Bis zum 2. Juli müssen sich alle BeitragszahlerInnen entscheiden, ob sie im öffentlichen Rentensystem bleiben wollen oder Mitglied einer der über zwanzig privatwirtschaftlichen Administradoras de Fondos de Jubilaciones y Pensiones (AFJP) werden wollen.
Nachdem der Ausverkauf der Staatsunternehmen inzwischen fast abgeschlossen ist, zieht sich der Staat als Akteur nun auch immer weiter aus dem sozialen Sektor zurück. Argentinien ist damit nach Chile das zweite Land des Cono Sur, das seine Rentenversicherung privatisiert. Doch während in Chile die Altersversorgung ausschlie?lich nach dem neoliberalen Motto “JedeR spart für sich allein” funktioniert, wurde in Argentinien nach heftigen Diskussionen schlie?lich die Koexistenz eines öffentlichen und eines privaten Systems gegen die Lobby der zukünftigen Versicherungsträger, vor allem nationale und internationale Banken, durchgesetzt. Beide Länder haben sich damit von der Idee des Generationenvertrages zur Sicherung der Renten verabschiedet, wobei aber die Rente in Argentinien noch stärker den Charakter einer Versicherung behält.
Dies war auch deshalb möglich, weil sich inzwischen gezeigt hat, da? die chilenischen privaten Rentenversicherungs-träger weit weniger rentabel für die EinzahlerInnen sind als vorher angenommen worden war. Sie hatten auf eine Verzinsung der Einzahlungen von jährlich mindestens fünf Prozent spekuliert. Davon wird auch in Argentinien ausgegangen. Die rentabelsten chilenischen Unternehmen haben aber bisher nur um die vier Prozent, die schlechtesten sogar unter zwei Prozent erreicht. Das unabhängige Arbeitsforschungsinstituts PET in Chile geht in seinen Prognosen davon aus, da? eine Mehrheit der EinzahlerInnen später Auszahlungen unterhalb der Mindestrente erhalten wird. Das dreigliedrige argentinische System wird das vermeiden.
Dreigeteilte Rente
Jede Rente wird sich in Zukunft aus drei Teilen zusammensetzen: in beiden Systemen zahlt der Staat die Prestación Básica Universal (PBU), eine Grundrente von ungefähr 150 Peso (ca. 250 DM) und die Prestación Complementaria (PC), eine Ausgleichszahlung für die bis zum Eintritt ins neue System geleisteten Beiträge. Diese Leistungen will der Staat aus den ArbeitgeberInnenbeiträgen und den höheren Beiträgen Selbständiger finanzieren. Im dritten Teil der Rentensumme unterscheiden sich das staatliche und das private System.
Für die Höhe der Zahlungen im staatlichen System ist der Durchschnittslohn der letzten zehn Jahre vor der Pensionierung entscheidend. Wer allerdings insgesamt weniger als 30 Jahre lang eingezahlt hat, bekommt nur die Grundrente ausgezahlt. Menschen, die lange arbeitslos sind, oder Unterbrechungen machen, wie häufig Frauen zur Kindererziehung, gehen also das Risiko ein, ihre gesamten Einzahlungen zu verlieren. Und bei 3660 Peso, das sind ungefähr 6200 DM, ist in der staatlichen Versicherung die maximale Auszahlung erreicht. Deshalb werden diejenigen mit einem hohen Einkommen in die Privatversicherungen gehen. Denn hier bestimmen die gesamte, individuell angesparte Geldmenge, sowie die Lebenserwartung und Familiensituation die Höhe der Rente.
Für wen lohnt sich was?
Der ideale Klient einer privaten AFJP ist deshalb heute unter 35 Jahre alt, nicht behindert, ledig, kinderlos, festangestellt mit guten Aufstiegschancen. Eine Frau mit gleichen “Voraussetzungen” in gleicher Position wird allein aufgrund ihrer längeren Lebenserwartung schon eine geringere Rente bekommen. Unglücklicherweise geht sie auch schon mit 60 in Rente, während der Mann noch fünf Jahre weitersparen kann. Doch eine jüngere Ehefrau, deren Lebensalter in die Berechnung einbezogen wird, würde auch seine Rente verringern.
Wer unter 3660 Peso verdient, wer gar nur den Mindestlohn von 200 Peso verdient oder häufig arbeitslos ist, wer riskiert, in den letzten zehn Jahren vor der Rente arbeitslos zu sein und eine viel jüngere Frau heiraten will, obwohl er schon 55 ist; wer insgesamt weniger als 30 Jahre seines Lebens arbeiten will…, kann versuchen, die individuellen Vor- und Nachteile der Systeme zu vergleichen. Es wird kaum gelingen. Auch zum Vergleich der unterschiedlichen Beitragssätze bleibt in zwei Monaten wenig Zeit. Wenigstens sieht das Gesetz vor, da? die Mitglieder bis zu zwei Mal im Jahr die AFJP wechseln können.
Staatliche Kontrolle
Die Aufgabe der staatlichen Kontrollbehörde Superintendencia de AFJP besteht darin, über die Zulassung der Gesellschaften zu entscheiden, die Trennung zwischen Eigenkapital und Beiträgen bei den einzelnen AFJP zu überwachen und täglich die Transaktionen der bestehenden Unternehmen auf dem Kapitalmarkt zu kontrollieren. Die Superintendencia selbst finanziert sich durch Zahlungen der Versicherungsgesellschaften. Es bleibt zu hoffen, daß ihre MitarbeiterInnen nicht bald schon in den nächsten großen argentinischen Bestechungsskandal verwickelt sein werden.
Die inzwischen über zwanzig zugelassenen AFJP erwarten kräftige Gewinne. Alle nationalen und viele internationale Banken betreiben eigene Gesellschaften, die, so hoffen sie, bald fünf Millionen Mitglieder haben werden. Das würde ein monatliches Anlagevolumen von ungefähr 300 Millionen Peso bedeuten. Vom Beitrag der EinzahlerInnen, 11 Prozent des Lohnes, behält die Gesellschaft ungefähr ein Drittel ein, zwei Drittel bekommt die Einzahlerin verzinst. Konkurrenz zwischen Banken und Gewerkschaften
Den Konkurrenzkampf um Platz eins unter den AFJP werden voraussichtlich Siembra der Bankengruppe Citibank und Banco Rio sowie Nación der Banco Nación austragen, die beide mit ungefähr 600.000 Mitgliedern rechnen. Um Platz drei werden sich wahrscheinlich Máxima, an der auch die Deutsche Bank beteiligt ist, Previnter von der Boston Bank und Consolidar mit Beteiligung der Dresdener Bank schlagen. Allgemein wird davon ausgegangen, da? langfristig nur etwa zehn der heute einundzwanzig AFJP’s überleben werden.
Nicht nur Banken, sondern auch einige der gro?en Gewerkschaften wie beispielsweise die Energiegewerkschaft Luz y Fuerza sind an AFJP’s beteiligt. Manche haben schon im voraus wie die Metallergewerkschaft gegen Provision ihre Mitglieder an eine der Versicherungen verschachert und hoffen, sich später direkt beteiligen zu können. Dahinter steckt natürlich einerseits das Interesse, den Banken nicht die Gewerkschaftsklientel und die absolute Macht auf dem Kapitalmarkt zu überlassen. Andererseits sind die Sozialwerke der Gewerkschaften gefährdet, weil einige der AFJP’s auch gleichzeitig Kranken- und andere Versicherungen anbieten wollen. Da wollen nun die gewerkschaftseigenen Gesellschaften natürlich mithalten.
Doch nicht alle Gewerkschaften sind von der Privatversicherung überzeugt. Die innerhalb des Gewerkschaftsdachverbandes CGT agierende Oppositionsgruppe MTA (Movimiento de Trabajadores Argentinos), der zum Beispiel die Transportgewerkschaft angehört, empfiehlt ihren Mitgliedern, mindestens noch ein halbes Jahr im staatlichen System zu verbleiben, um dann die Situation einschätzen und die Verzinsung in den unterschiedlichen AFJP’s vergleichen zu können.
Der oppositionelle Gewerkschaftsverband CTA (Congreso de Trabajadores Argentinos), dem viele Angestellte des Staates und der Provinzen angehören, hatte schon im Vorfeld eine Million Unterschriften gegen die Privatisierung der Rentenversicherung gesammelt. Entsprechend rät er seinen Mitgliedern die staatliche Versicherung.
Angst vor wirtschaftlicher Instabilität
Niemand bestreitet, da? das bisherige argentinische Rentenversicherungssystem nicht mehr funktioniert. Seit Jahren ist die staatliche Rentenkasse fast leer, weil sie immer wieder dazu verwendet wurde, Löcher in anderen Bereichen des Haushalts aufzufüllen. Monatelang bekamen viele RentnerInnen deshalb nicht einmal ihre erbärmliche Mindestrente von 100 Peso ausbezahlt.
Eine Garantie für gutes Management der staatlichen Versicherung gibt es jetzt aber auch nicht, genausowenig wie die Sicherheit und Rentabilität der privaten Versicherungen garantiert sind. Vor allem die Angst vor wirtschaftlicher Instabilität macht die Entscheidung für viele ArgentinierInnen so schwierig. Nach dem Börsensturz in diesem Jahr wurden die Regelungen für Investitionen und Börsenspekulation der AFJP noch einmal verändert, und die Frage bleibt offen, was beim nächsten Börsenkrach passiert.
Die Regierung hat gleichzeitig wenig unternommen, die Entscheidungfindung der EinzahlerInnen zu erleichtern. Erst knapp einen Monat vor dem Beginn der Entscheidungsfrist hat sie eine spärliche Informationskampagne begonnen. In einem Comic wurden die Unterschiede zwischen beiden Systemen dargestellt, das private System aber als vorteilhafter vermittelt. Die weit wichtigere, allerdings eindeutig parteiische Informationsquelle sind so die knapp 30.000 VertreterInnen der einzelnen AFJP’s, die das Land mit Mengen von Werbematerial überschwemmen.
Das Gesetz sichert den Privaten au?erdem noch einen entscheidenden Vorteil zu:
Aus dem staatlichen System können die BeitragszahlerInnen jederzeit ins private wechseln. Wer sich in den zwei Monaten aber nicht explizit für den Verbleib im staatlichen System ausspricht, landet automatisch im privaten, ohne Möglichkeit der Rückkehr.