Entscheidung für die Zukunft

Bis zum 2. Juli müssen sich alle Beitragszahle­rInnen entscheiden, ob sie im öffentlichen Rentensy­stem bleiben wollen oder Mitglied einer der über zwan­zig privatwirtschaft­lichen Administra­doras de Fondos de Jubilaciones y Pensio­nes (AFJP) werden wollen.
Nachdem der Ausverkauf der Staatsunter­nehmen inzwi­schen fast abgeschlossen ist, zieht sich der Staat als Akteur nun auch immer weiter aus dem sozialen Sektor zu­rück. Argentinien ist damit nach Chile das zweite Land des Cono Sur, das seine Rentenversiche­rung privatisiert. Doch während in Chile die Al­tersversorgung ausschlie?­lich nach dem neoliberalen Motto “JedeR spart für sich allein” funk­tioniert, wurde in Argentinien nach hefti­gen Diskussionen schlie?lich die Koexi­stenz eines öffentlichen und ei­nes privaten Systems gegen die Lobby der zukünftigen Versicherungsträger, vor allem nationale und inter­nationale Banken, durchge­setzt. Beide Länder haben sich damit von der Idee des Generationenvertrages zur Siche­rung der Renten verabschiedet, wobei aber die Rente in Argentinien noch stärker den Charakter einer Versicherung behält.
Dies war auch deshalb mög­lich, weil sich inzwischen gezeigt hat, da? die chi­lenischen privaten Rentenversicherungs-träger weit weniger rentabel für die Ein­zahlerInnen sind als vorher an­genommen worden war. Sie hatten auf eine Verzin­sung der Einzahlun­gen von jährlich minde­stens fünf Prozent speku­liert. Davon wird auch in Argentinien ausge­gangen. Die rentabelsten chilenischen Unterneh­men haben aber bisher nur um die vier Prozent, die schlechtesten sogar unter zwei Prozent er­reicht. Das unab­hängige Arbeitsfor­schungsinstituts PET in Chile geht in seinen Prognosen davon aus, da? eine Mehrheit der EinzahlerInnen später Auszahlungen unterhalb der Mindestrente erhalten wird. Das dreigliedrige ar­gentinische System wird das vermeiden.

Dreigeteilte Rente

Jede Rente wird sich in Zukunft aus drei Teilen zusammensetzen: in beiden Syste­men zahlt der Staat die Prestación Básica Uni­versal (PBU), eine Grund­rente von ungefähr 150 Peso (ca. 250 DM) und die Prestación Complementaria (PC), eine Ausgleichszah­lung für die bis zum Ein­tritt ins neue System geleisteten Beiträge. Diese Leistungen will der Staat aus den Arbeitgebe­rInnenbeiträgen und den höhe­ren Beiträgen Selb­ständiger finanzieren. Im dritten Teil der Renten­summe unter­scheiden sich das staatliche und das pri­vate System.
Für die Höhe der Zahlungen im staatli­chen System ist der Durchschnittslohn der letzten zehn Jahre vor der Pensionierung entschei­dend. Wer allerdings ins­gesamt weniger als 30 Jahre lang eingezahlt hat, bekommt nur die Grundrente ausgezahlt. Menschen, die lange arbeitslos sind, oder Un­terbrechungen machen, wie häufig Frauen zur Kin­dererziehung, gehen also das Risiko ein, ihre gesamten Einzah­lungen zu verlieren. Und bei 3660 Peso, das sind ungefähr 6200 DM, ist in der staatlichen Versicherung die maximale Auszahlung erreicht. Deshalb werden diejenigen mit einem hohen Ein­kommen in die Privatversicherungen gehen. Denn hier bestimmen die gesamte, indivi­duell ange­sparte Geldmenge, sowie die Lebens­erwartung und Familiensituation die Höhe der Rente.

Für wen lohnt sich was?

Der ideale Klient einer privaten AFJP ist deshalb heute unter 35 Jahre alt, nicht be­hindert, ledig, kinderlos, festangestellt mit guten Aufstiegschan­cen. Eine Frau mit glei­chen “Voraussetzungen” in gleicher Position wird al­lein aufgrund ihrer länge­ren Lebenserwartung schon eine geringere Rente be­kommen. Unglücklicherweise geht sie auch schon mit 60 in Rente, wäh­rend der Mann noch fünf Jahre weiterspa­ren kann. Doch eine jün­gere Ehefrau, de­ren Le­bensalter in die Berech­nung einbe­zogen wird, würde auch seine Rente ver­ringern.
Wer unter 3660 Peso ver­dient, wer gar nur den Mindestlohn von 200 Peso verdient oder häufig arbeitslos ist, wer riskiert, in den letzten zehn Jahren vor der Rente ar­beitslos zu sein und eine viel jüngere Frau heiraten will, obwohl er schon 55 ist; wer insgesamt weniger als 30 Jahre seines Le­bens arbeiten will…, kann versuchen, die individuel­len Vor- und Nachteile der Sy­steme zu vergleichen. Es wird kaum ge­lingen. Auch zum Vergleich der unter­schiedlichen Beitragssätze bleibt in zwei Monaten we­nig Zeit. Wenigstens sieht das Gesetz vor, da? die Mitglieder bis zu zwei Mal im Jahr die AFJP wechseln können.

Staatliche Kontrolle

Die Aufgabe der staatli­chen Kontrollbe­hörde Su­perintendencia de AFJP be­steht darin, über die Zu­lassung der Gesell­schaften zu entscheiden, die Tren­nung zwischen Ei­genkapital und Beiträgen bei den ein­zelnen AFJP zu überwachen und täglich die Transak­tionen der beste­henden Unternehmen auf dem Kapital­markt zu kon­trollieren. Die Superin­tendencia selbst finan­ziert sich durch Zahlungen der Versi­cherungsgesellschaften. Es bleibt zu hof­fen, daß ihre MitarbeiterInnen nicht bald schon in den nächsten großen argentini­schen Be­stechungsskandal verwickelt sein werden.
Die inzwischen über zwanzig zuge­lassenen AFJP erwarten kräftige Ge­winne. Alle nationalen und viele in­ternationale Banken betreiben eigene Ge­sellschaften, die, so hoffen sie, bald fünf Mil­lionen Mitglieder haben werden. Das würde ein mo­natliches Anlagevolumen von ungefähr 300 Millionen Peso bedeu­ten. Vom Bei­trag der EinzahlerInnen, 11 Prozent des Lohnes, behält die Gesell­schaft ungefähr ein Drittel ein, zwei Drit­tel bekommt die Ein­zahlerin ver­zinst. Konkurrenz zwi­schen Banken und Gewerkschaften
Den Konkurrenzkampf um Platz eins un­ter den AFJP werden voraussichtlich Siembra der Bankengruppe Citibank und Banco Rio so­wie Nación der Banco Nación austragen, die beide mit ungefähr 600.000 Mitgliedern rechnen. Um Platz drei werden sich wahrscheinlich Máxima, an der auch die Deutsche Bank beteiligt ist, Previnter von der Boston Bank und Consolidar mit Beteili­gung der Dresdener Bank schlagen. Allgemein wird davon ausgegangen, da? langfristig nur etwa zehn der heute einundzwanzig AFJP’s überleben werden.
Nicht nur Banken, sondern auch einige der gro?en Ge­werkschaften wie bei­spielsweise die Energiege­werkschaft Luz y Fuerza sind an AFJP’s beteiligt. Manche haben schon im vor­aus wie die Metallerge­werkschaft gegen Provision ihre Mit­glieder an eine der Versi­cherungen ver­schachert und hoffen, sich später direkt beteiligen zu können. Da­hinter steckt natürlich einerseits das Inter­esse, den Banken nicht die Ge­werkschaftsklientel und die absolute Macht auf dem Kapitalmarkt zu überlas­sen. Andererseits sind die Sozialwerke der Gewerk­schaften gefährdet, weil einige der AFJP’s auch gleichzeitig Kranken- und andere Versicherungen an­bieten wollen. Da wollen nun die gewerkschaftseige­nen Gesellschaften natür­lich mithalten.
Doch nicht alle Gewerk­schaften sind von der Pri­vatversicherung überzeugt. Die in­nerhalb des Gewerk­schaftsdachverbandes CGT agierende Oppositions­gruppe MTA (Movimiento de Trabajadores Argenti­nos), der zum Beispiel die Transportge­werkschaft an­gehört, empfiehlt ihren Mit­gliedern, mindestens noch ein halbes Jahr im staatlichen System zu ver­bleiben, um dann die Si­tuation einschätzen und die Verzinsung in den un­terschiedlichen AFJP’s vergleichen zu können.
Der oppositionelle Gewerk­schaftsverband CTA (Congreso de Trabajadores Argenti­nos), dem viele An­gestellte des Staates und der Provinzen angehören, hatte schon im Vorfeld eine Million Unterschrif­ten gegen die Privatisie­rung der Rentenversiche­rung gesammelt. Entspre­chend rät er seinen Mitgliedern die staatli­che Versicherung.

Angst vor wirtschaftlicher Insta­bilität

Niemand bestreitet, da? das bisherige argentini­sche Rentenversicherungs­system nicht mehr funktio­niert. Seit Jahren ist die staatliche Rentenkasse fast leer, weil sie immer wieder dazu verwendet wurde, Lö­cher in anderen Bereichen des Haushalts aufzufüllen. Monatelang be­kamen viele RentnerInnen deshalb nicht einmal ihre erbärmliche Mindestrente von 100 Peso ausbezahlt.
Eine Garantie für gutes Management der staatlichen Versicherung gibt es jetzt aber auch nicht, genauso­wenig wie die Sicher­heit und Rentabilität der pri­vaten Versi­cherungen ga­rantiert sind. Vor allem die Angst vor wirtschaft­licher Instabilität macht die Entscheidung für viele Argenti­nierInnen so schwierig. Nach dem Bör­sensturz in diesem Jahr wurden die Rege­lungen für Investitionen und Börsen­spekulation der AFJP noch einmal verän­dert, und die Frage bleibt offen, was beim nächsten Börsenkrach passiert.
Die Regierung hat gleich­zeitig wenig un­ternommen, die Entscheidungfindung der EinzahlerInnen zu er­leichtern. Erst knapp einen Monat vor dem Beginn der Ent­scheidungsfrist hat sie eine spärliche Infor­mationskampagne begonnen. In ei­nem Comic wurden die Unterschiede zwi­schen bei­den Systemen dargestellt, das private System aber als vorteilhafter vermit­telt. Die weit wichtigere, allerdings eindeutig par­teiische Informati­onsquelle sind so die knapp 30.000 VertreterInnen der einzelnen AFJP’s, die das Land mit Men­gen von Werbematerial über­schwemmen.
Das Gesetz sichert den Privaten au?erdem noch einen entscheidenden Vor­teil zu:
Aus dem staatlichen System können die Beitragszahle­rInnen jederzeit ins pri­vate wechseln. Wer sich in den zwei Monaten aber nicht explizit für den Verbleib im staatlichen System ausspricht, landet au­tomatisch im privaten, ohne Möglichkeit der Rück­kehr.


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Henkel läßt weiterschnüffeln – fast überall

Auf dem International Forum for Child Welfare sprachen sich im letzten Jahr 45 Nationen für ein gemeinsames Vorgehen gegen die “zunehmende Zerstörung des lateinamerikanischen Kindes durch die Droge Klebstoff’ aus. Zudem wurde in vielen Veröffentlichungen vor den gesundheitlichen Folgeschäden der Klebstoffschnüffelei gewarnt. So schreibt Uwe von Dücker als Ergebnis seiner Untersuchung zur Aufdeckung der Schicksale lateinamerikanischer Straßenkinder im ded-Brief (Deutscher Entwicklungsdienst) 3/93: “Man weiß heute, daß Klebstoff, Lösungsmittel, Aerosole, Narkotine und ähnliche Stoffe Rauschmittel ganz besonderer Art sind. ihr Suchtpotential war je- doch den Herstellern so nicht bekannt. Bei dem Klebstoff handelt es sich um ein dem deutschen “Pattex” ähnliches Produkt, das in Lateinamerika unter unterschiedlichen Markenbezeichnungen vertrieben wird: In Argentinien ist es “Poxiran”, in Chile “Neopren”, in Peru “terocal”. […I Medizinische Untersuchungen über die Folgen der Klebstoffschnüffelei fanden wir trotz unserer regelmäßigen Nachfragen bei den die Straßenkinder behandelnden Ärzten in Lateinamerika nicht. Die Ärzte berichten uns jedoch von irreparablen Schädigungen der Stimmbänder, der Lunge, der Nieren, und der Zerebralfunktionen. Bei regelmäßiger Inhalation würden sich diese Schädigungen in besorgniserregender Geschwindigkeit verstärken und bereits nach einem Jahr als bleibende Behinderungen manifestieren.”
Uwe von Dücker ist Mitbegründer und Vorsitzender der “Internationalen Gesellschaft zur Förderung des lateinamerikanischen Kindes -educación para todos e.V.”.
Diese Organisation schrieb zusammen mit dem “deutschen Kinderschutzbund” und “CODECAL”, einem pädagogischen Ausbildungszentrum aus Bogota, im vergangenen September zum ersten Mal den Henkel-Konzern an: “Wir vertreten das Ziel, den allerorts in Lateinamerika auf die Straßen strömenden Kindern zu einer menschenwürdigen Zukunft zu verhelfen. Hierbei versuchen wir die am stärksten betroffene Gruppe, die auf der Straße lebenden Kinder, zu erreichen, und mit gezielten Programmen der Sozialarbeit zu unterstützen.” Weiter fordern sie eine Stellungnahme Henkels zu der weltweiten Produktion von Klebstoff und der Möglichkeit einer Entgiftung oder Einstellung der Produktion.
Henkel antwortet daraufhin: “Wir haben entschieden, zum 01.10.94 alle dem Endverbraucher in Zentralamerika angebotenen Kontaktkleber lösungsmittelfrei zu produzieren und auf den Markt zu bringen. Wir sind uns bewußt, daß wir damit einen Teil der Kunden aus dem Kleingewerbe verlieren werden, sind aber bereit, diese Verluste hinzunehmen.”
“Educación para todos” nahm diese Entscheidung zwar mit “Genugtung” entgegen, wies aber entschieden darauf hin, daß sich die Entgiftung von Pattex nicht allein auf den mittelamerikanischen Raum beziehen kann, wo Henkel nach eigenen Angaben nur mit 5-7 Prozent an der Klebstoffproduktion beteiligt ist. Es bleibt also abzuwarten, ob es Henkel nun wirklich um die Gesundheit der Straßenkinder geht, oder es sich einzig und allein um eine imageaufbessemde Alibiaktion handelt.
Vom 12.-17. September wird zum Thema Streetwork mit Straßenkindern ein internationaler Kongreß in Santiago/Chile stattfinden. Dort wird das zunehmende Problem der Klebstoffschnüffelei
zentrales Thema sein.


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Ein Stolpern auf dem Weg zur neuen Verfassung

Im “Pakt von Olivos” (Vorort der Haupt­stadt, Wohnsitz des Präsidenten) hatten Menem und Alfonsín im November ver­gangenen Jahres nach wochenlangen Aus­einandersetzungen ihre Zusammenarbeit bei der Verfassungsreform besiegelt (vgl. LN 235). Gemeinsam haben Menems PJ mit 37 Prozent und Alfonsíns UCR mit 20 Prozent jetzt zwar die Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung; da die Wahlbeteiligung aber trotz Wahl­pflicht bei nur 70 Prozent lag und fünf Prozent der Stimmen ungültig waren, ha­ben sich insgesamt nur etwa 40 Prozent der ArgentinierInnen für das Reformpro­jekt plus Wiederwahl ausgesprochen. Die Frente Grande hat es aber geschafft, sich mit insgesamt 12 Prozent als ernstzuneh­mende Konkurrenz zu etablieren. Die rechtsradikale MODIN unter Aldo Rico, die sich ebenfalls gegen Menems Reform ausspricht, erreichte landesweit fast neun Prozent, ein ähnliches Ergebnis wie bei den Parlamentswahlen im Oktober.

Die Hauptstadt wählte links

Ihren größten Erfolg hatte das Mitte-Links-Bündnis Frente Grande in der Bundeshauptstadt, wo sie mit 37,5 Prozent sowohl die PJ (24,4%) als auch die UCR (15,2%) weit abgeschlagen hinter sich ließ. Unter dem Spitzenkandidaten Carlos “Chacho” Alvarez hat sie hier ihren Stimmenanteil im Vergleich zum Oktober fast verdreifacht. Aber auch in eini­gen Provinzen war sie sehr erfolgreich: In der bevölkerungsreichsten Provinz Bue­nos Aires konnte der Filmregisseur Fer­nando “Pino” Solanas dem Ex-Präsidenten Raúl Alfonsín persönlich den zweiten Platz hinter dem amtierenden Gouverneur und Vizepräsidenten Eduardo Duhalde (PJ) streitig machen. Und in Neuquén ge­lang es dem Bischof Jaime de Nevares, dessen Kandidatur als Kirchenmann in­nerhalb der Frente sehr umstritten war, die traditionelle Vormachtstellung der Pro­vinzpartei Movimiento Popular Neuquino zu durchbrechen. Auch in einigen anderen Provinzen wie Entre Ríos, Santa Fe und Río Negro erreichte die FG gute Ergeb­nisse.
Von Anfang an hatte die Frente Grande sich vehement gegen Menems Projekt der Verfassungsreform plus Wiederwahl ein­gesetzt, im vergangenen Jahr hatten die FG und einige Teile der UCR zeitweilig sogar eine gemeinsame Kampagne des NO überlegt. Die Kehrtwendung Al­fonsíns weg von seiner vorher vehement vertretenen Ablehnung der Reform hin zur Unterstützung des menemistischen Re­formprojekts führte deshalb zu heftigen Konflikten innerhalb der UCR. Schon vor den letzten Wahlen hatte es kaum inhaltli­che Differenzen zwischen PeronistInnen und Radikalen gegeben, nach dem Ab­schluß des “Paktes” war die Trennlinie zwischen Regierung und Opposition gänzlich verwischt. Die FG hat deshalb viele Stimmen unzufriedener ehemaliger AnhängerInnen der UCR erhalten, die selbst mit knapp 20 Prozent noch 10 Pro­zent weniger als bei den Parlamentswah­len erhielt.
Aber auch ehemalige WählerInnen der Pe­ronistischen Partei gaben diesmal der Frente Grande ihre Stimme. Die PJ siegte zwar mit 37 Prozent der Stimmen, das sind jedoch fünf Prozent weniger als beim letzten Mal.
Menem sah auch nach der Abstimmung keinen Grund zur Selbstkritik und lehnte es ab, die jüngsten Korruptionsfälle als Erklärung für das schwache Abschneiden der PeronistInnen in der Hauptstadt und für den Er­folg der FG zu akzeptieren. Bis zum Ende hatten die PeronistInnen, vor allem auf Betreiben Menems, beispielsweise an Matilde Me­néndez auf dem zweiten Listenplatz fest­gehalten, obwohl sie als Chefin der staat­lichen Rentenversicherung PAMI wegen Bestechlichkeit angeklagt ist.

Protestwahlen in den Provinzen

Vor allem in den armen Provinzen des Nordwestens, in Jujuy und Salta zum Bei­spiel, gingen die jeweils nicht regierenden Parteien gestärkt aus der Abstimmung hervor. Überraschend war das vor allem in Tucumán, wo die PJ unter dem amtieren­den Gouverneur Ramón “Palito” Ortega gegen die Fuerza Republicana von Gene­ral Antonio Bussi verlor, der zur Zeit der letzten Militärdiktatur für Menschen­rechtsverletzungen verantwortlich war. Ortega wurde bisher als aussichtsreicher Kandidat für die Vizepräsidentschaft 1995 gehandelt, für die internen Ausscheidun­gen wird er zukünftig aber nur wenig Rückhalt haben.
Besonders erstaunlich war das Ergebnis in Santiago del Estero, wo soziale Unruhen und Demonstrationen gegen die peronisti­sche Provinzregierung Ende vergangenen Jahres darin gegipfelt hatten, daß Regie­rungsgebäude, Parlament und Justizpalast in Brand gesetzt wurden. Die daraufhin von Buenos Aires aus eingesetzte Übergangsregierung wurde finanziell sehr gut ausgestattet, um schnellstmöglich die Konflikte zu befrie­den. Trotz der Proteste im Dezember ge­wann die PJ hier unangefochten mit über 52 Prozent, allerdings wurden acht Pro­zent der Stimmzettel leer abgegeben. Eine Erklärung für den Erfolg der PJ könnte sein, daß sich die Proteste im Dezember auf die beiden großen Städte Santiago und La Banda beschränkt hatten.

Ein politischer Klimawechsel

Nach ihrem Überraschungserfolg im Ok­tober vergangenen Jahres, wo die Frente Grande auf Anhieb knapp 11 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, ist es ihr nun offenbar gelungen, das argentini­sche Zweiparteiensystem zumindest vor­läufig aus den Angeln zu heben. Zukünf­tig wird die nationale Parteienlandschaft also von vier Parteien bestimmt werden, denn auch die rechte MODIN hat es er­reicht, sich zu etablieren.
Doch bisher klaffen im Projekt der Frente Grande noch ganz erhebliche Lücken. Weder ist sie in allen Provinzen vertreten, noch hat sie als Partei eine wirkliche Ba­sis, ist bisher vielmehr Sammelbecken op­positioneller, vor allem linker WählerIn­nen gewesen und hat versucht, möglichst viele Gruppen zu integrieren. Das wird auch darin deutlich, daß ihre interne Struktur immer noch Thema heftiger Dis­kussionen ist, die sich vor allem um die Forderung nach offenen internen Wahlen drehen.
Auch für die Wirtschaftspolitik hat sie bisher kein Oppositionsprogramm vorgelegt, sondern sich auf sehr allgemeine Kritik am Neoliberalismus einerseits und an den sozialen Folgen der Maßnahmen Cavallos an­dererseits beschränkt. Doch ihr Erfolg läßt hoffen, daß mit der bloßen Verknüpfung von “Währungsstabilität” und “Menem” in Zukunft nicht mehr ganz so leicht Wahlen zu gewinnen sein werden.

Die Verfassungsänderungen

Möglichst schnell soll nun also die neue Verfassung verabschiedet werden, deren zentrale Teile schon damals zwischen Al­fonsín und Menem ausgehandelt worden waren: die Möglichkeit zur einmaligen Wiederwahl des Präsidenten, dessen Amtszeit aber verkürzt wird, und der in Zukunft auch nicht mehr katholisch sein muß. Zukünftig werden drei Senatoren für jede Provinz gewählt, zwei für die Mehr­heitspartei, einer für die Opposition, auch ihre Amtszeit soll verkürzt werden. Neu­geschaffen wird die Position eines “Kabinettschefs”, der vom Präsidenten er­nannt wird, aber vom Parlament abgesetzt werden kann und den Kontakt zwischen Regierung und Parlament erleichtern soll. Außerdem wird es zukünftig einen “Justizrat” geben, der für die Finanzen der Justiz verantwortlich ist und für die Er­nennung und Absetzung aller Richter, außer denen des Obersten Gerichtshofs, sorgt.
Verschiedene andere Punkte sind zwi­schen den Parteien noch umstritten wie zum Beispiel die Aufnahme plebiszitärer Elemente in die Verfassung, so auch eine Stärkung des Föderalismus und größere kommunale Freiheit. Außerdem besteht noch Uneinigkeit über verschiedene Ein­zelelemente, wie zum Beispiel Garantien für die kulturelle Identität der indigenen Völker, für Menschenrechte und die Gleichberechtigung von Frauen.
Der größte Streitpunkt ist aber immer noch die Besetzung des bisher absolut re­gierungstreuen Obersten Gerichtshofs. Die Ablösung von mindestens drei Richtern war im November eine Grundbedingung der UCR. Doch bisher sind erst zwei Stellen umbesetzt, und die ver­bleibenden Richter sitzen fest auf ihren Stühlen. Die PJ steht jetzt unter starkem Druck, den Forderungen des “Paktes von Olivos” nachzukommen, zumal sie in der Versammlung auf die Stimmen der UCR angewiesen ist.
Durch eine Änderung, die bisher von allen Parteien begrüßt wurde, soll der Haupt­stadt Buenos Aires mehr Autonomie als quasi eigene Provinz zugestanden werden. Ihr Bürgermeister soll demnach in Zu­kunft nicht mehr vom Präsidenten ernannt, sondern von der Bevölkerung gewählt werden. Nach den Ergebnissen der Ab­stimmung stellt sich jetzt die Frage, ob die PJ versuchen wird, diese Absprache rück­gängig zu machen. Denn eine Bürgermei­sterwahl im kommenden Jahr wird der Frente Grande die Möglichkeit eines weiteren Erfolges bieten.

Kasten:

Kommentar

Eine Wahl gegen die Überheblichkeit

Dies waren einige der Fragen um 18.01 Uhr, als die Schlacht der Interpretationen begann: Hat die Frente Grande durch die Stimmen der Intellektuellen gewonnen? Ist das der Beginn eines sozialistischen Vaterlandes? Sind das die Stimmen der Snobs? Ist das eine Abstimmung gegen die Korruption? Soll ich zurück aufs Land ziehen?
Es ist dasselbe Problem wie immer: Einige mögliche Antworten erzeugen nur immer neue Fragen, in dieser Reihenfolge: Den Berechnungen zufolge, wenn in Bue­nos Aires eine solche Anzahl Intellektu­eller wohnte, stünden wir einem neuen, übervölkerten Athen gegenüber. Die Theorie, die das Progressive mit dem Intellektuellen verknüpft, wertet es gleichzeitig ab und ist so Teil eines Schlüsselelements in der Analyse dieser Wahl: der Überheblichkeit. Die Überheb­lichkeit, die den Menem-Alfonsín-Pakt gebar (eine selbstmörderische Überheb­lichkeit im Falle des radikalen Ex-Präsi­denten), die Arroganz, die Matilde Me­néndez noch auf der Treppe zum Justiz­palast zeigte, als die Regierung schon da­bei war, die Wahlplakate mit ihrem Foto dem Reißwolf zu übergeben, die Über­heblichkeit, die das Zurschaustellen von Reichtum und Macht ungestraft davon­kommen läßt und zu der gefährlichen Naivität führt, an eine Zukunft zu denken, dabei aber den Tag vor dem Abend zu loben. Viel­leicht wurde gegen diese Überheblichkeit gestimmt.
– “Die Gesellschaft versteht mich nicht”- sagte Alfonsín, und vergaß, daß die Auf­gabe für ihn als Politiker umgekehrt ge­stellt ist: Er muß die Gesellschaft verste­hen.
– “Das sind Marxisten”- zeigte Menem mit dem Finger, gefährlich arglos wie eine Ausgabe von Reader’s Digest.
– “Mein Erfolg ist mir sicher”- prophezeite Duhalde ganz ruhig und reiste zwei Wo­chen vor der Abstimmung nach Indien. In Indien hätte nicht mal Gandhi zwei Tage vor der Unabhängigkeit versichert, daß er über die Engländer siegen würde. Ja, Du­halde hat gewonnen. Aber war er diesen Montag Morgen genauso ruhig, wie noch am Samstagabend?
Der “Menemistische Sektor für die Mittel­schicht”, also Amadeo, Corach, Toma, etc. hat seine Hausaufgaben wie ein folgsamer Grundschüler erledigt: Zielstre­big, um nur möglichst schnell fertigzu­werden, die Wiederwahl zu überstehen und dann ruhig weiter an die Zukunft ihrer Kinder zu denken (der eigenen natürlich, doch nicht Eurer). Der Durchschnitt der Radikalen war nicht weniger überzeugend oder zynisch: Jesús Rodriguez war noch trauriger als damals, als er während der Hyperinflation Wirtschaftsminister wurde. Um es anders auszudrücken: Niemand glaubte, was er tat, oder in Wirklichkeit handelten alle aus Motiven, die sie noch viel weniger zugeben können.
Ist das der Anfang vom Ende des Men­emismus? Weit gefehlt. Vielleicht ein Warnschuß, ein Zeichen der Aufmerk­samkeit auf all’ die Skandale. In den letz­ten Umfragen kletterte die Zustimmung für Menem auf 39 Prozent. Das zu verges­sen wäre genauso bescheuert, wie auf einem Wahlkampffoto zusammen mit der PAMI-Chefin abgebildet zu sein.
Von heute Morgen an hat die Frente Grande ein Problem. Es ist kein neues Problem, sondern das ewige Problem de­rer, die anfangen, Macht auf sich zu ver­einen. Es sind eigentlich einige Fragen: Werden sie großzügig genug sein? Wer­den sie ein Programm für das ganze Land entwickeln können? Werden sie den Übergang von der Theorie zur Praxis be­wältigen? Sind sie sich dessen bewußt, daß das erst der Anfang und nicht etwa das Ende ist? Werden sie an die Kinder denken (an Eure, nicht nur an die eige­nen)? Werden sie diese instabile, abrupte, argentinische Leidenschaft in eine dau­ernde und tiefgreifende Liebe verwandeln können? Werden sie die Spaltung der Spaltung vermeiden können? Werden sie die Situation in Argentinien richtig einschätzen?
Hoffentlich kriegen sie das hin.

Jorge Lanata (Página/12)
Übersetzung: Silke Steinhilber


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Brasilien 1994 oder die alte Unübersichtlichkeit

1993: Die Katastrophe

Je nach politischem Standort oder Temperament kann eine völlig unterschiedliche Bilanz des Jahres gezogen werden. Die Regierung Itamar Franco hat jedenfalls bei dem Ziel Inflationsbekämfung – und das heißt eben auch gesamtwirtschaftliche Stabilisierung – völlig versagt. 2567,46% betrug die Inflation im letzten Jahr nach dem meist verbreiteten Index, dem IGP-M der Stiftung Getulio Vargas. Es ist damit die höchste Inflationsrate seit deren statistischer Erfassung, das heißt seit 1829. Es ist auch eine der höchsten der Welt im Jahre 1993, weit über der Rate in lateinamerikanischen Ländern, ebenso wie etwa in Rußland (590%) oder Kroatien (1027%). Lediglich Restjugoslawien steht mit 30.000% erheblich schlechter da.
Die hohe Inflation ist seit etwa 1985 das makroökonomische Problem Brasiliens, und eine ganze Serie von gescheiterten Plänen hat es nicht gelöst. Nach einer Welle heterodoxer Schocks war nun seit 1992 Orthodoxie angesagt. Die wechselnden Regierungen (von Collor zu Itamar) und Wirtschaftsminister verkündeten unisono, daß nur über eine Eliminierung des Haushaltsdefizits die Voraussetzungen für eine nachhaltige Inflationsbekämpfung geschaffen werden könnten. Die Grundformel lautet also: Solide Haushalts-(sprich: Spar-)politik und Vertrauen in die Berechenbarkeit der Regierung (also keine über Nacht verhängten Preisstopps) schaffen ein Klima für eine graduelle Senkung der Inflationsrate. Der jetzige Wirtschaftsminister Fernando Henrique Cardoso – FHC, in den siebziger Jahren bekannt als linker Theoretiker und Verfechter der Dependenztheorie – verfolgt nun konsequent den orthodoxen Gradualismus. Ergebnis: die höchste Inflationsrate der Geschichte trotz praktischer Eliminierung des Haushaltsdefizits. Die brasilianische Inflation ist jedenfalls eine harte Nuß für alle traditionellen Wirtschaftstheorien. Die klassischen Inflationstheorien hatten eins nicht vorhergesehen: daß nicht zuletzt dank modernster Computertechnik die Wirtschaft auch eine Inflation von 40% ganz gut managen kann, und daß es wichtige Inflationsgewinner gibt (den Finanzsektor), daß es also trotz eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses, der eine solche Inflation für untragbar hält, wirksame Widerstände gegen die Erbringung von “Opfern” zu ihrer Überwindung gibt. Dazu gehört jetzt sogar die untere Mittelschicht, die plötzlich mit einem simplen Sparbuch unglaubliche Gewinne erzielen kann. Das heißt, Teile der Bevölkerung und der Wirtschaft haben sehr gut gelernt, mit der Inflation zu leben oder gar von ihr zu profitieren.

Auf dem Weg zur Dollarisierung?

Was will nun Fernando Henrique Cardoso (FHC) angesichts dieser dramatischen Situation tun? Ohne unmittelbaren Erfolg hat der Wirtschaftsminister Ende letzten Jahres seinen “Plan FHC” lanciert. Der sieht eben an erster Stelle die Eliminierung des Haushaltsdefizits vor. Der neue Haushalt enthält folglich wichtige Kürzungen (vor allem im sozialen Bereich). Dennoch wird er gegenüber 1993 an Umfang zunehmen, in erster Linie wegen der Kosten der internen und externen Verschuldung. Also tritt nun die im letzten Jahr von der Justiz kassierte Steuer auf finanzielle Transaktionen (auf jede Überweisung oder Abhebung vom Bankkonto wird eine Steuer von 0,25% des Betrages erhoben) in Kraft und einige wichtige Steuern werden um 5% erhöht – eine Maßnahme, die zu erbittertem Widerstand von Seiten der Industrie geführt hat. Die Steuererhöhungen müssen noch vom Parlament bewilligt werden, danach kommt die zweite und entscheidende Phase des “Plan FHC”. Wenn die Regierung ihren Zeitplan durchhalten kann (bei Redaktionsschluß fehlte noch die Zustimmung des Senates), wird am 1.März ein neuer einheitlicher Index (URV) geschaffen, der sich nach der Entwicklung des Wechselkurses des Dollars richtet. Dieser Index soll alle anderen Anpassungsmechanismen ersetzen und nach und nach freiwillig von der Wirtschaft angewendet werden, etwa auch für die Festsetzung der Löhne. Praktisch soll dies folgendermaßen funktionieren: Zur Einführung des URV ist dieser zum Beispiel 500 Cruzeiros wert, der Preis für ein Bier. Einen Monat später würde (bei einer Inflation von 40%) das Bier zwar 700 Cruzeiros kosten, aber immer noch etwa 1 URV. So sollen die BrasilianerInnen wieder an stabile Preise gewöhnt werden. Der Cruzeiro wäre bald nur noch eine Kleingeldwährung, während alle größeren Transaktionen und die Festsetzung von Mieten und Preisen in URV liefe.
Der Markt hat auf die Ankündigung des Planes mit Unsicherheit reagiert, wie das Ansteigen der Inflationsrate im Januar zeigt. Niemand weiß genau, wie die Anwendung des URV im einzelnen funktionieren wird und ob die Regierung nicht versucht sein wird, den URV zu weitgehenden Preiseinfrierungen zu nutzen und die Variation des Wechselkurses unter der Inflationsrate festzusetzen, um so die Inflation nach unten zu indexieren – mit entsprechenden Auswirkungen für die Exportwirtschaft. Die Zweifel am “Plan FHC” sind aber auch politisch motiviert. Itamar Franco hat sich bisher als eher schwacher und unberechenbarer Präsident erwiesen und FHC verheimlicht seit dem 12. Januar nicht mehr seine Ambitionen auf das Präsidentenamt. Wenn er wirklich kandidieren will, müßte er bald die Regierung verlassen. Zweifel werden auch angemeldet, ob der URV nicht im juristischen Gestrüpp verenden wird.

1993: der Boom

Auf der Seite der Inflationsbekämpfung bleiben also bisher eine negative Bilanz und ungewisse Aussichten. Dennoch kann Brasilien Erfolge vorweisen. Nach drei Jahren Rezession (1990 und 1991) und Stagnation (1992) ist das Bruttoinlandsprodukt 1993 wieder kräftig gewachsen: 4,5%. Und angesichts des Wachstums der Industrie um 8,5% sieht mancheR Brasilien schon in die Reihe der ostasiatischen Tiger vorrücken (Die Zahlen sind noch nicht endgültig, sondern Projektionen des Regierungsinstituts IPEA aufgrund der Daten bis November 1993). Beispielhaft für die Erfolge ist die Autoindustrie: Sie wuchs 1993 um 29,5% und erreichte mit der Produktion von 1.390.000 Fahrzeugen einen neuen Rekord. Diese Zahlen sind besonders beeindruckend, da sie in einer Phase des weltweiten Einbruchs der Automobilindustrie und trotz Rückgangs der Exporte (- 3,3%) und Steigerung der Importe (+ 125%, was aber nur etwas über 100000 Fahrzeugen entspricht) erzielt wurden. Die Entwicklung dieses Sektors wird nun von vielen als ein Beispiel für eine gelungene Alternative zu neoliberalen Strategien gesehen. Brasilien hatte einen gegen Importe abgeschotteten Binnenmarkt. Statt brutaler Marktöffnung werden die Steuern auf Importe allmählich gesenkt, was den Konkurrenz- und Modernisierungsdruck auf die Industrie erhöht, ihr aber Zeit gibt für Anpassungen. Gleichzeitig kam es 1992 zu einem Sektorabkommen zwischen Industrie und Gewerkschaften, bei dem Beschäftigung und Lohnsteigerungen garantiert sowie von der Regierung Steuererleichterungen gewährt wurden. Die brasilianische Autoindustrie (das heißt natürlich: die Multis, die in Brasilien produzieren) versprühen jedenfalls Optimismus und sehen ein weiteres Wachstum um 10% für dieses Jahr vor.
Durchweg Positives auch bei der Handelsbilanz. 1993 hatte Brasilien für 38,8 Milliarden US$ exportiert, was einen Außenhandelsüberschuß von etwa 13 Milliarden Dollar bedeutet. Das Ergebnis ist um so bemerkenswerter, als die Importe (wenn auch langsam) ansteigen. 75% der Exporterlöse werden durch Verkauf von Industrieprodukten erzielt (Zahlen nach Jornal do Brasil, 21.12.93).
Die Situation Brasiliens ist also überaus widersprüchlich. Insbesondere das Wachstum der Industrie und der Exporte industrieller Produkte lassen Brasilien zumindest für 1993 im Vergleich zu neoliberalen “Erfolgen” wie Argentinien und Mexico überaus gut dastehen. Und diese Erfolge wurden eben gerade ohne drastische makroökonomische Strukturanpassung erzielt. Dennoch kann auch in Brasilien der Preis dieser Erfolge nicht übersehen werden. Das Wachstum in der Industrie vollzog sich ohne nennenswerte Effekte für die Beschäftigung. Trotz Wachstum ging die Arbeitslosenquote nur gering zurück und in der Industrie sank die Zahl der Beschäftigten 1993 gar um 5% gegenüber 1992 (Nach Jornal do Brasil vom 1.2.1994; Zahlen bis September 1993). Das heißt auch, Brasilien lernt nun das Symptom Wachstum ohne Beschäftigung kennen, zumindest in den fortgeschrittensten Bereichen der Produktion. Wichtige Sektoren haben die Krise 1990 bis 1992 dazu genutzt, ihre Belegschaften zu reduzieren. Die Erfolge in der Automobilindustrie wurden ohne Neueinstellungen realsiert, lediglich mit Produktivitätssteigerungen und Überstunden. Die positiven Beschäftigungsentwicklungen vollzogen sich praktisch ausschließlich im informellen Sektor oder im Handel und in den Randbereichen der Industrie, also dort, wo Löhne und Sozialleistungen geringer sind.
Auch ist die Regierung offensichtlich bereit, viele Grundforderungen einer neoliberalen Strukturanpassung zu erfüllen: Haushaltsdisziplin steht im Vordergund, auch auf Kosten der Sozialausgaben. Die Politik der Privatisierung wird fortgesetzt, auch wenn ihre Ausdehnug auf die Ölgesellschaft Petrobras und die Telekommunikation nach wie vor umstritten ist und wohl von dieser Regierung nicht mehr in Angriff genommen werden kann. Und die hohe Inflation trifft am härtesten die, die sich am wenigsten dagegen schützen können: 2/3 der Bevölkerung, die kein Bankkonto haben und ausschließlich von ihren Löhnen und Einkommen leben. Die Inflation ist eine tägliche Umverteilung von unten nach oben. So kann es auch nicht verwundern, daß die fabelhaften Wachstumsraten von der Mehrheit der Bevölkerung kaum wahrgenommen werden: Nach Umfragen zu Jahresbeginn schätzen 84 % der Bevölkerung die Lage des Landes als schlecht oder sehr schlecht ein, während nur 2% sie für gut erachten. Und die Aussichten für 1994 sind kaum besser.


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Explosive Komponenten

Die bewaffnete Erhebung in Mexiko ist die wichtigste in diesem Land seit der Revolution von 1910. Die Explosion übersteigt bei weitem alle anderen bekannten Erfahrungen mit Guerillagruppen auf aztekischem Boden, einschließlich der ländlichen und städtischen Bewegungen der 70er Jahre.
Noch nie zuvor wurde ein Kontingent von 3.000 Aufständischen gesehen, die, von Frauen und Kindern begleitet, mit einem Schlag vier Ortschaften besetzten, unter ihnen solch große wie San Cristóbal de las Casas und Ocosingo.
Bei Lichte betrachtet, handelt es sich weniger um eine klassische Guerilla-Operation als um einen bewaffneten Massenaufstand. Mit explosiven Bestandteilen, wie etwa der klaren sozialen und ethnischen Identifikation der Kämpfenden: arme Campesinos aus dem ärmsten Staat Mexikos, und Indígenas vom Volk der Maya, in einer Provinz, in der sich die Großgrundbesitzer der Jagd von Indios widmen.

Gerüchteküche – je nach Gusto wird analysiert und interpretiert

Wer an einen klassischen “Guerilla-Foco” (Aufstandsherd, Anm. d. Red.) denkt, irrt sich. Ebenso derjenige, der ein Schema nach Art von Sendero Luminoso im Kopf hat. Das Zapatistische Befreiungsheer EZLN, das mit diesem Aufstand sein formales Debut gab, ist ein Heer, das sich bereits vorher angekündigt hat. Seit mehr als sechs Monaten reden Presse und politische Gerüchtebörse von Aufständischen, die sich still und heimlich in den bewaldeten und nebligen Hügeln von Chiapas vorbereiten. Schon vor sechs Monaten kündigten Campesinos, die heute Mitglieder der Milizen sind, in den Versammlungen ihrer Organisationen an, daß sie nicht wie sonst aussäen würden.
Ebenfalls vor sechs Monaten hörte ich während eines Abendessens im Hause von Jorge Castañeda, wie der Senator Porfirio Muñoz Ledo, Präsident der “Partido Revolucionario Democratico” (PRD) sagte, es gäbe keine derartige Guerilla. Vielmehr handele es sich um eine gigantische Provokation von Seiten des mexikanischen Innenministers Patrocinio González Garrido, der im Einvernehmen mit der Regierung von Chiapas handele. Ziel sei laut Meinung des Oppositionsführers, den Konflikt zu militarisieren, damit die Leute sich nicht der PRD anschlössen. Obwohl normalerweise recht scharfsinnig und gut informiert, scheint Muñoz Ledo sich in diesem Fall geirrt zu haben.
Auch wenn noch nicht alles vorüber ist, übersteigen die schwerwiegenden Geschehnisse schon jetzt den Rahmen einer möglichen Verschwörung, die einige dem militärischen Geheimdienst unterstellen. Laut letztgenannter Hypothese hätte ein Teil des mexikanischen Militärs, entrüstet über die wenig glanzvolle Rolle, die die Armee in den letzten sechs Jahren spielte -unter anderem wurde sie mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht – das “zapatistische” Phänomen wachsen lassen, um politischen Einfluß zurückzugewinnen. Dies klingt mir entschieden zu machiavellistisch.
Plausibler erscheinen dagegen andere Erklärungsansätze. Seit vielen Jahren – zehn Jahre sagen die einen, zwanzig die anderen – sollen sich einige überlebende Kader der Stadtguerilla “23. September” und der Landguerillas “Genaro Vázquez” und “Lucio Cabanas” in Chiapas festgesetzt haben, um ihre heimlichen Aktivitäten mit langfristiger Perspektive fortzusetzen. Die furchtbaren Rahmenbedingungen sozialer Ungerechtigkeit und politischer, ethnischer und sogar religiöser Verfolgung, die seit Jahrhunderten in dieser Grenzregion zu Guatemala herrschten, erleichterten der Guerilla die Arbeit. So soll es ihnen gelungen sein, sowohl der Regierungspartei PRI als auch der oppositionellen PRD einige Bauernorganisationen zu entreißen. Einige dieser Keimzellen hätten die Reihen der EZLN genährt. Die Regierung von Chiapas hat nach anderen Erklärungen gesucht. Sie beschuldigte die lokale Kirche und den Bischof Samuel Ruiz, mit dem sich die regionalen Autoritäten seit Jahren in einer erbitterten Konfrontation befinden.

Politikreflex: Wem nützt das alles?

Für die PRD, angeführt von dem Ingenieur Cuauhtémoc, erscheint die Situation ebenfalls nicht eindeutig. Einige Beobachter rechnen damit, daß bestimmte Kreise aus dem Umfeld der Regierung versuchen werden, die “Cardenistas” mit der EZLN zu identifizieren. Andere glauben dagegen, daß der PRD das Entstehen einer Guerilla links von ihr gelegen kommt, um das extremistische Profil abzuschütteln, das ihr angehängt werden soll, und sich dem magischen Zentrum anzunähern, wo sie die Wahlstimmen vermuten (oder vermuteten).
Die Regierung sieht auch , daß sich ein repressives Vorgehen im Zuge des kommenden Wahlkampfes kontraproduktiv auswirken könnte. Daher überrascht es nicht, daß Salinas zum Dialog aufgerufen hat. Paradox ist, daß Mexiko während der ganzen letzten Jahre im zentralamerikanischen Konflikt der vermittelnde und schlichtende Staat war. Jetzt, wo sich in der gesamten Region Friedensabkommen durchsetzen, explodiert der Krieg auf seinem eigenen Territorium.
Und nicht nur in Chiapas: In den letzten Monaten drangen mehr und mehr Meldungen an die Öffentlichkeit, daß es Guerillagruppen gibt, die sich seit Jahren im Hochland von Guerrero vorbereiten – in den gleichen Bergen, die die Guerilla von Lucio Cabanas beherrbergten, den gleichen, wo seit den achtziger Jahren der Drogenhandel seine blutige Spur hinterlassen hat. Haben die Zapatistas eine Verbindung zu den Guerilleros, die sich zur Zeit noch in den Bergen von Guerrero verbergen? Wird es nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren auch in Guerrero zu einer Explosion kommen?
Es ist schwierig, Voraussagen für Mexiko zu machen. Vor sechs Monaten besuchte der glänzende Präsidentschaftskandidat der PRI, Luis Donado Colosio, Las Margaritas, eine der vier Ortschaften, die zur Zeit von dem Zapatistischen Heer besetzt sind. Dort verteilte er wichtige Spenden. – Kurioserweise war Chipas der Staat, der im Rahmen des “Programa Nacional de Solidaridad” die meiste Unterstützung bekam.
So was soll vorkommen.

Der Argentinier Miguel Bonasso ist ehemaliges Mitglied der “Montonero”- Guerilla und arbeitet mittlerweile als Journalist.

gekürzt übernommen aus: Pagina/12 (Argentinien)


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Entflammte Proteste

In den Wochen und Monaten davor war es bereits in verschiedenen Provinzen des Nordwestens zu Demonstrationen gegen geplante Entlassungen im öffentlichen Sektor gekommen. Die Proteste richteten sich außerdem gegen die niedrigen Löhne und Renten und die monetaristischen Roßkuren der Regierung. Die Provinzregierungen stecken in der Klemme; sie können ihre Ausgaben nur mit Krediten und Vorschüssen der Zentralregierung decken. Diese verlangt aber Kostensenkungen durch Rationalisierung.
Am 9. Dezember hatten die Gewerkschaften der Staatsangestellten und DozentInnen in La Rioja gegen die geplante Entlassung von mehr als 6.000 Angestellten aus dem öffentlichen Dienst demonstriert. In La Rioja, wo Menem früher Gouverneur war, ist 90 Prozent der aktiven Bevölkerung im öffentlichen Dienst beschäftigt. Insgesamt sind das 54.000 Personen, davon 33.000 ohne klare Funktion. In La Rioja warfen die DemonstrantInnen Knallfrösche und Kanonenschläge, worauf die Polizei Tränengas einsetzte. Als sich die Demonstration auflöste, wurden ein Behördenfahrzeug und die Tür des Regierungsgebäudes in Brand gesteckt. Das Haus von Carlos Menem wurde mit Steinen beworfen, das seines Bruders, dem Senatsvorsitzenden Eduardo Menem, mit Beschimpfungen besprüht. Die argentinische Tageszeitung Pagina/12 titelte am 10. Dezember: “La Rioja brodelt”.

La Rioja brodelt –
Santiago brennt

In Santiago del Estero hatte bereits am 10. Dezember eine friedliche Demonstration stattgefunden, deren Forderungen – Zahlung der ausstehenden Gehälter, Rücknahme der angekündigten Entlassungen, Bekämpfung der Korruption – unerfüllt geblieben waren. Die Gewerkschaft der Staatsangestellten ATE (Asociación de Trabajadores del Estado), die dem oppositionellen Gewerkschaftsdachverband CTA (Congreso de Trabajadores Argentinos) angehört, rief für den 16. Dezember erneut zu einem Protestmarsch auf. Bereits am Mittag hatte die Provinzpolizei bereits ihre gesamte Munition an Tränengas und Gummikugeln verbraucht. Ab Mittag begann dann die heiße Phase der Demonstration: Neben den Regierungs- und Justizgebäuden wurden auch die Villa des Ex-Gouverneurs Iturre und die Privathäuser von weiteren 15 Abgeordneten der regierenden peronistischen Partei (PJ), der oppositionellen Radikalen Partei (UCR) und hoher Justizbeamter geplündert und angezündet. José Zavalía, der Caudillo der UCR in Santiago del Estero und einer der ersten seiner Partei, die Menems Pläne einer Verfassungsreform unterstützen, konnte nur mit der Pistole in der Hand die Plünderung seines Eigenheims verhindern.

Die Korrupten sichern sich ihre Einkommen

Das erste Mal seit Jahren nimmt die internationale Presse eine Demonstration gegen die Marginalisierung von Bevölkerungsgruppen und die sich ausbreitende Misere in Argentinien zur Kenntnis. Der Protest brach aus, nachdem die Provinzregierung ihren Angestellten noch Mitte Dezember die Löhne und Gehälter von Oktober schuldete. Zudem kündigte sie eine große Zahl von Entlassungen auf der untersten Gehaltsebene an, die im “Pacto Fiscal” mit der Zentralregierung vereinbart waren. Auf dieser Ebene liegen die Gehälter bei ungefähr 200 Pesos und stellen angesichts fehlender Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft eher eine versteckte Arbeitslosenversicherung dar. Die unvergleichlich höhere Besoldung der höchsten politischen Ämter sollte dagegen unangetastet bleiben. Ein Richter des Berufungsgerichtes der Provinz verdient im Monat 14.000 Pesos – in einem Bundesgericht allerdings “nur” 3.500 Pesos. Das Versprechen des Gouverneurs Fernando Lobo (PJ), diesem Mißstand zu begegnen und als erste Maßnahme sein eigenes Gehalt von 8.000 Pesos zu senken, hatte er mit seinem Amtsantritt vergessen. Lobo trat nach einer tiefen politisch-institutionellen Krise Ende Oktober als Vizegouverneur die Nachfolge des ebenfalls peronistischen Carlos Mujica an. Die Zentralregierung erklärte sich damals bereit, durch Vorabzahlung zukünftiger Steuereinnahmen der Provinzregierung aus der Liquiditätskrise zu helfen. Bedingung war allerdings, daß die Provinz ihre Ausgaben reduziere. Nach knapp zwei Monaten warteten die Provinzangestellten allerdings immer noch auf ihre Gehälter. Als einzige Rationalisierungsmaßnahme drohte einer Vielzahl von ihnen die Entlassung. Das sah ein Gesetz vor das die PeronistInnen gemeinsam Teilen der UCR verabschiedet hatten, “um die Regierbarkeit zu garantieren” und die Intervention der Provinz durch die Zentralregierung zu verhindern.

Santiago del Estero im Abseits

Santiago del Estero ist heute eine der ärmsten Provinzen Argentiniens und ohne wirtschaftliche Perspektiven. Das war nicht immer so: Die gleichnamige Hauptstadt kann mit Stolz von sich behaupten, die erste von den spanischen Eroberern 1553 gegründete Stadt des heutigen Argentiniens zu sein. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfügte sie auch über eine für damalige Verhältnisse weit entwikkelte Textilproduktion. Der örtliche Baumwollanbau versorgte die Küstenprovinzen und Buenos Aires. Die eigenständige Entwicklung der Manufakturen wurde, wie in vielen der Andenprovinzen, mit der Durchsetzung des Agroexportmodells ab 1880 und des damit verbundenen Imports von industriell gefertigten Textilien aus England unterbunden.
Seit der Kolonialzeit waren die einst für die Provinz typischen Quebrachowälder zum Großteil abgeholzt worden und die ehemalig waldige Provinz verwandelte sich auf großen Flächen in eine Wüste. Das heiße und trockene Klima trug zur Versalzung der Böden bei: Landbau und vor allem Viehzucht, Angelpunkte des wirtschaftlichen Entwicklungsmodells um die Jahrhundertwende, konnten sich in Santiago nicht gewinnbringend entwickeln. So gab es auch keine Grundlage für eine nachfolgende industrielle Entwicklung. Viele Santiageñas/os wanderten in die Städte des Litoral Buenos Aires, Rosario und La Plata ab. Die ländliche Selbstversorgung ging weitgehend verloren. Heute liegt das Bevölkerungswachstum unter dem argentinischen Durchschnitt; aufgrund der schlechten Gesundheitsversorgung sterben 15 von 1.000 Kindern. Auch das Erziehungswesen der Provinz ist miserabel. Wegen der Lehrerstreiks für Gehaltszahlungen fanden im vergangenen Schuljahr nur 52 Unterrichtstage statt. Die niedrigen Weltmarktpreise der Hauptprodukte der Provinz (Baumwolle, Quebracho-Holz, Wein und Oliven) vermindern die wirtschaftliche Aktivität zusätzlich und führen damit zum Verlust der ohnehin vorwiegend saisonabhängigen Arbeitsplätze in der Landwirtschaft. So überrascht es nicht, daß die Mehrzahl der aktiven Bevölkerung von einer Beschäftigung im öffentlichen Dienst als einziger Möglichkeit eines regelmäßigen Einkommens abhängig ist. Die politische Macht in Santiago del Estero basiert zu einem großen Teil auf Klientelismus, der Stimmen gegen Posten im öffentlichen Dienst tauscht und der Vergabe von öffentlichen Aufträgen an Firmen der Politiker, beispielsweise im Straßenbau.
Diese Pfründewirtschaft wurde am 16. Dezember vor den Augen der Kameras aufgedeckt: Die DemonstrantInnen brachen in die Villen der Politiker und hohen Beamten ein, schleppten Kisten von schottischem Whisky, Champagner und feinsten Weinen ab, probierten italienische Maßanzüge und “erwarben” zum ersten Mal importierte Audio- und Videogeräte.

Erfolgreicher Protest?

Die BundespolitikerInnen reagierten im allgemeinen verständnisvoll auf die kritische soziale Situation in Santiago del Estero und erkannten die Forderungen der DemonstrantInnen an. Allein Menem und Cavallo zeigten Reaktionen, wie sie für die Zeiten der Militärdiktatur typisch waren: Provokateure aus anderen Provinzen oder sogar aus dem Ausland sollten für die Ausschreitungen verantwortlich sein. So versuche angeblich Sendero Luminoso, in Nordargentinien Fuß zu fassen. Die Geheimdienste konnten derartiges aber nicht bestätigen. Presse und OppositionspolitikerInnen vertraten allerdings die Auffassung, der Aufstand sei eine Konsequenz der Anpassungspolitik, so daß Cavallo seine Argumentation schließlich änderte: Schuld am “estallido social” sei die Korruption der LokalpolitikerInnen, die aus persönlichem Interesse die Strukturreformen zu vermeiden trachteten und damit eine Verbesserung der Situation aufhielten.
Die Hauptsorge des Innenministers, Carlos Ruckauf, war das Versagen der Provinzpolizei bei der Aufstandsbekämpfung: Bis zum Tag der Demonstration vom 16. Dezember war nicht einmal klar, ob die Provinzpolizei überhaupt den Befehlen des Gouverneurs folgen würde, da die Provinzregierung auch der Polizei die Gehälter der letzten zwei Monate schuldete. Ruckauf schickte deshalb am Nachmittag des 16. Dezember Grenzschutztruppen zur Unterstützung nach Santiago del Estero. Als Konsequenz dieser Erfahrungen beschäftigt sich das Kabinett derzeit mit der Bildung “schneller Eingreiftruppen” zur Bekämpfung von Aufständen. Nach der staatlichen Intervention hat sich die Situation in Santiago del Estero vorübergehend etwas beruhigt. Juan Schiaretti, ein enger Vertrauter Cavallos erhielt aus dem Staatsetat einen Vorschuß und begann bereits 48 Stunden nach Beginn des Aufstands, die ausstehenden Gehälter zu bezahlen. Da ein Großteil der Akten in Flammen aufgegangen war erhielten alle Angestellten eine feste Summe von 500 Pesos, die RentnerInnen bekamen 300 Pesos. Außerdem wurden Strafverfahren wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder gegen den Ex-Gouverneur Carlos Mujica und weitere hohe Beamte der Provinzregierung eingeleitet. Das Anpassungsgesetz wurde vorerst ausgesetzt, und die Gehälter der obersten Provinzbeamten sollen auf das Niveau der des Bundesstaates gekürzt werden. Trotzdem gingen am 16. Januar über 2.000 Santiageñas/os auf die Straße, um den “Siestazo”, die zwei freien Tage zu feiern und ihre Forderungen zu wiederholen.

Santiago war nur der Anfang

Aufgrund der kritischen wirtschaftlichen Situation vieler nordargentinischer Provinzen könnte es sein, daß die Geschehnisse in Santiago del Estero nur einen vorläufigen Höhepunkt sozialer Aufstände darstellen. Auch im Chaco, in Tucumán, Salta, Catamarca und Jujuy kam es schon zu Protestdemonstrationen gegen die “Anpassungspolitik”. Und der Abschluß der GATT-Verhandlungen hat die Chancen der Provinzen eher noch verschlechtert.
Auch wenn derzeit ausländische Investitionen nach Argentinien fließen, offenbaren sich mit den Ereignissen in Santiago del Estero erneut die Widersprüche des neoliberalen Modells, die Horacio Verbitsky am 26. Dezember in Pagina/12 folgendermaßen beschreibt:
“Sind auch die Brände gelöscht, die Trümmer weggeräumt und die Asche weggekehrt, bleiben doch die grundlegenden Probleme bestehen, denen sich die Regierung Menem gegenübersieht. Die Korruption, die jetzt von allen in Santiago verurteilt wird, ist keine Anomalie, sondern eine Regierungsmethode, und das gilt nicht nur für diese eine Provinz, sondern für das ganze Land. Die mit der politischen Macht verbundenen überzogenen Gehälter und illegalen Geschäfte sind keine Schönheitsfehler des neoliberalen Modells, sondern eine Grundbedingung seiner Existenz. Die Stimmen im Kongreß oder in den Gemeinderäten, die Anwesenheit und sogar die Abwesenheit in den Sitzungen, alles hat einen Tarif, den die Schatzmeister der Regierung zahlen, ohne mit der Wimper zu zucken. Das erklärt so manchen plötzlichen Meinungsumschwung, wie er notwendig war, um einige äußerst umstrittene Gesetze wie die Privatisierung des Rentensystems zu verabschieden. (…) Die Korruption ist der Preis, den man den leitenden Parteipolitikern zahlen muß, damit sie ihren Überzeugungen, für die sie und ihre Partei gewählt wurden, abschwören und genau das Gegenteil tun. Wenn der “Bruder Eduardo” (Eduardo Menem) und die anderen Abgeordneten von ihrer Arbeit leben müßten, hätten sie Blei in den Armen und würden kaum ihre Hand heben, um ihre Stimme zugunsten der Übereinkünfte der Regierung mit den “Grupos Económicos” abzugeben. Die Korruptionsbekämpfung ist an sich gesund, denn sie dient tendenziell dazu, die Gesellschaft mit ihren Repräsentanten zu versöhnen. Aber das neoliberale Modell erlaubt dies bloß in einem sehr begrenzten und effektheischenden Rahmen, denn eine tiefgehende Bekämpfung dieses Übels würde die Grundlagen des Modells selbst in Frage stellen.”


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Ein Austausch von Gefälligkeiten

LN: Rodolfo Enrique Fogwill – Schriftsteller und Soziologe. Würdest Du Dich in erster Linie als Soziologe, Dichter oder Romancier bezeichnen?
Fogwill: Ich war lange Zeit Soziologe, bin es aber seit rund fünfzehn Jahren nicht mehr. Ich würde mich auch nicht als Poet oder Romancier bezeichnen. Ich mache beides, außerdem schreibe ich noch Essays und Erzählungen. Ich sehe mich vor allem als “Arbeiter des Wortes”.

Wenn man einmal Soziologe ist, ist man es dann nicht immer?
Nein, sowas verlernt man. Wenn man aufhört, die “Technik” der Soziologie anzuwenden, erinnert man sich zwar später an diese “Technik”, aber ihr Geist geht verloren. Und ich versuche, den Technik-Geist abzuwerfen. Ich glaube nämlich, daß man von dem Fachgebiet der Kommunikation unweigerlich ins Marketing abrutscht. Und damit in ein instrumentalisiertes Konzept der menschlichen Beziehungen. Durch die literarische Praxis kann ich das vermeiden, mich von der Vorstellung der Kausalität menschlicher Beziehungen befreien.

Wenn ich trotzdem noch mal Deine soziologische Vergangenheit heraufbeschwören darf: Welchen Stellenwert hat Deiner Meinung nach das Buch im Prozeß der sozialen Kommunikation?
Das ist natürlich sehr komplex, aber das Buch ist für mich schon eine Verzerrung des eigentlich Literarischen. Das Literarische hat in meinen Augen viel mit Geselligkeit zu tun. Durch Verführung ist soziales Leben zu erzeugen, besonders durch die Verführung von Kindern. Poesie, Erzählung und Roman haben ihre Wurzeln in den Erzählungen der Großeltern und der Eltern. Ich glaube, an diesem Punkt entsteht Literatur. Sie findet ihre gesellschaftliche Verwirklichung im Ritual, im Witze-Erzählen, in Gerüchten, Erzählungen, volkstümlichen Geschichten, Anekdoten. Dort ist Literatur genauso wie im Epischen; in der griechischen Vers-Epik. Das Buch eröffnet den Raum für das Gekünstelte, Technisierte, wo sich dieses andere Element allmählich verliert.

Du hast bisher nur von oraler Literatur gesprochen …
Das sind zwei dialektische Momente. Das eine ist die Entstehung der Schrift, wo der Mensch zu ersten Mal die Wörter sieht. Noch die griechischen Klassiker schrieben ohne Unterteilung in Worte. Sie schrieben in Lautketten. Die Erscheinung des geschriebenen Wortes bringt das Bewußtsein der Grammatik und des Wortes mit sich, Sachen die in der Sprache besser unbewußt funktionieren. Die Sprache ist wesentlich veränderbarer, wenn man die Grammatik nicht kennt. Der enorme Druck der Schrift ist der erste Schritt in die Digitalisierung der Sprache. Es ist ein sehr großer Sprung, vielleicht genauso groß wie der zweite Sprung, die Erfindung der Duckerpresse. Mit der Druckerpresse entsteht das stille Lesen. Und das Buch als Ware. Vorher war es viel wertvoller, aber eben kein Gegenstand des Marktes, es war ein Gegenstand des persönlichen Austauschs. Und wenn es Gegenstand des Handels war, so doch nicht des industriellen Marktes. Welchen Unterschied gibt es zwischen jemand, der über das, was er hört, nachdenkt und jemand, der über das, was er liest, nachdenkt? Und wie weit sind beide von jenen entfernt, die sich Gedanken über Produktion und Vertrieb machen?

Hat das Buch heute noch eine gesellschaftliche oder politische Funktion?
Schon, allerdings weniger als Buch. Das Buch ist ein Ritual, die Veröffentlichung eines Buches ist ein Ritual, verbunden mit dem Heiligsprechen der Figur des Schriftstellers. Hier beginnt die öffentliche Figur, die soziale Rolle des Schriftstellers. Dabei kommt es nicht darauf an, was in dem Buch steht, sondern einzig darauf, daß es institutionalisiert ist. Wenn Dein Buch von der Kultur akzeptiert ist, erscheint Dein Foto in der Zeitung und vielleicht kommst Du sogar ins Fernsehen. Und von da an hast Du, als öfffentliche Person, Einfluß. Egal, ob jemand deine Bücher liest, oder nicht. In Deutschland wird es nicht anders sein …

In der ersten Erzählung von Deinem Buch “Pájaros de la cabeza”, sagt der Protagonist, Alberto Marzó etwas in der Art wie “..Die Bosse arbeiten für ihre Ideen, wir dagegen arbeiten für Geld ..”
Genau. Und weißt Du auch, wer die Bosse sind? Nur sehr wenige haben es begriffen. Alberto Marzó ist ein Geheimdienstagent … Es gibt in der Erzählung nur zwei Hinweise: Zum einen das, was Du angesprochen hast, zum anderen, daß Marzó ein Maschinengewehr im Schreibtisch seines Büros hat. Eine Uzi. Die Erzählung ist aus dem Jahre 1981 oder 1982. Der Protagonist, der einen Porsche fährt, nimmt den Yuppie vorweg, er ist ein Yuppie. Und die Yuppies waren damals die Geheimdienstagenten.

Und Du, für was schreibst Du?
Für die Idee. Fürs Geld ganz bestimmt nicht. Ich schreibe immer gegen etwas, nie dafür. Für mich gibt es kein leeres Blatt Papier. Ich sehe darin immer einen Feind, keine Leere. Es ist eine Fülle von Bedeutungen, die mir mißfällt. Ich schreibe gegen diese Bedeutungen. Für die Idee. Was ist die Idee, wenn einer die Fünfzig erreicht hat? Oder die Vierzig und denkt, das ihm nicht mehr viel Zeit bleibt? Als ich damals diese Erzählung schrieb, dachte ich, es wäre bald vorbei. Ich glaubte, ich wäre verloren. Sagen wir, die Idee ist die Kontinuität des Bewußtseins in der Zeit, die durch die Kinder weitergetragen wird.. Die “Idee” in Anführungszeichen. Die Idee ist der Sinn, den man dem gesellschaftlichen Sinn entgegensetzen möchte. Kapriziös, etwas, was man sich ausgedacht hat. Aber gleichzeitig ist es auch das, was in den Köpfen der Söhne und Töchter bleibt. Ich habe drei Kinder und es wäre niederschmetternd, wenn sie nicht genauso fühlten wie ich. Mit den gleichen Abneigungen, den gleichen Empfindungen.

Kultur als Substitut

Vor einigen Jahren gab es in Buenos Aires ein ausgeprägtes literarisches und kulturelles Leben, mit Gesprächsrunden, Literaturzeitschriften, Buchhandlungen, die bis zum frühen Morgen geöffnet hatten, fast täglich Veranstaltungen im Kulturzentrum San Martín,..
Das ist alles künstlich – eine doppelte Maskerade und ein verlogenes Publikum. Auf der einen Seite ist da der Staat, der diese falsche Kunst finanziert und vorgibt, an der Kultur teilzunehmen. Und auf der anderen Seite die Leute, die durch ihre Beteiligung an der Kultur ebenfalls vorgeben, sie zu beeinflussen, obwohl sie sich eigentlich nur am gesellschaftlichen Leben beteiligen. An einem alternativen gesellschaftlichen Leben in dem Sinn, wie ihr “alternativ” gebraucht. Für mich hat das etwas von Substituieren. Ich meine, anstatt wirkliche Macht anzustreben oder wirkliche Lust, finden sie vermittelte Beteiligung an der Macht und eine metaphorische Variante der Lust. Ich glaube, im Kapitalismus bedeuten einzig Akkumulieren, Konsumieren und Dominieren Lust und Vergnügen. Und das kulturelle Leben ist ein kleines Modell dieser Akkumulation: .. ich habe diesen Film schon gesehen, jenes Buch bereits gekauft, und so weiter. Und natürlich eine bestimmte Form der Herrschaft, sozusagen im kleinen, die sich bei jenen, die die Öffentlichkeit darstellen, herausbildet.

Kulturpolitik versus Kunstgenuß

Mach es Dir einmal bewußt: Argentinien ist ein viel weniger religiöses Land als Deutschland. In Deutschland liegt Religion in der Luft. Alle deutschen Frauen huldigen der Natur, der ökologischen Ordnung, den Bäumen und Pflanzen. Warum trägst Du keine Klamotten aus Synthetik? Ihr huldigt der Kleidung, den Werten der Vergangenheit, der Arbeit. Religiosität ist in Deutschland viel lebendiger. Argentinien ist ein weltliches Land. Eine Argentinierin könnte genauso angezogen sein wie Du, allerdings hätte es bei ihr nichts Kulthaftes. Hier hat alles seine religiöse Ordnung. Wenn ihr hier davon redet, in die Berge zu fahren, oder an den See, kommt dabei der ganze Pantheismus durch, der deutsche Romantizismus. Für die Leute aus Buenos Aires hat die Natur ausschließlich touristischen und industrialisierten Charakter. Man findet keinen Strand ohne Sonnenschirme, Coca-Cola, Sauna, Prostitution und Musik. Für die Argentinier existiert die Natur nicht – ich meine, dort gibt es quasi keine Religiosität. Hier gibt es eine ausgeprägte Religiosität in den gesellschaftlichen Beziehungen. Und deshalb nehmen die Deutschen viel intensiver an der Kultur teil. Mir kommen sie reichlich naiv und auch dumm vor, aber sie sind viel eher in der Lage, Kunst zu genießen. Die Argentinier sind wesentlich subtiler, intelligenter und auch gekünstelter in ihrem Geschmack. In Argentinien gibt es keine Möglichkeit des naiven Konsums von Kunst. In Deutschland dagegen ist der Konsum von Kunst immer spontan und unbeschwert.

Und weshalb ist den Argentiniern dieser “naive” Genuß verwehrt?
Ich glaube, das ist eine Sache der Tradition. Argentinien ist das Land mit der vielleicht am weitesten entwickelten Kultur, was die gesellschaftliche Unterdrükkung durch die Kultur betrifft. Denn in Argentinien ist die Kultur eine Verteidigungsmaschine gegen die Einwanderung. Die Kultur trennte zu Beginn des Jahrhunderts den “wahren” Argentinier von den restlichen 70 Prozent, die nicht richtig argentinisch sprachen, weil sie aus Spanien, Italien, Deutschland oder Rußland kamen. Ich will damit sagen, in Argentinien ist die Kultur viel eher ein Mittel der Ausgrenzung, der Unterscheidung – so wie gute Kleidung … Hier ist es genau umgekehrt. Die Berliner verfolgen eine Politik der Schmeichelei, der Aufnahme der Einwanderer, (natürlich nicht alle, einige verbrennen sie auch …) weil sie sich ihrer Identität sehr sicher sind. Ihr hier in Deutschland könnt auf zweitausend Jahre zurückblicken. Die Argentinier, die seit fünfzig Jahren im Land waren, mußten sich von jenen abgrenzen, die erst seit zehn Jahren da waren. Die dritte Generation von Türken hier in Deutschland sind immer noch Türken, die zweite Generation von Polen in Argentinien sind bereits Argentinier. Also sind Kunst und Kultur bei uns Objekte der gesellschaftlichen Unterscheidung, sie hat eine ganz andere Funktion, als hier …

Was die Kulturpolitik betrifft. Unterscheidet sich das kulturelle Leben unter Menem von dem unter Alfonsín?
Nein, denn es gibt überhaupt keinen Unterschied zwischen Alfonsín und Menem. Ich glaube, was die Rolle des Staates betrifft, gibt es keinen Unterschied zwischen der Militärdiktatur und der heutigen Regierung. Die Leute, die unter den Militärs über die Kultur bestimmten, waren dieselben wie unter Alfonsín, mit anderen Vorzeichen, mit anderen Erscheinungsformen und es sind dieselben, die heute noch die Fäden in der Hand haben, dieselben Leute, dieselben Namen sogar.

Mehr Politik als Kultur

Ist denn auch die literarische Produktion, der literarische Diskurs gleich geblieben? Während der Diktatur gab es doch noch die sogenannte engagierte Literatur …
Das war viel früher, in den 60er Jahren. Aber als die Diktatur fiel, als die Regierung Alfonsín an die Macht kam, regte die Bourgeoisie, dieselben, die sich während der Diktatur bereichert hatten, die Künstler dazu an, Zeugnisliteratur über die Repression zu schreiben. So sollte das Bild der Militärregierung modifiziert werden. Es sollte nachher so aussehen, als sei die Militärregierung eine Regierung von Mördern und Sadisten gewesen. Aber so war es nicht, denn die Regierung war eine Allianz zwischen der Bourgeoisie und den Nordamerikanern. Sie töteten nicht etwa aus sexueller Perversion. Sie töteten, um die wirtschaftliche Reorganisierung durchzuführen, und indem sie den Mythos der Folter ins Leben riefen, von Frauen, denen eine Brust abgeschnitten wurde,- der vergewaltigten Kinder, natürlich gab es das auch – wie in jedem Krieg, aber mit diesem Mythos verschleierten sie die Tatsache, daß es in Argentinien einen riesigen Einkommens- und Eigentumstransfer gab. Die Klassenstruktur wurde total verändert. Die Gehälter sanken drastisch. Aber ich habe schon vorher daüber geschrieben. In meinem Buch “El efecto de realidad” habe ich 1978 ein Gedicht über die Verschwundenen geschrieben. Dort heißt es fast wörtlich, daß die Verschwundenen in Wirklichkeit die Schöpfung einer literarischen Persönlichkeit sind, die bald auf den Büchermarkt geworfen würde. Das war bereits 1978. Deshalb war es für mich so schmerzhaft, als ich 1983 entdeckte, was da passierte. Es wäre mir natürlich lieber gewesen, ich hätte mich geirrt. Der ganze Lärm von wegen argentinischem Faschismus und so – mit dem deutschen Nationalsozialismus beispielsweise war das in keiner Weise vergleichbar. Jedenfalls wurde dadurch der klassenkämpferische Charakter des Prozesses verdunkelt.
Genau wie die Sache mit Menems Ferrari, mit seinen Luxusprostituierten, seinen Perücken und plastischen Operationen. Sie sind Teil so einer Art Folklore, die das Eigentliche des Menemismus verschleiert. Für diejenigen, die die Repression der Militärs am eigenen Leib gespürt haben, ist das vielleicht noch schmerzlicher. Natürlich waren das verrückte Militärs, die in einer Provinz die euklidische Geometrie verboten hatten. In Córdoba wurde der Unterricht in Topologie verboten, weil die moderne Mathematik angeblich antiaristotelisch und somit antichristlich, also marxistisch war. Doch das war eigentlich nur Folklore. Das, was in Córdoba wirklich passierte, ist, daß die nationale Automobilindustrie, etwa auf dem Gebiet der “Indústrias Kayser” von “Renault” übernommen wurde. Das mit der Mathematik war Teil der Folklore.
Und jedesmal, wenn Menem eine Wirtschaftsmaßnahme ergreift, eine sehr wichtige Maßnahme, wie beispielsweise die Verfolgung der Arbeiter des informellen Sektors durch die Polizei, oder wenn er mit dem Etat der Rentenversicherung die Schulden an den Internationalen Währungsfonds bezahlt, dann sorgt er mit seinem Ferrari für Furore oder geht auf irgendeine Drogenparty, verstehst Du – das ist Folklore.

Pressefreiheit?

Noch eine Frage zum Thema Repression: Nach unseren Informationen wird auf Journalisten in Argentinien heute wieder starker Druck ausgeübt (vgl. LN 235). Wie schätzt Du die Pressefreiheit dort ein?
Argentinien ist ein repressiver Staat, jeder Staat ist repressiv. Auf dem Gebiet der Kultur sind die Grenzen abgesteckt. Der herrschende Block hat sich etabliert und es droht keine Gefahr für die Ordnung. Auf dem Gebiet des Journalismus ist die Schlacht noch nicht geschlagen. Ich meine damit die Schlacht verschiedener Bereiche innerhalb derselben Klasse. Insbesondere hat sich noch nicht herauskristallisiert, welche Wirtschaftsgruppe den Staat, die Industrie, den Finanzmarkt und die Presse gleichzeitig beherrscht. Es handelt sich dabei immer um dieselben Gruppen, die alles dominieren. Also gibt es Konflikte. Und ich glaube, die Position des Staates ist es, den Konflikt zu beseitigen, jedenfalls dort, wo er die Möglichkeit dazu hat, also bei allem, was mit Korruption zu tun hat, mit dem Unternehmensbereich, der dem Staat das Geld klaut und schon stark mit dem Drogenhandel verknüpft ist. Ich würde nicht ausschließen, daß alle Fälle, in denen Journalisten dieser Repression ausgesetzt sind, mit Erpressung und der Kritik an Korruption und Drogenhandel zu tun haben. Auf allen anderen Gebieten herrscht Pressefreiheit. Aber diese Punkte sind sehr heikel. Um dem Staat auf diesen Gebieten die Stirn zu bieten, muß man schon eine starke Lobby haben, das heißt, man braucht die Unterstützung der Nordamerikaner, beispielsweise der nordamerikanischen Botschaft. Ein einzelner Argentinier, der sich hier entgegenstellt? Erst einmal wird es niemand veröffentlichen, und wenn es doch veröffentlicht wird, kann es sein, daß er stirbt. Es handelt sich um eine Mafia. Dabei geht es um 20 Milliarden Dollar pro Jahr, das ist viel Geld …

Rückzug aus der Öffentlichkeit

Was mich doch zum Schluß noch interessieren würde: Bis Mitte der 80er Jahre bist Du oft zu Diskussionsveranstaltungen gegangen, hast Dich mit anderen Schriftstellern im Café La Paz getroffen und warst immer mit der Aura des enfant terrible umgeben. Dann hast Du Dich aber zurückgezogen. Warum?
Es gab zwei große Ereignisse in meinem Leben, die mich zum Nachdenken gebracht haben. Ich hatte mir ein großes Publikum aufgebaut. Zwar stimmt es, daß rund 80 Prozent gegen mich waren, aber alle erwarteten irgendwas von mir. Und es war schon fast soweit, daß ich für mein Publikum schrieb. Dabei wollte ich doch für meine Idee schreiben.

Und vorher?
Ich habe immer für meine Idee geschrieben. Aber nach und nach bildete sich dann dieses Publikum, dieser ganze Rummel. Zu allem mußte ich eine Meinung haben – habe ich aber nicht. Also bin ich nicht mehr hingegangen. Nur ab und zu, wenn in der Literaturszene allzuviel intrigiert wird, melde ich mich zu Wort und schreibe Kritiken über junge Autoren.

Veröffentlichst Du weiterhin politische Essays in Zeitungen?
Nein. Früher habe ich das oft getan und sie waren immer politisch. Heute veröffentliche ich nichts mehr in Zeitschriften. Höchstens ab und zu mal eine Reportage und manchmal eben Kritiken. Es hat mir nicht gutgetan, in Zeitschriften und Tageszeitungen zu publizieren.

Warum nicht?
Wie ich schon gesagt habe, weil das, was ich schreibe, die Leute immer sehr provoziert und es bildet sich ein sehr künstliches Publikum heraus. Es existiert eine große Erwartungshaltung mir gegenüber. Ich würde lieber so schreiben, als ob ich als Person gar nicht existierte.

Auf welcher Ebene gibt es einen literarischen, einen intellektuellen Austausch in Buenos Aires?
Das ist nur ein Austausch von kleinen Gefälligkeiten zwischen den Schriftstellern und ihren Freundinnen, die Journalistinnen sind. Die schreiben dann in Literaturbeilagen, oder, wenn sie Geld haben, geben sie zwei, drei Ausgaben einer Zeitschrift heraus, in der dann dein Foto erscheint. Es ist ein Systemzur Aufrechterhaltung von Geselligkeit. Weiter nichts.

R.E. Fogwill: El efecto de realidad (Gedichte, 1979), Las horas de citas (Gedichte, 1980), Mis muertos punk (Erzählungen, 1980), Música japonesa (Erzählungen, 1982), Los Pychy-ciegos (Roman, 1983), Ejercitos imaginarios (Erzählungen, 1983), Pájaros de la cabeza (Erzählungen, 1985), Partes del todo (Gedichte, 1990), La buena nueva (Roman, 1990), Una pálida historia de amor (Roman, 1991), Muchacha punk (Erzählungen, 1992). Auf deutsch erschien die Erzählung “Im Lichtkegel” in: Erkundungen. 21 Erzähler vom Rio de la Plata, hrsg. v. Haus der Kulturen der Welt, Berlin: Volk und Welt GmbH 1993, 24,80 DM


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Kreative Unruhe inmitten des ökonomischen Desasters

Es ist eine seltsame Sturmnacht. Wind und Regen peitschen von der Karibik her gegen das kolumbianische Festland. Krebse krabbeln aus der Gischt und retten sich an Land. Ein Baby wird unruhig. In Windeseile bedeckt das glitschige Getier den Boden der Strohhütte. Das Baby schreit. Draußen hat das Unwetter ein anderes verstörtes Wesen an den Bootssteg gespült: “Un señor muy viejo con unas alas enormes” – einen sehr alten Herrn mit enormen Flügeln. Ein Geschenk des Himmels?
Fernando Birri, Kuba, 1989

Wie jeden Tag sitzt sie in der Küche und weint beim Zwiebelschneiden, als sie spürt, daß es soweit ist: Der gewölbte Unterleib krampft sich zusammen, die Fruchtblase platzt, und ein Meer von Tränen ergißt sich über die Holzdielen, schwappt bis zur Türschwelle. Das Mädchen, das in diesem Moment das Licht der Küchenfunzel erblickt, wird den Großteil seines Lebens in diesem Raum verbringen und als Köchin kleine Wunder vollbringen. Tief im Inneren wird sie sich nach den samtigen Schlafzimmeraugen ihres Geliebten und späteren Schwagers verzehren. Sie gehören zueinander “como agua para chocolate” – wie das Wasser und die Schokolade, die sie ihm täglich in emsiger Fürsorge zubereitet…
Alfonso Arau, Mexiko, 1992

Mexikanische Knäste sind nicht besonders angenehm, dieser ist keine Ausnahme: Die Mittagshitze brennt aufs Wellblechdach, apathisch hängt die Wärterin hinterm Schreibtisch und zählt Schmiergeld. Auch der einzige Insasse langweilt sich – und sinnt auf Rache: Er weiß, wessen Verrat er diesen Aufenthalt verdankt. Da ist das Schlagen einer Autotür zu hören. Breitbeinig, die Knarre im Anschlag, betreten sie die Baracke. Damit der Chef die neue Freiheit auch genießen kann, haben sie ihm gleich was mitgebracht: einen schwarzen Gitarrenkoffer – drinnen eine kleine Waffensammlung. Der Weg ist frei für die Revanche – wenn da nicht ein unschuldiger “Mariachi”-Sänger mit einem ähnlichen Koffer wäre…
Roberto Rodriguez, Mexiko, 1992

Von einem Tag auf den anderen beschließt er, das wenige zu verkaufen, was er sich in all’ den Jahren als Sargtischler erarbeitet hat. In La Paz begreift niemand, warum er zurück will in sein Aymara-Dorf. Vor Jahren hatte ihn die Gemeinschaft verstoßen: Er hatte Geld unterschlagen. Eine rituelle Tanzmaske auf den Rücken geschnallt, macht er sich zu Fuß auf den Weg, um dort zu sterben, wo er hingehört: zur “nación clandestina” – der geheimen Nation.
Jorge Sanjinés, Bolivien, 1991

Bloß raus aus dem feuerländischen Winter, weg vom spießigen Stiefvater, der resignierten Mutter, den Schikanen in der Schule und der verwickelten Liebesaffäre. – Wohin? Mal sehen: erst mal mit dem Rad durch Patagonien, dann weiter nach Norden… Quer durch den unbekannten lateinamerikanischen Kontinent, auf den Spuren des Vaters, der vor Jahren das Weite suchte: “El viaje” – die Reise – vielleicht ist der Weg schon das Ziel?
Fernando Solanas, Argentinien, 1992

Eingangsquenzen von fünf lateinamerikanischen Filmen, die in den letzten Jahren entstanden: Ein Panoptikum unterschiedlicher Geschichten und Bildsprachen. Nicht alle haben eine klare “mensaje”, eine politische Botschaft. Im Gegenteil: “El Mariachi” und “Como agua para chocolate” stehen eher in der Tradition populärer Unterhaltungsgenres, treiben sie auf die Spitze, lavieren zwischen parodistischer Brillianz und schnöder Trivialität hin und her.
Ganz anders dagegen Filme wie “La nación clandestina” und “El viaje”. Auf sehr unterschiedliche Art und Weise befassen sie sich mit der Suche nach einer persönlichen und kollektiven Identität: “La nación clandestina” des Bolivianers Sanjinés hält sich als künstlerisches Werk zurück. Der Film, der mit Aymara-Indígenas in ihrer Sprache gedreht wurde, paßt sich in Tempo und Schnittfolge der Lebensphilosophie dieses Volkes an. Ganz anders dagegen der abenteuerliche Trip von Solanas Protagonisten, einem Jungen aus dem weißen Mittelstand: “El viaje” ist vom ständigen Wechsel der Verkehrsmittel, der Umgebung, der Eindrücke geprägt: Ein surreal-dekadentes Argentinien, von Wassermassen überschwemmt und in seiner eigenen Scheiße erstickend. Ein postkartenschönes Machu Picchu, das inmitten des touristischen Rummels Ahnungen von der präkolumbianischen Vergangenheit aufsteigen läßt. Ein von grotesken Gegensätzen zerrissenes Brasilien, in dem es futuristische High-Tech-Metropolen gibt, während gleichzeitig im Amazonasgebiet Minenarbeiter sich zu Tode schuften müssen wie schon zu den Zeiten der Conquista. – Zwei Filme, der eine von stoischer äußerer Ruhe und Verschlossenheit, der andere opulent, teilweise überladen mit Eindrücken und Metaphern – Porträts der widersprüchlichen Gesichter eines Kontinents.

Filme zur Conquista: Jubiläumsspektakel oder kultureller Dialog?

Pünktlich zum Jahr 1992 entstanden auch einige Filme, die sich direkt mit der Geschichte der Eroberung Amerikas auseinandersetzen: Im Gegensatz zu den US-amerikanischen Mammutschinken “1492” und “Columbus”, die sich auf die Heldengestalt des “Entdeckers” bezogen, erzählen “Jericó” (Luis Alberto Lamata, Venezuela, 1991) und “Cabeza de vaca” (Nicolás Echevarría, Mexiko, 1991) andere Versionen vom “Aufeinandertreffen zweier Welten”, die ebenfalls auf historische Quellen zurückgehen: In beiden Fällen sind die Protagonisten spanische
Conquistadoren, die von ihrer Armee getrennt werden, nach und nach immer mehr vom alten Ich abstreifen, in die fremde Umgebung und Kultur eintauchen – bis sie gegen ihren Willen von den Spaniern “gerettet” und in die “Alte Welt” zurückgeholt werden.
Das Paradoxe ist, daß die meisten dieser “500 Jahre”-Filme nur mit Hilfe von Geldern aus Europa realisiert werden konnten. Besonders der staatliche spanische Fernsehsender TVE ließ sich das historische Gedenken schon einiges kosten und trat als Koproduzent bei der Finanzierung einiger Filme auf – unter anderem bei “La nación clandestina” von Sanjinés und “Un señor muy viejo con unas alas enormes”, den Fernando Birri nach einer Kurzgeschichte von Gabriel García Márquez verfilmte.

Allgemein konnte im letzten Jahr durchaus der Eindruck enstehen, als ob die europäische Medienöffentlichkeit ganz wild darauf sei, die koloniale Vergangenheit durch eine hohe Durchlaufzahl von lateinamerikanischen Filmproduktionen aufzuarbeiten. Sowohl auf den Leinwänden der Filmfestivals als auch in der ersten Reihe bei ARD und ZDF waren so viele amazonische Ureinwohner und großstädtische Straßenkinder zu sehen wie nie zuvor. Jetzt, wo der Jahrestag der Betroffenheit abgefeiert worden ist, scheinen sich die Bedürfnisse des Marktes und das Angebot in den Massenmedien erst mal wieder in andere Weltregionen verlagert zu haben.

Zwischen “Ästhetik des Hungers” und Happy End für “Juliana”

Und wie sieht es in Lateinamerika selbst aus? Mehr als 30 Jahre sind seit der Entstehung des Neuen Lateinamerikanischen Films vergangen. Beeinflußt von der kubanischen Revolution und linken Bewegungen anderswo auf dem Kontinent, versuchten in verschiedenen Ländern FilmemacherInnen, neue Wege zu gehen. Stilistisch waren sie unter anderem vom italienischen Neorealismus oder vom Surrealismus Luis Buñuels beeinflußt, der damals im mexikanischen Exil lebte. Das Kino sollte keine illusionistische Traumfabrik sein, sondern Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und gleichzeitig Motor politischer Veränderungen. Entsprechend programmatisch waren die Namen: “Cine Imperfecto”, “Cine de Liberación”, “Ästhetik des Hungers”. Regisseure wie Fernando Solanas und Octavio Getino (Argentinien) propagierten ein “Drittes Kino” in Abgrenzung sowohl von der kommerziellen Filmindustrie als auch vom individualistischen Autorenkino.
Ziel war die “Entkolonialisierung der Köpfe” – Film als politisches und pädagogisches Instrument: Entsprechend groß war auch die Bedeutung, die dem Kino in Kuba und auch im sandinistischen Nicaragua beigemessen wurde. Einige dieser Filme beeindrucken nicht nur durch die “Botschaft”, sondern auch durch die expressive Bildsprache: Zum Beispiel “Lucía” von Humberto Solás (Kuba, 1968), der die Geschichte Kubas anhand dreier Frauen aus unterschiedlichen Epochen dieses Jahrhunderts zeigt. Andere Filme arbeiteten dagegen vorwiegend mit dem didaktischen Zeigefinger: Die Charakterisierung der Personen wurde dem vereinfachenden Pinselstrich des “sozialistischen Realismus” untergeordnet.
Einige RegisseurInnen oder Filmkollektive versuchten, nicht nur die Inhalte zu “revolutionieren”, sondern auch die Entstehung eines Films zu einem Gemeinschaftsprojekt zu machen: In den achtziger Jahren arbeitete Grupo Chaski in Peru fast ausschließlich mit LaiendarstellerInnen, die aus ähnlichen Lebensverhältnissen stammten wie die Personen des Films. Ihre Erfahrungen sollten in die Handlung einfließen. Dieser Anspruch wurde allerdings nur begrenzt realisiert – unter anderem, da es nicht gelang, mit gruppeninternen Hierarchie- und Machismo-Konflikten fertigzuwerden. Bei den Filmen von Grupo Chaski flossen Realität und Fiktion ineinander. Und auch Wunschträume hatten ihren Platz, beispielsweise bei dem Film über das Straßenmädchen “Juliana” (Peru 1989), der auf Wunsch der Kinder, die mitspielten, ein Happy End bekam. – Dies löste übrigens bei der Präsentation des Films in Europa bei vielen BetrachterInnen Befremden aus, wurde angesichts der Situation in Peru als unpolitisch und naiv angesehen…

Vor dreißig Jahren: Aufbruch trotz wirtschaftlicher und politischer Zwangsjacken

Das Neue Lateinamerikanische Kino sah sich natürlich von Anfang an mit großen ökonomischen Problemen konfrontiert. Nur in wenigen Ländern, wie etwa Argentinien, Brasilien und Mexiko, gab es eine funktionierende Infrastruktur im Filmbereich, die in erster Linie der Herstellung kommerzieller Unterhaltungsspektakel diente. In den siebziger Jahren begannen Länder wie Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru und Venezuela, Gesetze zur Förderung der nationalen Filmindustrie zu verabschieden. So schreibt beispielsweise seit 1972 ein Gesetz in Peru vor, daß in den Kinos vor jedem ausländischen Spielfilm ein peruanischer Kurzfilm gezeigt werden muß und ein Teil der Kinoeinnahmen seinen ProduzentInnen zufließt. Dies führte immerhin dazu, daß zwischen 1972 und 1990 mehr als 800 Kurzfilme entstanden.
Während der Zeit der Militärdiktaturen in Argentinien, Chile, Bolivien und anderen Ländern waren viele FilmemacherInnen gezwungen, ins Exil zu gehen. Erst die Rückkehr der Länder zur formalen Demokratie brachte wieder Impulse für den Film, der zum Sprachrohr der progressiven Bewegungen wurde: In Argentinien entstanden ab Mitte der achtziger Jahre eine Reihe von Werken, die sich mit der Zeit der Diktatur auseinandersetzten, so etwa “La historia oficial” von Luis Puenzo (“Die offizielle Geschichte”, 1985), “La noche de los lápices” (“Die Nacht der Bleistifte” 1986) von Héctor Oliveira und “Sur” (Süden, 1987) von Fernando Solanas.

Ökonomische Krise und Videoboom: schlechte Zeiten fürs Kino

Die neunziger Jahre sind für das lateinamerikanische Kino nicht gerade die Zeit der großen Hoffnungen, und das hat in erster Linie ökonomische Ursachen: Die in den meisten Ländern ohnehin nicht sehr stabile Filmindustrie leidet zum einen unter der immer größeren Konkurrenz durch Fernsehen und Video. Die ökonomische Krise der letzten Jahre und vor allem die neoliberale Wirtschaftspolitik haben gleichzeitig die Kaufkraft so weit geschwächt, daß ein Kinobesuch auch für Leute aus der Mittelschicht zum Luxus geworden ist.
Als Konsequenz des Publikumsschwundes mußten in den vergangenen sechs Jahren mehr als die Hälfte der Kinosäle in Lateinamerika schließen. Die übrig gebliebenen Lichtspielhäuser setzen vorwiegend auf US-amerikanische Massenware. Oft werden sie auch von den Verleihfirmen dazu verpflichtet, mehrere Streifen en bloc einzukaufen, was es schwer macht, unabhängig produzierte in- oder ausländische Filme ins Programm zu nehmen.
Anders als in der Fernsehindustrie gibt es im Filmbereich kaum Strukturen für den Vertrieb und Austausch lateinamerikanischer Produktionen. Mit paradoxen Folgen: Die Wahrscheinlichkeit, einen kolumbianischen Film in einem Programmkino in Köln oder einem Dritte Welt Zentrum in Münster zu sehen, ist weitaus größer als die Möglichkeit, das Werk im Nachbarland Ecuador zu Gesicht zu bekommen. Das gilt auch für viele Filme, die internationale Preise erhalten haben.
Insbesondere die brasilianische Filmindustrie wurde von den Privatisierungen unter Collor de Mello stark getroffen. Dieser löste nach seinem Amtsantritt die staatliche Filmförderungsbehörde Embrafilm auf und schaffte das Gesetz ab, das den brasilianischen Filmen eine Abspielmöglichkeit garantierte. – Mit dem Ergebnis, daß das Land, das zeitweise bis zu 90 Filme pro Jahr produzierte, seit Anfang der neunziger Jahre nur noch durchschnittlich 3 Filme herstellt. Die Programmlücken, die so im Kinoangebot entstanden, wurden rasch mit US-Produktionen gefüllt.
Lediglich Mexiko gelingt es nach wie vor, seine – größtenteils recht kommerziell orientierte – Filmproduktion relativ stabil zu halten. Dies liegt zum einen an der vergleichsweise sicheren politischen und ökonomischen Situation des Landes. Wichtig für die künstlerische Filmproduktion sind die Aktivitäten des staatlichen “Instituto Mexicano de Cinematografía” (IMCINE), das unter anderem gezielt junge FilmemacherInnen fördert. Einige Filme wurden sogar kommerzielle Erfolge im Ausland, zum Beispiel “Como agua para chocolate”: In den USA wurde das Küchendrama überraschend zum Kassenschlager und spielte allein in den ersten 16 Wochen 8,5 Millionen Dollar ein.
Und wie steht es mit Kuba? In den drei Jahrzehnten nach der Revolution entstand auf der Insel unter Federführung des nationalen Filminstitutes ICAIC eine Filmindustrie, die zwischen 1984 und 1990 ungefähr 10 Spielfilme pro Jahr sowie zahlreiche Kurz- und Dokumentarfilme produzierte. Entscheidend ist allerdings nicht die Anzahl der Filme, sondern die politischen Impulse, die vom kubanischen Film ausgingen, sowie die Infrastruktur, die der kubanische Staat aufbaute und auch Filmschaffenden anderer Länder zur Verfügung stellte.
So wurde 1986 auf Kuba die “Filmschule der drei Welten” gegründet – ein weltweit einmaliges Projekt, das jungen Leuten aus Lateinamerika, Asien und Afrika die Möglichkeit bietet, gemeinsam zu studieren und sich auszutauschen. Das Internationale Filmfestival von Havanna, das seit 1980 jährlich stattfindet, entwickelte sich schnell zum wichtigsten Forum des lateinamerikanischen Films.
Die ökonomische Krise, unter der Kuba seit dem Zusammenbruch der Länder des Warschauer Paktes leidet, hat natürlich auch Auswirkungen auf die Filmindustrie: So konnten im vergangenen Jahr nur zwei Spielfilme fertiggestellt werden. Folglich fand das Filmfestival in Havanna in den letzten beiden Jahren in einer Atmosphäre der Widersprüche statt: Inmitten des immer größer werdenden Mangels gelang den OrganisatorInnen zwar das Kunststück, einen reibungslosen Ablauf des Festivals zu organisieren. Gleichzeitig sorgte 1992 die de-facto-Zensur des kubanischen Films “Alicia en el pueblo de las maravillas” (“Alice im Wunderland”), einer systemkritischen Satire von Daniel Díaz Torres, für einen Skandal.

Lateinamerikanische Filmkooperation – erste zaghafte Schritte

Was ist aus der kontinentalen Vision der Väter – und wenigen Mütter – des Neuen Lateinamerikanischen Films geworden, die sich 1967 im chilenischen Badeort Viña del Mar zum ersten lateinamerikaweiten Treffen versammelten?
1986 wurde von Filmschaffenden aus verschiedenen Ländern die “Fundación del Nuevo Cine Latinoamericano” (“Stiftung des neuen lateinamerikanischen Kinos”) ins Leben gerufen, die sich zum Ziel gesetzt hat, “die nationalen und kulturellen Werte Lateinamerikas wiederzubeleben” und die bereits bestehenden Bewegungen auf kontinentaler Ebene zu verknüpfen. Auf Initiative der Stiftung, die ihren Sitz in Havanna hat, wurde beispielsweise 1989 die “Conferencia Iberoamericana de Autoridades Cinematográficas” CACI (“Iberoamerikanische Konferenz der Filmbehörden”) gegründet. Ziel ist, die Zusammenarbeit staatlicher Institutionen und der Filmindustrien auf dem Kontinent zu verbessern und verstärkt Koproduktionen herzustellen. Mittlerweile haben 13 Länder eine “Ibero-amerikanische Film-Vereinbarung” unterzeichnet, die unter anderem die Einrichtung einer jährlichen internationalen Filmkonferenz vorsieht. Auch soll ein Exekutivorgan geschaffen werden, das die gesetzliche und praktische Umsetzung der Vereinbarung in den verschiedenen Ländern überprüft. – Ein gemeinsamer lateinamerikanischer Filmmarkt – die Patentlösung gegen die erdrückende Dominanz der US-amerikanischen Medienindustrie? Gabriel García Márquez, einer der Gründer der “Stiftung des neuen lateinamerikanischen Films”, betont, das Ziel sei nicht, die US-Konzerne aus dem Geschäft zu drängen, sondern lateinamerikanischen Filmen die gleichen Vertriebs- und Präsentationschancen zu verschaffen.
Der lateinamerikanische Film, ein schillernder Vogel, zur Zeit ziemlich gerupft, versucht, ökonomisch fliegen zu lernen. Ein schweres Unterfangen in einer Zeit, in der die wirtschaftliche Krise eine solch beklemmende Schwerkraft entwickelt wie in den neunziger Jahren.


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POONAL – vernetzte Nachrichten

Bündelung von Agenturen

Sie verstehen sich als alternative Medien, die im Gegensatz zu den herkömmlichen Agenturen aus Sicht der Bevölkerung und nicht im Sinne der Herrschenden informieren wollen. Repression, soziale Mißstände und das Aufzeigen von Alternativen stehen im Mittelpunkt der Berichterstattung. Viele stehen auch in engem Bezug zu politischen Bewegungen ihrer Heimatländer und arbeiteten auf kommunikativer Ebene für den Sturz diktatorischer Regime. Die wichtigsten unter ihnen waren früher SALPRESS aus El Salvador, die guatemaltekische Agentur CERIGUA, ANN aus Nicaragua, andere stammten aus Uruguay, Chile, Argentinien über Honduras bis hin zu “Prensa Latina” aus Kuba.

Anspruch und Realität

Zum einen sollten sich die bisher isoliert arbeitenden Agenturen gegenseitig darin unterstützen, die persönlichen Kontakte besser zu nutzen. Andererseits sollte durch die gemeinsame Herausgabe von Nachrichtenmaterial der Verbreitungsradius der einzelnen Agenturen erweitert werden. Insbesondere sollte ein Zugang zur bürgerlichen Presse gefunden werden. Zwei Agenturen wurden für ein Jahr für die Koordinierung gewählt, regelmäßige Treffen und Beitragszahlungen vereinbart. Weitere Agenturen sollten hinzugewonnen werden.
Die Ansprüche waren hoch, doch die Umsetzung war schwierig. Erstes Hindernis war die zusätzliche Arbeitsbelastung, die eine solche Koordinierung erforderte. Jede Agentur hatte mit finanziellen und personellen Engpässen zu kämpfen, und die eigene Arbeit hatte stets Priorität vor der Vernetzung. Hinzu kamen, wie leider immer und überall bei linken Projekten, ideologische Differenzen. Auch die Herausgabe eines gemeinsamen Nachrichtendienstes in Mexiko, der die großen Zeitschriften per Fax informierte, konnte nur für kurze Zeit realisiert werden. Die Initiative drohte bald wieder einzuschlafen.

Versuche von Süd-Süd-Kommunikation

Ein Rückblick auf die fortschrittliche “Dritte Welt”-Berichterstattung der letzten Jahrzehnte zeigt, daß auch andere, größere Initiativen vor ähnlichen Problemen standen. Einziges bis heute erfolgreiches Agenturenprojekt ist ips (Inter-Press-Service), das seit 1964 aus und über die “Dritte Welt” berichtet und mit seinen Nachrichtentickern eine vergleichsweise gute Verbreitung gefunden hat. Weniger effektiv war der “pool del tercer mundo”, mit dem seit Mitte der 70er Jahre eine Vielzahl von blockfreien Ländern versucht, die Vorherrschaft der multinationalen Agenturen zu brechen. Trotz weltweiter Konferenzen konnte nie die Idee eines wirklichen Pools realisiert werden. Im Kontext der UNESCO-Forderung nach einer neuen Weltkommunikationsordnung 1983 entstand die lateinamerikanische Agentur ALASEI, die neben politischen auch kulturelle Aspekte verbreiten wollte. Geldmangel ließ auch dieses Projekt nach weniger als zehn Jahren in die Bedeutungslosigkeit abrutschen.
Kleineren Agenturprojekten ist es bisher nicht gelungen, ihre Nischen zu verlassen. Das 1984 in Asien gegründete “Dritte Welt Netzwerk”, dessen lateinamerikanischer Zweig in Uruguay sitzt, verbreitet Nachrichten und Analysen sogar weltweit. Doch es gelingt nicht, kontinuierliche Präsenz zu zeigen. Die Mitarbeit der Mitgliedsmedien fluktuiert stark. Deshalb wurde inzwischen der Anspruch eines umfassenden Netzwerkes aufgegeben: “Das Ganze läuft nur, wenn einzelne die Initiative ergreifen. Dafür stellen wir die Infrastruktur zur Verfügung,” sagt Alberto Brusa, Mitarbeiter des “Dritte Welt Netzwerkes” in Uruguay. Eine ähnliche Einzelinitiative ist die Agentur “apia” in Nicaragua, die aus der österreichischen Solidaritätsbewegung hervorgegangen ist.
Die jüngste Initiative zur Vernetzung von Alternativmedien war der kontinentale Kongreß in Quito im April diesen Jahres, an dem über 60 JournalistInnen aus fast allen lateinamerikanischen Ländern teilnahmen. Schnell zeigte sich, daß trotz ähnlicher Interessen die vielen verschiedenen Medien unterschiedlicher Größe und Professionalität nur schwerlich an einem Strang ziehen können. Zwar war dieses Treffen ein neuer Schritt hin zu mehr Zusammenarbeit, doch mehr als Willensbekunddungen kamen oft nicht dabei heraus.

Basisanbindung und politische Pluralität – ein Problem?

Eine funktionierende Zusammenarbeit bringt zwar eindeutige Vorteile: weniger Vertriebskosten, höherer Verbreitungsgrad, gemeinsame Infrastruktur und schließlich eine Vielfalt von Nachrichten, die gerade für Medien und andere MultiplikatorInnen attraktiv und zugänglich sind. Doch die in der Praxis auftretenden Nachteile erweisen sich bisher als unüberwindbar: Kooperation erfordert ermüdende politische Diskussionen, insbesondere wenn die jeweiligen Medien politischen Organisationen nahestehen; Professionalität und Basisanbindung lassen sich oft nur schwer vereinbaren, Entfernungen und Kommunikationskosten wirken erschwerend. Doch dahinter steht ein wesentliches Problem jeder Vernetzung: Ein aktives Netz erfordert Initiative all seiner Teile – wenn diese nicht stattfindet, wird das Netz zu einem Konzentrationsprozeß zum Vorteil der größeren oder aktiveren Medien. So zeigt auch die bisherige Erfahrung, daß Pools selten funktionieren, während einzelne große und kleine Agenturen lange existieren können, aber kaum eine adäquate Verbreitung finden.
Es überrascht nicht, daß sich die Erfahrungen in Lateinamerika auch auf Seiten der internationalen Solidaritätsbewegung widerspiegeln. Zu der dortigen Vielfalt kommen hier noch ideologische Streitigkeiten hinzu, so daß Interessierte vor einer Unmenge von Publikationen stehen. So wichtig eine gewisse Pluralität ist, so schwer fällt es den meisten, einen Überblick über das Informationsangebot zu bekommen. Konsequenz ist eine wachsende Konkurrenz untereinander.
Ein Versuch, den Agenturen Zentralamerikas eine deutschsprachige Plattform zu geben, war Anfang der 80er Jahre der “mid” (Mittelamerika-Informationsdienst). Finanzielle Unterstützung, Kontakte und der gemeinsame Wille waren vorhanden, und wöchentlich konnten aktuelle Nachrichten aus Nicaragua, Guatemala und El Salvador gelesen werden. Doch auch das klappte nur kurze Zeit. Entscheidendes Hindernis waren die hohen Kosten für die Telex-Standleitung zwischen Managua und Frankfurt/Main. Einzig verbliebene Alternative, Originalnachrichten aus Zentralamerika zu bekommen, war über viele Jahre der “Informationsdienst El Salvador” (ides). Doch war dies ein Projekt von Teilen der bundesdeutschen Solibewegung und spiegelte deren politische Ausrichtung wider – auch wenn der ides mit lateinamerikanischen Quellen arbeitete. Darüber hinaus gingen ab Mitte der 80er einige alternative Agenturen dazu über, eigene Nachrichtendienste in deutscher Sprache herauszugeben, womit sie eine entscheidende Stütze der länderbezogenen Solidarität waren.

POONAL – Der Schritt nach Deutschland

1990 entstand die Idee, die Nachrichten der POONAL-Agenturen in einem gemeinsamen Dienst in deutscher Sprache herauszugeben. So entstand der “Wöchentliche Nachrichtendienst lateinamerikanischer Agenturen – POONAL”, der seit über zwei Jahren Nachrichten und Artikel der Mitgliedsagenturen veröffentlicht. In Mexiko wird das Material bis Freitagabend übersetzt, dann per Datenfernübertragung nach Köln geschickt, wo es journalistisch bearbeitet wird. Schließlich wird der Nachrichtendienst am Montag in Berlin gedruckt und verschickt – derzeit knapp 300 Exemplare in Deutschland, Österreich und in die Schweiz. Wichtigstes Ziel: Die Vereinzelung der Agenturen sollte aufgehoben werden und ein gemeinsamer Nachrichtendienst aus Lateinamerika durch seine Vielzahl an Themen und Ländern auch für Institutionen und etablierte Medien interessant und brauchbar werden.
Obwohl sich der POONAL-Nachrichtendienst etabliert hat, steht er in der Praxis kaum überwindbaren Problemen gegenüber. Verhältnismäßig glimpflich sieht es noch auf der Vertriebsseite aus. Die journalistische Qualität läßt zwar zu wünschen übrig, aber die Informationen stoßen auf Interesse. Auch konnten einige Institutionen und Medien als AbonnentInnen gewonnen werden, die bisher kaum Zugang zu diesen basisnahen Agenturen hatten. Dennoch bleibt das Hauptproblem bestehen: Auch POONAL hat einen begrenzten AbnehmerInnenkreis und die Präsenz in etablierten Medien ist unbedeutend.
Doch gerade da, wo es um die Koordination geht, nehmen die Schwierigkeiten existenzielle Ausmaße an. Wie oben erwähnt, liegt die Zusammenarbeit der POONAL-Agenturen in Mexiko derzeit auf Eis. Aus der lateinamerikanischen Initiative ist immer mehr eine deutsche geworden, der Vertrieb in Deutschland wurde zur treibenden Kraft. Hinzu kommt, daß viele Agenturen aus dem Exil in ihre Länder zurückgegangen sind, wodurch einige Mitglieder des Pools sich weniger beteiligen und die Kommunikation untereinander sehr spärlich geworden ist. Statt einer Zusammenarbeit findet eher Zuarbeit für ein Projekt statt, da die wenigen in Mexiko ansässigen Agenturen die Entscheidungen treffen. Nur einige Agenturen beteiligen sich, dazu unregelmäßig, daran, so es daß POONAL noch nicht gelungen ist, das Geschehen im gesamten Kontinent widerzuspiegeln.
Obwohl der hohe Anspuch nicht aufrechterhalten werden kann, hält POONAL an der Idee und daran, daß Vernetzung versucht werden muß, fest. Oft klagen gerade kleinere Medien, daß der Zugang zu alternativen Quellen sehr aufwendig ist. Die Konsequenz muß also sein, weiter aus den bisherigen Erfahrungen zu lernen.

Bezug des POONAL-Nachrichtendienstes:
Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
c/o FCDL
Gneisenaustr. 2
10961 Berlin
Fax: 030 / 692 65 90
Jahresbezugspreis:
110,– DM für Institutionen
75,– DM für Einzelpersonen


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Menem – ein neuer Perón?

Durch das Votum gestärkt ging Menem in der Woche nach der Wahl in den Senat und bekam dort durch den offensichtlichen Kauf von Senatoren eine Zweidrittel-Mehrheit für seine Verfassungsreform. Für den 21. November hat der Präsident nun eine Volksbefragung angesetzt. Er erhofft sich die Unterstützung der Bevölkerung, die dann die Zustimmung der Abgeordneten erzwingen soll.

Repressalien und Skandale vor der Wahl

In der Zeit des Wahlkampfs verschärfte sich die innenpolitische Situation. KritikerInnen, Oppositionelle und regierungskritische JournalistInnen wurden reihenweise eingeschüchtert, zusammengeschlagen oder mit dem Tode bedroht. Angst und Schrecken herrschten in den Wochen vor den Wahlen in einem Maße, das an Zustände während der letzten peronistischen Regierung in Argentinien 1974-76 erinnerte.
Nach nur wenigen Monaten im Amt trat Innenminister Gustavo Béliz zurück. Nach eigenen Aussagen war er frustriert über die Diskussion der Verfassungsreform in der Regierung. Offenbar gebe es dort eine Mehrheit, die die umstrittene Reform mit allen Mitteln durchsetzen wolle. Er aber könne sich nicht mit Einschüchterungsmaßnahmen und dem Kauf von Abgeordneten einverstanden erklären. Leider habe er erst jetzt erkannt, worin die eigentliche Aufgabe eines Innenminister in dieser Zeit besteht: die Wiederwahl Menems auf Gedeih und Verderb durchzusetzen, koste es was es wolle. Präsident Menem, der vom Schritt seines Ministers offensichtlich überrascht und sehr enttäuscht war, ersetzte diesen innerhalb von wenigen Stunden durch Carlos Ruckauf. Dieser zeigte sich in den letzten Wochen durchaus Willens, die in ihn gesetzten Hoffnungen zu erfüllen.
Ein Skandal im Verfassungsgericht bewies außerdem die Abhängigkeit der Justiz vom Menemismus. Ein Urteil gegen einzelne Maßnahmen der Wirtschaftsreform verschwand spurlos aus den Akten. Auf die heftige Kritik reagierte Menem mit einem Angebot an die UCR, das Gericht kurzerhand aufzulösen und es gemeinsam mit den Radikalen neu zu besetzen.

Die politische Auseinandersetzung

Um politische Inhalte wurde zwischen den großen Parteien kaum gestritten. Die Programme der PeronistInnen, Radikalen und Liberalen (UCeDe) unterschieden sich nur in den Details.
Derzeit markiert die UCR den Unterschied zu den PeronistInnen lediglich durch die Forderung nach einer sozialeren und weniger brutalen Privatisierung. Die generelle Linie – Dollar-Bindung des argentinischen Peso, Privatisierung aller Staatsbetriebe, Heruntersetzung der Lohnnebenkosten durch Abbau von Sozialleistungen – war kaum Gegenstand der Auseinandersetzung.
Erstmals landesweit angetreten war die Rechtspartei MODIN (Movimiento por la Dignidad e Independencia), die vom ehemaligen Carapintada-Putschisten Aldo Rico geführt wird. Sie hat eine ultra-nationalistische Programmatik, und wurde mit ihren sieben Abgeordneten im Bundesparlament dritte politische Kraft im Lande. lhr charismatischer Führer will 1995 persönlich als Präsidentschaftskandidat gegen Menem (oder Duhalde) antreten. Seine Forderungen sind: Nationalisierung aller Industrien, Abschottung gegen Arbeitsimmigration, Direktwahl des Präsidenten, aller Gouverneure und Bürgermeister und eine harte Hand bei Grenzstreitigkeiten mit Chile.

Alle Macht dem Präsidenten

Eigentlicher Brennpunkt der innenpolitischen Auseinandersetzung der letzten Monate ist die Machtfülle von Menem und seinem Team. Vielen im Land flößt eine mögliche Wiederwahl Menems Angst ein. Er hat Ambitionen, die Kultfigur des Juan Domingo Perón aus dem Gedächtnis des Volkes zu löschen und sich selbst als den größten argentinischen Präsidenten an seinen Platz zu stellen.
Heute schon kontrolliert Menem praktisch Legislative, Exekutive und Jurisdiktion. Die Gewerkschaften wurden von ihm als politischer Faktor ausgeschaltet, die Wirtschaft steht aufgrund seiner Reformen hinter ihm, und selbst die Militärs sind in Argentinien kein ernstzunehmendes Potential mehr. Zusätzlich stehen große Teile der Medien unter seinem Einfluß, und kritische Berichterstatter werden bestraft, etwa durch Entzug staatlicher Anzeigen.

Das Wahlergebnis

Die Wahlbeteiligung am 3. Oktober lag bei 76,1 Prozent, bei bestehender Wahlpflicht. Dies stellt einen neuen Tiefpunkt seit Wiedereinführung der Demokratie 1983 dar. 3,7 Prozent der WählerInnen gaben einen weißen Stimmzettel ab.
Die PeronistInnen (PJ) konnten 42,3 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen und siegten in 16 der 23 Provinzen. An die Radikale Bürgerunion (UCR) gingen Córdoba, Santiago del Estero, Rio Negro und Catamarca. Überwältigend war der Sieg der Menemisten in der größten und wichtigsten Provinz des Landes, Buenos Aires. Der ehemalige Vizepräsident Argentiniens, Eduardo Duhalde (und heutige Gouverneur dieser Provinz) errang mit seinem Spitzenkandidaten, dem Fraktionsvositzenden der Peronisten im Landesparlament, fast die Hälfte aller Stimmen, zwanzig Prozentpunkte mehr als die Radikalen unter Federico Storani. Ein Sieg, der keineswegs in dieser Höhe erwartet worden war. Duhalde qualifizierte sich damit als politischer Kronprinz Menems, für den Fall, daß dieser die Verfassungsreform nicht durchsetzen könnte. Obwohl enger politischer Freund und Gefährte Menems, zeigte Duhalde bei der Aufstellung der Wahllisten Unabhängigkeit, indem er exponierte Menemisten nicht aufstellte. Auch sein Spitzenkandidat, Alberto Pierri, ist nicht gerade als Menem-Freund bekannt.
In der nach Buenos Aires zweitwichtigsten Provinz Córdoba siegte der dortige Gouverneur Eduardo César Angeloz. Dabei besiegte der seit 1983 regierende Angeloz den Peronisten Juan Schiaretti, der von Wirtschaftsminister Cavallo selbst protegiert wurde. Das eher konservative und traditionelle Córdoba jedoch blieb dem charismatischen Angeloz treu. Jetzt ist Angeloz nahezu sicherer Präsidentschaftskandidat seiner Partei für 1995, wo er wahrscheinlich zum zweiten Mal nach 1989 gegen Menem antreten wird.
Möglich wurde die herausragende Position Angeloz’ in der UCR durch die Wahlniederlagen seiner innerparteilichen GegnerInnen. In der Bundeshauptstadt verlor die Schriftstellerin Martha Mercander, Kandidatin seines stärksten Gegenspielers, des Senatoren Fernando de la Rúa . Die große Überraschung der Wahl war der knappe Sieg des ehemaligen Verteidigungsministers und engen Vertrauten Menems, Erman González. In keiner der unzähligen Umfragen vor der Wahl war ein derartiges Ergebnis prognostiziert worden.
Allgemein erwartet worden war ein Stimmenzuwachs für die Rechtspartei MODIN. Aldo Rico persönlich war Spitzenkandidat in der Provinz Buenos Aires und erreichte dort knapp 11 Prozent und vier Abgeordnetensitze. Dieselbe Zahl von Abgeordenten erreichte der Zusammenschluß linker Parteien und Gruppierungen, die Frente Grande, was als sehr gutes Ergebnis zu werten ist.

Jetzt läuft die Kampagne zur Wiederwahl

Die Wahl hat Präsident Menem gestärkt und der Verfassungsänderung ein gutes Stück nähergebracht Es ist ihm gelungen, das Volk glauben zu machen, daß wirtschaftliche Stabilität mit seiner Person verknüpft sei.
Die erste Oppositionskraft, die UCR, ist deutlich geschwächt. Sie hat es nicht vermocht, eine politische Alternative zu Menem präsentieren. Ihr wahrscheinlicher Präsidentschaftskandidat, Córdobas Gouverneur Angeloz, hat 1995 nur dann Chancen, wenn sich die Partei nicht weiterhin in Flügelkämpfen verstrickt. Die liberale UCD unter dem ehemaligen Wirtschaftsminister Alvaro Alsogaray hat ihre politische Bedeutung auf nationaler Ebene verloren und wurde durch den rechtsnationalen MODIN unter Aldo Rico als dritte Kraft ersetzt. Aber auch der MODIN hat sein maximales Wählerpotential (bis 12 Prozent) wahrscheinlich bereits erreicht. Große Veränderungen sind auch bei den Linksparteien Frente Grande und Unidad Socialista nicht zu erwarten.
Das nächste wichtige Datum ist nun der 21. November 1993, Tag der Volksbefragung, deren Ausgang nicht klar vorhersehbar ist. Derzeit läuft eine der größten und teuersten Kampagnen in der argentinischen Geschichte. Es geht darum, ob sich Menem durch eine Wiederwahl unvergeßlich in die Geschichte des Landes “einmeißeln” kann.


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Feminismus -heraus aus dem Untergrund

LN: Welche Frauengruppen bereiten das VI. Frauentreffen vor und wer wird daran teilnehmen?
Mercedes Cañas: An der Vorbereitung sind verschiedene Gruppen beteiligt, in erster Linie die “Concertación (Zusammenschluss) für Frieden, Würde und Gleichheit”. Die “Concertación” wurde 1990 von Frauen aus EI Salvador gegründet, die an dem V. Treffen in Argentinien teilgenommen hatten. Wir suchten eine Alternative zu der herkömmlichen Frauenpolitik, die immer der Parteilinie und den Klasseninteressen untergeordnet war. Dagegen sind frauenspezifische Forderungen Schwerpunkt unserer Politik.
Wir möchten, daß die Frauen, die an dem Treffen teilnehmen, sich mit der feministischen Bewegung auseinandersetzen, sich gegen jede Form der Frauendiskriminierung und des Rassismus wenden und die Teilnahme am Treffen als Teil ihres Kampfes begreifen. Sie sollten die zentralen Ansichten der Feministinnen teilen.

Wenn nur Frauengruppen teilnehmen, die sich als feministisch begreifen,
schließt das nicht viele Frauen aus? Es nehmen keine Gruppen oder Organisationen teil. Bei einem feministischen Treffen ist die Teilnahme individuell. Jede Frau übernimmt für sich selbst die Verantwortung. Für den Feminismus einzutreten, heißt, sich ganz persönlich einzulassen.
Wir haben alle Frauengruppen angesprochen, auch solche, die sich nicht feministisch begreifen, denn in jeder gibt es Feministinnen, Natürlich wissen wir, daß viele Frauen sich noch nicht darüber klar sind, was Feminismus bedeutet; einige Frauen fühlen sich auch nicht als Feministinnen, und trotzdem nähern sie sich jeden Tag mehr an. Wir wollen, daß diese Frauen am Treffen teilnehmen.

Es gibt Kritik an der Organisation, zum Beispiel wegen der Teilnehmerinnenbegrenzung.
Wir bereiten ein Treffen für 1000 Frauen vor. Unsere Vorbereitungsgruppe der Frauen aus Zentralamerika hat sich für diese Teilnahmebegrenzung entschlossen, weil wir wollen, daß das Treffen effektiv verläuft.
In Argentinien kamen ungefähr 2500 Frauen; hinterher hieß es “Das Treffen des Nichttreffens” (siehe auch LN 199). Über 600 Argentinierinnen und Ca. 200 Frauen aus Uruguay nahmen teil. Das war kein lateinamerikanisches und karibisches Frauentreffen mehr, sondern ein südamerikanisches, an dem sich einige Frauen aus anderen Ländern beteiligten. Darum haben wir entschieden, für jedes Land eine Teilnehmerinnenbegrenzung zu setzen.

Ihr nennt Euch “Zentrum für feministische Studien” (CEF). Bedeutet nicht der Begriff Feminismus an sich schon eine Provokation, auch für viele Frauen?
Die feministische Bewegung in E1 Salvador ist noch sehr jung und entsprechend klein. Es gibt erst wenige Frauen, die wissen, was Feminismus heißt. Doch je länger wir den Feminismus im Untergrund halten, um so weniger lernen die Frauen ihn kennen. Für uns ist der Feminismus eine politische Option. So wie andere sich Sozialistinnen, Sozialdemokratinnen, Christdemokratinnen oder Nationalistinnen nennen, bezeichnen wir uns als Feministinnen. Und wir haben einen konkreten Vorschlag für die Zukunft. Wir wollen eine Demokratie für alle, und wir fordern von der Gesellschaft, Pluralität und Unterschiedlichkeit zu respektieren.
Das CEF hat eine Reihe von Aktivitäten durchgeführt, zum Beispiel zur selbstbestimmten Mutterschaft oder zur verantwortungsvollen Vaterschaft, damit die Gesellschaft die feministische Ideologie kennenlernt. Aber es gibt immer noch viele Leute, die erschreckt reagieren, die glauben, Feminismus sei Libertinage, sei Lesbianismus. Wir wollen die Gesellschaft mit unseren Vorschlägen vertraut machen. Nur wenn sie uns zuhören, können sie erkennen, daß unsere Vielfalt Freiheit bedeutet.

Wie sieht das Verhältnis zwischen der Frauen und der feministischen Bewegung aus?
Die feministische, die Frauenbewegung insgesamt ist eine der aktivsten Strömungen in unserer Gesellschaft. Und sie zeigt einen größeren Zusammenhalt als andere Bewegungen, trotz der vielen Widersprüche, die existieren. Wir haben einen gemeinsamen Ursprung. In den Frauengruppen haben wir darum gekämpft, die wirtschaftlichen Lebensbedingungen zu verbessern. Aus diesen Gruppen ist die feministische Bewegung entstanden. Das läßt sich nicht so genau abgrenzen, dort sind die Feministinnen und dort nicht. Trotzdem sind beide Bewegungen nicht identisch. Wir Feministinnen haben spezielle Frauenforderungen, z.B. die selbstbestimmte Schwangerschaft, den Kampf gegen Vergewaltigung, gegen Sexismus. Da gibt es Differenzen und Widersprüche.
Oder die Beziehung zu den Lesben. Es gibt in dem Sinn noch keine lesbische Bewegung in E1 Salvador. Aber nach dem Frauentreffen in Nicaragua (siehe LN 215) hat sich ein lesbisches Kollektiv “media luna” (Halbmond) gegründet. Die salvadorianischen Lesben hatten bei dem fünftägigen Treffen in Nicaragua die Möglichkeit, sich mit anderen auszutauschen, sich zu identifizieren. Die Lesben sind Teil der feministischen und der Frauenbewegung. Auch wenn sie hier noch keine große Öffentlichkeit haben, und die patriarchalische Ideologie die Gesellschaft noch stark belastet. Doch es passiert etwas, was mich persönlich sehr freut. Das Lesbenkollektiv hat das zweite nationale Frauentreffen, das im Juli stattfand, mit vorbereitet und sich mit verschiedenen Aktivitäten in der Öffentlichkeit präsentiert. Wir haben begonnen, das Recht einzufordern, daß alle Frauen sich öffentlich ausdrücken können.

Wie ist Euer Verhältnis zu den linken Volksorganisationen und zur FMLN?
Ich muß vorausschicken, daß die meisten von uns aus diesem Spektrum kommen. Ich selbst war Militante in einer der FMLN Organisationen. Doch die Mehrheit der Feministinnen hat diese Gruppen verlassen. Ich bin bereits 1990 aus der FMLN ausgetreten, nach 10 Jahren Mitgliedschaft. Als Parteimitglied arbeitete ich in einer Frauengruppe mit. Als ich mehr Autonomie forderte, verweigerte die Partei mir dies. Sie wollten mir meine Schritte immer vorschreiben; das erschwerte mir die Arbeit oft. Mir wurden so Handlungsmöglichkeiten genommen, Türen verschlossen, deshalb dachte ich, es ist besser zu gehen.
Diesen Prozeß haben viele von uns durchgemacht, auch ganze Gruppen wie z.B. die “dignas” (“Mujeres por la dignidad y la vida”, Frauen für die Würde und das Leben), die sich nach schwierigen internen Auseinandersetzungen von der “resistencia nacional” (Nationaler Widerstand, eine der fünf FMLN-Organisationen) löste.
Als wir die Ergebnisse der Friedensverhandlungen lasen, fühlten wir uns hinweggefegt aus der Geschichte, unsere Situation wurde nicht berücksichtigt. Es wurden auch andere Bereiche der Gesellschaft außer acht gelassen, aber wir sind nicht irgendein Bereich, wir sind die Mehrheit der Bevölkerung. Auch im nationalen Wiederaufbauplan, den die FMLN und die Regierung vorlegte, kommen wir nicht vor. Das einzige Mal, wo wir in den Abkommen von New York erwähnt werden, ist bei der Beteiligung an der neuen “Zivilen Nationalpolizei”. Also wir sehen nicht, daß die FMLN unsere Interessen vertritt.

‘Wir sehen nicht, daß die FMLN uns vertritt’

Allerdings will ich nicht übergehen, daß immer mehr Compañeras der FMLN sich mit der Frauenbewegung identifizieren und innerhalb der Partei um ihren Platz in der Hierachie kämpfen und die Interessen der Frauen verteidigen. Zum Beispiel entstand vor gut einem Jahr die Gruppe “Melida Anaya Montes” (MAM), ein Zusammenschuß von Frauen der FPL, die innerhalb ihrer Organisation versuchen, mehr Autonomie zu erlangen und gleichzeitig hinter den Forderungen der feministischen Bewegung stehen.
Die FMLN als politische Partei weist viele Strukturen auf, die sie an anderen Organisationen kritisiert: Hierarchie, autoritäres Verhalten, die Unterordnung von Sektoren, die keine Macht besitzen, obwohl sie vielleicht sogar Mehrheiten in der Bevölkerung stellen.
Während des Krieges verpflichtete die FMLN die Frauenorganisationen, mit denen sie zusammenarbeitete, darauf, ihre Interessen und Forderungen dem revolutionären Prozeß unterzuordnen. Während der Friedensverhandlungen hieß es, nach dem Frieden, jetzt sagen einige, nach den Wahlen ’94, und so wird die Frauenfrage immer vertagt. Doch wir Frauen machen das jetzt nicht mehr mit.

‘Ohne den Krieg könnten wir uns nicht organisieren’

Eine andere Sache ist, daß in der Geschichte E1 Salvadors die FMLN ganz klar eine Alternative zu den traditionellen Bewegungen war. Es muß auch gesehen werden, was die FMLN durch den Kampf in fast 12 Jahren Krieg erreicht hat. Wir wissen, daß es ohne den Krieg keine Möglichkeit gäbe, sich frei zu organisieren. Das ist ein großer Erfolg, Ergebnis des Krieges, dem wir 75.000 Tote und über 10.000Verschwundene geopfert haben. Die Institutionen, die gegründet wurden, zum Beispiel die neue “Zivile Nationalpolizei” (PNC) sind Hoffnungen für die Demokratisierung des Landes, die Verteidigung der Menschenrechte, all das negieren wir nicht. Wir kennen den historischen Prozeß, und wir wissen, welchen Terror wir hinter uns haben.
Doch auch die FMLN hat während des Krieges ihre Macht mißbraucht und in einigen Fällen die Gewehre statt für den Aufbau der Demokratie dazu benutzt, unbequeme Leute zu liquidieren, wie Roque Dalton oder Melida Anaya Montes, aber auch in nicht so bekannten Fällen. Wenn die FMLN sich nicht wirklich verändert in ihrem Denken und ihrer täglichen Politik, könnte sich einiges wiederholen.
Trotzdem finden wir es wichtig, daß die FMLN an den Wahlen teilnimmt; das ist Teil des Demokratisierungsprozesses.Aber wir haben ein kritisches Bewußtsein entwickelt, wir fragen, was ist wirkliche Demokratie.
Das ist meine persönliche Meinung. Es gibt Compañeras, die noch immer in der FMLN sind, die daran glauben, und ich haben keinen Grund, sie zu disqualifizieren.

Letzte Meldung

Anfang Oktober hat die salvadorianische Rechte eine Hetzkampagne gegen das Frauentreffen gestartet. In der rechtsextremen Tageszeitung “Diario de hoy” wurden Anzeigen veröffentlicht, in denen behauptet wird, daß der Kongreß im Auftrag der FMLN stattfände und unmoralisch sei, weil Homosexualität thematisiert wird und und lesbische Frauen nicht von der Teilnahme am Treffen ausgeschlossen werden. Mittlerweile ist die Durchführung des Kongreß gefährdet, da der Besitzer des Tagungshotels in Costa del Sol und umliegende Gästehäuser die Verträge mit der Vorbereitungskoordination gekündigt haben.


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“Townley-Bazillus” legt das chilenische Kabinett lahm

ein ins Fettnäpfchen tretender Präsident,
ein kranker Minister,
ein sich vernachlässigt fühlender Minister
diverse betroffene Politiker,
ein gefeuerter sowie mehrere sanktionierte Journalisten.
(Prolog) Nach etlichen Querelen im Vorfeld der Ausstrahlung konnte der staatliche Fernsehsender TVN am Montag dem 16. August mit einer Sensation aufwarten: Ein über zweistündiges Interview mit Michael Vernon Townley, dem Mann, der im Auftrage des ehemaligen Geheimdienstes der Militärdiktatur DINA am 19. September 1976 die Autobombe unter dem Wagen des ehemaligen Außenministers Orlando Letelier installierte, die diesen zwei Tage später mit seiner Mitarbeiterin Ronni Moffitt mitten in Washington in die Luft sprengen sollte. Allerdings hätte das Interview eigentlich schon fast zwei Wochen zuvor, am 4. August, gesendet werden sollen, wurde aber kurzfristig durch ein Unterhaltungsprogramm ersetzt. Was war geschehen?
(1. Auftritt: P. Rojas, Krauss, Correa, ein Telefon.)
Montag zuvor: Das Telefon klingelt beim chilenischen Staatspräsidenten Aylwin: Es ist sein Verteidigungsminister Patricio Rojas, der ihm nahelegt, die Ausstrahlung des Townley-Interviews irgendwie zu verschieben und es nicht gerade 24 Stunden nach seiner mit Spannung erwarteten Ansprache über das weitere Verfahren mit den in Menschenrechtsverletzungen verwickelten Militärs oder Carabineros über die Bildschirme laufen zu lassen. Zudem befinde sich das Verfahren gegen den damaligen Auftraggeber und DINA-Chef Manuel Contreras gerade in einer entscheidenden Phase. Der Urteilsspruch werde in wenigen Wochen erwartet, eine Ausstrahlung zum jetzigen Zeitpunkt und dazu noch durch einen staatlichen Sender könne als offene Einflußnahme gewertet werden. Überhaupt sei es besser, die Beziehungen zwischen Militärs und Regierung möglichst nicht zu strapazieren. Der Christdemokrat dachte offenbar an den “boinazo” vom vergangenen Mai (vgl. LN 229/30), als Pinochet seine militärische Macht demonstrierte und dabei so nebenbei auch die Machtlosigkeit des Verteidigungsministers selbst offenlegte. Allerdings fühlte sich Rojas nicht erst seit diesem Zwischenfall von seinem Präsidenten vernachlässigt. Neidisch mußte er miterleben, wie sein Kabinettskollege von den Sozialisten, der Regierungssekretär im Ministerrang Enrique Correa im Hause Aylwin zunehmend die besseren Karten hatte. Dementsprechend war es wohl ein auch für ihn unerwarteter Erfolg, als er zusammen mit dem Innenminister und Parteifreund Enrique Krauss seinen Chef von seinen Argumenten überzeugen konnte, und zwar entgegen Correas Auffassung, man solle die Entscheidungsgewalt von TVN nicht antasten. Correa bekam dann prompt die unangenehme Aufgabe, dem Fernsehsender TVN den “Wunsch” des Präsidenten zu übermitteln. Fernsehdirektor Jorge Donoso veranstaltete eine Blitzumfrage bei seinen Direktoriumskollegen und die einstweilige Verschiebung der Ausstrahlung des Interviews wurde mit 5:1 beschlossen.
Mittlerweile meldete sich Correa in schlechter Vorahnung erst einmal für ein paar Tage bei Innenminister Krauss krank. Dieses Mal ließ sich Krauss von der Klugheit seines Kollegen überzeugen und fügte 24 Stunden später gleich seine eigene Krankmeldung hinzu. Der “Townley-Bazillus” breitete sich im Kabinett aus. (Correa und Krauss ab.)
Die weise Voraussicht Correas sollte sich auszahlen. Ein Mitglied des für das Interview verantwortlichen Journalistenteams von Informe Especial hatte die Nachricht von der Zensur durch den Präsidenten an seine KollegInnen von der Presse weitergegeben.
(Auftritt: Aylwin.) Im Hause Aylwin brach daraufhin der Erklärungsnotstand aus. In seiner Not verfiel dieser schließlich darauf, seine Intervention als “Petition” zu verkaufen, die immerhin das Recht jeden Staatsbürgers sei. (Er tritt ins Fettnäpfchen.) So recht überzeugen konnte er damit allerdings niemanden und vor allem nicht die JournalistInnen, die sich mittlerweile in immer größerer Zahl mit ihren zensierten Kollegen solidarisch erklärt hatten. Sie konterten mit dem Argument, daß die “Petition” des höchsten Würdenträgers des Staates schwerlich mit der eines gewöhnlichen Bürgers vergleichbar sei.
2. Auftritt (Pinochet, Contreras)
Unterdessen schlug die Polemik bezüglich des Interviews immer höhere Wellen. “?Cuánto le pagaron? – Wieviel haben sie ihm gezahlt?” wollte der Ex-Diktator Pinochet wissen. “Alles Lügen” behauptete der von Townley hauptsächlich beschuldigte Begründer und ehemalige Chef der DINA Manuel Contreras, in dessen Auftrag jener seine Verbrechen begangen hatte. Townley sei ein Feigling und überhaupt arbeite er heute wie damals im Auftrage des nordamerikanischen Geheimdienstes CIA, um den chilenischen Staat und seine Streitkräfte zu unterminieren. Contreras kündigte an, notfalls seine DINA-Informanden zu nennen, von denen in jeder Partei und in den höchsten Kreisen der Regierung viele zu finden seien.
(Jorge Schaulsohn stürzt auf die Bühne.) Genau in diesem Augenblick sah der Abgeordnete der PPD (Partei für die Demokratie in der Regierungskoalition) Jorge Schaulsohn seine Stunde gekommen und schaltete sich in das Geschehen ein: Momentan noch auf Profilsuche für die kommenden Wahlen, verkündete er, daß entgegen den Beteuerungen der Regierung ein Angehöriger derselben das volle Interview von insgesamt 8 Stunden Länge zusammen mit dem Programmdirektor von TVN Jorge Navarrete angesehen habe. Zufällig sei dieser Jemand der Staatssekretär des Verteidigungsministers, Jorge Burgos, dessen Chef wiederum der ist, der um die Verschiebung des Programms gebeten hatte. Spekulationen tauchten auf, daß von Townley in Zusammenhang mit anderen Attentaten benannte Personen sich in höchsten Regierungskreisen befänden und deshalb ungenannt bleiben sollten (allgemeines Getuschel).
Auf Spekulationen war man angewiesen, denn Townley hat in der gezeigten Zwei-Stunden-Version eigentlich nichts Neues offenbart. Vielmehr hat er nur das wiederholt, was er bereits in Miami zwei Vertretern der chilenischen Justiz gegenüber ausgesagt hatte und was in einem BBC-Interview bereits im britischen Fernsehen gezeigt worden war.
3. Auftritt (Correa gegen Contreras)
Unterdessen war Enrique Correa auf das Spielfeld zurückgekehrt. Offen bezeichnete er die DINA als kriminelle Vereinigung. Contreras’ Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Correa sei ein Feigling und obendrein ein unverbesserlicher Marxist, der die Bedeutung des Wortes “Demokratie” immer noch nicht verstanden habe. Die DINA wäre einzig und allein aus Angehörigen der Streitkräfte gebildet worden, was allein sie schon über jeden Zweifel erhaben mache. Die Ehre der Armee wollte nun auch kein anderer Politiker besudeln lassen: Selbst der Sohn des ermordeten Letelier, der Abgeordnete der Sozialisten Juan Pablo Letelier, beeilte sich, die völlige Unabhängigkeit der DINA und ihrer Verbrechen von der Armee zu betonen. Der Name Pinochet wurde von niemandem erwähnt, obgleich er in seiner Eigenschaft als Staatspräsident die Finanzen zu bewilligen hatte, die die DINA für die “Neutralisierung der Hauptwidersacher im Ausland” brauchte. In dem Finanzierungsantrag wurden auch die einzelnen Länder genannt, in denen die Agenten tätig waren. So zum Beispiel Italien, wo ebenfalls im Jahre 1976 der Christdemokrat und ehemalige Stellvertreter von Präsident Frey, Bernardo Leighton schwerverletzt ein Attentat überlebte. Oder Mexiko, wo der Kommunistenchef Volodia Teitelboim und der Ex-Präsidentschaftskandidat Carlos Altamirano einem Mordanschlag nur deshalb entgingen, weil sie für ihre Killer unauffindbar waren. Auch Argentinien wurde genannt, wo ein Jahr zuvor der Vorgänger Pinochets im Oberkommando der Streitkräfte, Carlos Prats, ermordet wurde.
4. Auftritt (Townley: Monolog)
Immer wieder taucht jedoch ein Name auf: Michael Townley. Er gibt zu, Leighton in Italien überwacht zu haben sowie dem Mordkommando in Mexiko angehört zu haben. Das Attentat gegen Prats streitet er nach wie vor ab, obwohl die Beweise eindeutig gegen ihn sprechen. Ändern werden all diese Geständnisse allerdings für ihn persönlich ohnehin nicht mehr viel. Nach fast vier Jahren in einem nordamerikanischen Gefängnis (wegen dem Mord an Leteliers amerikanischer Mitarbeiterin) kam er Anfang der 80er Jahre mit Hilfe der Kronzeugenregelung frei. Offensichtlich versprachen sich die Amerikaner Insider-Informationen über die Exil-Kubaner-Szene in den USA, mit denen Townley nicht nur bei dem Anschlag mitten in der Hauptstadt zusammengearbeitet hatte – und sie dabei ziemlich schlecht aussehen ließ.
Epilog: Zwei Wochen nach der Ausstrahlung des Interviews sind die Wogen schon wieder etwas geglättet, die Schuldigen der ganzen Polemik endlich ausfindig gemacht worden: Der Chef des Informe Especial-Teams ist gefeuert, seine Mitarbeiter sind mit harten Sanktionen bedacht worden. Der Vorwurf: Interna von TVN an die Presse weitergegeben zu haben. Seine KollegInnen von Informe Especial haben sich mit ihm solidarisiert und erwägen rechtliche Schritte. Offensichtlich hat auch der staatliche Sender die Transitionsphase hin zur Demokratie noch nicht abgeschlossen. (Der Vorhang fällt.)


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Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Der Militärputsch am 11. September 1973 ist nicht nur ein für die chilenische Geschichte einschneidendes Ereignis, sondern er markiert auch den Beginn für die größte Flucht und Migrationsbewegung in Lateinamerika seit den Unabhängigkeitsbestrebungen Anfang des 19. Jahrhunderts. Schätzungen der chilenischen Menschenrechtsorganisation CODEPU (Comite de Defensa de los Derechos del Pueblo) zufolge haben in den Jahren nach dem Militärputsch insgesamt 1,6 Millionen ChilenInnen ihre Heimat verlassen, außerdem mehr als 700.000 ArgentinierInnen nach dem Staatsstreich im Jahr 1976. Schließlich folgten die Fluchtbewegungen aus Uruguay und Peru mit jeweils rund 500.000 Menschen.
Das politische Exil hat in den siebziger und achtziger Jahren die lateinamerikanischen Migrationsbewegungen bestimmt. Heute hat die Emigration dagegen ihre eindeutig politische Konnotation verloren. An die Stelle der offenen Gewaltanwendung gegenüber politisch Andersdenkenden ist die Gewalt der neoliberalen Wirtschaftspolitik getreten. Die Menschen fliehen nicht mehr primär vor dem Militärterror und den Todesschwadronen, sondern vor der wirtschaftlichen Verelendung, von der heute bis zu 40 Prozent der Bevölkerung betroffen sind.
In diesem Sinne ist eine klare Trennung in politische Flüchtlinge und die vielfach diskriminierten Armutsflüchtlinge gar nicht möglich und erweist sich als ethnozentrisches und interessengeleitetes Konstrukt.

Deutsch-chilenische Migration

Mit dem Putsch 1973 wurde Deutschland zum Einwanderungsland für exilierte ChilenInnen. Man sollte aber nicht vergessen, daß schon seit der Unabhängigkeit Chiles 1818 immer wieder große Migrationsbewegungen stattgefunden haben, allerdings in umgekehrter Richtung, von Deutschland nach Chile. Zunächst kamen durch die Anwerbung des chilenischen Staates und deutscher Handelsunternehmen zahlreiche deutsche Siedlerfamilien, die das Handwerk in den großen Städten modernisierten und vor allem die IndianerInnengebiete südlich des Flusses BioBio für die Landwirtschaft nutzbar machen sollten.
Seit der chilenischen Staatsgründung hat es fünf große Einwanderungswellen aus Deutschland gegeben: Die erste große Fluchtbewegung erfolgte nach der Revolution von 1848, die zweite nach der Verkündung der Sozialistengesetze unter Bismarck 1878; sie hielt bis Ende der 80er Jahre an. In diesem Jahrhundert löste die Wirtschaftskrise in den 20er Jahren erneut eine große Auswanderungsbewegung aus. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer weiteren starken Migration nach Chile. Während das Land zunächst flüchtende NazigegnerInnen und jüdische EmigrantInnen aufnahm, tauchte hier nach dem Krieg eine große Zahl von
SS-Angehörigen und Nazigrößen unter, deren Verbindungen zu den Reichsdeutschen im Süden Chiles seit jeher sehr gut waren.

Exil in der Bundesrepublik

Mit dem Putsch vor zwanzig Jahren wurde nun also das Einwanderungsland Chile über Nacht zum Auswanderungsland. Was hätte sich da mehr angeboten, als Zuflucht in den Herkunftsländern der Vorfahren zu suchen? Doch diese schlossen nach einem ersten Ansturm von Flüchtlingen ihre Botschaften in Santiago (mit Ausnahme Spaniens, das die Einreise ohne Reisepaß und Visa ermöglichte), obwohl die Medien voll von grauenhaften Berichten über Menschenrechtsverletzungen in Chile waren und internationale Kommissionen zu folgenden Untersuchungsergebnissen kamen: “Die Praktiken der Folter und Hinrichtungen werden derart systematisch angewandt, daß sie an Völkermord grenzen, wie er von den Vereinten Nationen definiert wurde”.
Zwar beschloß das bundesdeutsche Kabinett noch im Oktober, daß den ChilenInnen unbürokratisch geholfen werden sollte, doch schließlich wurde nur die Aufnahme eines Kontingentes von 2.000 ChilenInnen zugesagt. Im Rahmen dieser Quotenregelung durften in die Bundesrepublik aber ausschließlich inhaftierte ChilenInnen einreisen, deren Prozesse bereits abgeschlossen waren und deren Haftstrafen in Landesverweise zwecks Ausreise umgewandelt werden konnten. Aber gerade die Gefangenen ohne rechtskräftiges Urteil waren der Folter und der Gefahr des ‘Verschwindens’ besonders ausgesetzt. Diesen Menschen hätte also besonders geholfen werden müssen.
In der Folge kam es zu erbitterten Kontroversen zwischen Bundesregierung und einzelnen Bundesländern, als diese ihre Zusage zur Aufnahme der Verfolgten mit den unterschiedlichsten Bedingungen verknüpften. Während das Saarland und Bayern die Aufnahme kategorisch verweigerten, stellte BadenWürttemberg folgende Forderungen: “Die Bundesregierung muß unbedingt sicherstellen, daß von der Aufnahme Angehörige extremistischer und anarchistischer Gruppen und darüberhinaus solche Personen ausgeschlossen sind, deren Ziel die Beseitigung des demokratischen Verfassungsstaates ist”.
Angesichts dieser Logik, mit der die ChilenInnen als ‘Sicherheitsrisiko’ stigmatisiert wurden, war es dann nur konsequent, daß ein Vertreter des Verfassungsschutzes aus Köln die Sonderkommission der Bundesregierung im November nach Santiago begleitete, um bei der Befragung der Verfolgten anwesend zu sein, was schon damals eine eklatante Verletzung beziehungsweise Nichtbeachtung des Artikels 16 des Grundgesetzes war. Trotz scharfer Proteste von SPD, Diakonischem Werk, Amnesty International und Chile-Komitees kam es zu den Verhören der chilenischen Flüchtlinge in Santiago, und erst nach der Zustimmung des Verfassungsschutzes wurde den ersten 23 ChilenInnen Mitte Dezember 1973 die Ausreise erlaubt.
Angesichts der breiten Debatten über das ‘Sicherheitsrisiko’ und die Übernahme der Kosten für die Aufnahme der chilenischen Flüchtlinge zeigte sich, daß je reicher ein Land ist, desto perfekter auch sein Machtapparat zur Ausgrenzung der Fremden funktioniert.

Koordinierung der Chilesolidarität

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Ineffizienz staatlicher Strukturen kam es bereits Ende 1973 zu einer Koordinierung der ChileKomitees mit Amnesty International, an der sich bereits im Mai 1974 auch die Stiftung Mitbestimmung der Gewerkschaften (heute HansBöcklerStiftung) beteiligte, um den Flüchtlingen über die Vergabe von Stipendien oder Arbeitsverträgen die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Viele Gemeinden der Evangelischen Kirche halfen mit Notunterkünften aus, zur Überbrückung wurden Sach und Geldspenden mobilisiert, und die chilenischen Flüchtlinge wurden persönlich betreut und bei ihren Wegen zu den Ämtern begleitet.
Innerhalb weniger Monate wurde so eine effiziente Struktur für verfolgte ChilenInnen errichtet, die nicht unter die Regelungen des staatlichen Kontingentes fielen. In Einzelfällen wandte sich sogar die deutsche Botschaft mit der Bitte um Hilfe an die ChileKoordination. Neben der breit gefächerten praktischen “Integrationsarbeit” leisteten die Komitees vorrangig eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, die die Lage in Chile sowie das Verhalten der Behörden in der Bundesrepublik thematisierte. Ohne diesen Druck, der gemeinsam von Gewerkschaften, Diakonischem Werk, Amnesty International und ChileKomitees ausgeübt wurde, und der eine positive Resonanz in den öffentlichen Medien fand, wäre es sicherlich nicht zur Aufnahme der circa 4.000 Exil-ChilenInnen gekommen, die in den folgenden Jahren Schutz in der Bundesrepublik fanden. Denn nach wie vor mahlten die Mühlen der staatlichen Aufnahmeverfahren – inzwischen in der Kompetenz des Innenministeriums- äußerst langsam.
“Während es in England oder den Niederlanden etwa sechs bis zwölf Wochen dauerte, und manche skandinavischen Staaten in dringenden Fällen innerhalb von Stunden Einreisevisa erteilten, benötigten die deutschen Behörden wegen der eingehenden Sicherheitsprüfungen häufig ein dreiviertel oder gar ein volles Jahr”.
Als Beispiel für den Erfolg der internationalen Öffentlichkeitsarbeit sei an den Fall der Gefangenen Gladys Diaz erinnert, die mehrfach gefoltert und vergewaltigt wurde und tagelang spurlos aus den Gefängnissen verschwand, sowie an die Prozesse der Holzarbeiter von Panguipulli, die für einen nicht nachgewiesenen Überfall auf eine Polizeistation Höchststrafen zu erwarten hatten. In beiden Fällen konnte die Ausreise erwirkt werden.
Im Zentrum der Aktivitäten der privaten bzw. nicht-staatlich organisierten Solidaritätsaktionen stand die Basisarbeit in Komitees und Nicht-Regierungs-Organisationen in den vielfältigsten Formen und auf verschiedensten Ebenen, weniger die Lobby-Arbeit.
Getragen von der Überzeugung einer notwendigen Solidarität mit Verfolgten und dem klaren Feindbild einer Militärdiktatur ist es nach und nach zu einer Übernahme staatlicher Aufgaben durch die Solidaritätsbewegung gekommen, die sich heute unter anderem in dem Nichtvorhandensein offizieller Daten oder einer analytischen, inhaltlich bewertenden Stellungnahme zum chilenischen Exil ausdrückt. Selbst nach ausgiebigen Recherchen war es nicht möglich, offizielle Daten über die chilenischen Flüchtlinge in Deutschland zu erhalten. Zwar gibt es eine allgemeine Bevölkerungsstatistik, die unter anderem auch die Zahl der chilenischen Bürger in Deutschland aufweist. Diese enthält jedoch weder Hinweise auf die Verhältnisse während der Ein und Ausreise, noch gibt sie Aufschluß über die Einreisegründe.
Hochrechnungen chilenischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen ergeben aber eine relativ gleiche Zahl, nämlich ca. 1600 anerkannte politische Flüchtlinge bei einer Gesamtzahl von 6000 chilenischen Staatsbürgern in der Bundesrepublik. Diese Zahl von rund 6000 Flüchtlingen ist weitgehend konstant geblieben, weil die seit 1984 verstärkt einsetzende Rückkehr von Exil-ChilenInnen durch den Zuzug von Familienangehörigen, Studenten oder Arbeitssuchenden ausgeglichen wurde.

Ende des Exils

Mit dem Plebiszit im Jahr 1988, mit dem die chilenische Bevölkerung die Beendigung der Militärregierung und die Rückkehr zu demokratischen Politikformen einleitete, war die politische Begründung des chilenischen Exils nicht mehr gegeben. Die Verteidigung der Menschenrechte muß heute nur noch in Einzelfällen vor Gerichten eingeklagt werden und nur in einigen wenigen Fällen muß die Rückkehr von Flüchtlingen, deren Militärgerichtsprozesse in Chile noch anhängig sind, weiterhin erkämpft werden. Somit kann man sagen, daß das chilenische Exil mit der Regierungsübernahme durch Präsident Aylwin im März 1990 beendet wurde. Heute gilt es, in Chile selbst die psychischen Wunden und die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Diktatur zu heilen, beziehungsweise deren menschenrechtsverletzenden Charakter anzuklagen und ihre Ursachen zu beseitigen.

Die Integration

“Das Exil wurde uns mit Gewalt aufgezwungen. Wir wurden gezwungen, unser Land zu verlassen. Es war eine nicht gewollte Erfahrung, eine ungerechte und unendliche Strafe, ohne irgendwelche rechtfertigenden Gründe. Das Exil gehört zu den gravierenden Verletzungen der Menschenrechte des Pinochetregimes”.
In dieser kurzen Aussage wird bereits der zentrale Unterschied benannt, der das Exil von jeder anderen Form der Migration unterscheidet und der das Leben der Menschen als Exilierte grundlegend charakterisiert. Es ist der Gewaltcharakter, der zur Folge hat, daß Menschen aus ihren politischen, beruflichen und familiären Zusammenhängen gerissen werden und sich gegen ihren Willen und ohne ihr Zutun, oftmals völlig unvorbereitet, in einer völlig fremden Gesellschaft wiederfinden, zu der sie keine Beziehungen haben, deren Menschen in anderen Sozialisationsmustern handeln, von denen sie sich tendenziell ausgeschlossen fühlen; die eine ihnen fremde Sprache spricht und dadurch die Herstellung von normalen Alltagsbeziehungen ungemein erschwert.
Obwohl diese Charakteristika des Exils zunächst alle gleichermaßen betrafen, gab es im Umgang mit den Problemen große Unterschiede, z.B. zwischen jüngeren und älteren Flüchtlingen: Es war erstaunlich, mit welchem Pragmatismus sich erstere in die Universitäten einschrieben, sich um Umschulungen beziehungsweise Lehrberufe bemühten und in kürzester Zeit über das notwendige Beziehungsnetz verfügten, um die Sprache zu lernen und an Gelder heranzukommen.
Frauen haben vielfach, nachdem sie sich in den ersten Jahren total auf den Zusammenhalt der Familien konzentrierten, eigenständige Entwicklungen genommen, sich stark mit den deutschen Sozialisationsmustern auseinandergesetzt und an selbständigen Beziehungen zu deutschen Freundinnen gearbeitet. Viele haben sogar Ausbildungsgänge erfolgreich abgeschlossen, während Männer sich oft, nach den ersten bestätigenden Erfahrungen als Vertreter revolutionärer Bewegungen, in ihrer traditionellen Rolle in Familie und Gesellschaft zu behaupten suchten.
Zudem hat es deutliche Unterschiede im Aufeinanderzugehen zwischen den deutschen, mehrheitlich mittelständisch geprägten Mitgliedern der Solidaritätsbewegung sowie den exilierten ChilenInnen akademisch-mittelständischer oder proletarischer Provenienz gegeben. Besonders im ersten Jahr, als hauptsächlich StudentInnen und AkademikerInnen ankamen, gab es ein unausgesprochenes Einverständnis, sich gegenseitig als gleich anzuerkennen und über die “gemeinsame Sache” zu kommunizieren. In den Folgejahren, als nach und nach immer mehr GewerkschaftsführerInnen und ArbeiterInnen flüchteten, funktionierte dies nicht mehr so bruchlos. Man achtete viel stärker auf Distanz, was für viele chilenische Familien einem zweiten Exil gleichkam, d.h. sie wurden hierdurch tendenziell auf ihre eigenen Familien oder ihre chilenischen Vertretungsorganisationen zurückgeworfen.
Quer durch alle Schichten und Untergruppen des chilenischen Exils läßt sich sagen, daß ein Hauptproblem für viele in den ersten Jahren war, überhaupt zu akzeptieren, daß das Exil möglicherweise von längerer Dauer sein würde. Denn dieses anzuerkennen bedeutet nicht nur, seinem Leben eine andere berufliche und politische Perspektive zu geben, sondern vor allen Dingen zu akzeptieren, daß es “das Modell Chile der Unidad Popular” nicht mehr geben würde. Zur Verhinderung dieses Eingeständnisses wurden alle Energien für die Kontaktpflege mit dem Widerstand in Chile mobilisiert, der Aufbau von Exilvertretungen der Parteien in der Bundesrepublik wurde vorangetrieben, und die deutschen Solidaritätsorganisationen wurden in deren Aktivitäten einbezogen. Vielfach wurden die alten parteipolitischen Rivalitäten im Exil – ohne die Sachzwänge des chilenischen Alltags – erbitterter als im Herkunftsland selbst ausgetragen.
Auch viele Deutsche aus der Solidaritätsbewegung haben sich in diese Auseinandersetzungen – oder waren es Fluchtbewegungen vor der Realität? – einspannen lassen. Es galt die Vision einer utopischen Wirklichkeit in Chile. Aber vielleicht waren dies notwendige Prozesse, um den brutalen Bruch, das Hinausgeschleudertsein aus seinem eigenen Leben, zu verkraften.

Verlust von politischer Identität

Die chilenische Migration wurde fast ausschließlich politisch begründet, das heißt die Ankommenden hatten in Chile viele Jahre ihres Lebens in kollektiven Prozessen nicht nur für einen abstrakten “Neuen Menschen” gekämpft, sondern hatten ihr individuelles Leben stark an gesellschaftliche Veränderungsprozesse geknüpft. Ihr Alltag war – neben dem Beruf und den traditionellen vielfältigen familiären Aktivitäten – geprägt von einer aktiven Suche nach alternativen gesellschaftlichen und politischen Modellen. Diese wurden in den Gewerkschaften, Stadtteilorganisationen, MütterOrganisationen, Jugendverbänden und Parteien gelebt, und zwar desto leidenschaftlicher, je stärker die Außenbedrohung durch die Rechten wurde. Hierdurch ging tendenziell der Blick für die Außenwelt immer mehr verloren, und der Bruch des Exils war um so brutaler.
Über Nacht befand man sich in der reichen deutschen Gesellschaft, die mit dem Kapitalismus identifiziert wurde und die Wurzeln des Nationalsozialismus noch immer in sich zu tragen schien. Beeinflußt von vielen USMedien, die in Chile stark das Bild von Deutschland geprägt hatten und von dem elitären, geschlossenen Charakter der deutschen Kolonie (Colonia Dignidad), gab es zunächst ein großes Mißtrauen gegenüber dieser deutschen Gesellschaft. Eine kritische Auseinandersetzung schien zudem nicht opportun, weil die ganze Kraft für die Arbeit dem Widerstand in Chile gewidmet werden sollte.
Schwierigkeiten entstanden auch aus den gegenseitigen Projektionen. Erst heute können uns Vertreter des Exils offen sagen, daß sie schon lange nicht mehr an den Widerstand in Chile geglaubt hatten, aber weil die Deutschen es so haben wollten, sie entsprechende Informationen auf großen Veranstaltungen weitergaben. Jeder hatte seine Funktion in dem Bild, das sich die 68er Generation von einer besseren Gesellschaft gemacht hatte. Die ExilchilenInnen waren greifbare Beweise dafür, daß es MärtyrerInnen und Henker gibt und daß es nur eine Frage von konsequenter Haltung und Informationsmacht ist, diese Bilder in ihrer Ungebrochenheit zu reproduzieren und zu verbreiten.
Damals hat niemand richtig durchschaut, daß der Preis hierfür der Verlust von politischer Identität, Authentizität und Entwicklungsfähigkeit sein würde. So kam es im Laufe der Zeit zu immer ritualisierteren Beziehungen, statischen Bündnissen der verschiedenen Gruppierungen mit “ihrer” Exilgruppe, zu Solidaritätsfesten mit der immer gleichen Musik von “vorher”, den chilenischen Teigtaschen “empanadas” und politischen Diskursen, die durch leere Worthülsen bestimmt waren. Wir haben uns gegenseitig gebraucht, und -oftmals unbewußt- unter dem Deckmantel der Solidarität persönliche Sehnsüchte ausgelebt. In der Idealisierung unserer Zusammengehörigkeit wurden Differenzen überspielt. Zur wirklichen Begegnung kam es auf beiden Seiten oft nicht. Trotz alledem: Diese Zusammentreffen wurden auch gebraucht! Sie waren ein Trost gegen die Individualisierungstendenzen in der deutschen Gesellschaft, die kaum eine familiäre oder politische Kultur des Zusammenseins kennt. Es hat unvergeßliche und intensive gemeinsame Erfahrungen gegeben, Freuden und Ängste, Siege und Niederlagen, Kampf mit Behörden und interkulturellen Austausch, worin alle Beteiligten eng miteinander verbunden waren.
Erst mit der Erfahrung der Notwendigkeit, einen gemeinsamen Weg des Umgangs miteinander zu finden, konnte die Grundlage der Toleranz gegenüber der anderen Kultur, politischen Haltung oder dem jeweiligen Ethnozentrismus entstehen, zum Beispiel bezüglich der Unterschiedlichkeit der Frauensolidarität dem Machismo gegenüber. In der gegenseitigen Annahme von unterschiedlichen Wertvorstellungen, der Suche nach einer gemeinsamen Ethik haben wir uns Maximen eigenen Verhaltens erarbeitet, die oftmals noch heute Orientierungshilfen darstellen, sowohl für uns hier in der interkulturellen Arbeit gegen Ausgrenzung und Rassimus als auch für manche ChilenInnen, die nach ihrer Rückkehr mit den hier erfahrenen Organisations- und Solidaritätspraktiken ihr neues Arbeits- und Lebensfeld gestalten. Diese Toleranz zuzulassen und anzuerkennen, sowie das, was einmal als total “chilenisch” oder “deutsch” empfunden und eingeordnet wurde, auf dem Hintergrund gemeinsamer Lebensgeschichte politisch neu zu bewerten, ist sicherlich eine der wichtigsten Lehren des chilenischen Exils beziehungsweise der Solidaritätsarbeit.

Sprachverlust bewirkt kulturelle Stagnation

Die große Mehrzahl der chilenischen Flüchtlinge hatte keine Deutschkenntnisse und höchstens relativ schlechte Kenntnisse anderer Fremdsprachen. Diese “Sprachlosigkeit” hatte eine totale Orientierungslosigkeit in den neuen Verhältnissen zur Folge. Es ist nicht nur das Sozialverhalten in der fremden Gesellschaft, es sind auch die sprachlichen Grenzen, die eine nur funktionale, oberflächliche Beziehung zur Umwelt ermöglichen. So verarmt schließlich das Leben selber und ist nur noch ausgerichtet auf gewohnheitsmäßiges und materielles Bewältigen von Anforderungen.
Die Deutschkurse, die nun in kürzester Zeit von den verschiedenen Sozialdiensten angeboten wurden, sollten nicht nur der Sprachvermittlung dienen, sondern auch auf die jeweilige soziale Situation der Lernenden eingehen. So gab es Gesprächskreise zu Fragen des deutschen Sozialhilferechts, zu spezifischen Frauenthemen, zu Themen der 68er Studentenbewegung etc. Die Resonanz dieser Kursangebote war jedoch relativ schwach, weil die Mehrheit der ChilenInnen mehr über ihre baldige Rückkehr und über Chile nachdenken wollte, als sich mit den Problemen des Hierseins auseinanderzusetzen.
Argumente wie: Deutsch brauche man sowieso nicht mehr nach der Rückkehr nach Chile, oder daß die Kinder in der Familie nur Spanisch lernen sollten, um die chilenische Identität nicht zu verlieren, haben sich zehn bis fünfzehn Jahre lang gehalten. Erst angesichts der baldigen Rückkehr wurde der hieraus resultierende Verlust sozialer Kompetenz deutlich. Die Sehnsucht nach einer Welt, die einerseits vergangen und mit vielen leidvollen Nachrichten verbunden ist, und deren Entwicklung einem andererseits in den vielen Jahren der Abwesenheit fremd geworden ist, hat die vitale, alltägliche Auseinandersetzung mit der deutschen Kultur und Gesellschaft verstellt. Viele ExilchilenInnen waren so, ohne sich dessen bewußt zu sein, zu AnalphabetInnen beider Kulturen geworden.

Die Rückkehr beginnt im Exil

Diese Erkenntnis war es, die das chilenische Exil bereits 1983, zehn Jahre nach seinem Beginn, zu einer breiten, in vielen Städten der Bundesrepublik organisierten RückkehrerInnenarbeit motivierte, die auf der rechtlichen, beruflichen, ökonomischen, sozialen, politischen und psychologischen Ebene gleichzeitig laufen sollte. “Wir verstehen diese Rückkehr der ChilenInnen im Kontext des Kampfes für die Menschenrechte und die Wiederherstellung der Demokratie in unserem Land. Wir sehen sie jedoch auch als persönliche Entscheidung eines jeden Einzelnen oder der jeweiligen Familie”.
Zahlreiche Veranstaltungen wurden seit 1983 zur Vorbereitung der Rückkehr durchgeführt, so Veranstaltungen über spezielle rechtliche Probleme; Informationsveranstaltungen zur aktuellen Situation in Chile und Erfahrungen von Rückkehrern in ihrem Integrationsprozeß; Informationsveranstaltungen über Eingliederungsprobleme in das Erziehungssystem und die Anerkennung von akademischen Titeln und Ausbildungs und Studiengängen.
Kontakte mit Instituten in Chile und anderen Ländern wurden aufgenommen, um die Finanzierung der Rückkehr und der ersten Zeit im Heimatland zu gewährleisten. Aber der wohl wichtigste Inhalt der RückkehrerInnenarbeit war die Begegnung mit anderen Exilierten, die kritische Auseinandersetzung mit sich selber, den eigenen Veränderungsprozessen und der Wiederbegegnung mit Chile über die Erfahrungsberichte der Besuchsreisenden in die Heimat.

Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Diese letzte Phase, die schon vom Abschiednehmen und der kritischen Auseinandersetzung mit der neuen neoliberalen Wirtschaftspolitik der AylwinRegierung gekennzeichnet war, hat darüber hinaus ein ganz neues Licht auf die Beziehung zwischen ChilenInnen und Deutschen geworfen. Weder das HelferInnensyndrom noch die eigene Profilierung mit Hilfe der chilenischen RevolutionärInnen standen mehr zwischen uns, so daß unsere Begegnung auch unter der Perspektive der Beziehungen der Deutschen zu den Fremden thematisiert werden konnte. Schwierigkeiten in der Verständigung, in der Zusammenarbeit, in den Beziehungen, die immer auch Ausdruck von gesellschaftlicher Akzeptanz, Einfühlung und politischer Kultur sind, wurden nunmehr unter dem Blickwinkel des deutschen Dominanzverhaltens und Ethnozentrismus gesehen.
Als VertreterInnen der deutschen Chile-Solidarität mußten wir uns mit dem eigenem Größenwahn und einem idealisierten Selbstbild konfrontieren, das auf der Überhöhung der chilenischen RevolutionärInnen beziehungsweise edlen MärtyrerInnen im Widerstand beruhte. Mit der Idealisierung eines Chilebildes löschten wir jedoch gleichzeitig jene Widersprüchlichkeit des Entwicklungsprozesses aus, mit der wir schon in unserer eigenen Gesellschaft nicht zurecht gekommen waren. Nicht die Probleme mit einem reformistischen Entwicklungsweg, nicht die Ambivalenz der Moderne, die alles Fremde degradiert und tendenziell ausmerzt, waren Inhalte unserer Zusammenarbeit, sondern der strahlende Morgen der Revolution. Es war das Fehlen einer politischen Alternative in Deutschland beziehungsweise die bescheidene Auseinandersetzung mit den realen Möglichkeiten politischer Arbeit in Deutschland, die aus dem chilenischen Exil unsere Projektionsfläche machte. Hier haben wir uns getroffen, ChilenInnen und Deutsche, um die Geschichte für einige Jahre anzuhalten.
Die Bilder, die wir uns voneinander machten, waren jedoch nur von kurzer Dauer. Die Solidarität mit Portugal, Argentinien, Uruguay sowie seit Mitte der siebziger Jahre mit Nicaragua und später El Salvador hielt immer neu in Atem, ließ unseren Blick in die Ferne schweifen und die Probleme des chilenischen Exils zum Alltag werden, bis “plötzlich” Themen wie Rassismus und vielfältige Diskriminierungen in diesen Alltag Einzug hielten.
Wir hatten uns in unserer Solidarität menschlich gleichberechtigt gefühlt, aber dies war offensichtlich einseitig gewesen. Nicht nur Behörden hatten gegängelt, sondern chilenische Identität war mit “wohlgemeintem” Integrationsdruck ausgelöscht worden. Je angepaßter die ChilenInnen lebten, desto “erfolgreicher” waren sie. Wer von uns hätte dies vor Hoyerswerda und Rostock so selbstkritisch gesehen? Wer hätte gespürt, daß wir noch immer eine Gesellschaft von ClaqueurInnen sind?
“Es bleibt ein Stachel für die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft, daß diese politischen Flüchtlinge, die nach der Verfassung bei uns Asyl genießen, sich nicht heimisch fühlen, sich nicht angenommen fühlen konnten in einer Gesellschaft, die gleichzeitig eine Entsorgung der deutschen Geschichte von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit versucht, alten Antisemitismus hochkommen ließ, Fremdenfeindlichkeit mit Parolen wie ‘Asylantenschwemme’ schürte und unter diesem publizistischen und politischen Druck zuließ, daß die Asylgesetze bei uns dramatisch verschärft wurden”.
Anstatt aus unserer Geschichte und aus dem vielfältigen Mißbrauch der Asylgesetzgebung während der Chile-Solidarität zu lernen, vermeiden wir die Auseinandersetzung damit, indem wir sie zu einem “Sicherheitsproblem unserer Gesellschaft” (so Innenminister Seiters in der Asyldebatte im Deutschen Bundestag am 25. Mai 1993) umdefinieren. Das Grundrecht auf Asyl, das von den Gründern der Bundesrepublik angesichts der Erfahrung mit dem Antisemitismus in unser Grundgesetz aufgenommen wurde, ist in den Asyldiskussionen der letzten Jahre zu einer Inszenierung deutscher Dominanzkultur verkommen. Die Festung Europa, das heißt das Schengener Abkommen und die Änderung von Artikel 16 des Grundgesetzes, richten Mauern auf, anstatt den Blick frei zu machen auf Prozesse, wie sie angesichts der chilenischen Erfahrung deutlich wurden.

Der obige Artikel erscheint in seiner vollständigen, 26 seitigen Fassung, mit ausführlichem statistischen Material und über die Arbeitsmigration in Chile in einem Reader: Ethnische Minderheiten in Deutschland – ein Handbuch. (Hg.) Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung, Oktober 1993, DM 42,-


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Das Recht auf trial and error in einer Welt ohne Beispiele und Bezugspunkte

“Reform oder revolutionäre Theorie und Praxis in Lateinamerika und Europa” lautete der Titel eines Internationalen Kongresses, den der Verein Monimbó aus Dietzenbach/Hessen in Zusammenarbeit mit Buntstift und der Stiftung Umverteilen organisiert hatte. Ein sowohl vom Alter als auch von den Nationalitäten ziemlich gemischtes Publikum von ungefähr 400 Leuten fand sich am 2. und 3. Oktober in der Frankfurter Uni ein.
Auf dem Podium des Hörsaals V1 saßen und referierten führende Vertreterinnen verschiedener linker Parteien und (ehemaliger) Guerillaorganisationen aus Brasilien, Cuba, Argentinien, Venezuela, E1 Salvador, Guatemala, Nicaragua und Chile. Einer der zentralen Diskussionspunkte war: Ist eine grundlegende Demokratisierung möglich, oder sind die formalen Demokratien, die in den letzten Jahren nach Abdankung der Militärs in Ländern wie Chile, Argentinien, Paraguay oder Brasilien entstanden sind, Fortsetzung der Diktatur mit anderen Mitteln?
Der argentinische Journalist Miguel Bonasso brachte die Fragestellung auf den Punkt: “Die sechziger Jahre waren die Zeit der revolutionären Bewegungen. In den siebziger Jahren kamen die Militärdiktaturen, die in den Achtzigern von formalen Demokratien abgelöst wurden. Was werden die neunziger Jahre bringen? Kommt jetzt wieder eine Phase der autoritären Staatsformen á la Fujimori in Peru, oder gibt es Möglichkeiten für linke Reformprojekte?” Die Kompetenz der lateinamerikanischen ReferentInnen konnte nicht über eine grundlegende Schwäche des Kongresses hinwegtäuschen: Die Zusammensetzung des Podiums spiegelte nicht gerade die Vielfalt der lateinamerikanischen Linken wieder, sondern nur deren parteipolitische Variante. Abgesehen von der Diskussionsleiterin Dorothee Piemont und Monica Baltodano von der FSLN waren Frauen lediglich in ihrer klassischen Funktion als Übersetzerinnen präsent.

Chance vertan: Soziale Bewegungen und Beiträge des Publikums waren kaum erwünscht

Auf die Anwesenheit von VertreterInnen sozialer Bewegungen war offenbar kein Wert gelegt worden, obwohl gerade diese in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika entscheidende Impulse für eine Erneuerung linker Programmatik gegeben haben. Und so blieb es einer Lateinamerikanerin aus dem Publikum vorbehalten, darauf hinzuweisen, daß es mittlerweile auf kontinentaler Ebene zahlreiche Treffen und Zusammenschlüsse von Frauengruppen, Umweltverbänden, Bauernorganisationen, Schwarzen und indigenas gibt, die ja nicht zuletzt in der Kampagne gegen die offiziellen 500 Jahr-Feiern im vergangenen Jahr eine entscheidende Rolle spielten.
Was die Stimme der bundesdeutschen Linken auf dem Kongreß anging, war es fast schon grotesk, mit Wolf-Dieter Gudopp vom “Verein Wissenschaft und Sozialismus” einen Vertreter ausgerechnet jener orthodoxen, kopflastigen und verknöcherten Variante von Sozialismus eingeladen zu haben, die an der ideologischen Krise der Linken einen entscheidenen Anteil hat.
“Auch ich bin von der Begeisterung für Dinosaurier angesteckt.”Dieses modische Lippenbekenntnis Dorothee Piemonts bezog sich auf ihre These, daß der Kapitalismus auf Dauer nicht überlebensfähig sei. Mindestens genauso gut hätte dieser Satz jedoch auf das anachronistische Gestaltungskonzept des Kongresses gepaßt: An zwei Tagen wurde vor vollem Hörsaal eine Frontalveranstaltung sondergleichen abgezogen: Die meisten Redebeiträge lagen dem Publikum als deutsche Übersetzung vor. Aus “Zeitmangel” wurden fast alle Referate ohne Direkt-Übersetzung auf Spanisch abgelesen -eine Methode, die auf einen Teil des Publikums einschläfernd wirkte, während andere frustriert und wütend reagierten: “Da hätte ich mich ja besser mit dem Reader zuhause hinsetzen können.”
Für den Dialog mit der Basis blieb -“leider, leider” -wie die Diskussionsleitung immer wieder bedauerte -so gut wie keine Zeit. Auf diese Weise wurde nicht nur eine Chance vertan, die Perspektiven der lateinamerikanischen Linken in größerer Runde zu diskutieren. Auch die gegenwärtige Krise der bundesdeutschen Linken -und eventuell vorhandene Erneuerungskonzepte -wurde kaum reflektiert, geschweige denn diskutiert.

Revolutionärer Pragmatismus: Drei Mahlzeiten täglich für alle

Die lateinamerikanische Linke sieht sich zur Zeit mit politischen und wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, die neben einer langfristigen Perspektive auch ein konkretes Handeln erfordern: Ein Blick auf die politische Landkarte des Subkontinentes zeigt, daß die Situation in den verschiedenen Ländern so unterschiedlich ist, daß es schwerfällt, allgemeine Prognosen zu treffen. Von einer Entwicklung sind allerdings fast alle Staaten betroffen: Mit dem rigiden Durchsetzen neoliberaler Wirtschaftsprogramme hat sich die Situation für den Großteil der Bevölkerung weiter verschlimmert und die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Das Kürzen öffentlicher Ausgaben im sozialen Sektor und im Bildungsbereich und die Privatisierungen staatlicher Unternehmen haben immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Heute ist es für viele Basisbewegungen in Ländern wie Peru oder Brasilien eine zentrale Forderung, den Hunger und das Massenelend zu beseitigen.
Wenn in seinem Land durchgesetzt werden könnte, daß die gesamte Bevölkerung dreimal täglich zu essen bekäme, so Nildo Domingos von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT), wäre dies angesichts der jetzigen Situation schon eine revolutionäre Errungenschaft. Gleichzeitig sieht auch er die Gefahr, sich in tagespolitischen Forderungen aufzureiben: “Die Linke war bis vor kurzem zu dogmatisch. Nun ist sie zu pragmatisch.”
Mit dem Vorwurf eines zu großen Pragmatismus, der “Sozialdemokratisierung”, wurde auf dem Kongreß in Frankfurt insbesondere der Vertreter der FMLN aus E1 Salvador, Shafik Hándal, konfrontiert. Die ehemalige Guerilla, die Anfang letzten Jahres nach zwölfjährigem Kampf einen Friedens-und Demokratisierungsvertrag mit der Regierung aushandelte, hat gute Chancen, bei den Wahlen im kommenden März die Regierung zu übernehmen. Das Programm, mit dem die FMLN antritt, konzentriert sich auf eine grundlegende politische Demokratisierung und Entmilitarisierung der salvadorianischen Gesellschaft. Es sieht eine Stärkung genossenschaftlicher Eigentumsformen vor, will jedoch gleichzeitig die Marktwirtschaft erhalten. Gegenüber KritikerInnen betonte Handal: “Ob die Demokratie sich am Ende als eine bürgerliche, rein formale, oder als eine substantielle herauskristallisieren wird, ist eine offene Frage. Wir von der FMLN bestehen auf unserem grundlegenden Recht auf die Methode des trial and error in einer Welt, die uns weder Beispiele noch Bezugspunkte bietet.”
Neben der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit ist ein anderes zentrales Problem in vielen Ländern die Rolle des Polizei-und Militärapparates als Repressionsorgan und die Existenz paramilitärischer Todesschwadrone. Gerade die aktuelle Entwicklung des Friedensprozesses in E1 Salvador läßt daran zweifeln, ob sich diese Kräfte tatsächlich mit friedlichen Mitteln entmachten lassen -von einer systematischen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen ganz zu schweigen.

Der ‘Geist Bolivars’ -Trugbild oder politische Vision?

Auf dem Kongreß wurde deutlich, daß die meisten linken Parteien Lateinamerikas zur Zeit in erster Linie damit beschäftigt sind, Perspektiven auf nationaler Ebene zu entwickeln -mit unterschiedlichen Konsequenzen. Zwar wurde immer wieder die Notwendigkeit beschworen, sich auf kontinentaler Ebene zusammen-zuschließen und auch mit linken Bewegungen aus Afrika oder Asien zu kooperieren. Der “Geist Simón Bolivars”, des antikolonialen Befreiungskämpfers aus dem vorigen Jahrhundert, schwebte nicht nur in Form eines riesigen bemalten Transparentes über den Köpfen der Diskutierenden. Es wurde betont, daß es allein schon aufgrund der weltwirtschaftlichen Verflechtungen und der Interventionspolitik der westlichen Industriestaaten nicht möglich sei, den “Sozialismus in einem Land zu realisieren -siehe die Beispiele Kuba und Nicaragua. Durch den Niedergang des “realexistierenden Sozialismus” haben sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren weiter verschlechtert. Dazu Eleuterio Huidobro von der ehemaligen Guerilla und jetzigen Partei der “Tupamaros” aus Uruguay: “Früher sahen wir die Alternativen Sozialismus oder Faschismus. Heute ist eine dritte Alternative aufgetaucht, die sich besonders in einigen afrikanischen Ländern oder in Osteuropa zeigt: das Chaos.”
Trotzdem war die Stimmung auf dem Kongreß von Optimismus gedämpften Optimismus gekennzeichnet: Immerhin haben in einigen Ländern Lateinamerikas linke Projekte in den letzten Jahren an Boden gewonnen und deren VertreterInnen könnten in absehbarer Zeit Regierungsaufgaben übernehmen, beispielsweise in E1 Salvador, Brasilien oder Uruguay. Ein anderes sehr interessantes Projekt -in Deutschland bisher noch recht unbekannt -ist die “Causa R in Venezuela (vgl. LN 226):Diese Bewegung versucht, dem staatlichen Establishment eine dezentrale, basisdemokratische Gegenmacht entgegenzusetzen. Mit beachtlichem Erfolg: Mittlerweile stellt die “Causa R” unter anderem den Bürgermeister der Hauptstadt Caracas.
Was die politischen Programme angeht, sind die LateinamerikanerInnen zwar bereit, auch mit deutschen Linken zu diskutieren, wehren sich aber gegen Bevormundung. Dazu Huidobro aus Uruguay: “Es wäre wünschenswert, wenn sich die Deutschen mehr um ihre Probleme hier kümmern. Wir würden auch gerne in Lateinamerika ein Kommitee zur Unterstützung der Revolution in Deutschland gründen.”


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Den deutsch-brasilianischen Atomvertrag kündigen!

Zwischen 500.000 und einer Million Unterschriften wollen das brasilianische Anti-Atom-Netzwerk REDE und GREENPEACE noch vor Ende des Jahres dem brasilianischen Präsidenten Itamar Franco übergeben und damit den Weiterbau des nur 150 Kilometer von Rio de Janeiro gelegenen Atomkraftwerks Angra dos Reis 2 verhindern. Gleichzeitig wird der Präsident aufgefordert, den 1975 von der Alt-BRD mit der brasilianischen Militärdiktatur ausgehandelten deutsch-brasilianischen Atomvertrag endgültig aufzukündigen. Dieses Abkommen hatte ursprünglich den Bau von 8 (tatsächlich: acht!) Atomkraftwerken durch KWU/Siemens vorgesehen, inklusive Technologie zur Urananreicherung, finanziert durch deutsche Banken und gesichert durch Hermes-Bürgschaften der Bundesregierung. Da der geschlossene Brennstoffkreislauf im Rahmen eines “zivilen” Atomprogramms nicht offen machbar war, hat die brasilianische Marine damals das sogenannte “Parallelprogramm” zum Bombenbau gestartet -und bis heute weiterbetrieben.

Ein Toter ohne Totenschein

Weniger erfolgreich hingegen waren die sogenannten “friedlichen” Atomiker: Angra 2 ist seit fast zehn Jahren stillgelegt, es fehlt(e) das Geld für den Weiterbau. Von Angra 3 zeugt nur ein großes Loch; Itamar Franco verordnete im Dezember 1992 die endgültige Einstellung aller weiteren Arbeiten. Lediglich das von Kanada gebaute erste und einzige brasilianische Atomkraftwerk Angra 1 (in Brasilien besser bekannt unter dem Namen “Glühwürmchen”) erzeugte bisher überhaupt Strom. Doch wegen technischer Probleme (erhöhte Radioaktivität im Primärkreislauf) und Wartungsarbeiten ist der Reaktor seit Anfang März fast durchgehend abgeschaltet. Im September des vorigen Jahres nun besuchte eine brasilianische Delegation unter Leitung des Energieministers Marcus Vinicius Pratini de Moraes die Bundesrepublik, um mit Siemens, dem Bundeswirtschaftsministerium und den deutschen Banken die Modalitäten für die Wiederaufnahme der Bauarbeiten am Atomkraftwerk Angra 2 auszuhandeln. Immerhin sind fast alle Teile des Reaktors seit Jahren geliefert und lagern zu hohen Kosten in Brasilien. Das zu 65% fertiggestellte 1300-Megawatt-AKW sollte laut Siemens bis zum Jahr 1997 betriebsbereit sein. Allerdings ist seitdem so gut wie nichts geschehen und in Brasilien wird weiter um die Finanzierung gestritten. Folgerichtig erklärte GREENPEACE den deutsch-brasilianischen Atomvertrag zum “Toten ohne Totenschein”.

“Es gibt tausend gute Gründe …’

Größter Verbündeter der brasilianischen Anti-AKW-Gruppen ist in der Tat die mittlerweile chronische Finanzmisere des Staates; ein um’s andere Mal kürzte sie den Umfang des Atomprogramms und verzögerte die verbliebenen Bautermine bis heute erfolgreich (siehe Kasten).
Der Bau von Angra 1 hat 3,5 Milliarden Dollar gekostet. Für Angra 2 wurden bisher 4,5 Milliarden ausgegeben, weitere 1/37 Milliarden werden für dessen Fertigstellung veranschlagt -Tendenz steigend. Mit den noch ausstehenden Beträgen könnte mensch nicht nur 2000 Schulen oder 250.000 einfache Wohnhäuser bauen, sondern ein landesweites Alternativ-Energie-Programm initiieren, das sämtliche weiteren Atompläne überflüssig machen würde. Von unabhängigen Energie-Experten wurde bereits vorgeschlagen, das AKW Angra 2 in ein konventionelles Gas-Kraftwerk umzubauen, wie das in einem ähnlichen Fall bereits in den USA geschehen sei.
“17 Jahre nach seiner Unterzeichnung besteht der “Erfolg” des Atomvertrags in mehreren Milliarden unnütz ausgegebener Dollars, keinem Kilowatt produzierter Energie, mehreren Bauruinen und einer enormen Erhöhung der brasilianischen Auslandsschulden, die die aktuelle ökonomische und soziale Krise noch um einiges verschärfen”, faßt GREENPEACE Brasilien das finanzielle Debakel des Atomprogramms zusammen.
Doch die Umweltorganisation führt noch eine ganze Reihe weiterer Argumente für einen endgültigen Baustopp von Angra 2 und das Ende des deutsch-brasilianischen Atomvertrags ins Feld:
-Der Weiterbau von Angra 2 ist illegal, da die gesetzlich notwendige Zustimmung des Kongresses fehlt; außerdem existiert bis heute keine Umweltverträglichkeitsprüfung für das Atomkraftwerk.
-Atomkraftwerke stellen untragbare Risiken dar, zumal in Angra dos Reis nicht einmal ein richtiger Notfallplan existiert. Auch ist Angra 2 nicht gegen Flugzeugabstürze ausgelegt, “aufgrund der natürlich geschützten Lage von Angra 2 in einer engen Bucht” (!?!), wie Siemens schreibt (Standpunkt, September 1992).
-Fast jede andere Energie ist in Brasilien billiger als Atomstrom; Stillegung und Abbruch der Atomkraftwerke dabei noch nicht eingerechnet.
-Auf die Frage der Endlagerung der radioaktiven Stoffe gibt es nicht einmal provisorische Antworten.
-Die militärische Nutzung der Atomkraft ist zu keinem Zeitpunkt ausgeschlossen; das geheime militärische Parallelprogramm existiert von anfang an und wird weiterhin fortgeführt.
-Die Atomkraft stellt für Brasilien ein unpassendes technologisches Modell dar. Bei der Größe des Landes muß jegliche Energiepolitik dezentral ansetzen und sich auf die Charakteristiken und Potentiale der jeweiligen Region stützen.
Dies dürften mehr als genug gute Gründe sein, auch hierzulande für die Kündigung des deutsch-brasilianischen Atomvertrags aktiv zu werden.

Weitere Anti-Atom-Aktivitäten

* Vom 18.-22. Oktober 1993 findet in Rio de Janeiro der VI. Brasilianische Energie- kongress statt. Auf diesem alle drei Jahre von der dortigen Bundesuniversität organisierten Treffen gibt es neben einer Reihe von Workshops zu Energie-Alter- nativen auch eine Arbeitsgruppe zur Atomenergie.
Nähere Informationen über: Emilio Lebre la Rovere, Instituto de Ecologia e Desenvolvimento, Tel.: +55-21-2709995, Fax: +55-21-2906626
* Vom 3.-10. April 1994 wird in Brasilia das IV.Lateinamerikanische Anti-Atom- Treffen (ELAN) stattfinden. War es auf dem ersten Treffen 1988 in Mar del Plata (Argentinien) noch darum gegangen, die verschiedenen Anti-Atom-Gruppen aus Lateinamerika zusammenzubringen, soll 1994 in Brasilien ein gemeinsames Handlungs-und Strategieprogramm erarbeitet werden. Auf dem das Treffen begleitenden Lateinamerikanischen Alternativenergie-Markt (FLEA) sollen neue Produkte und Technologien vorgestellt und für ihre Verbreitung in der Gesellschaft geworben werden.
Organisation und weitere Information über: Secretaria Executiva: ABRASCA DF; SCLN 714/715, Bloco H, Loja 27, CEP 70760-780
Tel: 061-3490353, Brasilia-DF, Brasilien


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