wieder ins Aufgebot. Dieser bedankte sich mit zwei Toren. Unbestrit­ten als Torjäger, ist er innerhalb der Mannschaft ob seiner Starallüren jedoch ständiger Unruheherd.

Heirat im Strafraum: Romário: “Training ist Kalorienverschwendung”

“Ich wollte schon seit frühester Jugend immer ganz vorne spielen und Tore schie­ßen.” Romário hat sein Vorhaben ein­drucksvoll umgesetzt. Von 89 bis 91 wurde er dreimal in Folge holländischer Torschützenkönig. Auch in seiner ersten Saison beim FC Barcelona wurde er die­ses Jahr souveräner Schützenkönig. In Eu­ropa zog er als Torschützenkönig bei den Olympischen Spielen 1988 erste Auf­merksamkeit auf sich. Sein darauffolgen­der Wechsel zum Philips-Sport-Verein (PSV) Eindhoven sorgte durch die unge­wöhnliche Finanzierungsart für Schlag­zeilen. Philips hatte von der brasiliani­schen Zentralbank mit einem Abschlag Schuldentitel in Höhe von 2,8 Millionen US-Dollar aufgekauft, der Verein Romá­rios (Vasco da Gama) erhielt im Gegen­zug von der Zentralbank Cruzados zum Tageswert von 3,91 Millionen US-Dollar (siehe LN 176). Zum ersten Mal wurde so ein Fußballspieler zum Zwecke staatlicher Schuldentilgung verwendet.

Der launische Strafraumkönig

Der Strafraum ist Romários Lebensfeld. Nicht nur, daß er seine Tore fast aus­schließlich aus kurzer Distanz im selbigen erzielt, nein selbst geheiratet hat er in ihm. Zu seiner Trauung wurde eigens ein Altar auf dem Elfmeterpunkt eines Fußballplat­zes aufgebaut. Launisch zeigt er sich auch bei der Wohnungssuche in Barcelona. Nach knapp einem Jahr wohnt er immer noch in einem Luxushotel, weil er sich für kein Appartement entscheiden kann. Mal hat’s keinen Meeresblick, mal ist’s zu klein, mal ist’s zu weit vom Trainingsplatz entfernt. Ansonsten mißt er dem Training eher weniger Bedeutung bei. Training sei “Kalorienverschwendung” ließ er einmal verlauten. Dementsprechend häufig blieb er ihm fern. Tore schießen läßt sich nun­mal nicht trainieren. “Ich glaube, daß ich mit diesem Talent auf die Welt gekommen bin”, äußerte er sich zu seinen Torjäger­qualitäten. An Selbstvertrauen mangelt es Romário wirklich nicht. Dem brasiliani­schen Nationalheiligen Pelé unterstellte er kürzlich sogar in aller Öffentlichkeit “Schwachsinnigkeit” und “Museums­reife”. Seinen Stürmerkollegen in der Na­tio­nalmannschaft, Muller, kriti­sierte er hef­tig und kündigte an, daß er nicht mit ihm zusammenspielen wolle. Pelé rea­gierte gelassen: “Manchmal sagt man in Eu­ropa eine Sache und sie wird in einer anderen Art und Weise in Südame­rika be­richtet”. Er bezeichnete sich sogar als Fan Romários und erwartet ihn als einen der Super­stars bei der WM. Die Mitspieler des Torjägers reagierten gar nicht. Der Grund: Nationaltrainer Parreira verhängte ei­nen “Maulkorberlaß”. Keiner darf sich in der Öffentlichkeit negativ über den Hoff­nungsträger der Nation äußern. Vor neun Monaten noch hatte Romários For­derung nach einem Stammplatz zu sei­ner Ver­bannung geführt. Jetzt hält ganz Bra­silien in der Hoffnung still, daß Romá­rio Bra­silien zum Weltmeistertitel schießt. Wehe Romário, wenn er nicht trifft.


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Entscheidung für die Zukunft

Bis zum 2. Juli müssen sich alle Beitragszahle­rInnen entscheiden, ob sie im öffentlichen Rentensy­stem bleiben wollen oder Mitglied einer der über zwan­zig privatwirtschaft­lichen Administra­doras de Fondos de Jubilaciones y Pensio­nes (AFJP) werden wollen.
Nachdem der Ausverkauf der Staatsunter­nehmen inzwi­schen fast abgeschlossen ist, zieht sich der Staat als Akteur nun auch immer weiter aus dem sozialen Sektor zu­rück. Argentinien ist damit nach Chile das zweite Land des Cono Sur, das seine Rentenversiche­rung privatisiert. Doch während in Chile die Al­tersversorgung ausschlie?­lich nach dem neoliberalen Motto “JedeR spart für sich allein” funk­tioniert, wurde in Argentinien nach hefti­gen Diskussionen schlie?lich die Koexi­stenz eines öffentlichen und ei­nes privaten Systems gegen die Lobby der zukünftigen Versicherungsträger, vor allem nationale und inter­nationale Banken, durchge­setzt. Beide Länder haben sich damit von der Idee des Generationenvertrages zur Siche­rung der Renten verabschiedet, wobei aber die Rente in Argentinien noch stärker den Charakter einer Versicherung behält.
Dies war auch deshalb mög­lich, weil sich inzwischen gezeigt hat, da? die chi­lenischen privaten Rentenversicherungs-träger weit weniger rentabel für die Ein­zahlerInnen sind als vorher an­genommen worden war. Sie hatten auf eine Verzin­sung der Einzahlun­gen von jährlich minde­stens fünf Prozent speku­liert. Davon wird auch in Argentinien ausge­gangen. Die rentabelsten chilenischen Unterneh­men haben aber bisher nur um die vier Prozent, die schlechtesten sogar unter zwei Prozent er­reicht. Das unab­hängige Arbeitsfor­schungsinstituts PET in Chile geht in seinen Prognosen davon aus, da? eine Mehrheit der EinzahlerInnen später Auszahlungen unterhalb der Mindestrente erhalten wird. Das dreigliedrige ar­gentinische System wird das vermeiden.

Dreigeteilte Rente

Jede Rente wird sich in Zukunft aus drei Teilen zusammensetzen: in beiden Syste­men zahlt der Staat die Prestación Básica Uni­versal (PBU), eine Grund­rente von ungefähr 150 Peso (ca. 250 DM) und die Prestación Complementaria (PC), eine Ausgleichszah­lung für die bis zum Ein­tritt ins neue System geleisteten Beiträge. Diese Leistungen will der Staat aus den Arbeitgebe­rInnenbeiträgen und den höhe­ren Beiträgen Selb­ständiger finanzieren. Im dritten Teil der Renten­summe unter­scheiden sich das staatliche und das pri­vate System.
Für die Höhe der Zahlungen im staatli­chen System ist der Durchschnittslohn der letzten zehn Jahre vor der Pensionierung entschei­dend. Wer allerdings ins­gesamt weniger als 30 Jahre lang eingezahlt hat, bekommt nur die Grundrente ausgezahlt. Menschen, die lange arbeitslos sind, oder Un­terbrechungen machen, wie häufig Frauen zur Kin­dererziehung, gehen also das Risiko ein, ihre gesamten Einzah­lungen zu verlieren. Und bei 3660 Peso, das sind ungefähr 6200 DM, ist in der staatlichen Versicherung die maximale Auszahlung erreicht. Deshalb werden diejenigen mit einem hohen Ein­kommen in die Privatversicherungen gehen. Denn hier bestimmen die gesamte, indivi­duell ange­sparte Geldmenge, sowie die Lebens­erwartung und Familiensituation die Höhe der Rente.

Für wen lohnt sich was?

Der ideale Klient einer privaten AFJP ist deshalb heute unter 35 Jahre alt, nicht be­hindert, ledig, kinderlos, festangestellt mit guten Aufstiegschan­cen. Eine Frau mit glei­chen “Voraussetzungen” in gleicher Position wird al­lein aufgrund ihrer länge­ren Lebenserwartung schon eine geringere Rente be­kommen. Unglücklicherweise geht sie auch schon mit 60 in Rente, wäh­rend der Mann noch fünf Jahre weiterspa­ren kann. Doch eine jün­gere Ehefrau, de­ren Le­bensalter in die Berech­nung einbe­zogen wird, würde auch seine Rente ver­ringern.
Wer unter 3660 Peso ver­dient, wer gar nur den Mindestlohn von 200 Peso verdient oder häufig arbeitslos ist, wer riskiert, in den letzten zehn Jahren vor der Rente ar­beitslos zu sein und eine viel jüngere Frau heiraten will, obwohl er schon 55 ist; wer insgesamt weniger als 30 Jahre seines Le­bens arbeiten will…, kann versuchen, die individuel­len Vor- und Nachteile der Sy­steme zu vergleichen. Es wird kaum ge­lingen. Auch zum Vergleich der unter­schiedlichen Beitragssätze bleibt in zwei Monaten we­nig Zeit. Wenigstens sieht das Gesetz vor, da? die Mitglieder bis zu zwei Mal im Jahr die AFJP wechseln können.

Staatliche Kontrolle

Die Aufgabe der staatli­chen Kontrollbe­hörde Su­perintendencia de AFJP be­steht darin, über die Zu­lassung der Gesell­schaften zu entscheiden, die Tren­nung zwischen Ei­genkapital und Beiträgen bei den ein­zelnen AFJP zu überwachen und täglich die Transak­tionen der beste­henden Unternehmen auf dem Kapital­markt zu kon­trollieren. Die Superin­tendencia selbst finan­ziert sich durch Zahlungen der Versi­cherungsgesellschaften. Es bleibt zu hof­fen, daß ihre MitarbeiterInnen nicht bald schon in den nächsten großen argentini­schen Be­stechungsskandal verwickelt sein werden.
Die inzwischen über zwanzig zuge­lassenen AFJP erwarten kräftige Ge­winne. Alle nationalen und viele in­ternationale Banken betreiben eigene Ge­sellschaften, die, so hoffen sie, bald fünf Mil­lionen Mitglieder haben werden. Das würde ein mo­natliches Anlagevolumen von ungefähr 300 Millionen Peso bedeu­ten. Vom Bei­trag der EinzahlerInnen, 11 Prozent des Lohnes, behält die Gesell­schaft ungefähr ein Drittel ein, zwei Drit­tel bekommt die Ein­zahlerin ver­zinst. Konkurrenz zwi­schen Banken und Gewerkschaften
Den Konkurrenzkampf um Platz eins un­ter den AFJP werden voraussichtlich Siembra der Bankengruppe Citibank und Banco Rio so­wie Nación der Banco Nación austragen, die beide mit ungefähr 600.000 Mitgliedern rechnen. Um Platz drei werden sich wahrscheinlich Máxima, an der auch die Deutsche Bank beteiligt ist, Previnter von der Boston Bank und Consolidar mit Beteili­gung der Dresdener Bank schlagen. Allgemein wird davon ausgegangen, da? langfristig nur etwa zehn der heute einundzwanzig AFJP’s überleben werden.
Nicht nur Banken, sondern auch einige der gro?en Ge­werkschaften wie bei­spielsweise die Energiege­werkschaft Luz y Fuerza sind an AFJP’s beteiligt. Manche haben schon im vor­aus wie die Metallerge­werkschaft gegen Provision ihre Mit­glieder an eine der Versi­cherungen ver­schachert und hoffen, sich später direkt beteiligen zu können. Da­hinter steckt natürlich einerseits das Inter­esse, den Banken nicht die Ge­werkschaftsklientel und die absolute Macht auf dem Kapitalmarkt zu überlas­sen. Andererseits sind die Sozialwerke der Gewerk­schaften gefährdet, weil einige der AFJP’s auch gleichzeitig Kranken- und andere Versicherungen an­bieten wollen. Da wollen nun die gewerkschaftseige­nen Gesellschaften natür­lich mithalten.
Doch nicht alle Gewerk­schaften sind von der Pri­vatversicherung überzeugt. Die in­nerhalb des Gewerk­schaftsdachverbandes CGT agierende Oppositions­gruppe MTA (Movimiento de Trabajadores Argenti­nos), der zum Beispiel die Transportge­werkschaft an­gehört, empfiehlt ihren Mit­gliedern, mindestens noch ein halbes Jahr im staatlichen System zu ver­bleiben, um dann die Si­tuation einschätzen und die Verzinsung in den un­terschiedlichen AFJP’s vergleichen zu können.
Der oppositionelle Gewerk­schaftsverband CTA (Congreso de Trabajadores Argenti­nos), dem viele An­gestellte des Staates und der Provinzen angehören, hatte schon im Vorfeld eine Million Unterschrif­ten gegen die Privatisie­rung der Rentenversiche­rung gesammelt. Entspre­chend rät er seinen Mitgliedern die staatli­che Versicherung.

Angst vor wirtschaftlicher Insta­bilität

Niemand bestreitet, da? das bisherige argentini­sche Rentenversicherungs­system nicht mehr funktio­niert. Seit Jahren ist die staatliche Rentenkasse fast leer, weil sie immer wieder dazu verwendet wurde, Lö­cher in anderen Bereichen des Haushalts aufzufüllen. Monatelang be­kamen viele RentnerInnen deshalb nicht einmal ihre erbärmliche Mindestrente von 100 Peso ausbezahlt.
Eine Garantie für gutes Management der staatlichen Versicherung gibt es jetzt aber auch nicht, genauso­wenig wie die Sicher­heit und Rentabilität der pri­vaten Versi­cherungen ga­rantiert sind. Vor allem die Angst vor wirtschaft­licher Instabilität macht die Entscheidung für viele Argenti­nierInnen so schwierig. Nach dem Bör­sensturz in diesem Jahr wurden die Rege­lungen für Investitionen und Börsen­spekulation der AFJP noch einmal verän­dert, und die Frage bleibt offen, was beim nächsten Börsenkrach passiert.
Die Regierung hat gleich­zeitig wenig un­ternommen, die Entscheidungfindung der EinzahlerInnen zu er­leichtern. Erst knapp einen Monat vor dem Beginn der Ent­scheidungsfrist hat sie eine spärliche Infor­mationskampagne begonnen. In ei­nem Comic wurden die Unterschiede zwi­schen bei­den Systemen dargestellt, das private System aber als vorteilhafter vermit­telt. Die weit wichtigere, allerdings eindeutig par­teiische Informati­onsquelle sind so die knapp 30.000 VertreterInnen der einzelnen AFJP’s, die das Land mit Men­gen von Werbematerial über­schwemmen.
Das Gesetz sichert den Privaten au?erdem noch einen entscheidenden Vor­teil zu:
Aus dem staatlichen System können die Beitragszahle­rInnen jederzeit ins pri­vate wechseln. Wer sich in den zwei Monaten aber nicht explizit für den Verbleib im staatlichen System ausspricht, landet au­tomatisch im privaten, ohne Möglichkeit der Rück­kehr.


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