POONAL – vernetzte Nachrichten

Bündelung von Agenturen

Sie verstehen sich als alternative Medien, die im Gegensatz zu den herkömmlichen Agenturen aus Sicht der Bevölkerung und nicht im Sinne der Herrschenden informieren wollen. Repression, soziale Mißstände und das Aufzeigen von Alternativen stehen im Mittelpunkt der Berichterstattung. Viele stehen auch in engem Bezug zu politischen Bewegungen ihrer Heimatländer und arbeiteten auf kommunikativer Ebene für den Sturz diktatorischer Regime. Die wichtigsten unter ihnen waren früher SALPRESS aus El Salvador, die guatemaltekische Agentur CERIGUA, ANN aus Nicaragua, andere stammten aus Uruguay, Chile, Argentinien über Honduras bis hin zu “Prensa Latina” aus Kuba.

Anspruch und Realität

Zum einen sollten sich die bisher isoliert arbeitenden Agenturen gegenseitig darin unterstützen, die persönlichen Kontakte besser zu nutzen. Andererseits sollte durch die gemeinsame Herausgabe von Nachrichtenmaterial der Verbreitungsradius der einzelnen Agenturen erweitert werden. Insbesondere sollte ein Zugang zur bürgerlichen Presse gefunden werden. Zwei Agenturen wurden für ein Jahr für die Koordinierung gewählt, regelmäßige Treffen und Beitragszahlungen vereinbart. Weitere Agenturen sollten hinzugewonnen werden.
Die Ansprüche waren hoch, doch die Umsetzung war schwierig. Erstes Hindernis war die zusätzliche Arbeitsbelastung, die eine solche Koordinierung erforderte. Jede Agentur hatte mit finanziellen und personellen Engpässen zu kämpfen, und die eigene Arbeit hatte stets Priorität vor der Vernetzung. Hinzu kamen, wie leider immer und überall bei linken Projekten, ideologische Differenzen. Auch die Herausgabe eines gemeinsamen Nachrichtendienstes in Mexiko, der die großen Zeitschriften per Fax informierte, konnte nur für kurze Zeit realisiert werden. Die Initiative drohte bald wieder einzuschlafen.

Versuche von Süd-Süd-Kommunikation

Ein Rückblick auf die fortschrittliche “Dritte Welt”-Berichterstattung der letzten Jahrzehnte zeigt, daß auch andere, größere Initiativen vor ähnlichen Problemen standen. Einziges bis heute erfolgreiches Agenturenprojekt ist ips (Inter-Press-Service), das seit 1964 aus und über die “Dritte Welt” berichtet und mit seinen Nachrichtentickern eine vergleichsweise gute Verbreitung gefunden hat. Weniger effektiv war der “pool del tercer mundo”, mit dem seit Mitte der 70er Jahre eine Vielzahl von blockfreien Ländern versucht, die Vorherrschaft der multinationalen Agenturen zu brechen. Trotz weltweiter Konferenzen konnte nie die Idee eines wirklichen Pools realisiert werden. Im Kontext der UNESCO-Forderung nach einer neuen Weltkommunikationsordnung 1983 entstand die lateinamerikanische Agentur ALASEI, die neben politischen auch kulturelle Aspekte verbreiten wollte. Geldmangel ließ auch dieses Projekt nach weniger als zehn Jahren in die Bedeutungslosigkeit abrutschen.
Kleineren Agenturprojekten ist es bisher nicht gelungen, ihre Nischen zu verlassen. Das 1984 in Asien gegründete “Dritte Welt Netzwerk”, dessen lateinamerikanischer Zweig in Uruguay sitzt, verbreitet Nachrichten und Analysen sogar weltweit. Doch es gelingt nicht, kontinuierliche Präsenz zu zeigen. Die Mitarbeit der Mitgliedsmedien fluktuiert stark. Deshalb wurde inzwischen der Anspruch eines umfassenden Netzwerkes aufgegeben: “Das Ganze läuft nur, wenn einzelne die Initiative ergreifen. Dafür stellen wir die Infrastruktur zur Verfügung,” sagt Alberto Brusa, Mitarbeiter des “Dritte Welt Netzwerkes” in Uruguay. Eine ähnliche Einzelinitiative ist die Agentur “apia” in Nicaragua, die aus der österreichischen Solidaritätsbewegung hervorgegangen ist.
Die jüngste Initiative zur Vernetzung von Alternativmedien war der kontinentale Kongreß in Quito im April diesen Jahres, an dem über 60 JournalistInnen aus fast allen lateinamerikanischen Ländern teilnahmen. Schnell zeigte sich, daß trotz ähnlicher Interessen die vielen verschiedenen Medien unterschiedlicher Größe und Professionalität nur schwerlich an einem Strang ziehen können. Zwar war dieses Treffen ein neuer Schritt hin zu mehr Zusammenarbeit, doch mehr als Willensbekunddungen kamen oft nicht dabei heraus.

Basisanbindung und politische Pluralität – ein Problem?

Eine funktionierende Zusammenarbeit bringt zwar eindeutige Vorteile: weniger Vertriebskosten, höherer Verbreitungsgrad, gemeinsame Infrastruktur und schließlich eine Vielfalt von Nachrichten, die gerade für Medien und andere MultiplikatorInnen attraktiv und zugänglich sind. Doch die in der Praxis auftretenden Nachteile erweisen sich bisher als unüberwindbar: Kooperation erfordert ermüdende politische Diskussionen, insbesondere wenn die jeweiligen Medien politischen Organisationen nahestehen; Professionalität und Basisanbindung lassen sich oft nur schwer vereinbaren, Entfernungen und Kommunikationskosten wirken erschwerend. Doch dahinter steht ein wesentliches Problem jeder Vernetzung: Ein aktives Netz erfordert Initiative all seiner Teile – wenn diese nicht stattfindet, wird das Netz zu einem Konzentrationsprozeß zum Vorteil der größeren oder aktiveren Medien. So zeigt auch die bisherige Erfahrung, daß Pools selten funktionieren, während einzelne große und kleine Agenturen lange existieren können, aber kaum eine adäquate Verbreitung finden.
Es überrascht nicht, daß sich die Erfahrungen in Lateinamerika auch auf Seiten der internationalen Solidaritätsbewegung widerspiegeln. Zu der dortigen Vielfalt kommen hier noch ideologische Streitigkeiten hinzu, so daß Interessierte vor einer Unmenge von Publikationen stehen. So wichtig eine gewisse Pluralität ist, so schwer fällt es den meisten, einen Überblick über das Informationsangebot zu bekommen. Konsequenz ist eine wachsende Konkurrenz untereinander.
Ein Versuch, den Agenturen Zentralamerikas eine deutschsprachige Plattform zu geben, war Anfang der 80er Jahre der “mid” (Mittelamerika-Informationsdienst). Finanzielle Unterstützung, Kontakte und der gemeinsame Wille waren vorhanden, und wöchentlich konnten aktuelle Nachrichten aus Nicaragua, Guatemala und El Salvador gelesen werden. Doch auch das klappte nur kurze Zeit. Entscheidendes Hindernis waren die hohen Kosten für die Telex-Standleitung zwischen Managua und Frankfurt/Main. Einzig verbliebene Alternative, Originalnachrichten aus Zentralamerika zu bekommen, war über viele Jahre der “Informationsdienst El Salvador” (ides). Doch war dies ein Projekt von Teilen der bundesdeutschen Solibewegung und spiegelte deren politische Ausrichtung wider – auch wenn der ides mit lateinamerikanischen Quellen arbeitete. Darüber hinaus gingen ab Mitte der 80er einige alternative Agenturen dazu über, eigene Nachrichtendienste in deutscher Sprache herauszugeben, womit sie eine entscheidende Stütze der länderbezogenen Solidarität waren.

POONAL – Der Schritt nach Deutschland

1990 entstand die Idee, die Nachrichten der POONAL-Agenturen in einem gemeinsamen Dienst in deutscher Sprache herauszugeben. So entstand der “Wöchentliche Nachrichtendienst lateinamerikanischer Agenturen – POONAL”, der seit über zwei Jahren Nachrichten und Artikel der Mitgliedsagenturen veröffentlicht. In Mexiko wird das Material bis Freitagabend übersetzt, dann per Datenfernübertragung nach Köln geschickt, wo es journalistisch bearbeitet wird. Schließlich wird der Nachrichtendienst am Montag in Berlin gedruckt und verschickt – derzeit knapp 300 Exemplare in Deutschland, Österreich und in die Schweiz. Wichtigstes Ziel: Die Vereinzelung der Agenturen sollte aufgehoben werden und ein gemeinsamer Nachrichtendienst aus Lateinamerika durch seine Vielzahl an Themen und Ländern auch für Institutionen und etablierte Medien interessant und brauchbar werden.
Obwohl sich der POONAL-Nachrichtendienst etabliert hat, steht er in der Praxis kaum überwindbaren Problemen gegenüber. Verhältnismäßig glimpflich sieht es noch auf der Vertriebsseite aus. Die journalistische Qualität läßt zwar zu wünschen übrig, aber die Informationen stoßen auf Interesse. Auch konnten einige Institutionen und Medien als AbonnentInnen gewonnen werden, die bisher kaum Zugang zu diesen basisnahen Agenturen hatten. Dennoch bleibt das Hauptproblem bestehen: Auch POONAL hat einen begrenzten AbnehmerInnenkreis und die Präsenz in etablierten Medien ist unbedeutend.
Doch gerade da, wo es um die Koordination geht, nehmen die Schwierigkeiten existenzielle Ausmaße an. Wie oben erwähnt, liegt die Zusammenarbeit der POONAL-Agenturen in Mexiko derzeit auf Eis. Aus der lateinamerikanischen Initiative ist immer mehr eine deutsche geworden, der Vertrieb in Deutschland wurde zur treibenden Kraft. Hinzu kommt, daß viele Agenturen aus dem Exil in ihre Länder zurückgegangen sind, wodurch einige Mitglieder des Pools sich weniger beteiligen und die Kommunikation untereinander sehr spärlich geworden ist. Statt einer Zusammenarbeit findet eher Zuarbeit für ein Projekt statt, da die wenigen in Mexiko ansässigen Agenturen die Entscheidungen treffen. Nur einige Agenturen beteiligen sich, dazu unregelmäßig, daran, so es daß POONAL noch nicht gelungen ist, das Geschehen im gesamten Kontinent widerzuspiegeln.
Obwohl der hohe Anspuch nicht aufrechterhalten werden kann, hält POONAL an der Idee und daran, daß Vernetzung versucht werden muß, fest. Oft klagen gerade kleinere Medien, daß der Zugang zu alternativen Quellen sehr aufwendig ist. Die Konsequenz muß also sein, weiter aus den bisherigen Erfahrungen zu lernen.

Bezug des POONAL-Nachrichtendienstes:
Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
c/o FCDL
Gneisenaustr. 2
10961 Berlin
Fax: 030 / 692 65 90
Jahresbezugspreis:
110,– DM für Institutionen
75,– DM für Einzelpersonen

Menem – ein neuer Perón?

Durch das Votum gestärkt ging Menem in der Woche nach der Wahl in den Senat und bekam dort durch den offensichtlichen Kauf von Senatoren eine Zweidrittel-Mehrheit für seine Verfassungsreform. Für den 21. November hat der Präsident nun eine Volksbefragung angesetzt. Er erhofft sich die Unterstützung der Bevölkerung, die dann die Zustimmung der Abgeordneten erzwingen soll.

Repressalien und Skandale vor der Wahl

In der Zeit des Wahlkampfs verschärfte sich die innenpolitische Situation. KritikerInnen, Oppositionelle und regierungskritische JournalistInnen wurden reihenweise eingeschüchtert, zusammengeschlagen oder mit dem Tode bedroht. Angst und Schrecken herrschten in den Wochen vor den Wahlen in einem Maße, das an Zustände während der letzten peronistischen Regierung in Argentinien 1974-76 erinnerte.
Nach nur wenigen Monaten im Amt trat Innenminister Gustavo Béliz zurück. Nach eigenen Aussagen war er frustriert über die Diskussion der Verfassungsreform in der Regierung. Offenbar gebe es dort eine Mehrheit, die die umstrittene Reform mit allen Mitteln durchsetzen wolle. Er aber könne sich nicht mit Einschüchterungsmaßnahmen und dem Kauf von Abgeordneten einverstanden erklären. Leider habe er erst jetzt erkannt, worin die eigentliche Aufgabe eines Innenminister in dieser Zeit besteht: die Wiederwahl Menems auf Gedeih und Verderb durchzusetzen, koste es was es wolle. Präsident Menem, der vom Schritt seines Ministers offensichtlich überrascht und sehr enttäuscht war, ersetzte diesen innerhalb von wenigen Stunden durch Carlos Ruckauf. Dieser zeigte sich in den letzten Wochen durchaus Willens, die in ihn gesetzten Hoffnungen zu erfüllen.
Ein Skandal im Verfassungsgericht bewies außerdem die Abhängigkeit der Justiz vom Menemismus. Ein Urteil gegen einzelne Maßnahmen der Wirtschaftsreform verschwand spurlos aus den Akten. Auf die heftige Kritik reagierte Menem mit einem Angebot an die UCR, das Gericht kurzerhand aufzulösen und es gemeinsam mit den Radikalen neu zu besetzen.

Die politische Auseinandersetzung

Um politische Inhalte wurde zwischen den großen Parteien kaum gestritten. Die Programme der PeronistInnen, Radikalen und Liberalen (UCeDe) unterschieden sich nur in den Details.
Derzeit markiert die UCR den Unterschied zu den PeronistInnen lediglich durch die Forderung nach einer sozialeren und weniger brutalen Privatisierung. Die generelle Linie – Dollar-Bindung des argentinischen Peso, Privatisierung aller Staatsbetriebe, Heruntersetzung der Lohnnebenkosten durch Abbau von Sozialleistungen – war kaum Gegenstand der Auseinandersetzung.
Erstmals landesweit angetreten war die Rechtspartei MODIN (Movimiento por la Dignidad e Independencia), die vom ehemaligen Carapintada-Putschisten Aldo Rico geführt wird. Sie hat eine ultra-nationalistische Programmatik, und wurde mit ihren sieben Abgeordneten im Bundesparlament dritte politische Kraft im Lande. lhr charismatischer Führer will 1995 persönlich als Präsidentschaftskandidat gegen Menem (oder Duhalde) antreten. Seine Forderungen sind: Nationalisierung aller Industrien, Abschottung gegen Arbeitsimmigration, Direktwahl des Präsidenten, aller Gouverneure und Bürgermeister und eine harte Hand bei Grenzstreitigkeiten mit Chile.

Alle Macht dem Präsidenten

Eigentlicher Brennpunkt der innenpolitischen Auseinandersetzung der letzten Monate ist die Machtfülle von Menem und seinem Team. Vielen im Land flößt eine mögliche Wiederwahl Menems Angst ein. Er hat Ambitionen, die Kultfigur des Juan Domingo Perón aus dem Gedächtnis des Volkes zu löschen und sich selbst als den größten argentinischen Präsidenten an seinen Platz zu stellen.
Heute schon kontrolliert Menem praktisch Legislative, Exekutive und Jurisdiktion. Die Gewerkschaften wurden von ihm als politischer Faktor ausgeschaltet, die Wirtschaft steht aufgrund seiner Reformen hinter ihm, und selbst die Militärs sind in Argentinien kein ernstzunehmendes Potential mehr. Zusätzlich stehen große Teile der Medien unter seinem Einfluß, und kritische Berichterstatter werden bestraft, etwa durch Entzug staatlicher Anzeigen.

Das Wahlergebnis

Die Wahlbeteiligung am 3. Oktober lag bei 76,1 Prozent, bei bestehender Wahlpflicht. Dies stellt einen neuen Tiefpunkt seit Wiedereinführung der Demokratie 1983 dar. 3,7 Prozent der WählerInnen gaben einen weißen Stimmzettel ab.
Die PeronistInnen (PJ) konnten 42,3 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen und siegten in 16 der 23 Provinzen. An die Radikale Bürgerunion (UCR) gingen Córdoba, Santiago del Estero, Rio Negro und Catamarca. Überwältigend war der Sieg der Menemisten in der größten und wichtigsten Provinz des Landes, Buenos Aires. Der ehemalige Vizepräsident Argentiniens, Eduardo Duhalde (und heutige Gouverneur dieser Provinz) errang mit seinem Spitzenkandidaten, dem Fraktionsvositzenden der Peronisten im Landesparlament, fast die Hälfte aller Stimmen, zwanzig Prozentpunkte mehr als die Radikalen unter Federico Storani. Ein Sieg, der keineswegs in dieser Höhe erwartet worden war. Duhalde qualifizierte sich damit als politischer Kronprinz Menems, für den Fall, daß dieser die Verfassungsreform nicht durchsetzen könnte. Obwohl enger politischer Freund und Gefährte Menems, zeigte Duhalde bei der Aufstellung der Wahllisten Unabhängigkeit, indem er exponierte Menemisten nicht aufstellte. Auch sein Spitzenkandidat, Alberto Pierri, ist nicht gerade als Menem-Freund bekannt.
In der nach Buenos Aires zweitwichtigsten Provinz Córdoba siegte der dortige Gouverneur Eduardo César Angeloz. Dabei besiegte der seit 1983 regierende Angeloz den Peronisten Juan Schiaretti, der von Wirtschaftsminister Cavallo selbst protegiert wurde. Das eher konservative und traditionelle Córdoba jedoch blieb dem charismatischen Angeloz treu. Jetzt ist Angeloz nahezu sicherer Präsidentschaftskandidat seiner Partei für 1995, wo er wahrscheinlich zum zweiten Mal nach 1989 gegen Menem antreten wird.
Möglich wurde die herausragende Position Angeloz’ in der UCR durch die Wahlniederlagen seiner innerparteilichen GegnerInnen. In der Bundeshauptstadt verlor die Schriftstellerin Martha Mercander, Kandidatin seines stärksten Gegenspielers, des Senatoren Fernando de la Rúa . Die große Überraschung der Wahl war der knappe Sieg des ehemaligen Verteidigungsministers und engen Vertrauten Menems, Erman González. In keiner der unzähligen Umfragen vor der Wahl war ein derartiges Ergebnis prognostiziert worden.
Allgemein erwartet worden war ein Stimmenzuwachs für die Rechtspartei MODIN. Aldo Rico persönlich war Spitzenkandidat in der Provinz Buenos Aires und erreichte dort knapp 11 Prozent und vier Abgeordnetensitze. Dieselbe Zahl von Abgeordenten erreichte der Zusammenschluß linker Parteien und Gruppierungen, die Frente Grande, was als sehr gutes Ergebnis zu werten ist.

Jetzt läuft die Kampagne zur Wiederwahl

Die Wahl hat Präsident Menem gestärkt und der Verfassungsänderung ein gutes Stück nähergebracht Es ist ihm gelungen, das Volk glauben zu machen, daß wirtschaftliche Stabilität mit seiner Person verknüpft sei.
Die erste Oppositionskraft, die UCR, ist deutlich geschwächt. Sie hat es nicht vermocht, eine politische Alternative zu Menem präsentieren. Ihr wahrscheinlicher Präsidentschaftskandidat, Córdobas Gouverneur Angeloz, hat 1995 nur dann Chancen, wenn sich die Partei nicht weiterhin in Flügelkämpfen verstrickt. Die liberale UCD unter dem ehemaligen Wirtschaftsminister Alvaro Alsogaray hat ihre politische Bedeutung auf nationaler Ebene verloren und wurde durch den rechtsnationalen MODIN unter Aldo Rico als dritte Kraft ersetzt. Aber auch der MODIN hat sein maximales Wählerpotential (bis 12 Prozent) wahrscheinlich bereits erreicht. Große Veränderungen sind auch bei den Linksparteien Frente Grande und Unidad Socialista nicht zu erwarten.
Das nächste wichtige Datum ist nun der 21. November 1993, Tag der Volksbefragung, deren Ausgang nicht klar vorhersehbar ist. Derzeit läuft eine der größten und teuersten Kampagnen in der argentinischen Geschichte. Es geht darum, ob sich Menem durch eine Wiederwahl unvergeßlich in die Geschichte des Landes “einmeißeln” kann.

Feminismus -heraus aus dem Untergrund

LN: Welche Frauengruppen bereiten das VI. Frauentreffen vor und wer wird daran teilnehmen?
Mercedes Cañas: An der Vorbereitung sind verschiedene Gruppen beteiligt, in erster Linie die “Concertación (Zusammenschluss) für Frieden, Würde und Gleichheit”. Die “Concertación” wurde 1990 von Frauen aus EI Salvador gegründet, die an dem V. Treffen in Argentinien teilgenommen hatten. Wir suchten eine Alternative zu der herkömmlichen Frauenpolitik, die immer der Parteilinie und den Klasseninteressen untergeordnet war. Dagegen sind frauenspezifische Forderungen Schwerpunkt unserer Politik.
Wir möchten, daß die Frauen, die an dem Treffen teilnehmen, sich mit der feministischen Bewegung auseinandersetzen, sich gegen jede Form der Frauendiskriminierung und des Rassismus wenden und die Teilnahme am Treffen als Teil ihres Kampfes begreifen. Sie sollten die zentralen Ansichten der Feministinnen teilen.

Wenn nur Frauengruppen teilnehmen, die sich als feministisch begreifen,
schließt das nicht viele Frauen aus? Es nehmen keine Gruppen oder Organisationen teil. Bei einem feministischen Treffen ist die Teilnahme individuell. Jede Frau übernimmt für sich selbst die Verantwortung. Für den Feminismus einzutreten, heißt, sich ganz persönlich einzulassen.
Wir haben alle Frauengruppen angesprochen, auch solche, die sich nicht feministisch begreifen, denn in jeder gibt es Feministinnen, Natürlich wissen wir, daß viele Frauen sich noch nicht darüber klar sind, was Feminismus bedeutet; einige Frauen fühlen sich auch nicht als Feministinnen, und trotzdem nähern sie sich jeden Tag mehr an. Wir wollen, daß diese Frauen am Treffen teilnehmen.

Es gibt Kritik an der Organisation, zum Beispiel wegen der Teilnehmerinnenbegrenzung.
Wir bereiten ein Treffen für 1000 Frauen vor. Unsere Vorbereitungsgruppe der Frauen aus Zentralamerika hat sich für diese Teilnahmebegrenzung entschlossen, weil wir wollen, daß das Treffen effektiv verläuft.
In Argentinien kamen ungefähr 2500 Frauen; hinterher hieß es “Das Treffen des Nichttreffens” (siehe auch LN 199). Über 600 Argentinierinnen und Ca. 200 Frauen aus Uruguay nahmen teil. Das war kein lateinamerikanisches und karibisches Frauentreffen mehr, sondern ein südamerikanisches, an dem sich einige Frauen aus anderen Ländern beteiligten. Darum haben wir entschieden, für jedes Land eine Teilnehmerinnenbegrenzung zu setzen.

Ihr nennt Euch “Zentrum für feministische Studien” (CEF). Bedeutet nicht der Begriff Feminismus an sich schon eine Provokation, auch für viele Frauen?
Die feministische Bewegung in E1 Salvador ist noch sehr jung und entsprechend klein. Es gibt erst wenige Frauen, die wissen, was Feminismus heißt. Doch je länger wir den Feminismus im Untergrund halten, um so weniger lernen die Frauen ihn kennen. Für uns ist der Feminismus eine politische Option. So wie andere sich Sozialistinnen, Sozialdemokratinnen, Christdemokratinnen oder Nationalistinnen nennen, bezeichnen wir uns als Feministinnen. Und wir haben einen konkreten Vorschlag für die Zukunft. Wir wollen eine Demokratie für alle, und wir fordern von der Gesellschaft, Pluralität und Unterschiedlichkeit zu respektieren.
Das CEF hat eine Reihe von Aktivitäten durchgeführt, zum Beispiel zur selbstbestimmten Mutterschaft oder zur verantwortungsvollen Vaterschaft, damit die Gesellschaft die feministische Ideologie kennenlernt. Aber es gibt immer noch viele Leute, die erschreckt reagieren, die glauben, Feminismus sei Libertinage, sei Lesbianismus. Wir wollen die Gesellschaft mit unseren Vorschlägen vertraut machen. Nur wenn sie uns zuhören, können sie erkennen, daß unsere Vielfalt Freiheit bedeutet.

Wie sieht das Verhältnis zwischen der Frauen und der feministischen Bewegung aus?
Die feministische, die Frauenbewegung insgesamt ist eine der aktivsten Strömungen in unserer Gesellschaft. Und sie zeigt einen größeren Zusammenhalt als andere Bewegungen, trotz der vielen Widersprüche, die existieren. Wir haben einen gemeinsamen Ursprung. In den Frauengruppen haben wir darum gekämpft, die wirtschaftlichen Lebensbedingungen zu verbessern. Aus diesen Gruppen ist die feministische Bewegung entstanden. Das läßt sich nicht so genau abgrenzen, dort sind die Feministinnen und dort nicht. Trotzdem sind beide Bewegungen nicht identisch. Wir Feministinnen haben spezielle Frauenforderungen, z.B. die selbstbestimmte Schwangerschaft, den Kampf gegen Vergewaltigung, gegen Sexismus. Da gibt es Differenzen und Widersprüche.
Oder die Beziehung zu den Lesben. Es gibt in dem Sinn noch keine lesbische Bewegung in E1 Salvador. Aber nach dem Frauentreffen in Nicaragua (siehe LN 215) hat sich ein lesbisches Kollektiv “media luna” (Halbmond) gegründet. Die salvadorianischen Lesben hatten bei dem fünftägigen Treffen in Nicaragua die Möglichkeit, sich mit anderen auszutauschen, sich zu identifizieren. Die Lesben sind Teil der feministischen und der Frauenbewegung. Auch wenn sie hier noch keine große Öffentlichkeit haben, und die patriarchalische Ideologie die Gesellschaft noch stark belastet. Doch es passiert etwas, was mich persönlich sehr freut. Das Lesbenkollektiv hat das zweite nationale Frauentreffen, das im Juli stattfand, mit vorbereitet und sich mit verschiedenen Aktivitäten in der Öffentlichkeit präsentiert. Wir haben begonnen, das Recht einzufordern, daß alle Frauen sich öffentlich ausdrücken können.

Wie ist Euer Verhältnis zu den linken Volksorganisationen und zur FMLN?
Ich muß vorausschicken, daß die meisten von uns aus diesem Spektrum kommen. Ich selbst war Militante in einer der FMLN Organisationen. Doch die Mehrheit der Feministinnen hat diese Gruppen verlassen. Ich bin bereits 1990 aus der FMLN ausgetreten, nach 10 Jahren Mitgliedschaft. Als Parteimitglied arbeitete ich in einer Frauengruppe mit. Als ich mehr Autonomie forderte, verweigerte die Partei mir dies. Sie wollten mir meine Schritte immer vorschreiben; das erschwerte mir die Arbeit oft. Mir wurden so Handlungsmöglichkeiten genommen, Türen verschlossen, deshalb dachte ich, es ist besser zu gehen.
Diesen Prozeß haben viele von uns durchgemacht, auch ganze Gruppen wie z.B. die “dignas” (“Mujeres por la dignidad y la vida”, Frauen für die Würde und das Leben), die sich nach schwierigen internen Auseinandersetzungen von der “resistencia nacional” (Nationaler Widerstand, eine der fünf FMLN-Organisationen) löste.
Als wir die Ergebnisse der Friedensverhandlungen lasen, fühlten wir uns hinweggefegt aus der Geschichte, unsere Situation wurde nicht berücksichtigt. Es wurden auch andere Bereiche der Gesellschaft außer acht gelassen, aber wir sind nicht irgendein Bereich, wir sind die Mehrheit der Bevölkerung. Auch im nationalen Wiederaufbauplan, den die FMLN und die Regierung vorlegte, kommen wir nicht vor. Das einzige Mal, wo wir in den Abkommen von New York erwähnt werden, ist bei der Beteiligung an der neuen “Zivilen Nationalpolizei”. Also wir sehen nicht, daß die FMLN unsere Interessen vertritt.

‘Wir sehen nicht, daß die FMLN uns vertritt’

Allerdings will ich nicht übergehen, daß immer mehr Compañeras der FMLN sich mit der Frauenbewegung identifizieren und innerhalb der Partei um ihren Platz in der Hierachie kämpfen und die Interessen der Frauen verteidigen. Zum Beispiel entstand vor gut einem Jahr die Gruppe “Melida Anaya Montes” (MAM), ein Zusammenschuß von Frauen der FPL, die innerhalb ihrer Organisation versuchen, mehr Autonomie zu erlangen und gleichzeitig hinter den Forderungen der feministischen Bewegung stehen.
Die FMLN als politische Partei weist viele Strukturen auf, die sie an anderen Organisationen kritisiert: Hierarchie, autoritäres Verhalten, die Unterordnung von Sektoren, die keine Macht besitzen, obwohl sie vielleicht sogar Mehrheiten in der Bevölkerung stellen.
Während des Krieges verpflichtete die FMLN die Frauenorganisationen, mit denen sie zusammenarbeitete, darauf, ihre Interessen und Forderungen dem revolutionären Prozeß unterzuordnen. Während der Friedensverhandlungen hieß es, nach dem Frieden, jetzt sagen einige, nach den Wahlen ’94, und so wird die Frauenfrage immer vertagt. Doch wir Frauen machen das jetzt nicht mehr mit.

‘Ohne den Krieg könnten wir uns nicht organisieren’

Eine andere Sache ist, daß in der Geschichte E1 Salvadors die FMLN ganz klar eine Alternative zu den traditionellen Bewegungen war. Es muß auch gesehen werden, was die FMLN durch den Kampf in fast 12 Jahren Krieg erreicht hat. Wir wissen, daß es ohne den Krieg keine Möglichkeit gäbe, sich frei zu organisieren. Das ist ein großer Erfolg, Ergebnis des Krieges, dem wir 75.000 Tote und über 10.000Verschwundene geopfert haben. Die Institutionen, die gegründet wurden, zum Beispiel die neue “Zivile Nationalpolizei” (PNC) sind Hoffnungen für die Demokratisierung des Landes, die Verteidigung der Menschenrechte, all das negieren wir nicht. Wir kennen den historischen Prozeß, und wir wissen, welchen Terror wir hinter uns haben.
Doch auch die FMLN hat während des Krieges ihre Macht mißbraucht und in einigen Fällen die Gewehre statt für den Aufbau der Demokratie dazu benutzt, unbequeme Leute zu liquidieren, wie Roque Dalton oder Melida Anaya Montes, aber auch in nicht so bekannten Fällen. Wenn die FMLN sich nicht wirklich verändert in ihrem Denken und ihrer täglichen Politik, könnte sich einiges wiederholen.
Trotzdem finden wir es wichtig, daß die FMLN an den Wahlen teilnimmt; das ist Teil des Demokratisierungsprozesses.Aber wir haben ein kritisches Bewußtsein entwickelt, wir fragen, was ist wirkliche Demokratie.
Das ist meine persönliche Meinung. Es gibt Compañeras, die noch immer in der FMLN sind, die daran glauben, und ich haben keinen Grund, sie zu disqualifizieren.

Letzte Meldung

Anfang Oktober hat die salvadorianische Rechte eine Hetzkampagne gegen das Frauentreffen gestartet. In der rechtsextremen Tageszeitung “Diario de hoy” wurden Anzeigen veröffentlicht, in denen behauptet wird, daß der Kongreß im Auftrag der FMLN stattfände und unmoralisch sei, weil Homosexualität thematisiert wird und und lesbische Frauen nicht von der Teilnahme am Treffen ausgeschlossen werden. Mittlerweile ist die Durchführung des Kongreß gefährdet, da der Besitzer des Tagungshotels in Costa del Sol und umliegende Gästehäuser die Verträge mit der Vorbereitungskoordination gekündigt haben.

“Townley-Bazillus” legt das chilenische Kabinett lahm

ein ins Fettnäpfchen tretender Präsident,
ein kranker Minister,
ein sich vernachlässigt fühlender Minister
diverse betroffene Politiker,
ein gefeuerter sowie mehrere sanktionierte Journalisten.
(Prolog) Nach etlichen Querelen im Vorfeld der Ausstrahlung konnte der staatliche Fernsehsender TVN am Montag dem 16. August mit einer Sensation aufwarten: Ein über zweistündiges Interview mit Michael Vernon Townley, dem Mann, der im Auftrage des ehemaligen Geheimdienstes der Militärdiktatur DINA am 19. September 1976 die Autobombe unter dem Wagen des ehemaligen Außenministers Orlando Letelier installierte, die diesen zwei Tage später mit seiner Mitarbeiterin Ronni Moffitt mitten in Washington in die Luft sprengen sollte. Allerdings hätte das Interview eigentlich schon fast zwei Wochen zuvor, am 4. August, gesendet werden sollen, wurde aber kurzfristig durch ein Unterhaltungsprogramm ersetzt. Was war geschehen?
(1. Auftritt: P. Rojas, Krauss, Correa, ein Telefon.)
Montag zuvor: Das Telefon klingelt beim chilenischen Staatspräsidenten Aylwin: Es ist sein Verteidigungsminister Patricio Rojas, der ihm nahelegt, die Ausstrahlung des Townley-Interviews irgendwie zu verschieben und es nicht gerade 24 Stunden nach seiner mit Spannung erwarteten Ansprache über das weitere Verfahren mit den in Menschenrechtsverletzungen verwickelten Militärs oder Carabineros über die Bildschirme laufen zu lassen. Zudem befinde sich das Verfahren gegen den damaligen Auftraggeber und DINA-Chef Manuel Contreras gerade in einer entscheidenden Phase. Der Urteilsspruch werde in wenigen Wochen erwartet, eine Ausstrahlung zum jetzigen Zeitpunkt und dazu noch durch einen staatlichen Sender könne als offene Einflußnahme gewertet werden. Überhaupt sei es besser, die Beziehungen zwischen Militärs und Regierung möglichst nicht zu strapazieren. Der Christdemokrat dachte offenbar an den “boinazo” vom vergangenen Mai (vgl. LN 229/30), als Pinochet seine militärische Macht demonstrierte und dabei so nebenbei auch die Machtlosigkeit des Verteidigungsministers selbst offenlegte. Allerdings fühlte sich Rojas nicht erst seit diesem Zwischenfall von seinem Präsidenten vernachlässigt. Neidisch mußte er miterleben, wie sein Kabinettskollege von den Sozialisten, der Regierungssekretär im Ministerrang Enrique Correa im Hause Aylwin zunehmend die besseren Karten hatte. Dementsprechend war es wohl ein auch für ihn unerwarteter Erfolg, als er zusammen mit dem Innenminister und Parteifreund Enrique Krauss seinen Chef von seinen Argumenten überzeugen konnte, und zwar entgegen Correas Auffassung, man solle die Entscheidungsgewalt von TVN nicht antasten. Correa bekam dann prompt die unangenehme Aufgabe, dem Fernsehsender TVN den “Wunsch” des Präsidenten zu übermitteln. Fernsehdirektor Jorge Donoso veranstaltete eine Blitzumfrage bei seinen Direktoriumskollegen und die einstweilige Verschiebung der Ausstrahlung des Interviews wurde mit 5:1 beschlossen.
Mittlerweile meldete sich Correa in schlechter Vorahnung erst einmal für ein paar Tage bei Innenminister Krauss krank. Dieses Mal ließ sich Krauss von der Klugheit seines Kollegen überzeugen und fügte 24 Stunden später gleich seine eigene Krankmeldung hinzu. Der “Townley-Bazillus” breitete sich im Kabinett aus. (Correa und Krauss ab.)
Die weise Voraussicht Correas sollte sich auszahlen. Ein Mitglied des für das Interview verantwortlichen Journalistenteams von Informe Especial hatte die Nachricht von der Zensur durch den Präsidenten an seine KollegInnen von der Presse weitergegeben.
(Auftritt: Aylwin.) Im Hause Aylwin brach daraufhin der Erklärungsnotstand aus. In seiner Not verfiel dieser schließlich darauf, seine Intervention als “Petition” zu verkaufen, die immerhin das Recht jeden Staatsbürgers sei. (Er tritt ins Fettnäpfchen.) So recht überzeugen konnte er damit allerdings niemanden und vor allem nicht die JournalistInnen, die sich mittlerweile in immer größerer Zahl mit ihren zensierten Kollegen solidarisch erklärt hatten. Sie konterten mit dem Argument, daß die “Petition” des höchsten Würdenträgers des Staates schwerlich mit der eines gewöhnlichen Bürgers vergleichbar sei.
2. Auftritt (Pinochet, Contreras)
Unterdessen schlug die Polemik bezüglich des Interviews immer höhere Wellen. “?Cuánto le pagaron? – Wieviel haben sie ihm gezahlt?” wollte der Ex-Diktator Pinochet wissen. “Alles Lügen” behauptete der von Townley hauptsächlich beschuldigte Begründer und ehemalige Chef der DINA Manuel Contreras, in dessen Auftrag jener seine Verbrechen begangen hatte. Townley sei ein Feigling und überhaupt arbeite er heute wie damals im Auftrage des nordamerikanischen Geheimdienstes CIA, um den chilenischen Staat und seine Streitkräfte zu unterminieren. Contreras kündigte an, notfalls seine DINA-Informanden zu nennen, von denen in jeder Partei und in den höchsten Kreisen der Regierung viele zu finden seien.
(Jorge Schaulsohn stürzt auf die Bühne.) Genau in diesem Augenblick sah der Abgeordnete der PPD (Partei für die Demokratie in der Regierungskoalition) Jorge Schaulsohn seine Stunde gekommen und schaltete sich in das Geschehen ein: Momentan noch auf Profilsuche für die kommenden Wahlen, verkündete er, daß entgegen den Beteuerungen der Regierung ein Angehöriger derselben das volle Interview von insgesamt 8 Stunden Länge zusammen mit dem Programmdirektor von TVN Jorge Navarrete angesehen habe. Zufällig sei dieser Jemand der Staatssekretär des Verteidigungsministers, Jorge Burgos, dessen Chef wiederum der ist, der um die Verschiebung des Programms gebeten hatte. Spekulationen tauchten auf, daß von Townley in Zusammenhang mit anderen Attentaten benannte Personen sich in höchsten Regierungskreisen befänden und deshalb ungenannt bleiben sollten (allgemeines Getuschel).
Auf Spekulationen war man angewiesen, denn Townley hat in der gezeigten Zwei-Stunden-Version eigentlich nichts Neues offenbart. Vielmehr hat er nur das wiederholt, was er bereits in Miami zwei Vertretern der chilenischen Justiz gegenüber ausgesagt hatte und was in einem BBC-Interview bereits im britischen Fernsehen gezeigt worden war.
3. Auftritt (Correa gegen Contreras)
Unterdessen war Enrique Correa auf das Spielfeld zurückgekehrt. Offen bezeichnete er die DINA als kriminelle Vereinigung. Contreras’ Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Correa sei ein Feigling und obendrein ein unverbesserlicher Marxist, der die Bedeutung des Wortes “Demokratie” immer noch nicht verstanden habe. Die DINA wäre einzig und allein aus Angehörigen der Streitkräfte gebildet worden, was allein sie schon über jeden Zweifel erhaben mache. Die Ehre der Armee wollte nun auch kein anderer Politiker besudeln lassen: Selbst der Sohn des ermordeten Letelier, der Abgeordnete der Sozialisten Juan Pablo Letelier, beeilte sich, die völlige Unabhängigkeit der DINA und ihrer Verbrechen von der Armee zu betonen. Der Name Pinochet wurde von niemandem erwähnt, obgleich er in seiner Eigenschaft als Staatspräsident die Finanzen zu bewilligen hatte, die die DINA für die “Neutralisierung der Hauptwidersacher im Ausland” brauchte. In dem Finanzierungsantrag wurden auch die einzelnen Länder genannt, in denen die Agenten tätig waren. So zum Beispiel Italien, wo ebenfalls im Jahre 1976 der Christdemokrat und ehemalige Stellvertreter von Präsident Frey, Bernardo Leighton schwerverletzt ein Attentat überlebte. Oder Mexiko, wo der Kommunistenchef Volodia Teitelboim und der Ex-Präsidentschaftskandidat Carlos Altamirano einem Mordanschlag nur deshalb entgingen, weil sie für ihre Killer unauffindbar waren. Auch Argentinien wurde genannt, wo ein Jahr zuvor der Vorgänger Pinochets im Oberkommando der Streitkräfte, Carlos Prats, ermordet wurde.
4. Auftritt (Townley: Monolog)
Immer wieder taucht jedoch ein Name auf: Michael Townley. Er gibt zu, Leighton in Italien überwacht zu haben sowie dem Mordkommando in Mexiko angehört zu haben. Das Attentat gegen Prats streitet er nach wie vor ab, obwohl die Beweise eindeutig gegen ihn sprechen. Ändern werden all diese Geständnisse allerdings für ihn persönlich ohnehin nicht mehr viel. Nach fast vier Jahren in einem nordamerikanischen Gefängnis (wegen dem Mord an Leteliers amerikanischer Mitarbeiterin) kam er Anfang der 80er Jahre mit Hilfe der Kronzeugenregelung frei. Offensichtlich versprachen sich die Amerikaner Insider-Informationen über die Exil-Kubaner-Szene in den USA, mit denen Townley nicht nur bei dem Anschlag mitten in der Hauptstadt zusammengearbeitet hatte – und sie dabei ziemlich schlecht aussehen ließ.
Epilog: Zwei Wochen nach der Ausstrahlung des Interviews sind die Wogen schon wieder etwas geglättet, die Schuldigen der ganzen Polemik endlich ausfindig gemacht worden: Der Chef des Informe Especial-Teams ist gefeuert, seine Mitarbeiter sind mit harten Sanktionen bedacht worden. Der Vorwurf: Interna von TVN an die Presse weitergegeben zu haben. Seine KollegInnen von Informe Especial haben sich mit ihm solidarisiert und erwägen rechtliche Schritte. Offensichtlich hat auch der staatliche Sender die Transitionsphase hin zur Demokratie noch nicht abgeschlossen. (Der Vorhang fällt.)

Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Der Militärputsch am 11. September 1973 ist nicht nur ein für die chilenische Geschichte einschneidendes Ereignis, sondern er markiert auch den Beginn für die größte Flucht und Migrationsbewegung in Lateinamerika seit den Unabhängigkeitsbestrebungen Anfang des 19. Jahrhunderts. Schätzungen der chilenischen Menschenrechtsorganisation CODEPU (Comite de Defensa de los Derechos del Pueblo) zufolge haben in den Jahren nach dem Militärputsch insgesamt 1,6 Millionen ChilenInnen ihre Heimat verlassen, außerdem mehr als 700.000 ArgentinierInnen nach dem Staatsstreich im Jahr 1976. Schließlich folgten die Fluchtbewegungen aus Uruguay und Peru mit jeweils rund 500.000 Menschen.
Das politische Exil hat in den siebziger und achtziger Jahren die lateinamerikanischen Migrationsbewegungen bestimmt. Heute hat die Emigration dagegen ihre eindeutig politische Konnotation verloren. An die Stelle der offenen Gewaltanwendung gegenüber politisch Andersdenkenden ist die Gewalt der neoliberalen Wirtschaftspolitik getreten. Die Menschen fliehen nicht mehr primär vor dem Militärterror und den Todesschwadronen, sondern vor der wirtschaftlichen Verelendung, von der heute bis zu 40 Prozent der Bevölkerung betroffen sind.
In diesem Sinne ist eine klare Trennung in politische Flüchtlinge und die vielfach diskriminierten Armutsflüchtlinge gar nicht möglich und erweist sich als ethnozentrisches und interessengeleitetes Konstrukt.

Deutsch-chilenische Migration

Mit dem Putsch 1973 wurde Deutschland zum Einwanderungsland für exilierte ChilenInnen. Man sollte aber nicht vergessen, daß schon seit der Unabhängigkeit Chiles 1818 immer wieder große Migrationsbewegungen stattgefunden haben, allerdings in umgekehrter Richtung, von Deutschland nach Chile. Zunächst kamen durch die Anwerbung des chilenischen Staates und deutscher Handelsunternehmen zahlreiche deutsche Siedlerfamilien, die das Handwerk in den großen Städten modernisierten und vor allem die IndianerInnengebiete südlich des Flusses BioBio für die Landwirtschaft nutzbar machen sollten.
Seit der chilenischen Staatsgründung hat es fünf große Einwanderungswellen aus Deutschland gegeben: Die erste große Fluchtbewegung erfolgte nach der Revolution von 1848, die zweite nach der Verkündung der Sozialistengesetze unter Bismarck 1878; sie hielt bis Ende der 80er Jahre an. In diesem Jahrhundert löste die Wirtschaftskrise in den 20er Jahren erneut eine große Auswanderungsbewegung aus. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer weiteren starken Migration nach Chile. Während das Land zunächst flüchtende NazigegnerInnen und jüdische EmigrantInnen aufnahm, tauchte hier nach dem Krieg eine große Zahl von
SS-Angehörigen und Nazigrößen unter, deren Verbindungen zu den Reichsdeutschen im Süden Chiles seit jeher sehr gut waren.

Exil in der Bundesrepublik

Mit dem Putsch vor zwanzig Jahren wurde nun also das Einwanderungsland Chile über Nacht zum Auswanderungsland. Was hätte sich da mehr angeboten, als Zuflucht in den Herkunftsländern der Vorfahren zu suchen? Doch diese schlossen nach einem ersten Ansturm von Flüchtlingen ihre Botschaften in Santiago (mit Ausnahme Spaniens, das die Einreise ohne Reisepaß und Visa ermöglichte), obwohl die Medien voll von grauenhaften Berichten über Menschenrechtsverletzungen in Chile waren und internationale Kommissionen zu folgenden Untersuchungsergebnissen kamen: “Die Praktiken der Folter und Hinrichtungen werden derart systematisch angewandt, daß sie an Völkermord grenzen, wie er von den Vereinten Nationen definiert wurde”.
Zwar beschloß das bundesdeutsche Kabinett noch im Oktober, daß den ChilenInnen unbürokratisch geholfen werden sollte, doch schließlich wurde nur die Aufnahme eines Kontingentes von 2.000 ChilenInnen zugesagt. Im Rahmen dieser Quotenregelung durften in die Bundesrepublik aber ausschließlich inhaftierte ChilenInnen einreisen, deren Prozesse bereits abgeschlossen waren und deren Haftstrafen in Landesverweise zwecks Ausreise umgewandelt werden konnten. Aber gerade die Gefangenen ohne rechtskräftiges Urteil waren der Folter und der Gefahr des ‘Verschwindens’ besonders ausgesetzt. Diesen Menschen hätte also besonders geholfen werden müssen.
In der Folge kam es zu erbitterten Kontroversen zwischen Bundesregierung und einzelnen Bundesländern, als diese ihre Zusage zur Aufnahme der Verfolgten mit den unterschiedlichsten Bedingungen verknüpften. Während das Saarland und Bayern die Aufnahme kategorisch verweigerten, stellte BadenWürttemberg folgende Forderungen: “Die Bundesregierung muß unbedingt sicherstellen, daß von der Aufnahme Angehörige extremistischer und anarchistischer Gruppen und darüberhinaus solche Personen ausgeschlossen sind, deren Ziel die Beseitigung des demokratischen Verfassungsstaates ist”.
Angesichts dieser Logik, mit der die ChilenInnen als ‘Sicherheitsrisiko’ stigmatisiert wurden, war es dann nur konsequent, daß ein Vertreter des Verfassungsschutzes aus Köln die Sonderkommission der Bundesregierung im November nach Santiago begleitete, um bei der Befragung der Verfolgten anwesend zu sein, was schon damals eine eklatante Verletzung beziehungsweise Nichtbeachtung des Artikels 16 des Grundgesetzes war. Trotz scharfer Proteste von SPD, Diakonischem Werk, Amnesty International und Chile-Komitees kam es zu den Verhören der chilenischen Flüchtlinge in Santiago, und erst nach der Zustimmung des Verfassungsschutzes wurde den ersten 23 ChilenInnen Mitte Dezember 1973 die Ausreise erlaubt.
Angesichts der breiten Debatten über das ‘Sicherheitsrisiko’ und die Übernahme der Kosten für die Aufnahme der chilenischen Flüchtlinge zeigte sich, daß je reicher ein Land ist, desto perfekter auch sein Machtapparat zur Ausgrenzung der Fremden funktioniert.

Koordinierung der Chilesolidarität

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Ineffizienz staatlicher Strukturen kam es bereits Ende 1973 zu einer Koordinierung der ChileKomitees mit Amnesty International, an der sich bereits im Mai 1974 auch die Stiftung Mitbestimmung der Gewerkschaften (heute HansBöcklerStiftung) beteiligte, um den Flüchtlingen über die Vergabe von Stipendien oder Arbeitsverträgen die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Viele Gemeinden der Evangelischen Kirche halfen mit Notunterkünften aus, zur Überbrückung wurden Sach und Geldspenden mobilisiert, und die chilenischen Flüchtlinge wurden persönlich betreut und bei ihren Wegen zu den Ämtern begleitet.
Innerhalb weniger Monate wurde so eine effiziente Struktur für verfolgte ChilenInnen errichtet, die nicht unter die Regelungen des staatlichen Kontingentes fielen. In Einzelfällen wandte sich sogar die deutsche Botschaft mit der Bitte um Hilfe an die ChileKoordination. Neben der breit gefächerten praktischen “Integrationsarbeit” leisteten die Komitees vorrangig eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, die die Lage in Chile sowie das Verhalten der Behörden in der Bundesrepublik thematisierte. Ohne diesen Druck, der gemeinsam von Gewerkschaften, Diakonischem Werk, Amnesty International und ChileKomitees ausgeübt wurde, und der eine positive Resonanz in den öffentlichen Medien fand, wäre es sicherlich nicht zur Aufnahme der circa 4.000 Exil-ChilenInnen gekommen, die in den folgenden Jahren Schutz in der Bundesrepublik fanden. Denn nach wie vor mahlten die Mühlen der staatlichen Aufnahmeverfahren – inzwischen in der Kompetenz des Innenministeriums- äußerst langsam.
“Während es in England oder den Niederlanden etwa sechs bis zwölf Wochen dauerte, und manche skandinavischen Staaten in dringenden Fällen innerhalb von Stunden Einreisevisa erteilten, benötigten die deutschen Behörden wegen der eingehenden Sicherheitsprüfungen häufig ein dreiviertel oder gar ein volles Jahr”.
Als Beispiel für den Erfolg der internationalen Öffentlichkeitsarbeit sei an den Fall der Gefangenen Gladys Diaz erinnert, die mehrfach gefoltert und vergewaltigt wurde und tagelang spurlos aus den Gefängnissen verschwand, sowie an die Prozesse der Holzarbeiter von Panguipulli, die für einen nicht nachgewiesenen Überfall auf eine Polizeistation Höchststrafen zu erwarten hatten. In beiden Fällen konnte die Ausreise erwirkt werden.
Im Zentrum der Aktivitäten der privaten bzw. nicht-staatlich organisierten Solidaritätsaktionen stand die Basisarbeit in Komitees und Nicht-Regierungs-Organisationen in den vielfältigsten Formen und auf verschiedensten Ebenen, weniger die Lobby-Arbeit.
Getragen von der Überzeugung einer notwendigen Solidarität mit Verfolgten und dem klaren Feindbild einer Militärdiktatur ist es nach und nach zu einer Übernahme staatlicher Aufgaben durch die Solidaritätsbewegung gekommen, die sich heute unter anderem in dem Nichtvorhandensein offizieller Daten oder einer analytischen, inhaltlich bewertenden Stellungnahme zum chilenischen Exil ausdrückt. Selbst nach ausgiebigen Recherchen war es nicht möglich, offizielle Daten über die chilenischen Flüchtlinge in Deutschland zu erhalten. Zwar gibt es eine allgemeine Bevölkerungsstatistik, die unter anderem auch die Zahl der chilenischen Bürger in Deutschland aufweist. Diese enthält jedoch weder Hinweise auf die Verhältnisse während der Ein und Ausreise, noch gibt sie Aufschluß über die Einreisegründe.
Hochrechnungen chilenischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen ergeben aber eine relativ gleiche Zahl, nämlich ca. 1600 anerkannte politische Flüchtlinge bei einer Gesamtzahl von 6000 chilenischen Staatsbürgern in der Bundesrepublik. Diese Zahl von rund 6000 Flüchtlingen ist weitgehend konstant geblieben, weil die seit 1984 verstärkt einsetzende Rückkehr von Exil-ChilenInnen durch den Zuzug von Familienangehörigen, Studenten oder Arbeitssuchenden ausgeglichen wurde.

Ende des Exils

Mit dem Plebiszit im Jahr 1988, mit dem die chilenische Bevölkerung die Beendigung der Militärregierung und die Rückkehr zu demokratischen Politikformen einleitete, war die politische Begründung des chilenischen Exils nicht mehr gegeben. Die Verteidigung der Menschenrechte muß heute nur noch in Einzelfällen vor Gerichten eingeklagt werden und nur in einigen wenigen Fällen muß die Rückkehr von Flüchtlingen, deren Militärgerichtsprozesse in Chile noch anhängig sind, weiterhin erkämpft werden. Somit kann man sagen, daß das chilenische Exil mit der Regierungsübernahme durch Präsident Aylwin im März 1990 beendet wurde. Heute gilt es, in Chile selbst die psychischen Wunden und die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Diktatur zu heilen, beziehungsweise deren menschenrechtsverletzenden Charakter anzuklagen und ihre Ursachen zu beseitigen.

Die Integration

“Das Exil wurde uns mit Gewalt aufgezwungen. Wir wurden gezwungen, unser Land zu verlassen. Es war eine nicht gewollte Erfahrung, eine ungerechte und unendliche Strafe, ohne irgendwelche rechtfertigenden Gründe. Das Exil gehört zu den gravierenden Verletzungen der Menschenrechte des Pinochetregimes”.
In dieser kurzen Aussage wird bereits der zentrale Unterschied benannt, der das Exil von jeder anderen Form der Migration unterscheidet und der das Leben der Menschen als Exilierte grundlegend charakterisiert. Es ist der Gewaltcharakter, der zur Folge hat, daß Menschen aus ihren politischen, beruflichen und familiären Zusammenhängen gerissen werden und sich gegen ihren Willen und ohne ihr Zutun, oftmals völlig unvorbereitet, in einer völlig fremden Gesellschaft wiederfinden, zu der sie keine Beziehungen haben, deren Menschen in anderen Sozialisationsmustern handeln, von denen sie sich tendenziell ausgeschlossen fühlen; die eine ihnen fremde Sprache spricht und dadurch die Herstellung von normalen Alltagsbeziehungen ungemein erschwert.
Obwohl diese Charakteristika des Exils zunächst alle gleichermaßen betrafen, gab es im Umgang mit den Problemen große Unterschiede, z.B. zwischen jüngeren und älteren Flüchtlingen: Es war erstaunlich, mit welchem Pragmatismus sich erstere in die Universitäten einschrieben, sich um Umschulungen beziehungsweise Lehrberufe bemühten und in kürzester Zeit über das notwendige Beziehungsnetz verfügten, um die Sprache zu lernen und an Gelder heranzukommen.
Frauen haben vielfach, nachdem sie sich in den ersten Jahren total auf den Zusammenhalt der Familien konzentrierten, eigenständige Entwicklungen genommen, sich stark mit den deutschen Sozialisationsmustern auseinandergesetzt und an selbständigen Beziehungen zu deutschen Freundinnen gearbeitet. Viele haben sogar Ausbildungsgänge erfolgreich abgeschlossen, während Männer sich oft, nach den ersten bestätigenden Erfahrungen als Vertreter revolutionärer Bewegungen, in ihrer traditionellen Rolle in Familie und Gesellschaft zu behaupten suchten.
Zudem hat es deutliche Unterschiede im Aufeinanderzugehen zwischen den deutschen, mehrheitlich mittelständisch geprägten Mitgliedern der Solidaritätsbewegung sowie den exilierten ChilenInnen akademisch-mittelständischer oder proletarischer Provenienz gegeben. Besonders im ersten Jahr, als hauptsächlich StudentInnen und AkademikerInnen ankamen, gab es ein unausgesprochenes Einverständnis, sich gegenseitig als gleich anzuerkennen und über die “gemeinsame Sache” zu kommunizieren. In den Folgejahren, als nach und nach immer mehr GewerkschaftsführerInnen und ArbeiterInnen flüchteten, funktionierte dies nicht mehr so bruchlos. Man achtete viel stärker auf Distanz, was für viele chilenische Familien einem zweiten Exil gleichkam, d.h. sie wurden hierdurch tendenziell auf ihre eigenen Familien oder ihre chilenischen Vertretungsorganisationen zurückgeworfen.
Quer durch alle Schichten und Untergruppen des chilenischen Exils läßt sich sagen, daß ein Hauptproblem für viele in den ersten Jahren war, überhaupt zu akzeptieren, daß das Exil möglicherweise von längerer Dauer sein würde. Denn dieses anzuerkennen bedeutet nicht nur, seinem Leben eine andere berufliche und politische Perspektive zu geben, sondern vor allen Dingen zu akzeptieren, daß es “das Modell Chile der Unidad Popular” nicht mehr geben würde. Zur Verhinderung dieses Eingeständnisses wurden alle Energien für die Kontaktpflege mit dem Widerstand in Chile mobilisiert, der Aufbau von Exilvertretungen der Parteien in der Bundesrepublik wurde vorangetrieben, und die deutschen Solidaritätsorganisationen wurden in deren Aktivitäten einbezogen. Vielfach wurden die alten parteipolitischen Rivalitäten im Exil – ohne die Sachzwänge des chilenischen Alltags – erbitterter als im Herkunftsland selbst ausgetragen.
Auch viele Deutsche aus der Solidaritätsbewegung haben sich in diese Auseinandersetzungen – oder waren es Fluchtbewegungen vor der Realität? – einspannen lassen. Es galt die Vision einer utopischen Wirklichkeit in Chile. Aber vielleicht waren dies notwendige Prozesse, um den brutalen Bruch, das Hinausgeschleudertsein aus seinem eigenen Leben, zu verkraften.

Verlust von politischer Identität

Die chilenische Migration wurde fast ausschließlich politisch begründet, das heißt die Ankommenden hatten in Chile viele Jahre ihres Lebens in kollektiven Prozessen nicht nur für einen abstrakten “Neuen Menschen” gekämpft, sondern hatten ihr individuelles Leben stark an gesellschaftliche Veränderungsprozesse geknüpft. Ihr Alltag war – neben dem Beruf und den traditionellen vielfältigen familiären Aktivitäten – geprägt von einer aktiven Suche nach alternativen gesellschaftlichen und politischen Modellen. Diese wurden in den Gewerkschaften, Stadtteilorganisationen, MütterOrganisationen, Jugendverbänden und Parteien gelebt, und zwar desto leidenschaftlicher, je stärker die Außenbedrohung durch die Rechten wurde. Hierdurch ging tendenziell der Blick für die Außenwelt immer mehr verloren, und der Bruch des Exils war um so brutaler.
Über Nacht befand man sich in der reichen deutschen Gesellschaft, die mit dem Kapitalismus identifiziert wurde und die Wurzeln des Nationalsozialismus noch immer in sich zu tragen schien. Beeinflußt von vielen USMedien, die in Chile stark das Bild von Deutschland geprägt hatten und von dem elitären, geschlossenen Charakter der deutschen Kolonie (Colonia Dignidad), gab es zunächst ein großes Mißtrauen gegenüber dieser deutschen Gesellschaft. Eine kritische Auseinandersetzung schien zudem nicht opportun, weil die ganze Kraft für die Arbeit dem Widerstand in Chile gewidmet werden sollte.
Schwierigkeiten entstanden auch aus den gegenseitigen Projektionen. Erst heute können uns Vertreter des Exils offen sagen, daß sie schon lange nicht mehr an den Widerstand in Chile geglaubt hatten, aber weil die Deutschen es so haben wollten, sie entsprechende Informationen auf großen Veranstaltungen weitergaben. Jeder hatte seine Funktion in dem Bild, das sich die 68er Generation von einer besseren Gesellschaft gemacht hatte. Die ExilchilenInnen waren greifbare Beweise dafür, daß es MärtyrerInnen und Henker gibt und daß es nur eine Frage von konsequenter Haltung und Informationsmacht ist, diese Bilder in ihrer Ungebrochenheit zu reproduzieren und zu verbreiten.
Damals hat niemand richtig durchschaut, daß der Preis hierfür der Verlust von politischer Identität, Authentizität und Entwicklungsfähigkeit sein würde. So kam es im Laufe der Zeit zu immer ritualisierteren Beziehungen, statischen Bündnissen der verschiedenen Gruppierungen mit “ihrer” Exilgruppe, zu Solidaritätsfesten mit der immer gleichen Musik von “vorher”, den chilenischen Teigtaschen “empanadas” und politischen Diskursen, die durch leere Worthülsen bestimmt waren. Wir haben uns gegenseitig gebraucht, und -oftmals unbewußt- unter dem Deckmantel der Solidarität persönliche Sehnsüchte ausgelebt. In der Idealisierung unserer Zusammengehörigkeit wurden Differenzen überspielt. Zur wirklichen Begegnung kam es auf beiden Seiten oft nicht. Trotz alledem: Diese Zusammentreffen wurden auch gebraucht! Sie waren ein Trost gegen die Individualisierungstendenzen in der deutschen Gesellschaft, die kaum eine familiäre oder politische Kultur des Zusammenseins kennt. Es hat unvergeßliche und intensive gemeinsame Erfahrungen gegeben, Freuden und Ängste, Siege und Niederlagen, Kampf mit Behörden und interkulturellen Austausch, worin alle Beteiligten eng miteinander verbunden waren.
Erst mit der Erfahrung der Notwendigkeit, einen gemeinsamen Weg des Umgangs miteinander zu finden, konnte die Grundlage der Toleranz gegenüber der anderen Kultur, politischen Haltung oder dem jeweiligen Ethnozentrismus entstehen, zum Beispiel bezüglich der Unterschiedlichkeit der Frauensolidarität dem Machismo gegenüber. In der gegenseitigen Annahme von unterschiedlichen Wertvorstellungen, der Suche nach einer gemeinsamen Ethik haben wir uns Maximen eigenen Verhaltens erarbeitet, die oftmals noch heute Orientierungshilfen darstellen, sowohl für uns hier in der interkulturellen Arbeit gegen Ausgrenzung und Rassimus als auch für manche ChilenInnen, die nach ihrer Rückkehr mit den hier erfahrenen Organisations- und Solidaritätspraktiken ihr neues Arbeits- und Lebensfeld gestalten. Diese Toleranz zuzulassen und anzuerkennen, sowie das, was einmal als total “chilenisch” oder “deutsch” empfunden und eingeordnet wurde, auf dem Hintergrund gemeinsamer Lebensgeschichte politisch neu zu bewerten, ist sicherlich eine der wichtigsten Lehren des chilenischen Exils beziehungsweise der Solidaritätsarbeit.

Sprachverlust bewirkt kulturelle Stagnation

Die große Mehrzahl der chilenischen Flüchtlinge hatte keine Deutschkenntnisse und höchstens relativ schlechte Kenntnisse anderer Fremdsprachen. Diese “Sprachlosigkeit” hatte eine totale Orientierungslosigkeit in den neuen Verhältnissen zur Folge. Es ist nicht nur das Sozialverhalten in der fremden Gesellschaft, es sind auch die sprachlichen Grenzen, die eine nur funktionale, oberflächliche Beziehung zur Umwelt ermöglichen. So verarmt schließlich das Leben selber und ist nur noch ausgerichtet auf gewohnheitsmäßiges und materielles Bewältigen von Anforderungen.
Die Deutschkurse, die nun in kürzester Zeit von den verschiedenen Sozialdiensten angeboten wurden, sollten nicht nur der Sprachvermittlung dienen, sondern auch auf die jeweilige soziale Situation der Lernenden eingehen. So gab es Gesprächskreise zu Fragen des deutschen Sozialhilferechts, zu spezifischen Frauenthemen, zu Themen der 68er Studentenbewegung etc. Die Resonanz dieser Kursangebote war jedoch relativ schwach, weil die Mehrheit der ChilenInnen mehr über ihre baldige Rückkehr und über Chile nachdenken wollte, als sich mit den Problemen des Hierseins auseinanderzusetzen.
Argumente wie: Deutsch brauche man sowieso nicht mehr nach der Rückkehr nach Chile, oder daß die Kinder in der Familie nur Spanisch lernen sollten, um die chilenische Identität nicht zu verlieren, haben sich zehn bis fünfzehn Jahre lang gehalten. Erst angesichts der baldigen Rückkehr wurde der hieraus resultierende Verlust sozialer Kompetenz deutlich. Die Sehnsucht nach einer Welt, die einerseits vergangen und mit vielen leidvollen Nachrichten verbunden ist, und deren Entwicklung einem andererseits in den vielen Jahren der Abwesenheit fremd geworden ist, hat die vitale, alltägliche Auseinandersetzung mit der deutschen Kultur und Gesellschaft verstellt. Viele ExilchilenInnen waren so, ohne sich dessen bewußt zu sein, zu AnalphabetInnen beider Kulturen geworden.

Die Rückkehr beginnt im Exil

Diese Erkenntnis war es, die das chilenische Exil bereits 1983, zehn Jahre nach seinem Beginn, zu einer breiten, in vielen Städten der Bundesrepublik organisierten RückkehrerInnenarbeit motivierte, die auf der rechtlichen, beruflichen, ökonomischen, sozialen, politischen und psychologischen Ebene gleichzeitig laufen sollte. “Wir verstehen diese Rückkehr der ChilenInnen im Kontext des Kampfes für die Menschenrechte und die Wiederherstellung der Demokratie in unserem Land. Wir sehen sie jedoch auch als persönliche Entscheidung eines jeden Einzelnen oder der jeweiligen Familie”.
Zahlreiche Veranstaltungen wurden seit 1983 zur Vorbereitung der Rückkehr durchgeführt, so Veranstaltungen über spezielle rechtliche Probleme; Informationsveranstaltungen zur aktuellen Situation in Chile und Erfahrungen von Rückkehrern in ihrem Integrationsprozeß; Informationsveranstaltungen über Eingliederungsprobleme in das Erziehungssystem und die Anerkennung von akademischen Titeln und Ausbildungs und Studiengängen.
Kontakte mit Instituten in Chile und anderen Ländern wurden aufgenommen, um die Finanzierung der Rückkehr und der ersten Zeit im Heimatland zu gewährleisten. Aber der wohl wichtigste Inhalt der RückkehrerInnenarbeit war die Begegnung mit anderen Exilierten, die kritische Auseinandersetzung mit sich selber, den eigenen Veränderungsprozessen und der Wiederbegegnung mit Chile über die Erfahrungsberichte der Besuchsreisenden in die Heimat.

Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Diese letzte Phase, die schon vom Abschiednehmen und der kritischen Auseinandersetzung mit der neuen neoliberalen Wirtschaftspolitik der AylwinRegierung gekennzeichnet war, hat darüber hinaus ein ganz neues Licht auf die Beziehung zwischen ChilenInnen und Deutschen geworfen. Weder das HelferInnensyndrom noch die eigene Profilierung mit Hilfe der chilenischen RevolutionärInnen standen mehr zwischen uns, so daß unsere Begegnung auch unter der Perspektive der Beziehungen der Deutschen zu den Fremden thematisiert werden konnte. Schwierigkeiten in der Verständigung, in der Zusammenarbeit, in den Beziehungen, die immer auch Ausdruck von gesellschaftlicher Akzeptanz, Einfühlung und politischer Kultur sind, wurden nunmehr unter dem Blickwinkel des deutschen Dominanzverhaltens und Ethnozentrismus gesehen.
Als VertreterInnen der deutschen Chile-Solidarität mußten wir uns mit dem eigenem Größenwahn und einem idealisierten Selbstbild konfrontieren, das auf der Überhöhung der chilenischen RevolutionärInnen beziehungsweise edlen MärtyrerInnen im Widerstand beruhte. Mit der Idealisierung eines Chilebildes löschten wir jedoch gleichzeitig jene Widersprüchlichkeit des Entwicklungsprozesses aus, mit der wir schon in unserer eigenen Gesellschaft nicht zurecht gekommen waren. Nicht die Probleme mit einem reformistischen Entwicklungsweg, nicht die Ambivalenz der Moderne, die alles Fremde degradiert und tendenziell ausmerzt, waren Inhalte unserer Zusammenarbeit, sondern der strahlende Morgen der Revolution. Es war das Fehlen einer politischen Alternative in Deutschland beziehungsweise die bescheidene Auseinandersetzung mit den realen Möglichkeiten politischer Arbeit in Deutschland, die aus dem chilenischen Exil unsere Projektionsfläche machte. Hier haben wir uns getroffen, ChilenInnen und Deutsche, um die Geschichte für einige Jahre anzuhalten.
Die Bilder, die wir uns voneinander machten, waren jedoch nur von kurzer Dauer. Die Solidarität mit Portugal, Argentinien, Uruguay sowie seit Mitte der siebziger Jahre mit Nicaragua und später El Salvador hielt immer neu in Atem, ließ unseren Blick in die Ferne schweifen und die Probleme des chilenischen Exils zum Alltag werden, bis “plötzlich” Themen wie Rassismus und vielfältige Diskriminierungen in diesen Alltag Einzug hielten.
Wir hatten uns in unserer Solidarität menschlich gleichberechtigt gefühlt, aber dies war offensichtlich einseitig gewesen. Nicht nur Behörden hatten gegängelt, sondern chilenische Identität war mit “wohlgemeintem” Integrationsdruck ausgelöscht worden. Je angepaßter die ChilenInnen lebten, desto “erfolgreicher” waren sie. Wer von uns hätte dies vor Hoyerswerda und Rostock so selbstkritisch gesehen? Wer hätte gespürt, daß wir noch immer eine Gesellschaft von ClaqueurInnen sind?
“Es bleibt ein Stachel für die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft, daß diese politischen Flüchtlinge, die nach der Verfassung bei uns Asyl genießen, sich nicht heimisch fühlen, sich nicht angenommen fühlen konnten in einer Gesellschaft, die gleichzeitig eine Entsorgung der deutschen Geschichte von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit versucht, alten Antisemitismus hochkommen ließ, Fremdenfeindlichkeit mit Parolen wie ‘Asylantenschwemme’ schürte und unter diesem publizistischen und politischen Druck zuließ, daß die Asylgesetze bei uns dramatisch verschärft wurden”.
Anstatt aus unserer Geschichte und aus dem vielfältigen Mißbrauch der Asylgesetzgebung während der Chile-Solidarität zu lernen, vermeiden wir die Auseinandersetzung damit, indem wir sie zu einem “Sicherheitsproblem unserer Gesellschaft” (so Innenminister Seiters in der Asyldebatte im Deutschen Bundestag am 25. Mai 1993) umdefinieren. Das Grundrecht auf Asyl, das von den Gründern der Bundesrepublik angesichts der Erfahrung mit dem Antisemitismus in unser Grundgesetz aufgenommen wurde, ist in den Asyldiskussionen der letzten Jahre zu einer Inszenierung deutscher Dominanzkultur verkommen. Die Festung Europa, das heißt das Schengener Abkommen und die Änderung von Artikel 16 des Grundgesetzes, richten Mauern auf, anstatt den Blick frei zu machen auf Prozesse, wie sie angesichts der chilenischen Erfahrung deutlich wurden.

Der obige Artikel erscheint in seiner vollständigen, 26 seitigen Fassung, mit ausführlichem statistischen Material und über die Arbeitsmigration in Chile in einem Reader: Ethnische Minderheiten in Deutschland – ein Handbuch. (Hg.) Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung, Oktober 1993, DM 42,-

Das Recht auf trial and error in einer Welt ohne Beispiele und Bezugspunkte

“Reform oder revolutionäre Theorie und Praxis in Lateinamerika und Europa” lautete der Titel eines Internationalen Kongresses, den der Verein Monimbó aus Dietzenbach/Hessen in Zusammenarbeit mit Buntstift und der Stiftung Umverteilen organisiert hatte. Ein sowohl vom Alter als auch von den Nationalitäten ziemlich gemischtes Publikum von ungefähr 400 Leuten fand sich am 2. und 3. Oktober in der Frankfurter Uni ein.
Auf dem Podium des Hörsaals V1 saßen und referierten führende Vertreterinnen verschiedener linker Parteien und (ehemaliger) Guerillaorganisationen aus Brasilien, Cuba, Argentinien, Venezuela, E1 Salvador, Guatemala, Nicaragua und Chile. Einer der zentralen Diskussionspunkte war: Ist eine grundlegende Demokratisierung möglich, oder sind die formalen Demokratien, die in den letzten Jahren nach Abdankung der Militärs in Ländern wie Chile, Argentinien, Paraguay oder Brasilien entstanden sind, Fortsetzung der Diktatur mit anderen Mitteln?
Der argentinische Journalist Miguel Bonasso brachte die Fragestellung auf den Punkt: “Die sechziger Jahre waren die Zeit der revolutionären Bewegungen. In den siebziger Jahren kamen die Militärdiktaturen, die in den Achtzigern von formalen Demokratien abgelöst wurden. Was werden die neunziger Jahre bringen? Kommt jetzt wieder eine Phase der autoritären Staatsformen á la Fujimori in Peru, oder gibt es Möglichkeiten für linke Reformprojekte?” Die Kompetenz der lateinamerikanischen ReferentInnen konnte nicht über eine grundlegende Schwäche des Kongresses hinwegtäuschen: Die Zusammensetzung des Podiums spiegelte nicht gerade die Vielfalt der lateinamerikanischen Linken wieder, sondern nur deren parteipolitische Variante. Abgesehen von der Diskussionsleiterin Dorothee Piemont und Monica Baltodano von der FSLN waren Frauen lediglich in ihrer klassischen Funktion als Übersetzerinnen präsent.

Chance vertan: Soziale Bewegungen und Beiträge des Publikums waren kaum erwünscht

Auf die Anwesenheit von VertreterInnen sozialer Bewegungen war offenbar kein Wert gelegt worden, obwohl gerade diese in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika entscheidende Impulse für eine Erneuerung linker Programmatik gegeben haben. Und so blieb es einer Lateinamerikanerin aus dem Publikum vorbehalten, darauf hinzuweisen, daß es mittlerweile auf kontinentaler Ebene zahlreiche Treffen und Zusammenschlüsse von Frauengruppen, Umweltverbänden, Bauernorganisationen, Schwarzen und indigenas gibt, die ja nicht zuletzt in der Kampagne gegen die offiziellen 500 Jahr-Feiern im vergangenen Jahr eine entscheidende Rolle spielten.
Was die Stimme der bundesdeutschen Linken auf dem Kongreß anging, war es fast schon grotesk, mit Wolf-Dieter Gudopp vom “Verein Wissenschaft und Sozialismus” einen Vertreter ausgerechnet jener orthodoxen, kopflastigen und verknöcherten Variante von Sozialismus eingeladen zu haben, die an der ideologischen Krise der Linken einen entscheidenen Anteil hat.
“Auch ich bin von der Begeisterung für Dinosaurier angesteckt.”Dieses modische Lippenbekenntnis Dorothee Piemonts bezog sich auf ihre These, daß der Kapitalismus auf Dauer nicht überlebensfähig sei. Mindestens genauso gut hätte dieser Satz jedoch auf das anachronistische Gestaltungskonzept des Kongresses gepaßt: An zwei Tagen wurde vor vollem Hörsaal eine Frontalveranstaltung sondergleichen abgezogen: Die meisten Redebeiträge lagen dem Publikum als deutsche Übersetzung vor. Aus “Zeitmangel” wurden fast alle Referate ohne Direkt-Übersetzung auf Spanisch abgelesen -eine Methode, die auf einen Teil des Publikums einschläfernd wirkte, während andere frustriert und wütend reagierten: “Da hätte ich mich ja besser mit dem Reader zuhause hinsetzen können.”
Für den Dialog mit der Basis blieb -“leider, leider” -wie die Diskussionsleitung immer wieder bedauerte -so gut wie keine Zeit. Auf diese Weise wurde nicht nur eine Chance vertan, die Perspektiven der lateinamerikanischen Linken in größerer Runde zu diskutieren. Auch die gegenwärtige Krise der bundesdeutschen Linken -und eventuell vorhandene Erneuerungskonzepte -wurde kaum reflektiert, geschweige denn diskutiert.

Revolutionärer Pragmatismus: Drei Mahlzeiten täglich für alle

Die lateinamerikanische Linke sieht sich zur Zeit mit politischen und wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, die neben einer langfristigen Perspektive auch ein konkretes Handeln erfordern: Ein Blick auf die politische Landkarte des Subkontinentes zeigt, daß die Situation in den verschiedenen Ländern so unterschiedlich ist, daß es schwerfällt, allgemeine Prognosen zu treffen. Von einer Entwicklung sind allerdings fast alle Staaten betroffen: Mit dem rigiden Durchsetzen neoliberaler Wirtschaftsprogramme hat sich die Situation für den Großteil der Bevölkerung weiter verschlimmert und die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Das Kürzen öffentlicher Ausgaben im sozialen Sektor und im Bildungsbereich und die Privatisierungen staatlicher Unternehmen haben immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Heute ist es für viele Basisbewegungen in Ländern wie Peru oder Brasilien eine zentrale Forderung, den Hunger und das Massenelend zu beseitigen.
Wenn in seinem Land durchgesetzt werden könnte, daß die gesamte Bevölkerung dreimal täglich zu essen bekäme, so Nildo Domingos von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT), wäre dies angesichts der jetzigen Situation schon eine revolutionäre Errungenschaft. Gleichzeitig sieht auch er die Gefahr, sich in tagespolitischen Forderungen aufzureiben: “Die Linke war bis vor kurzem zu dogmatisch. Nun ist sie zu pragmatisch.”
Mit dem Vorwurf eines zu großen Pragmatismus, der “Sozialdemokratisierung”, wurde auf dem Kongreß in Frankfurt insbesondere der Vertreter der FMLN aus E1 Salvador, Shafik Hándal, konfrontiert. Die ehemalige Guerilla, die Anfang letzten Jahres nach zwölfjährigem Kampf einen Friedens-und Demokratisierungsvertrag mit der Regierung aushandelte, hat gute Chancen, bei den Wahlen im kommenden März die Regierung zu übernehmen. Das Programm, mit dem die FMLN antritt, konzentriert sich auf eine grundlegende politische Demokratisierung und Entmilitarisierung der salvadorianischen Gesellschaft. Es sieht eine Stärkung genossenschaftlicher Eigentumsformen vor, will jedoch gleichzeitig die Marktwirtschaft erhalten. Gegenüber KritikerInnen betonte Handal: “Ob die Demokratie sich am Ende als eine bürgerliche, rein formale, oder als eine substantielle herauskristallisieren wird, ist eine offene Frage. Wir von der FMLN bestehen auf unserem grundlegenden Recht auf die Methode des trial and error in einer Welt, die uns weder Beispiele noch Bezugspunkte bietet.”
Neben der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit ist ein anderes zentrales Problem in vielen Ländern die Rolle des Polizei-und Militärapparates als Repressionsorgan und die Existenz paramilitärischer Todesschwadrone. Gerade die aktuelle Entwicklung des Friedensprozesses in E1 Salvador läßt daran zweifeln, ob sich diese Kräfte tatsächlich mit friedlichen Mitteln entmachten lassen -von einer systematischen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen ganz zu schweigen.

Der ‘Geist Bolivars’ -Trugbild oder politische Vision?

Auf dem Kongreß wurde deutlich, daß die meisten linken Parteien Lateinamerikas zur Zeit in erster Linie damit beschäftigt sind, Perspektiven auf nationaler Ebene zu entwickeln -mit unterschiedlichen Konsequenzen. Zwar wurde immer wieder die Notwendigkeit beschworen, sich auf kontinentaler Ebene zusammen-zuschließen und auch mit linken Bewegungen aus Afrika oder Asien zu kooperieren. Der “Geist Simón Bolivars”, des antikolonialen Befreiungskämpfers aus dem vorigen Jahrhundert, schwebte nicht nur in Form eines riesigen bemalten Transparentes über den Köpfen der Diskutierenden. Es wurde betont, daß es allein schon aufgrund der weltwirtschaftlichen Verflechtungen und der Interventionspolitik der westlichen Industriestaaten nicht möglich sei, den “Sozialismus in einem Land zu realisieren -siehe die Beispiele Kuba und Nicaragua. Durch den Niedergang des “realexistierenden Sozialismus” haben sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren weiter verschlechtert. Dazu Eleuterio Huidobro von der ehemaligen Guerilla und jetzigen Partei der “Tupamaros” aus Uruguay: “Früher sahen wir die Alternativen Sozialismus oder Faschismus. Heute ist eine dritte Alternative aufgetaucht, die sich besonders in einigen afrikanischen Ländern oder in Osteuropa zeigt: das Chaos.”
Trotzdem war die Stimmung auf dem Kongreß von Optimismus gedämpften Optimismus gekennzeichnet: Immerhin haben in einigen Ländern Lateinamerikas linke Projekte in den letzten Jahren an Boden gewonnen und deren VertreterInnen könnten in absehbarer Zeit Regierungsaufgaben übernehmen, beispielsweise in E1 Salvador, Brasilien oder Uruguay. Ein anderes sehr interessantes Projekt -in Deutschland bisher noch recht unbekannt -ist die “Causa R in Venezuela (vgl. LN 226):Diese Bewegung versucht, dem staatlichen Establishment eine dezentrale, basisdemokratische Gegenmacht entgegenzusetzen. Mit beachtlichem Erfolg: Mittlerweile stellt die “Causa R” unter anderem den Bürgermeister der Hauptstadt Caracas.
Was die politischen Programme angeht, sind die LateinamerikanerInnen zwar bereit, auch mit deutschen Linken zu diskutieren, wehren sich aber gegen Bevormundung. Dazu Huidobro aus Uruguay: “Es wäre wünschenswert, wenn sich die Deutschen mehr um ihre Probleme hier kümmern. Wir würden auch gerne in Lateinamerika ein Kommitee zur Unterstützung der Revolution in Deutschland gründen.”

Den deutsch-brasilianischen Atomvertrag kündigen!

Zwischen 500.000 und einer Million Unterschriften wollen das brasilianische Anti-Atom-Netzwerk REDE und GREENPEACE noch vor Ende des Jahres dem brasilianischen Präsidenten Itamar Franco übergeben und damit den Weiterbau des nur 150 Kilometer von Rio de Janeiro gelegenen Atomkraftwerks Angra dos Reis 2 verhindern. Gleichzeitig wird der Präsident aufgefordert, den 1975 von der Alt-BRD mit der brasilianischen Militärdiktatur ausgehandelten deutsch-brasilianischen Atomvertrag endgültig aufzukündigen. Dieses Abkommen hatte ursprünglich den Bau von 8 (tatsächlich: acht!) Atomkraftwerken durch KWU/Siemens vorgesehen, inklusive Technologie zur Urananreicherung, finanziert durch deutsche Banken und gesichert durch Hermes-Bürgschaften der Bundesregierung. Da der geschlossene Brennstoffkreislauf im Rahmen eines “zivilen” Atomprogramms nicht offen machbar war, hat die brasilianische Marine damals das sogenannte “Parallelprogramm” zum Bombenbau gestartet -und bis heute weiterbetrieben.

Ein Toter ohne Totenschein

Weniger erfolgreich hingegen waren die sogenannten “friedlichen” Atomiker: Angra 2 ist seit fast zehn Jahren stillgelegt, es fehlt(e) das Geld für den Weiterbau. Von Angra 3 zeugt nur ein großes Loch; Itamar Franco verordnete im Dezember 1992 die endgültige Einstellung aller weiteren Arbeiten. Lediglich das von Kanada gebaute erste und einzige brasilianische Atomkraftwerk Angra 1 (in Brasilien besser bekannt unter dem Namen “Glühwürmchen”) erzeugte bisher überhaupt Strom. Doch wegen technischer Probleme (erhöhte Radioaktivität im Primärkreislauf) und Wartungsarbeiten ist der Reaktor seit Anfang März fast durchgehend abgeschaltet. Im September des vorigen Jahres nun besuchte eine brasilianische Delegation unter Leitung des Energieministers Marcus Vinicius Pratini de Moraes die Bundesrepublik, um mit Siemens, dem Bundeswirtschaftsministerium und den deutschen Banken die Modalitäten für die Wiederaufnahme der Bauarbeiten am Atomkraftwerk Angra 2 auszuhandeln. Immerhin sind fast alle Teile des Reaktors seit Jahren geliefert und lagern zu hohen Kosten in Brasilien. Das zu 65% fertiggestellte 1300-Megawatt-AKW sollte laut Siemens bis zum Jahr 1997 betriebsbereit sein. Allerdings ist seitdem so gut wie nichts geschehen und in Brasilien wird weiter um die Finanzierung gestritten. Folgerichtig erklärte GREENPEACE den deutsch-brasilianischen Atomvertrag zum “Toten ohne Totenschein”.

“Es gibt tausend gute Gründe …’

Größter Verbündeter der brasilianischen Anti-AKW-Gruppen ist in der Tat die mittlerweile chronische Finanzmisere des Staates; ein um’s andere Mal kürzte sie den Umfang des Atomprogramms und verzögerte die verbliebenen Bautermine bis heute erfolgreich (siehe Kasten).
Der Bau von Angra 1 hat 3,5 Milliarden Dollar gekostet. Für Angra 2 wurden bisher 4,5 Milliarden ausgegeben, weitere 1/37 Milliarden werden für dessen Fertigstellung veranschlagt -Tendenz steigend. Mit den noch ausstehenden Beträgen könnte mensch nicht nur 2000 Schulen oder 250.000 einfache Wohnhäuser bauen, sondern ein landesweites Alternativ-Energie-Programm initiieren, das sämtliche weiteren Atompläne überflüssig machen würde. Von unabhängigen Energie-Experten wurde bereits vorgeschlagen, das AKW Angra 2 in ein konventionelles Gas-Kraftwerk umzubauen, wie das in einem ähnlichen Fall bereits in den USA geschehen sei.
“17 Jahre nach seiner Unterzeichnung besteht der “Erfolg” des Atomvertrags in mehreren Milliarden unnütz ausgegebener Dollars, keinem Kilowatt produzierter Energie, mehreren Bauruinen und einer enormen Erhöhung der brasilianischen Auslandsschulden, die die aktuelle ökonomische und soziale Krise noch um einiges verschärfen”, faßt GREENPEACE Brasilien das finanzielle Debakel des Atomprogramms zusammen.
Doch die Umweltorganisation führt noch eine ganze Reihe weiterer Argumente für einen endgültigen Baustopp von Angra 2 und das Ende des deutsch-brasilianischen Atomvertrags ins Feld:
-Der Weiterbau von Angra 2 ist illegal, da die gesetzlich notwendige Zustimmung des Kongresses fehlt; außerdem existiert bis heute keine Umweltverträglichkeitsprüfung für das Atomkraftwerk.
-Atomkraftwerke stellen untragbare Risiken dar, zumal in Angra dos Reis nicht einmal ein richtiger Notfallplan existiert. Auch ist Angra 2 nicht gegen Flugzeugabstürze ausgelegt, “aufgrund der natürlich geschützten Lage von Angra 2 in einer engen Bucht” (!?!), wie Siemens schreibt (Standpunkt, September 1992).
-Fast jede andere Energie ist in Brasilien billiger als Atomstrom; Stillegung und Abbruch der Atomkraftwerke dabei noch nicht eingerechnet.
-Auf die Frage der Endlagerung der radioaktiven Stoffe gibt es nicht einmal provisorische Antworten.
-Die militärische Nutzung der Atomkraft ist zu keinem Zeitpunkt ausgeschlossen; das geheime militärische Parallelprogramm existiert von anfang an und wird weiterhin fortgeführt.
-Die Atomkraft stellt für Brasilien ein unpassendes technologisches Modell dar. Bei der Größe des Landes muß jegliche Energiepolitik dezentral ansetzen und sich auf die Charakteristiken und Potentiale der jeweiligen Region stützen.
Dies dürften mehr als genug gute Gründe sein, auch hierzulande für die Kündigung des deutsch-brasilianischen Atomvertrags aktiv zu werden.

Weitere Anti-Atom-Aktivitäten

* Vom 18.-22. Oktober 1993 findet in Rio de Janeiro der VI. Brasilianische Energie- kongress statt. Auf diesem alle drei Jahre von der dortigen Bundesuniversität organisierten Treffen gibt es neben einer Reihe von Workshops zu Energie-Alter- nativen auch eine Arbeitsgruppe zur Atomenergie.
Nähere Informationen über: Emilio Lebre la Rovere, Instituto de Ecologia e Desenvolvimento, Tel.: +55-21-2709995, Fax: +55-21-2906626
* Vom 3.-10. April 1994 wird in Brasilia das IV.Lateinamerikanische Anti-Atom- Treffen (ELAN) stattfinden. War es auf dem ersten Treffen 1988 in Mar del Plata (Argentinien) noch darum gegangen, die verschiedenen Anti-Atom-Gruppen aus Lateinamerika zusammenzubringen, soll 1994 in Brasilien ein gemeinsames Handlungs-und Strategieprogramm erarbeitet werden. Auf dem das Treffen begleitenden Lateinamerikanischen Alternativenergie-Markt (FLEA) sollen neue Produkte und Technologien vorgestellt und für ihre Verbreitung in der Gesellschaft geworben werden.
Organisation und weitere Information über: Secretaria Executiva: ABRASCA DF; SCLN 714/715, Bloco H, Loja 27, CEP 70760-780
Tel: 061-3490353, Brasilia-DF, Brasilien

Anstelle eines Nachrufs

Leopoldo ist tot. Ich traf ihn zum letzten Mal vor seinem endgültigen Weggang aus Berlin nach Heidelberg, und eigentlich kann ich seinen Tod noch nicht richtig glauben. Ich erinnere ihn als einen quicklebendigen, oftmals chaotischen Menschen, immer auf Achse, der sich für viel mehr Dinge interessierte, als er selbst bearbeiten konnte. Er war offen für Experimente, konnte die Grenzen seiner eigenen Fähigkeiten akzeptieren und bereitwillig auch von anderen lernen. Darin unterschied er sich auch von vielen, die wir als Dozenten an den Universitäten kennenlernten. Er hörte nie mit halbem Ohr zu, hatte Spaß daran, mit StudentInnen zu sprechen, war ohne Allüren. Leopoldo gehörte nicht zu den scheinbar kumpelhaften Dozenten, die in Wahrheit lediglich wenig Arbeit mit den Studis haben wollen. Als Dozenten habe ich ihn kennengelernt, einen kleinen Ausschnitt nur aus seinem Leben. Als er sich bei der Alternativen Liste um die Ausarbeitung eines Konzeptes für ein “Landesamt für Entwicklungszusammenarbeit” kümmerte, und wie andere an der verwaltungstechnischen Umsetzung politischer Gedanken fast verzweifelte, hörte ich Menschen über ihn schimpfen. Es sei doch nicht pragmatisch, was er vorschlug. Er sei eben ein Akademiker, der von den Niederungen der Verwaltung keine Ahnung habe. Vielleicht. Vielleicht aber ist es auch das, was Leopoldo neben aller Politik zu dem schätzenswerten Menschen machte, als der er mir in der Erinnerung bleibt.
Bernd Pickert

Eine meiner ersten Erinnerungen an Leopoldo liegt in einem Kellerraum des Lateinamerika-Instituts. Nach einem Film über die Verschuldungskrise wurde für Uni-Verhältnisse lebhaft diskutiert. Im Gegensatz zu anderen Seminaren nahmen einige Lateinamerikaner teil. Daß Leopoldo der Dozent war, wurde mir erst klar, als er die Filmrollen zusammenpackte. Eine meiner letzten Erinnerungen liegt in einem Café im lärmenden Buenos Aires, wo wir aufgeregt unsere Ideen austauschten, bis Leopoldo aufsprang, weil er gerade einen Termin verpaßte.
Leopoldo war einer der ungewöhnlichen Dozenten, weil er so herzlich und fehlbar war, kein bißchen einschüchternd, und weil er sich und mich und andere immer wieder für Themen, für Politik, für Lateinamerika begeistert hat.
Meine Erinnerungen sind lange her. Ich habe damals immer vergessen zu fragen, warum er nach Deutschland gekommen ist.
Karin Gabbert

Mein Interesse an der politischen Situation in Argentinien führten mich 1984 in ein Seminar von Leopoldo Mármora. Er war mir auf Anhieb sympathisch, mit seinem argentinischen Akzent, Bart und Brille, hinter der die lebhaften Augen sein persönliches Engagement verrieten. Zugleich war er immer jemand, der anderen zuhören konnte, neuen Ideen offen gegenüberstand und seine eigenen Positionen ohne Arroganz vertrat. Er hat mir die Entwicklungstheorien und die Geschichte seines Landes nahegebracht und mich ermutigt zum Studium nach Buenos Aires zu gehen. Seitdem haben mich Argentinien und Lateinamerika nicht mehr losgelassen. Leopoldos Beiträge zur entwicklungspolitischen Diskussion haben unsere Diskussionen immer wieder bereichert. Seine herzliche Art und seine Solidarität werde ich nicht vergessen.
Veit Hannemann

Was mir bei dem so ungenügenden Versuch,
an deinen Tod zu denken, hilft,
ist zu wissen,
daß du das Leben geliebt und gelebt hast –
mit so viel Energie, Freude und Intensität,
einer Kraft, die du auch anderen gegeben hast,
wenn sie in deiner Nähe waren.
Du hast daran geglaubt und dafür gelebt,
gemeinsam mit anderen etwas von dem Unerträglichen,
das es heißt, in dieser falschen Welt zu leben,
ändern zu können,
und das ist es, was weiterlebt in mir –
dein herzliches Lachen und der Optimismus,
daß wir es schaffen können, wenn wir es wollen.
R.H.

Leopoldo Mármora

– te recordaremos como hombre consecuente y solidario.

Die Argentiniengruppen
– Koordination –

Petra Rohde, Berlin

Carlos Flaskamp, Köln  

Editorial Ausgabe 229/230 – Juli/August 1993

Daß die Lateinamerika Nachrichten ihren zwanzigsten Geburtstag mit dem Schwerpunkt Chile begehen, ist für die Redaktion so logisch, wie es vermutlich für einen Großteil unserer LeserInnen inzwischen der Erläuterung bedarf: 1993 – 1973? Richtig, der Putsch in Chile…
Der Impuls, auf hektografierten Blättern in ein paar hundert Exemplaren Informationen über Chile in der “Bundesrepublik und West-Berlin” zu verbreiten, entstand im Juni 1973 aus Solidarität mit dem “Chilenischen Weg zum Sozialismus” unter Salvador Allende – in der Hoffnung/Zuversicht, Unterstützung für das bedrohte Experiment mobilisieren zu kön­nen; schon für die Nummer 5 erzwang der Sep­tember-Putsch eine neue Zielrichtung: Unter­stützung für den Widerstand in Chile, Infor­mation für die unglaubliche Zahl spontan ent­stehender Chile-Solidaritätskomitees in (west)deutschen Städten. Das war in diesem unserem Land einmal möglich: Engagement für Menschen in fernen Ländern (wie, um wei­tere signifikante Beispiele zu nennen, davor mit Vietnam, danach mit Nicaragua). Nicht, daß wir uns (allzugroße) Illusionen über die Erfolge der Solidaritätsbewegung machen: Aber damals gingen Tausende auf die Straßen, wenn AusländerInnen in ihren Ländern um­gebracht wurden (und sammelten Gelder für den – auch bewaffneten – Widerstand).
Chile unter Allende – daran ist zu erinnern – war ein Beispiel, schien eine Alternative zu den bewaffneten Befreiungsbewegungen, stand für den friedlichen Weg zum Sozialismus. Die Re­gierung des heutigen Chile versteht sich wie­derum als beispielhaft, und das in zweierlei Hinsicht: als wenn schon nicht “friedlicher”, so doch weitgehend gewaltfreier Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie, gleichzei­tig als ökonomisch erfolgreiches Beispiel für den Weg aus der Unterentwicklung. Galt die Sympathie der Chile-Nachrichten eindeutig der zunächst bedrängten, dann geschlagenen Lin­ken, so versucht das vorliegende Heft, die Kehrseite der “makroökonomisch” so glänzen­den Erfolgsbilanz der heutigen Regierung Aylwin zu zeigen.
Was für die Welt im großen gilt, trifft natür­lich auch auf den Kosmos unserer Redaktion zu: Sie ist nicht mehr, was sie einmal war. Der Wechsel findet wie im “ächten Leben” ständig statt, von der “GründerInnengeneration” sind noch zwei Vertreter (sic! tatsächlich zwei männliche Wesen) in der Redaktion aktiv, und die Arbeitsweise ist wie seit den ersten Num­mer gebändigt chaotisch: Wir lernen ständig aus unseren Fehlern, wissen nur nicht, was. Nur so ist wohl ein Projekt wie die LN zwan­zig Jahre lebensfähig geblieben. Daß aus den Chile-Nachrichten im Jahre 1977 die Latein­amerika Nachrichten wurden, war der “roll-back”-Strategie der Rechten gegenüber linken Bewegungen in Lateinamerika geschul­det (nach Chile: Argentinien, dann Peru).
Daß wir über die Arbeiterklasse gar nicht mehr, über die ArbeiterInnenbewegung kaum noch, über Basisbewegungen gelegentlich, über Kuba viele Jahre gar nicht, dann vereinzelt, zuletzt häufiger und meist kritisch, über Fraueninitiativen und ökologische Pro­bleme relativ regelmäßig, über kulturelle Trends immer noch zu wenig, über spirituelle Trends hoffentlich nimmer berichten – das hat nur noch bedingt mit den objektiven Gegeben­heiten, aber viel mit den subjektiven Befind­lichkeiten, also der jeweils real-existie­renden Redaktion zu tun: Die zehn bis zwan­zig Leute, die sich wöchentlich versammeln, sind nach einem Jahr schon wieder andere. Ob im Laufe der zwanzig Jahre 200 oder 400 Individuen mitgearbeitet haben, ist ziemlich bedeutungslos und wohl auch nicht zuverlässig festzustel­len; die Redaktion der LN bestätigt allmonat­lich die jahrtau­sendealte Weisheit, daß “alles fließt”.
Diese antike Einsicht bedeutet auch – und das Unsseidank! – daß sich in der Redak­tion nie­mals hierarchische Strukturen ausge­bildet haben. Angesichts der Weisheit und Erfahrun­gen der länger Mitarbeitenden natür­lich ein Jammer, aber eben auch die Chance eines Pro­jektes wie den LN: ohne zu verkrusten (glauben wir) offen zu blei­ben und andere Menschen (hoffen wir) sensibel zu machen für die Probleme eines Kontinents jenseits der Grenzen unserer Festung (West-)Europa.

Geliebtes Erbe einer verhaßten Zeit

Wenn Leute, die die chilenische Regierung vertreten, heutzutage mit Kolleginnen und Kollegen aus den Nachbarländern diskutieren, vermeiden sie es sorgfältig, von Chile als Modell zu sprechen. Ihnen ist es, egal ob sie aus der Christdemokratischen oder der Sozialistischen Partei kommen, peinlich, als überheblich zu gelten, so als sollte am chilenischen Wesen die Welt ringsum genesen. Und gelegentlich lassen sie auch noch erkennen, daß sie keinem Nachbarland die Opfer wünschen, die die lange Nacht der Pinochet-Diktatur gekostet hat. Sobald sie aber untereinander sind, geht ihnen ganz flott von den Lippen, daß sich ihr Land jetzt in der “zweiten Phase des Exportmodells” befindet. Das soll bedeuten, daß sie die Ergebnisse der unter der Militärdiktatur durchgesetzten neoliberalen Revolution, nämlich eine exportorientierte, aktive Weltmarktintegration des Landes mit allen Konsequenzen für seinen inneren Zustand voll akzeptieren und nur innerhalb dieses Rahmens etwas im Sinne von Demokratie und sozialem Ausgleich ändern wollen. Nicht Chile ist also das Modell, sondern Chile hat sich nur frühzeitig nach einem Modell ausgerichtet, das nach dieser Vorstellung andere Länder – unter möglichst weniger kostspieligen Umständen – auch adoptieren müßten.

Die Linksintellektuellen ohne Alternative

Diese Einschätzung, daß es zu dem herrschenden Wirtschaftsmodell keine wirkliche Alternative gebe, wird heute auch von der Mehrheit der einstmals linken Intellektuellen geteilt, die vor zwanzig Jahren mit Salvador Allende für einen demokratischen Sozialismus kämpften und dann für lange Jahre ins Exil gehen mußten. Diese Position ist in der Koalition, die den Präsidenten Patricio Aylwin trägt, so weit akzeptiert, daß die rechte Opposition derer, die mit der Diktatur sympathisierten, für den kommenden Wahlkampf gar kein rechtes Thema hat und in den Meinungsumfragen hoffnungslos zurückliegt.
Woher aber nun diese freudige Akzeptanz des neuen chilenischen Weges? Woher die Angst vor jeder Abweichung vom Pfad der kapitalistischen Tugend? Woher der Erfolg der Warnung “Keine Experimente!”, ganz im Sinne von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard seligen Angedenkens?
Ein großer Teil der Erklärung liegt in dem relativ hohen Wachstum, das die chilenische Wirtschaft seit Mitte der achtziger Jahre und ganz besonders seit dem Amtsantritt der demokratischen Regierung Anfang 1990 erfahren hat. Chile war – neben Uruguay – eins der ganz wenigen Länder, die im sogenannten “verlorenen Jahrzehnt Lateinamerikas” zwischen 1980 und 1990 nicht einen Rückgang der Wirtschaftsleistung erlebt haben, und überhaupt das einzige Land, dessen Produkt pro Kopf in dieser Zeit spürbar zunahm.
Das folgende Schaubild zeigt, wie sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung in Chile im Vergleich zu den Nachbarländern verändert hat. Während es in Peru von 1980 bis 1992 um gute, genauer: katastrophale 30 Prozent gesunken ist, in Bolivien auf niedrigstem Stand noch nicht einmal das Niveau von 1970 wieder erreicht hat und in Argentinien trotz hoher Zuwachsraten in den letzten beiden Jahren die gut 20 Prozent Schrumpfung seit 1980 immer noch nicht wieder wettgemacht hat, verzeichnet es in Chile seit 1982, als es dort unter den Stand von 1970 zurückgefallen war, ein erst langsames, dann sich steigerndes Wachstum um insgesamt 30 Prozent. Der Abstand zum reicheren Argentinien hat sich erheblich verringert, der zu den ärmeren Nachbarländern Peru und Bolivien erheblich vergrößert. Alle, die sich in Chile den Luxus einer Auslandsreise leisten können, kommen mit dem Eindruck zurück: “Bei uns funktioniert es besser!”
Bisweilen verbindet sich damit der Traum, binnen kurzem den Anschluß an die Entwicklung der Industrieländer zu erreichen, Teil der Ersten Welt zu werden. Und in der Tat: In dem großen, weiträumigen Oberklassenviertel von Santiago können sich die gutsituierten Leute wochenlang über weite Strecken bewegen, ohne der Armut zu begegnen. Modernste Wohnanlagen und schmucke Villen wechseln mit luxuriösen Einkaufspassagen, attraktiven Hotels und postmodernen Bankpalästen, zwischen denen geschniegelte Yuppies mit ihren schlanken Aktenkoffern – eifrig telefonierend – hin und her laufen oder fahren.

Eine gigantische Umverteilung

Dieser konzentrierte und heute offen zur Schau gestellte Reichtum ist aber nicht nur das Ergebnis der Wachstumsraten der letzten Jahre, sondern vor allem Resultat einer gigantischen Umverteilung der Einkommmen zu Lasten der Armen und zu Gunsten der Reichen. Nach Angaben der in dieser Hinsicht sicher unverdächtigen Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen (CEPAL) ist in Chile zwischen 1970 und 1990 der Anteil der Armen von 17 auf 35 Prozent der Bevölkerung und der Anteil der extrem Notleidenden von sechs auf zwölf Prozent der Bevölkerung gestiegen. Diese gigantische Umverteilung war einerseits das Ergebnis der nach 1973 erfolgten Durchsetzung des neoliberalen Wirtschaftsmodells mit der völligen Liberalisierung des Marktes, der totalen Ausrichtung auf den Außenhandel und der drastischen Reduzierung der Rolle des Staates in der Wirtschaft und im Bereich des Sozialen. Andererseits wurde die Umverteilung noch einmal verschärft durch die tiefen Wachstumskrisen von 1975 und 1982, die der Schockbehandlung durch die Chicago Boys unter der Diktatur folgten.
Nimmt man die geamte Zeit seit 1970 bis heute, so ist Chile – bezogen auf den Durchschnitt der Bevölkerung – den Industrieländern keineswegs näher gerückt. Um ganze 1,2 Prozent jährlich ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in den 22 Jahren seither gewachsen. Entscheidend für das Bewußtsein der Leute – auch der armen Leute – ist aber, was jetzt passiert; und jetzt boomt die Wirtschaft: Um 10,4 Prozent hat die Wirtschaftsleistung 1992 zugenommen. Wo gibt es das – außer in China – noch auf der Welt? Für 1993 sieht es nicht viel schlechter aus. Und die Inflation sinkt. Und das Auslandskapital strömt herein. Und die Deviseneinnahmen aus dem Export nehmen zu. Und die Investitionsquote steigt.
Unter diesen Umständen setzt auch die Mehrheit der Armen ihre Hoffnung nicht auf die Abschaffung des Wirtschaftsmodells, das ihre Armut erst erzeugt oder noch verschlimmert hat, sondern – unter der demokratischen Regierung – auf einen gerechten Anteil an dem produzierten Wachstum. Regierungsfunktionäre aus dem Planungsministerium haben ausgerechnet, daß tatsächlich im Jahre 1992 die Einkommen der unteren 40 Prozent der Einkommenspyramide um zwei Prozent schneller gewachsen sind als der Durchschnitt. Bei diesem Tempo würde es noch viele Jahrzehnte brauchen, bis eine ähnliche Einkommensverteilung wie im Jahr 1970 wieder erreicht würde; aber die Situation der Armen wird wenigstens nicht noch schlechter.

Liberalismus in den Köpfen

Daß das Wirtschaftsmodell so breit akzeptiert wird, liegt aber auch daran, daß es sich über die neoliberalen sogenannten “Modernisierungen” seit den achtziger Jahren in den Verrichtungen des täglichen Lebens und in den Köpfen niedergeschlagen und festgesetzt hat. Die Privatisierung der grundlegenden sozialen Dienste im Gesundheitswesen und in der Sozialversicherung, die Übertragung des Bildungswesens auf die Gemeinden, die Zerschlagung und Neuordnung der Gewerkschaften durch den sogenannten “Plan Laboral” und die Zerstörung der Berufskammern, alle diese Maßnahmen zielten darauf, die Gesellschaft zu atomisieren und an den Gedanken zu gewöhnen, daß vom Staat nichts zu erwarten ist: “Jede ist ihres Glückes Schmiedin.” Und da unter der Diktatur diesen Ideen der Herrschenden nichts entgegengesetzt werden konnte, wurden sie zu den herrschenden Ideen im Lande. Unternehmerischer Geist kennzeichnet heute nicht nur die UnternehmerInnen, sondern auch die Werktätigen bis hin zu den Bettlern, die sich zur Steigerung der “Effizienz” ihrer Arbeit eine Krawatte umbinden.
Die Ausrichtung auf den Export ist auf den ersten Blick beeindruckend erfolgreich. Immer steigende Deviseneinnahmen haben nicht nur die Finanzierung des Luxus der Oberschicht, sondern auch eine Reduzierung der Auslandsschulden möglich gemacht. Aber auch der Blick auf die endlos erscheinenden neuen Obst- und Weingärten, Kiefern- und Eukalyptuswälder, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die vielgepriesenen “nichttraditionellen” Exporte von Obst und Holz, Wein und Zellulose eben doch insofern sehr traditionell sind, als es sich um Rohstoffe oder wenig verarbeitete, rohstoffnahe Produkte handelt, bei denen die komparativen Vorteile gegenüber den ausländischen Konkurrenten in der Ausbeutung des Bodens und schlecht bezahlter – häufig weiblicher – Arbeitskräfte liegen. An ein dauerhaftes Wachstum dieser Art von Exporten ist nicht zu denken; und unter ökologischen und sozialen Gesichtspunkten wäre es auch gar nicht wünschenswert.
Die Vernachlässigung ökologischer Gesichtspunkte ist ohnehin eins der wesentlichen Kennzeichen des chilenischen Modells. Kaum jemand wagt es, die Argumentation gegen Smog und Pestizide, gegen Monokulturen und Naturwaldvernichtung soweit zu treiben, daß auch die Heilige Kuh des Wachstums um jeden Preis ins Zwielicht geriete. Die Regierung des Präsidenten Aylwin und ihre fast sichere Nachfolgerin unter dem Christdemokraten Eduardo Frei werden froh sein, wenn sie die Fortsetzung des neoliberalen Wirtschaftsmodells mit fortgesetztem Wachstum, einem Minimum an Verbesserung im Sinne sozialen Ausgleichs und der Aufrechterhaltung einigermaßen demokratischer Verhältnisse kombinieren können. Für manche Länder in Lateinamerika und Osteuropa mag solches Streben Modellcharakter haben; von sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Vernunft sind die Verhältnisse in Chile immer noch weit entfernt.

Die Militärs und der Übergang

Das “Boinazo”, wie man die Ereignisse hier in Chile genannt hat, war allerdings nicht der einzige Ausdruck der Unzufriedenheit des Heeres während der Regierung Patricio Aylwins. So sei daran zu erinnern, daß Ende 1990, als die gegenwärtige Administration noch kein Jahr im Amt war, die Militärs ein ähnliches Manöver vollführten, welches euphemistischerweise “Alannübung” (ejercicio de enlace) genannt wurde. Genau wie jetzt, ließ auch damals die Armee ihre Truppen aus den Kasernen ausrücken und eine Reihe symbolischer Gesten vollführen, damit die Bevölkerung, und besonders die politische Klasse, zur Kenntnis nähme, daß etwas Unnormales stattfand (LN 200)..
Die Motive, die die Militärs hatten und haben, um beide Aktionen durchzuführen, sind relativ ähnlich, aber die Umstände sind unterschiedlich. Und das gibt ihnen ihre Besonderheit.
Von der Wirkung her wollten und wollen beide Bewegungen einen Spezialstatus für die Streitkräfte erreichen, insbesondere für das Heer, welcher es ihnen erlauben würde, sich ihrer Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen und Korruption in der Vergangenheit zu entledigen. Auch wenn das gegenwärtige “Boinazo” sich nur verstehen läßt im Hinblick auf die Wahlen im kommenden Dezember, und angesichts der kümmerlichen Verfassung, in der die Rechte auf dieses Ereignis zusteuert.

Pinochet: Stärker oder schwächer?

Wie sich in diesen Wochen gezeigt hat, gibt es keinen Zweifel daran, daß Pinochet weniger Stärke, Legitimität und Bündnismöglichkeiten hat als Ende 1990. Faktisch erreichte er bei jener Gelegenheit die aktive Unterstützung eines Teils der Rechten (der UDI), das Stillhalten des Unternehmertums und, was grundlegend war, die Solidarität der anderen Bereiche der Streitkräfte. Heutzutage haben die Rechte und das Unternehmertum die Reihen geschlossen zur Verteidigung der demokratischen Institutionen, während die anderen Teile der Streitkräfte sich dazu entschlossen haben, dem Thema in der Öffentlichkeit aus dem Weg zu gehen und private Signale des Mißfallens angesichts des Verhaltens der Armee zu äußern.
Marine und Luftwaffe haben angesichts der gegenwärtigen Lage eine andere Strategie . Und sei es auch nur, weil sie nicht im entferntesten in dem gleichen Ausmaße wie die Armee in Menschenrechtsverletzungen und Akte der Korruption verwickelt sind. Gleichzeitig haben sie ihre Politik der Reprofessionalisierung der Institutionen ohne größeren Wirbel und mit aktiver Unterstützung der Regierung durchgesetzt, und zwar in Aspekten, die heute Schlüsselbereiche sind, wie etwa Haushalt und technologische Anpassung.
Ein Bereich der politischen Rechten, der sich zusehends in der Mehrheit befindet, begreift, daß die Verteidigung Pinochets um jeden Preis gewissemaßen bedeutet, sich Rettungswesten aus Blei anzuziehen, während dies gleichzeitig keinen politischen Gewinn einbringen würde. Die Rechte weiß, daß die “bedingungslosen Stimmen” für Pinochet zur Disposition stehen, da es an einer Alternative fehlt, die dies vermitteln könnte, und daß ihr Problem ist, in Richtung Zentrum zu wachsen und den gegenwärtigen Mitte-Links-Block zu zerbrechen und ihn durch einen Mitte-Rechts-Block zu ersetzen.
Schließlich und endlich ist die ökonomische Rechte mehr als zufrieden mit der Art, wie die gegenwärtige Regierung das ökonomische Modell verwaltet.

Die Gründe des “Boinazo”

Das “Boinazo” wurde also durch Pinochet und seine Generäle nicht in Hinblick auf ein neues Szenario gewählt, das für die Forderungen der Armee günstig wäre. Eher angesichts des Gegenteils, nämlich in Hinblick auf die politische Frist bis zu den Wahlen, die zur Pulverisierung der Parallelmacht führen könnten, welche Pinochet in der Zeit zwischen Oktober 1988 (Niederlage beim Plebiszit) und dem März 1990, der Regierungsübernahme Aylwins, geduldig aufgebaut hatte.
Das tiefere Motiv ist, daß -was nicht ganz unmöglich wäre -bestimmte Wahlergebnisse einen Großteil der Inseln der autoritären Macht auf Grund setzen könnten, die sich bisher auf die politische Rechte stützen, welche deren Reform oder Abschaffung verhindern. Wie bekannt ist, erhielt die Rechte bei den Wahlen vom Dezember 1989 mehr als ein Drittel der Sitze der Abgeordneten, und, über designierte Senatoren, mehr als die Hälfte im Senat. Für die nächsten Wahlen ist angesichts der gegenwärtigen Zersplitterung und Krise der Rechten wahrscheinlich, daß dieses Bild sich verändert, und sie das Drittel der Abgeordneten und -auch, wenn dies weniger wahrscheinlich ist -die Mehrheit im Senat verlieren.
Wenn der derzeitige Regierungsblock mehr als zwei Drittel im Abgeordnetenhaus erringt, bleibt der Weg für Reformen offen. Wenn es den politischen Willen dafür gibt, wäre es möglich, daß die derzeitigen Oberkommandierenden des Heeres ihr Amt an den Nagel hängen müßten, ebenso .die ernannten Senatoren an die Luft zu setzen und das derzeitig gültige Wahlgesetz zu reformieren, das der Rechten erlaubt ,mit einem Drittel der Stimmen die Hälfte des Parlaments zu besetzen. Praktisch bedeutet dies das Ende der Parallelherrschaft Pinochets und eine Verringerung der parlamentarischen Macht der Rechten.
Die Möglichkeit eines überwwältigenden Sieges des Regierungsbündnisses gründet sich nicht auf ein wachsendes Wählerpotential (das seit 1989 fast gleich ist), sondern ergibt sich aus der Krise, in der sich die Rechte befindet. Es sind nur noch wenige Wochen bis zur Aufstellung der Präsidenschaftskandidaten und der Listen für die Parlamentsabgeordneten ,und es gibt immer noch keine Übereinstimmung. Die Auseinandersetzung in der Rechten geht um die Miteinbeziehung der Kräfte des populistischen Kandidaten Francisco Javier Errazuris, dessen Wählerpotential von den beiden rechten Parteien sehr verschieden eingeschätzt wird.
Für die Renovacion Nacional (Nationale Erneuerung )bedeutet die Einbeziehung Errazuris die Gewißheit, sich eine Niederlage im voraus einzuhandeln. Schon die, WählerInnenschaft von Errazurris wäre unmöglich zu disziplinieren und, so argumentieren sie, die eigene Basis von RN würde nicht für die ParlamentskandidatInnen stimmen, die von Errazuris angeführt werden.
Die andere rechte Partei (die UDI) denkt genau das Gegenteil. Das wahrscheinlichste Ergebnis ist deshalb, daß die Rechten nicht nur einen Präsidentschaftskandidaten aufstellen (was irrelevant ist, weil sie sich in diesem Punkt sowieso verloren wissen), sondern , daß sie mit zwei parlamentarischen Listen antreten, was bedeuten würde, weniger als das nötige Drittel zu erhalten, mit dem sie Reformen verhindern können.

Das Kalkül des Generals

Augusto Pinochet kann man viel vorwerfen, nur eins nicht: nicht gut kalkulieren zu können. Seine Berechnungen sagen ihm, daß er fast sicher mit einer Wahlniederlage der Rechten rechnen muß. Dies würde den Raum für Reformen öffnen. Deshalb will er jetzt ein Abkommen erzielen, solange die Bedingungen noch nicht so schlecht sind, wie sie in Zukunft sein werden. Deshalb jetzt den “Boinazo” und nicht später. Für diese These spricht, daß der jetzige Forderungskatalog der Armee sehr präzise ist -im Gegensatz zu den gewollt undeutlichen Forderungen bei der “Alarmübung” im Dezember 1990 -und ein Hauptziel hat: eine definitive und nicht mehr rückgängig zu machende Amnestie für alle während der Diktatur begangenen Verbrechen durchzusetzen, etwa in der Art wie sie in Uruguay und in Argentinien durchgeführt wurde.
So, argumentieren militärische Quellen, würde die Spannung zwischen dem zivilen und dem militärischen Sektor beendet werden, und dann könnte sich Pinochet ins Privatleben zurückziehen. Seine Motive, noch im Amt zu bleiben -nämlich seine Untergebenen zu schützen- wären dann hinfällig. Das ist die Forderung und das Angebot.

Auch wenn der Ausgang noch ungewiß ist, zweifeln wenige, daß die Fordern-gen des “Boinazo” maßlos überzogen sind. Pinochet verfügt nicht über die nötige Macht ,um vom “Boinazo” zum offenen Putsch überzugehen. Und sollten die Forderungen erfüllt werden ,würde dies den Bruch des politischen Blocks der Regierung bedeuten und sie in unvorstellbarem Maße in Verruf bringen.
Das macht eine begrenzte Verhandlungslösung wahrscheinlich, bei der die Regierung einige Unterpunkte zubilligen muß. Dies wäre aber sehr irritierend für Pinochet. Er würde sich im Gegenzug dazu verpflichten ,in Zukunft die institutionellen Wege einzuhalten und weder auf “Alarmübungen” noch auf “Boinazos” zurückzugreifen. Kommt es so, hätte Pinochet fast sein ganzes Kräftepotential ausgeschöpft, ohne große Erfolge zu erzielen. Wenn er jedoch eine Einigung für das “Schlußpunkt- Gesetz” erzielt, was aber bis jetzt schwer vorstellbar ist, so wäre dies ein völlig neues Szenario, bei dem die Diskussion über das Ende des Übergangs (Transicion) belanglos wäre. Dann wäre darüber zu diskutieren, wo und wann sich die Transicion in eine Falle hat locken lassen.

Kasten:

Das binominale Wahlsystem

Um den Bestand ihres Gesellschaftsmodells auch für die Zukunft möglichst abzusichern, erfanden die Ideologen des Militärregimes das “binominale Wahlsystem”, eine Variante des Mehrheitswahlrechts. In jedem Wahlkreis werden zwei Abgeordnete gewählt, und nur wenn eine Partei oder ein Parteienbündnis mehr als zwei Drittel der Stimmen erhält, fallen ihre/ihm beide Sitze zu; im andern, dem Normalfall, erhalten der erste und der zweite Sieger je eine/n Abgeordnete/n (z.B. bei einem Stimmenverhältnis von 55 Prozent zu 45 Prozent). Das Modell läßt bewußt kleine Parteien oder unabhängige KandidatInnen ohne Chance, es zwingt auch großere Parteien zu Bündnissen und damit zu Kompromissen, zum Ausgleich; radikale Positionen werden zur parlamentarischen Erfolglosigkeit verdammt. Deshalb bedeuten die Schwierigkeiten der Rechten, eine gemeinsame Kandidathnenliste aufzustellen, eine ernsthafte Gefahr für ihre politische Zukunft -gleichzeitig aber auch, um ihres politischen Überlebens willen, den Zwang zum Bündnis.

Der Condor kreist noch über dem Cono Sur

Ein Artikel, ein chilenischer Agent und peinlich berührte Militärs

Am 12. Mai dieses Jahres erschien in Mate Amargo ein Artikel von E.F. Huidobro mit dem Titel “Ya la Vimos” (Das kennen wir doch). Darin wird die Existenz von Todesschwadronen öffentlich gemacht, die in Uruguay zum ersten Mal im Juli 1971 in Erscheinung traten. Huidobro spricht von diesen Todesschwadronen als Gruppen, die teilweise zum “legalen” Repressionsapparat (Polizei, Militär), gehören, an denen aber auch Zivilpersonen beteiligt sind und Leitungsfunktionen innehaben. Im Artikel beschreibt Huidobro die Verbrechen der Todesschwadronen von ihren ersten Aktionen in den 70er Jahren bis zum heutigen Tage.
Er verweist auf die Verantwortung des derzeit amtierenden Präsidenten, Luis Alberto Lacalle, der sich als unfähig erwiesen habe, den Provokationen der Militärs zu begegnen und somit zu ihrem Spielball geworden sei.
“Schlimmer noch”, schreibt Huidobro, “die Regierung versucht die Streitkräfte von dem abzulenken, was aktuell mit ihnen passiert”, nämlich vom Verfall des Soldes und der immer angespannteren sozialen Situation der Soldaten. Dazu greife die Regierung in die Trickkiste: Es werden Truppen nach Kambodscha und Mosambique geschickt und der neueste Knüller ist ein Gesetzentwurf, in dem die Streitkräfte völlig legal zu Wächtern der inneren Ordnung des Landes gemacht werden.
Die Militärs lehnen diese Maßnahmen größtenteils ab. In einer Morgenzeitung ließen sie erklären, daß sich der Präsident mit seinem Gesetzentwurf außerhalb der Verfassung bewege und daß sie wenig Lust verspürten, bei seinen Spielchen mitzumachen.
Huidobro ruft zur Wachsamkeit auf, nicht nur wegen der Existenz von Todesschwadronen, sondern auch wegen der Stümperhaftigkeit, mit der die Regierung versucht, die Situation zu beruhigen. Die Maßnahmen verstärken den Druck innerhalb der Militärs eher noch, stellen das Land international vor große Probleme, und die Bevölkerung wird erneut dem Terror der Rechtsradikalen ausgesetzt.
Die Antwort der Regierung auf diesen Artikel kam postwendend.
Die Staatsanwaltschaft leitete gegen den Autor ein Verfahren mit dem Vorwurf ein, er habe den Präsidenten beleidigt, indem er ihn einen “Esel” und einen “Betrunkenen” genannt habe.
Am Sonntag, den 8. Juni, zwei Tage vor der Verkündung des Urteils einer Haftstrafe von sechs Monaten gegen Fernandez Huidobro und Jorge Zabalza, macht die Regierung überraschenderweise die Entführung des chilenischen Biologen Eugenio Berrios öffentlich, der hochkarätiger Agent des Geheimdienstes DINA ist. Er soll, nach Informationen der chilenischen Justiz und der dortigen Menschenrechtsorganisationen, unzählige Verbrechen zu verantworten haben. Der Agent der Pinochet-Diktatur war im Mai 1992 mit falschen Papieren und Unterstützung chilenischer, argentinischer und uruguayischer Militärs aus Chile geflohen und hatte sich seitdem in Uruguay versteckt gehalten.

Agent Berrios: Ein Beweis für die Zusammenarbeit der Folterer

Berrios verfügte über viele Informationen, die für Pinochet und seinen engsten Mitarbeiter sehr kompromittierend werden könnten. Er war aktives Mitglied der “Red Condor”, der Koordination der Militärs aus Argentinien, Chile, Uruguay, Paraguay und Brasilien, wo seit 1976 Repressionsmaßnahmen untereinander abgestimmt wurden. Anscheinend wurde Berrios zwar zunächst von eben jenen Militärs geschützt, dann jedoch von ihnen entführt, da es zu gefährlich schien, ihn auf freiem Fuß zu lassen. Im November 1992 gelang es ihm, der Überwachung der Militärs zu entkommen und in einem Polizeirevier der Provinz Canelones, 48 Kilometer vor Montevideo, auf seine Entführung hinzuweisen. Verschiedene an Presse und Parlamentsabgeordnete gerichtete anonyme Briefe berichten, daß zahlreiche Militärs Berrios gewaltsam aus dieser Polizeistation weggeholt und die dortigen Beamten gezwungen hatten, die Anzeige, die er wegen seiner Entführung gemacht hatte, aus ihren Akten zu tilgen.
Es ist sicher kein Zufall, daß all diese Informationen erst am 8. Juni öffentlich gemacht wurden. Möglicherweise befürchtete die Regierung, die MLN-Tupamaros seien im Besitz dieser Informationen und würden sie in ihrer Zeitung Mate Amargo oder am zweiten Verhandlungstag des Gerichtsverfahrens gegen Huidobro und Zabalza veröffentlichen.
Der Fall Berrios hat das Land bereits in eine institutionelle Krise gestürzt, die sich im Zwist zwischen bürgerlicher Regierung und Armee manifestiert: Präsident Lacalle versprach zunächst, den Fall bis zur letzten Konsequenz zu untersuchen. Die militärischen Befehlshaber jedoch gaben den Entführern des Chilenen ihre volle Unterstützung und entzogen dem Verteidigungsminister der Regierung das Vertrauen. Lacalle gab schließlich am 11. Juni dem Druck der Oberbefehlshaber der Streitkräfte nach. Anstatt den Fall Berrios gründlich zu durchleuchten, akzeptierte er, daß die darin verwickelten Militärs der Militärjustiz übergeben wurden, was eine Aufklärung unmöglich macht. Als einziges Bauernopfer wurde der Chef des militärischen Geheimdienstes an einen anderen Posten versetzt – ein kleiner Fisch inmitten von so vielen Haien. Die uruguayische Bevölkerung, die Massenorganisationen und politischen Parteien bereiten sich darauf vor, die aktuelle “Demokratie” gegen einen möglichen Staatsstreich zu verteidigen, und selbst die USA schickten eine geheimdienstliche Verstärkung zur US-Botschaft in Uruguay.

“Du bist als nächstes dran” – Pressefreiheit in Uruguay

Inmitten dieser Ungewißheit häufen sich neue Drohanrufe, neuerdings gegen die Parlamentsabgeordneten Matilde Rodriguez und Leon Lev, gegen den Polizeiunterkommissar Hernandez, der Zeuge der Entführung des Chilenen Berrios aus dem Polizeirevier geworden war, und schließlich auch gegen die Schwester von Fernandez Huidobro. In allen diesen Fällen war die Botschaft dieselbe: “Wenn Du weiter mit Deinen Anklagen Staub aufwirbelst, bist Du als nächstes dran”.
Vor dem Hintergrund all dieser Ereignisse verdient ein Thema besondere Aufmerksamkeit: die mangelnde Presse- und Meinungsfreiheit in Uruguay sowie in all den Ländern, die derzeit unter vegleichbaren “Demokraturen” leben. Innerhalb weniger Monate sind mehrere Journalisten wegen Verleumdung oder Beleidigung verurteilt worden, oder wurden entlassen, weil sie zensierte Informationen weitergeleitet hatten. Drei Journalisten der Wochenzeitung “Brecha” der Nachrichtenrdakteur eines privaten Fernsehkanals, und schließlich Fernandez Huidobro und Zabalza sind die jüngsten Fälle, jedoch nicht die einzigen. Ziel dieser Maßnahmen ist die Einschüchterung aller JournalistInnen, damit sie sich selbst zensieren, ohne daß Justiz und Regierung dabei in der Öffentlichkeit als Zensoren und Repressoren wahrgenommen werden. Das alte und längst hinfällige uruguayische Pressegesetz erlaubt solche Schachzüge.

Aufruf zu Protestbriefen

Alle Einzelpersonen, Menschenrechtsorganisationen, internationalen Presseverbände, alternativen Medien, sowie alle politischen und sozialen Gruppierungen sind aufgefordert, sich per Brief oder Fax an den Obersten Gerichtshof in Uruguay zu wenden und die Rücknahme des Gerichtsurteils sowie die Einstellung des Verfahrens gegen Fernandez Huidobro und Jorge Zabalza zu fordern.

Musterbrief an den Obersten Gerichtshof:

Señores Ministros de la Suprema Corte de Justicia,
por la presente deseamos manifestar nuestra preocupación por las denuncias de la actuación de un Escuadrón de la Muerte en la Republica Oriental del Uruguay. Por la información que se maneja a nivel internacional, el mismo ha sido responsable del asesinato de varias personas con trayectoria militante u opiniones progresistas, ha colocado bombas, ha atentado contra locales y autos, ha amenazado de muerte indiscriminadamente a menores, familiares de denunciantes de su existencia, sindicalistas y legisladores y hasta la fecha sus integrantes siguen sin ser identificados.
A su vez le solicitamos la anulación del juicio que la Fiscalía de la Nacion ha entablado contra Eleuterio Fernandez Huidobro y Jorge Zabalza por el artículo de prensa que denuncia la existencia de dicho Escuadrón, juicio sentenciado por la justicia de vuestro pais a 6 meses de prision por el delito de desacato. Entendemos que el no procesamiento de los dos condenados es de suma importancia, para preservar el derecho de informar de todos los trabajadores de la comunicación, en el marco de garantías para su persona.
Pensamos que la aplicación de la sentencia a estos dos periodistas es un ataque a la libertad de prensa.
Sin más, los saludamos muy atentamente.

Sehr geehrte Herren Richter vom Obersten Gerichtshof,
durch den vorliegenden Brief wollen wir unsere Besorgnis zum Ausdruck bringen über die Hinweise auf die Aktivitäten einer Todesschwadron in der Republik Uruguay. Der internationalen Informationslage zufolge hat diese Todesschwadron die Ermordung mehrerer Personen zu verantworten, die politisch aktiv waren oder fortschrittliche Meinungen vertraten. Sie hat ferner Bomben gelegt, Attentate gegen Häuser und Autos verübt, sowohl Minderjährige, Familienangehörige derjenigen, die auf ihre Existenz hinweisen, als auch GewerkschafterInnen und Abgeordnete mit dem Tode bedroht. Bis zum heutigen Tage sollen ihre Mitglieder unbekannt sein.
Gleichzeitig fordern wir Sie auf, das Gerichtsverfahren einzustellen, das die Generalstaatsanwaltschaft gegen Eleuterio Fernandez Huidobro und Jorge Zabalza eingeleitet hat wegen des Zeitungsartikels, der die Existenz der oben genannten Todesschwadron zum Thema hat. Wir fordern Sie auf, das von der Justiz ihres Landes in diesem Verfahren gefällte Urteil über eine sechsmonatige Haftstrafe wegen Unehrerbietigkeit gegenüber dem Staat zurückzunehmen. Wir sind der Ansicht, daß die Annulierung dieses Urteils von höchster Wichtigkeit ist, um das persönliche Recht, frei informieren zu können, für alle im Medienbereich Tätigen zu erhalten.
Wir denken, daß die Vollstreckung des Urteils gegenüber diesen beiden Journalisten einen Angriff auf die Pressefreiheit darstellt.

Die Adresse des Obersten Gerichtshofs lautet:
Corte Suprema de Justicia
Hector Gutierrez Ruiz 1310
Montevideo – Uruguay
Tel.: 00 59 82 – 90 10 41/42/43, 90 25 22 oder 91 91 04
Fax: 00 59 82 – 98 33 26
Eine Kopie der Protestschreiben sollte in jedem Fall an die Redaktion der Zeitschrift Mate Amargo gesandt werden. Die Adresse lautet:
Mate Amargo
Tristan Narvaja 1578
Montevideo – Uruguay
Tel.: 00 59 82 – 49 99 56 oder 49 99 57
Fax: 00 59 82 – 49 99 57

Kasten:

Chronologie der Drohungen und Attentate

1992: Eine Bombe mit Plastiksprengstoff zerstört das Auto des linken Abgeordneten (MPP/Frente Amplio) Hugo Cores. Zwei Bombenanschläge auf die Anwaltspraxis von J.P. Sanguinetti, Expräsident des Landes, Angriffe auf eine Bäckerei der Artilleriekaserne in Montevideo. Anschläge gegen die Botschaft der USA, Anschlag auf ein Auto in unmittelbarer Nähe des Hauses des Chefs der Streitkräfte und des US Botschafters. Bombenanschlag auf Gleisanlagen der Bahn im Landesinneren. Eine Bombe explodiert am Marinedenkmal. Für mehrere Anschläge übernimmt eine Gruppe mit dem Namen “Guardia de Artigas” die Verantwortung.
1993: Am 23. April wird der Aktivist der MLN-Tupamaros Ronald Scarzella ermordet aufgefunden. Francisco Martinez de Cuadra, ehemaliger MLN-Tupamaro, wird bewußtlos und mit elf Messerstichen verletzt gefunden. Eine Polizeistreife bringt ins Krankenhaus. Dort wird er später verhaftet. Vorwurf: Beteiligung an mehreren Raubüberfällen.
Ein weiterer Ermordeter wird in Salinas gefunden. Er ist der Bruder eines bekannten Ex-Tupamaros, der heute in Venezuela lebt.
Ein Mitglied der MLN-Tupamaros, er ist Gewerkschafter im Gesundheitsbereich, wird zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er Medikamente mitgenommen hatte.
Das Haus der Witwe von Raul Sendic, Xenia Itté, sie ist Präsidentin des “Movimiento por la tierra”, einer von Raul Sendic mitbegründeten Landbewegung, wird mit Hakenkreuzen, Beleidigungen und Morddrohungen beschmiert.
Das Büro des Movimientos und eine kleine Farm werden angegriffen, außerdem wird versucht, den Jeep der Organisation von der Straße abzudrängen. Eine der Töchter Ronald Scarzellas erhält einen Tag nach dem Tod ihres Vaters Morddrohungen. Ein Gewerkschaftskollege von Scarzella, wird ebenfalls mit dem Tod bedroht.

“Das hat mit unserer Lage nichts zu tun”

“Zu den herkömmlichen Schwerpunkten Krankheitsentstehung, Entwicklung von Impfstoffen, Behandlungsmöglichkeiten und gesellschaftliche bzw. finanzielle Unterstützung der Kranken kam ein fünfter Bereich hinzu: Die Entwicklung von AIDS in der Dritten Welt,” erklärt der Kongreßvorsitzende Karl-Otto Habermehl von der Freien Universität. “Wir sind uns bereits des Ausmaßes des Problems in Afrika bewußt. Nun geraten aber Asien und Südamerika in den Blickpunkt, und das in viel explosiverer Form als erwartet. Darum müssen wir die Länder der Dritten Welt und Osteuropas stärker einbinden.” Für mehr als 2000 TeilnehmerInnen aus den armen Regionen dieser Welt wurden daher die Reisekosten übernommen, um ihre Teilnahme zu ermöglichen, darunter auch viele LateinamerikanerInnen.
In einer Reihe von Vorträgen und Symposien wurden die sozialen, kulturellen, ökonomischen Faktoren der Ausbreitung von AIDS beleuchtet und die unterschiedlichen gesundheitspolitischen und pädagogischen Ansätze miteinander verglichen. Ziel der OrganisatorInnen war es, einen Erfahrungsaustausch zwischen den verschiedenen Ländern zu ermöglichen. So soll die Ressourcenvergeudung eingedämmt werden, die dadurch entsteht, daß jedes Land für sich Untersuchungen durchführt, die an anderen Stellen dieser Welt bereits gelaufen sind.
Auch bei der überall verbreiteten Immunschwächekrankheit zeigt sich die Zweiteilung der Welt. 75% der mit dem AIDS-Erreger HIV (Humanes Immundefizienz-Virus) infizierten Menschen leben in den Entwicklungsländern, ihr Anteil wird in den kommenden Jahren auf 90% anwachsen. Betroffen ist v.a. in Afrika in erster Linie der aktive Bevölkerungsanteil, die meisten AIDS-PatientInnen sind zwischen 20 und 45 Jahre alt und bilden das entscheidende ökonomische Potential in den verschiedenen Ländern.
Dadurch bekommt die AIDS-Epidemie ihre besondere Bedeutung, obwohl weltweit immer noch weitaus mehr Menschen an prinzipiell behandelbaren Infektionskrankheiten und besonders an Tuberkulose sterben. Diese Krankheiten betreffen allerdings in stärkerem Maße Kinder und alte Menschen, die volkswirtschaftlichen Auswirkungen sind daher geringer. Das ist zwar nicht weniger schlimm, aber übt nicht den gleichen ökonomischen Druck auf die Regierungen aus.
Schwerpunkt des Kongresses waren naturgemäß die wissenschaftlichen Vorträge und Workshops, die durch Hunderte von Postern über Einzelstudien ergänzt wurden. Die medizinische AIDS-Forschung verfolgt im Moment drei Hauptstränge: Entwicklung eines geeigneten Impfstoffes, Behandlung des Immunschwächesyndroms durch antivirale Substanzen einerseits und der begleitenden opportunistischen Infektionen andererseits und die gentechnische präventive und kurative Manipulation der betroffenen Abwehrzellen.
Am erfolgversprechendsten stellt sich derzeit die Möglichkeit dar, in absehbarer Zeit einen allgemein einsetzbaren, verträglichen und wirksamen Impfstoff anbieten zu können. Einen von der beobachtenden Presse bei der ansonsten sensationsarmen Konferenz dankbar aufgenommenen Höhepunkt stellte die Ankündigung des US-Amerikaners Daniel Bolognesi dar, einen solchen Impfsubstanz in den nächsten zwei Jahren anbieten zu können. Doch selbst wenn dies gelänge, würde das die Ausbreitung der Epidemie zunächst nicht bremsen können.
Dazu bedarf es eines Medikaments, das die Krankheit heilen kann, also das Immunschwäche-Virus direkt tötet oder lahmlegt. Die bekannteste dieser antiviralen Substanzen ist das sogenannte AZT (Azidothymidin), das die Vermehrung des HIV hemmt. Die zunehmend beobachtete Resistenz kann durch die Kombination mit ähnlichen Stoffen hinausgezögert werden. Erwähnenswert erscheint die Tatsache, daß kurz vor Beginn der AIDS-Konferenz die Ergebnisse einer großen Studie mit mehr als 1700 PatientInnen aus Großbritannien, Frankreich und Irland vorgestellt wurden, die bisherige Behandlungsvorstellungen in Frage stellt. Danach beeinflußt AZT (Handelsname Zidovudin) bei HIV-positiven Personen nicht den Beginn oder Verlauf der AIDS-Erkrankung und verlängert nicht die Überlebenszeit.
Trotz dieser Erkenntnis hatte einer der Hauptsponsoren des Kongresses, das Pharma-Unternehmen Wellcome, in einer Parallelveranstaltung Gelegenheit, die Vorzüge einer frühzeitigen AZT-Behandlung darzulegen. Schließlich gehört Wellcome zu den wichtigsten AZT-Produzenten in der Welt. Wenn aufgrund der genannten Untersuchung die zum Beispiel von der US-Gesundheitsbehörde erfolgte Zulassung von AZT zur Prophylaxe der AIDS-Erkrankung bei HIV-Infizierten zurückgenommen wird, bedeutet das für die Pharma-Industrie herbe Einbußen.

Rückkehr der Tuberkulose

Das könnte aber den Nebeneffekt haben, daß wieder mehr Augenmerk auf die Entwicklung neuer Antibiotika gelegt wird. Dies zeigt sich in besonders bedrohlicher Form am Beispiel der Tuberkulose (Tbc), die immer schon als klassische soziale Krankheit galt und in den vergangenen Jahrzehnten zumindest in den entwickelten Ländern eine immer geringere Rolle spielte. Nicht zuletzt aufgrund der Ausbreitung der Immunschwächekrankheit AIDS, in erster Linie aber wegen der zunehmenden Verelendung bestimmter Bevölkerungsgruppen tritt die Tbc in den Industrienationen nun immer häufiger auf.
Dabei zeigt sich ein besonderes Problem: Es gibt zur Zeit sechs Standardmedikamente, die in Kombination in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich gegen diese Krankheit eingesetzt wurden, sofern die Mittel dafür zur Verfügung standen. In jüngerer Zeit wurde jedoch eine vermehrte Unempfindlichkeit der Erreger gegenüber diesen Substanzen beobachtet, die Gefährlichkeit der Erkrankung wächst daher. Die Wirksamkeit der bisher entwickelten Antibiotika gegen die vielen Schmarotzerkrankheiten, die im Zusammenhang mit AIDS auftreten, ist in vielen Fällen unzureichend. Gut zu behandeln ist derzeit nur die AIDS-typische Lungenentzündung, doch die meisten anderen AIDS-Erscheinungen sind nicht oder nur teilweise therapierbar. Die Mehrzahl der auslösenden Erreger kommt zwar überall vor, kann jedoch einem Menschen mit funktionierendem Abwehrsystem nichts anhaben, so daß bis zum Auftreten der Immunschwächekrankheit entsprechende Medikamente nicht erforderlich waren.
Der dritte Ansatzpunkt in der aktuellen AIDS-Forschung ist die genetische Veränderung der menschlichen Zellen, um sie gegen das HIV unempfindlich zu machen. Das Virus greift eine bestimmte Art von Abwehrzellen an, dringt in sie ein und ändert die darin gespeicherte Erbinformation, so daß die Zelle ihre eigentliche Funktion nicht mehr erfüllt. Dadurch bricht letztlich das gesamte Abwehrsystem in sich zusammen. Das Virus bedient sich bestimmter zelleigener Bausteine, deren Herstellung durch gentechnische Manipulationen gehemmt wird, so daß sich das Virus nicht mehr vermehren und in die Zellfunktion einmischen kann. Im Reagenzglas gelingt dies in recht überzeugender Form, im lebenden Organismus sind die Abläufe jedoch komplexer und komplizierter.
Dennoch ist davon auszugehen, daß in den nächsten Jahren entsprechende Versuche, die z.Zt. im Tierexperiment getestet werden, auch beim Menschen Anwendung finden. Sollte es den GenetikerInnen gelingen, auf diesem Wege als erste eine effektive Behandlungsmöglichkeit anbieten zu können, müßte die Gentechnologie-Diskussion völlig neu geführt werden. Unbestreitbar birgt die genetische Veränderung prinzipiell unübersehbare Folgen in sich, doch welchem/r AIDS-Kranken kann eine solche Chance in Anbetracht der schrecklichen Prognose vorenthalten werden?

AIDS-Forschung – Für wen?

Die medizinisch-naturwissenschaftliche Forschung ist auf der nördlichen Halbkugel konzentriert, die allermeisten AIDS-Kranken leben in der südlichen Hemisphäre. Daß weltweit so heftig an dieser Krankheit geforscht wird, haben diese Menschen mehr als ihrer eigenen dramatischen Situation der Tatsache zu verdanken, daß es in den reichen Ländern eine nicht kleine und vor allem einflußreiche Gruppe von LeidensgenossInnen gibt. Und für die wird im wesentlichen Forschung betrieben. Die Ärztin Mary Basset aus Simbabwe bringt das Problem auf den Punkt. Zwischen dem britischen Infektiologen Ian Weller und dem Entdecker des HIV, Luc Montagnier, an die sich die allermeisten Fragen der JournalistInnen richten, erklärt sie auf einer Pressekonferenz: “Worüber hier gesprochen wird, hat mit der Lage in meinem Land überhaupt nichts zu tun. Wir haben kein AZT, um AIDS zu behandeln. Wir haben noch nicht einmal Rifampicin, um die Tuberkulose zu behandeln. Dafür gibt es gar kein Geld.”
Welches Entwicklungsland soll in der Lage sein, die in absehbarer Zeit entwickelten Arzneimittel zu kaufen, die ja die hohen Forschungskosten wieder hereinbringen müssen? Und ob die reichen Industrienationen bereit sind, durch Finanzierung der AIDS-Therapie ihre Ausgaben für Entwicklungshilfe effektiv zu erhöhen, bleibt abzuwarten. 300.000 US-Dollar wollte die Europäische Gemeinschaft Venezuela Anfang des Jahres zur AIDS-Bekämpfung zur Verfügung stellen. Diese eher symbolische Summe wurde letztlich auf ganz Lateinamerika verteilt und geriet damit zu einer Karikatur der Entwicklungspolitik. Die LateinamerikanerInnen auf der AIDS-Konferenz fühlten sich denn auch gänzlich hintangestellt und gegenüber den anderen Kontinenten benachteiligt. Vertreter aus Chile und Argentinien schlugen einen kollektiven Boykott der nächsten Konferenz in Tokio vor, fanden damit aber nicht die ungeteilte Zustimmung der übrigen RepräsentantInnen. Das Interesse von Regierungsstellen und Nichtregierungsorganisationen der reichen Länder ist nach wie vor stärker auf Afrika und Südasien, hier in erster Linie Indien, gerichtet, allenfalls Brasilien wird gemeinhin als Land mit nennenswerter AIDS-Problematik anerkannt.

Weltweite Konzentration aller Kräfte

Doch Enttäuschung über den Ablauf und vor allem über die Ergebnisse der IX. AIDS-Konferenz zeigte sich nicht nur unter den LateinamerikanerInnen. Viele Selbsthilfe- und Betroffenenorganisationen äußerten Kritik an der Organisation und der offiziellen AIDS-Politik. Sie fordern eine weltweite Konzentration aller Kräfte im Kampf gegen die Immunschwächekrankheit. Ziel von konkreten Protestaktionen wurden in erster Linie die Pharma-Konzerne Hoffmann-LaRoche und Astra, die von den Act-Up-Gruppen wegen ihrer Verkaufspolitik angegriffen wurden. Aufgrund überhöhter Preise bleibt vielen Kranken in den USA der Zugang zu bestimmten Medikamenten versperrt, die für die Behandlung bestimmter Erscheinungsformen der Immunschwäche-Krankheit unerläßlich sind.
Die AIDS-Konferenz stand im Spannungsverhältnis zwischen dem vergleichsweise langsamen Fortschritt in der medizinischen Forschung und der hohen Erwartungshaltung der Betroffenen, die zwangsläufig enttäuscht werden mußte und oft zu einer sehr vorwurfsvollen Haltung gegenüber den anwesenden WissenschaftlerInnen führte. Von Seiten der Selbsthilfegruppen wurde kritisiert, ihnen sei nicht genügend Platz eingeräumt worden, was eine völlige Verkennung des Charakters einer solchen Konferenz zum Ausdruck bringt.
Zum ersten Mal in der Geschichte dieses wissenschaftlichen Kongresses wurden in großem Umfang gesellschaftliche Gruppen und Organisationen einbezogen, um einen Austausch zwischen Forschung und alltäglicher Erfahrung mit der Immunschwächekrankheit zu ermöglichen. Hätte es diese Form der Zusammenarbeit zu einem früheren Zeitpunkt gegeben, wäre mensch vielleicht schon eher auf die Idee gekommen, sich in der AIDS-Wissenschaft stärker um die sog. Langzeitüberlebenden zu kümmern. Es bestehen gute Aussichten, daß die Beobachtung der Reaktionen bei jenen Menschen wichtige Erkenntnisse zu Tage fördern, die teilweise bereits 10, 12 oder 15 Jahre mit dem HI-Virus leben und noch nicht an AIDS erkrankt sind. Vielleicht liegt hier ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Krankheit.

Neuer Präsident aus den Reihen der alten Stroessner-Partei

Stroessner ging – der Beginn eines steinigen Wegs zur Demokratie

Die Zerstrittenheit der Opposition hat den “Colorados” bei den Präsidentschaftswahlen den Sieg beschert und somit zunächst die Perspektive auf eine demokratische Öffnung Paraguays blockiert. Juan Carlos Wasmosy reichte eine relative Mehrheit von 40 Prozent, um den Einfluß der Partei des Ex-Diktators Alfredo Stroessner auch für die kommenden fünf Jahre zu sichern. Nach fast 35 Jahren Militärdiktatur wurde Stroessner im Februar 1989 in einem blutigen Militärputsch gestürzt. Der Führer des Staatsstreiches, General Andres Rodríguez, kündigte noch in derselben Nacht die Demokratisierung Paraguays an. Dieses Versprechen machte ein Mann, der in der Militärhierarchie unmittelbar hinter Stroessner stand und der seinen gewaltigen Reichtum während der Diktatur zusammengerafft hatte. So groß die Hoffnungen nach der Vertreibung Stroessners ins brasilianische Exil waren, so gering erschienen die Chancen auf Veränderung. Rodríguez nutzte die Gunst der Stunde und wurde kurz nach dem Putsch im Mai 1989 als Kandidat der offiziellen “Colorado”-Partei, die auch schon Stroessner als politische Basis gedient hatte, mit offiziell über 70 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt.
Die nach dem Abgang Stroessners immer stärker werdende Opposition zwang Rodríguez und die “Colorado”-Partei zu schrittweisen Zugeständnissen. Dabei nutzten die GegnerInnen Rodríguez’ die Freiräume aus den nach dem Putsch wiedereingeführten Grundrechten der Presse- und Versammlungsfreiheit. Höhepunkt dieser Entwicklung waren die Kommunalwahlen von 1991. Der Bürgermeisterposten in Asunción, eines der wichtigsten Ämter in Paraguay, ging an den unabhängigen und als links geltenden Kandidaten Carlos Filizzola der Bewegung “Asunción für alle”. Doch der über 35 Jahre gut funktionierende Apparat der “Colorados”, offiziell auch unter dem Namen “Nationale Republikanische Vereinigung” (ANR) agierend, hatte nur wenig von seiner Wirksamkeit eingebüßt. Trotz der Fraktionierung der Partei nach dem Sturz Stroessners wahrte sie in entscheidenden Momenten nach außen stets eine gewisse Einheit. Die kommunalen Parteisektionen sind nach wie vor relativ leicht zu mobilisieren. Dies zeigte sich Ende 1991 anläßlich der Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung. Die “Colorados” erzielten wie zu Zeiten der Diktatur eine absolute Mehrheit. Die 1992 von diesem Gremium verabschiedete Verfassung wurde als die Grundlage des neuen demokratischen Paraguays dargestellt. Obwohl die “Colorados” über die absolute Mehrheit verfügten, entsprach die Verfassung in vielen Punkten den Forderungen der Opposition. Abgeordnete aus den eigenen Reihen stimmten oft aus machtpolitischem Kalkül gegen die offizielle Linie der Partei. In einem Punkt waren sich die “Colorados” jedoch einig: Wahlen werden bereits im ersten Wahlgang mit relativer Stimmenmehrheit entschieden. Das Kalkül, mit dieser Wahlrechtsreform die in sich gespaltene Opposition zu überflügeln, ging schließlich auf.

Kandidatenkür als Farce: Pressemanipulationen und interner Wahlbetrug

Der Wahlkampf um das Präsidentenamt begann schon sehr zeitig. Bereits unmittelbar nach dem unerwarteten Sieg des unabhängigen Kandidaten Filizzola bei den Kommunalwahlen erklärte der reiche Unternehmer Guillermo Caballero Vargas seine Kandidatur. Anfangs war er um ein ausgesprochen sozialdemokratisches Image bemüht. Da die Sozialdemokratie in Paraguay aber kaum eine Basis hat – nur die eher unbedeutende “Febrerista”-Partei baut auf sozialdemokratischen Grundsätzen auf – wurde mehr auf den Aspekt des Neuen, Unverbrauchten und Erfolgreichen gesetzt. Caballero Vargas stützte sich auf das Bündnis “Nationales Zusammentreffen” (“Encuentro Nacional”), einen Zusammenschluß verschiedener kleiner Organisationen, Parteien und Parteiflügel. Vargas investierte Millionen in den Wahlkampf. Vor allem Presse und Rundfunk wurden von ihm beherrscht, ausgesprochen tendenziöse und wahrscheinlich gekaufte Artikel und Wahlprognosen unterstützten seine Kandidatur.
Der zweite Oppositionskandidat, Domingo Laino, wurde von der “Authentisch Liberal Radikalen Partei” (PLRA) nominiert. Er zehrte vor allem von seinem Ruf als unerschrockener Kämpfer gegen die Stroessner-Diktatur. Allein 1988 wurde er zehnmal verhaftet. Die PLRA besteht bereits seit über einhundert Jahren und verfügt vor allem in den ländlichen Gegenden traditionell über eine große AnhängerInnenschaft, die sie auch in den Jahren der Diktatur bewahrte.
Der dritte aussichtsreiche und letztlich siegreiche Kandidat war Juan Carlos Wasmosy, nominiert von der herrschenden “Colorado”-Partei. Er ist ebenfalls reicher Unternehmer und vorrangig in der Baubranche tätig, die seit dem Bau des Itaipú-Staudamms an der Grenze zu Brasilien ständig wächst.
Bereits seiner Nominierung als Präsidentschaftskandidat hing der Ruch von Betrug und Manipulation an. Wasmosy, erklärter Favorit des derzeitigen Präsidenten Rodríguez sowie der nach wie vor sehr mächtigen Militärs, hatte die parteiinternen Wahlen gegen den erzkonservativen und stroessnerfreundlichen Luis María Argana verloren. Eine von der Parteiführung eingesetzte Untersuchungskommission erklärte diese interne Wahl mit dem zweifelsohne berechtigten Hinweis auf Manipulationen für ungültig und ernannte prompt den als gemäßigt geltenden Wasmosy zum Sieger. Argana rief daraufhin offen dazu auf, nicht für Wasmosy zu stimmen. Seine zahlreiche AnhängerInnenschaft stand daher vor dem offensichtlichen Dilemma, mit der Erststimme (Präsidentenstimme) entweder einen Oppositionskandidaten zu wählen oder einen ungültigen Wahlschein abzugeben. Die meisten AnhängerInnen Arganas stimmten für Caballero Vargas, denn die Stimme dem liberalen Erzfeind Domingo Laino zu geben, kam für diesen konservativsten Teil der “Colorados” nicht in Frage.

Wahlkampf mit Mauscheleien

Caballero Vargas hatte zwar Presseberichten zufolge leichte Vorteile in Asunción, verfügte aber in den ländlichen Regionen über keine nennenswerte politische Basis. Die “Colorado”-Partei mobilisierte ihre AnhängerInnen mit populistischen Losungen und vor allem mit dem Schüren von Angstpsychosen: Falls die Opposition siegen würde, bekämen alle “Colorados” die Rache für die langjährige Unterdrückung während der Diktatur zu spüren, zum Beispiel durch den Verlust des Arbeitsplatzes in Staatsunternehmen oder im öffentlichen Dienst.
Am 9. Mai, dem Wahlsonntag, standen nicht nur das Präsidenten- und das neu geschaffene Vizepräsidentenamt, sondern auch 45 Senatoren- und 80 Deputiertensitze sowie 17 Gouverneursposten und 167 Gouverneursräte zur Abstimmung. Das Wahlverfahren selbst war ausgesprochen umständlich. In Asunción galt es drei, im übrigen Land fünf Stimmzettel auszufüllen. Um unmittelbarem Wahlbetrug vorzubeugen, waren zahlreiche Kontrollmechanismen eingeführt worden. Die Stimmabgabe selbst verlief recht ruhig, die Beteiligung war mit über 70 Prozent ausgesprochen hoch. In der Provinz Alto Paraguay kam es zu Übergriffen und Manipulationsversuchen durch “Colorados”, die vor allem der Einschüchterung der Opposition und der indigenen Bevölkerung dienen sollten. Gerüchte, daß Personalausweise, die zur Identifizierung als Wahlberechtigte notwendig sind, aufgekauft wurden, konnten allerdings nicht bewiesen werden.
Der eigentliche Eklat begann mit Schließung der Wahllokale um 17 Uhr. Bereits Minuten später gab Humberto Rubin vom bekannten Radiosender Nanduti Hochrechnungen bekannt, die die “Colorado”-Partei zur Siegerin erklärten. Diese Prognose beruhte auf willkürlichen Befragungen von WählerInnen beim Verlassen der Wahllokale. Offensichtlich wurden diese Aussagen gekauft. Pikanterweise unterlag gerade Radio Nanduti während der Stroessner-Diktatur harten Verfolgungen und direkten Repressalien durch die “Colorados”. Mit Bekanntgabe dieses “Ergebnisses” begannen sofort im ganzen Lande Siegesfeiern der AnhängerInnen der “Colorados”, deren Schar erstaunlich schnell um zahlreiche “ÜberläuferInnen” anwuchs.
Offensichtlich sollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen geschaffen werden. Offizielle Angaben zu einem Teil der Wahlbezirke lagen dagegen erst 24 Stunden nach der Wahl vor. Gleichzeitig wurde die Auswertung der unabhängigen Initiative SAKA (Guaraní-Wort für Transparenz) von offizieller Seite lahmgelegt. Die staatliche Telefongesellschaft ANTELCO unterbrach unter dem Vorwand technischer Probleme, die eigenartigerweise nur bei SAKA auftraten, alle entscheidenden Telefonleitungen. Erst durch massive Einflußnahme des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, der eine BeobachterInnengruppe leitete, intervenierte Präsident Rodríguez bei der Telefongesellschaft. Schließlich konnten die MitarbeiterInnen von SAKA doch noch ihre Ergebnisse zur Auswertung nach Asunción weiterleiten.
Die Parallelauswertung dieser Initiative bestätigte am Ende allerdings bis auf geringe Differenzen die offiziellen Wahlergebnisse. Die befürchtete Manipulation der Wahlergebnisse blieb anscheinend aus. Alles spricht indessen dafür, daß die “Colorado”-Partei darauf vorbereitet war, Wahlfälschungen vorzunehmen. Eine “interne” Stimmenauszählung, die den Sieg Wasmosys ergab, machte Manipulationen jedoch überflüssig.
Zweifel an der Sauberkeit der Wahlen wurden auch durch die Tatsache genährt, daß am Wahltag völlig überraschend die Landesgrenzen geschlossen wurden. Eine Million ParaguayerInnen, die beispielsweise in Argentinien wohnen, wurden daran gehindert, ihre Stimme abzugeben. Die im Ausland lebenden ParaguayerInnen gelten fast ausschließlich als AnhängerInnen der Opposition.

Favorit der Militärs neuer Präsident

Eine Woche nach der Wahl lagen noch immer keine offiziell bestätigten Wahlergebnisse vor. Den bisher veröffentlichten Angaben zufolge, die aber kaum noch größeren Veränderungen unterliegen werden, wird Juan Carlos Wasmosy von der “Colorado”-Partei der neue Präsident Paraguays und Angel Roberto Seifert neuer Vizepräsident. Wasmosy erhielt 40,3 Prozent der abgegebenen Stimmen, Laino 32 Prozent und Caballero Vargas 23,4 Prozent. Die “Colorados” verfügen über insgesamt 60 Senatoren und Deputierte, die Liberalen über 49 und die “Nationale Zusammenkunft” entsendet 16 Abgeordnete ins neue Parlament. Die “Colorado”-Partei wird zukünftig in 13 Provinzen und die Liberalen in vier Provinzen den Gouverneur stellen.
In Paraguay wird es von 1993 bis 1998 eine Regierung geben, die fast zwei Drittel der WählerInnen gegen sich hat. Die “Colorado”-Partei profitierte davon, daß zwei fast gleich starke Oppositionskandidaten gegeneinander antraten und sich die Stimmen streitig machten. Damit sind die Oppositionsführer mitverantwortlich für den Erfolg der “Colorado”-Partei, denn ein gemeinsamer Kandidat hätte gewiß die Mehrheit der WählerInnen hinter sich gebracht.
Wie schon zu Zeiten der Stroessner-Diktatur macht sich der Mangel an politischer Zusammenarbeit zwischen den Oppositionskräften schmerzhaft bemerkbar. Die Chance für einen politischen Wechsel und die Fortführung der Demokratisierung wurde für weitere fünf Jahre vertan. Allerdings ist die Opposition mit einer Mehrheit im Parlament jetzt seit Jahrzehnten erstmals in der Lage, in Paraguay Politik und gesellschaftliche Veränderung mitzubestimmen oder gar zu erzwingen, denn mit der neuen Verfassung sind auch die Rechte des Parlaments gewachsen. Es bleibt zu hoffen, daß sowohl die “Authentisch Liberal Radikale Partei” als auch die “Nationale Zusammenkunft” aus den Wahlen entsprechende Lehren gezogen haben und eine gemeinsame parlamentarische Arbeit anstreben. Die parlamentarische Zusammenarbeit könnte für die Wahlen von 1998 zu einer Listenverbindung der Oppositionsparteien führen, deren Erfolg dann den endgültigen Schlußstrich unter die Stroessner-Diktatur bedeuten könnte.

Keine Chance gegen den Schlamm

Die Katastrophe wurde nach Angaben von MeteorologInnen durch einen plötzlichen Temperaturanstieg in den Kordilleren und sintflutartige Regenfälle in 2500 Meter Höhe ausgelöst, die gigantische Schneemassen in Wasser verwandelten und innerhalb von Minuten eine tödliche Lawine aus Geröll, Steinen und Schlamm in Bewegung setzten. Das Zentrum der Katastrophe lag in den am Kordilleren-Aufstieg gelegenen Poblaciones “Las Higueras” und “Los Perdices”. Bis zu 50 Tonnen schwere Felsbrocken wurden durch die Gewalt der Lawine ins Tal geschleudert.
Über eine Hubschrauber-Luftbrücke versuchten Einheiten der Luftwaffe und der Polizei bis in die Nachtstunden hinein Menschen, die inmitten der Wassermassen auf den Dächern ihrer eingestürzten Hütten oder auf Bäumen und Geröllhalden ausharrten, in Sicherheit zu bringen. Währenddessen hatten sich die tiefer gelegenen Teile von Südost-Santiago in von reißenden Flüssen getrennte Inseln verwandelt. Auch in anderen Teilen Chiles hatte die Überschwemmung verheerende Auswirkungen. Im Cajón del Maipu hungerten 2000 Menschen, weil alle Verbindungswege abgeschnitten wurden und die Luftbrücke der Polizeihubschrauber nicht in der Lage war, schnell genug Lebensmittel zu transportieren. Auch in der V. Region, vor allem in San Felipe und Los Andes, wurden viele Menschen obdachlos. Außerdem wurde die Straßenverbindung nach Argentinien über den “Paso de los Libertadores” völlig zerstört. Vermutlich ist ein Jahr Arbeit nötig, um diese wichtigste chilenisch-argentinische Verkehrsader wiederaufzubauen. Etwas weiter südlich, in Rancagua, mußte die Kupferproduktion im größten Untertagebergwerk der Welt eingestellt werden, weil die Geröll- und Schlammlawinen die Zufahrtswege und Elektrizitätswerke auf Monate unbenutzbar gemacht haben.
Das Ausmaß der Katastrophe wurde auch von den politisch Verantwortlichen Santiagos mitverschuldet. Alle Warnungen von GeographInnen, daß die “Quebrada de Macul”, der Berghang im Südosten der Stadt, an dem die am stärksten betroffenen Armenviertel liegen, nicht besiedelt werden dürfe, wurden in den Wind geschlagen. Die Tatsache, daß praktisch seit dreißig Jahren ohne ausreichende Stadtplanung das Wachstum Santiagos in geographischen Krisenbereichen stattfand, machte es möglich, daß Siedlungen für zehntausende von Menschen ohne entsprechende Abwassersysteme und ohne Abflußsysteme für Regenwasser errichtet wurden. Diese Nachlässigkeit forderte jetzt ihren Tribut. Es ist kein Zufall, daß es die Armen im Südosten der Stadt sind, die diese Katastrophe heimgesucht hat. In den reichen Vierteln wurden seit den Überschwemmungen von 1982 und 1987 erhebliche Mittel in Hochwasserschutz-Systeme – etwa am Mapocho-Fluß – investiert.

Behörden ignorieren Warnungen der Betroffenen

Die Geschichte eines Nachbarschaftsverbandes (“junta de vecinos”) in der Mapocho-Anrainer-Gemeinde Quinta Normal belegt, daß die Zusammenhänge zwischen Naturkatastrophen und fehlender Vorsorge durch die sträfliche Fahrlässigkeit der verantwortlichen PoltikerInnen verschärft werden. Über ein Jahr lang hatte die Junta de Vecinos darum gekämpft, daß die Stadtverwaltung die Uferböschung des Mapocho befestigt, um die tiefer als der Fluß gelegene Siedlung zu schützen. Die Bitten und Vorschläge der Nachbarschaftsorganisation wurden einfach ignoriert. Erst als in der Nacht nach der Katastrophe der Hochwasserstand des Mapocho die unzureichende Dammkrone zu zerstören und in Quinta Normal eine unabsehbare Katastrophe zu verursachen drohte, stellte die Stadtverwaltung Lastwagen zur Verfügung, um mit Steinen die Dammkrone zu sichern.
Die von der Katastrophe Betroffenen wurden zuerst in Notquartieren untergebracht, auf engstem Raum zusammengepfercht. Hier versuchen PsychologInnen, PsychiaterInnen, ÄrztInnen und Priester vor allem denjenigen zu helfen, die Angehörige verloren haben – und nicht mit der Situation fertig werden können.
Die Tage, die auf die Überschwemmung folgten, haben schonungslos die Planungs- und Koordinationspannen staatlicher Stellen deutlich gemacht. So gab es nicht einmal einen öffentlich sichtbaren Krisenstab, bei dem die Fäden, etwa für die Verteilung von zahlreich gespendeten Hilfsgütern, zusammengelaufen wären. Tausende von freiwilligen HelferInnen, die in das Kastrophengebiet vorstießen, blieben während der ersten Tage nach der Wasserflut fast völlig auf sich allein und ihre Spontaneität gestellt.
Massive Kritik mußte sich vor allem die staatliche Katastrophenhilfe-Behörde ONEMI gefallen lassen, weil nach und nach durchsickerte, daß MeteorologInnen Stunden vor dem Niedergehen der Schlamm- und Geröllawine Alarm gegeben und auf die gefährliche klimatische Konstellation von wolkenbruchartigem “warmen” Regen in 2500 m Höhe über den Schnee- und Eisfeldern der Anden aufmerksam gemacht hatten. Dem Wasserversorgungsunternehmen im Cajón del Maipo, das Santiago mit Trinkwasser versorgt, reichte die Zeit beispielsweise, um die teuren Meß-, Steuer- und Ansauginstallationen abzumontieren und in Sicherheit zu bringen, während der Maipo-Fluß in Minutengeschwindigkeit zum tödlichen Strom anschwoll. Eine Warnung an die Bevölkerung in den Krisensektoren an den Kordillerenabhängen von Santiago wurde jedoch nicht ausgesprochen, geschweige denn Evakuierungsmaßnahmen eingeleitet.

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