Die Militärs und der Übergang

Das “Boinazo”, wie man die Ereignisse hier in Chile genannt hat, war allerdings nicht der einzige Ausdruck der Unzufriedenheit des Heeres während der Regierung Patricio Aylwins. So sei daran zu erinnern, daß Ende 1990, als die gegenwärtige Administration noch kein Jahr im Amt war, die Militärs ein ähnliches Manöver vollführten, welches euphemistischerweise “Alannübung” (ejercicio de enlace) genannt wurde. Genau wie jetzt, ließ auch damals die Armee ihre Truppen aus den Kasernen ausrücken und eine Reihe symbolischer Gesten vollführen, damit die Bevölkerung, und besonders die politische Klasse, zur Kenntnis nähme, daß etwas Unnormales stattfand (LN 200)..
Die Motive, die die Militärs hatten und haben, um beide Aktionen durchzuführen, sind relativ ähnlich, aber die Umstände sind unterschiedlich. Und das gibt ihnen ihre Besonderheit.
Von der Wirkung her wollten und wollen beide Bewegungen einen Spezialstatus für die Streitkräfte erreichen, insbesondere für das Heer, welcher es ihnen erlauben würde, sich ihrer Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen und Korruption in der Vergangenheit zu entledigen. Auch wenn das gegenwärtige “Boinazo” sich nur verstehen läßt im Hinblick auf die Wahlen im kommenden Dezember, und angesichts der kümmerlichen Verfassung, in der die Rechte auf dieses Ereignis zusteuert.

Pinochet: Stärker oder schwächer?

Wie sich in diesen Wochen gezeigt hat, gibt es keinen Zweifel daran, daß Pinochet weniger Stärke, Legitimität und Bündnismöglichkeiten hat als Ende 1990. Faktisch erreichte er bei jener Gelegenheit die aktive Unterstützung eines Teils der Rechten (der UDI), das Stillhalten des Unternehmertums und, was grundlegend war, die Solidarität der anderen Bereiche der Streitkräfte. Heutzutage haben die Rechte und das Unternehmertum die Reihen geschlossen zur Verteidigung der demokratischen Institutionen, während die anderen Teile der Streitkräfte sich dazu entschlossen haben, dem Thema in der Öffentlichkeit aus dem Weg zu gehen und private Signale des Mißfallens angesichts des Verhaltens der Armee zu äußern.
Marine und Luftwaffe haben angesichts der gegenwärtigen Lage eine andere Strategie . Und sei es auch nur, weil sie nicht im entferntesten in dem gleichen Ausmaße wie die Armee in Menschenrechtsverletzungen und Akte der Korruption verwickelt sind. Gleichzeitig haben sie ihre Politik der Reprofessionalisierung der Institutionen ohne größeren Wirbel und mit aktiver Unterstützung der Regierung durchgesetzt, und zwar in Aspekten, die heute Schlüsselbereiche sind, wie etwa Haushalt und technologische Anpassung.
Ein Bereich der politischen Rechten, der sich zusehends in der Mehrheit befindet, begreift, daß die Verteidigung Pinochets um jeden Preis gewissemaßen bedeutet, sich Rettungswesten aus Blei anzuziehen, während dies gleichzeitig keinen politischen Gewinn einbringen würde. Die Rechte weiß, daß die “bedingungslosen Stimmen” für Pinochet zur Disposition stehen, da es an einer Alternative fehlt, die dies vermitteln könnte, und daß ihr Problem ist, in Richtung Zentrum zu wachsen und den gegenwärtigen Mitte-Links-Block zu zerbrechen und ihn durch einen Mitte-Rechts-Block zu ersetzen.
Schließlich und endlich ist die ökonomische Rechte mehr als zufrieden mit der Art, wie die gegenwärtige Regierung das ökonomische Modell verwaltet.

Die Gründe des “Boinazo”

Das “Boinazo” wurde also durch Pinochet und seine Generäle nicht in Hinblick auf ein neues Szenario gewählt, das für die Forderungen der Armee günstig wäre. Eher angesichts des Gegenteils, nämlich in Hinblick auf die politische Frist bis zu den Wahlen, die zur Pulverisierung der Parallelmacht führen könnten, welche Pinochet in der Zeit zwischen Oktober 1988 (Niederlage beim Plebiszit) und dem März 1990, der Regierungsübernahme Aylwins, geduldig aufgebaut hatte.
Das tiefere Motiv ist, daß -was nicht ganz unmöglich wäre -bestimmte Wahlergebnisse einen Großteil der Inseln der autoritären Macht auf Grund setzen könnten, die sich bisher auf die politische Rechte stützen, welche deren Reform oder Abschaffung verhindern. Wie bekannt ist, erhielt die Rechte bei den Wahlen vom Dezember 1989 mehr als ein Drittel der Sitze der Abgeordneten, und, über designierte Senatoren, mehr als die Hälfte im Senat. Für die nächsten Wahlen ist angesichts der gegenwärtigen Zersplitterung und Krise der Rechten wahrscheinlich, daß dieses Bild sich verändert, und sie das Drittel der Abgeordneten und -auch, wenn dies weniger wahrscheinlich ist -die Mehrheit im Senat verlieren.
Wenn der derzeitige Regierungsblock mehr als zwei Drittel im Abgeordnetenhaus erringt, bleibt der Weg für Reformen offen. Wenn es den politischen Willen dafür gibt, wäre es möglich, daß die derzeitigen Oberkommandierenden des Heeres ihr Amt an den Nagel hängen müßten, ebenso .die ernannten Senatoren an die Luft zu setzen und das derzeitig gültige Wahlgesetz zu reformieren, das der Rechten erlaubt ,mit einem Drittel der Stimmen die Hälfte des Parlaments zu besetzen. Praktisch bedeutet dies das Ende der Parallelherrschaft Pinochets und eine Verringerung der parlamentarischen Macht der Rechten.
Die Möglichkeit eines überwwältigenden Sieges des Regierungsbündnisses gründet sich nicht auf ein wachsendes Wählerpotential (das seit 1989 fast gleich ist), sondern ergibt sich aus der Krise, in der sich die Rechte befindet. Es sind nur noch wenige Wochen bis zur Aufstellung der Präsidenschaftskandidaten und der Listen für die Parlamentsabgeordneten ,und es gibt immer noch keine Übereinstimmung. Die Auseinandersetzung in der Rechten geht um die Miteinbeziehung der Kräfte des populistischen Kandidaten Francisco Javier Errazuris, dessen Wählerpotential von den beiden rechten Parteien sehr verschieden eingeschätzt wird.
Für die Renovacion Nacional (Nationale Erneuerung )bedeutet die Einbeziehung Errazuris die Gewißheit, sich eine Niederlage im voraus einzuhandeln. Schon die, WählerInnenschaft von Errazurris wäre unmöglich zu disziplinieren und, so argumentieren sie, die eigene Basis von RN würde nicht für die ParlamentskandidatInnen stimmen, die von Errazuris angeführt werden.
Die andere rechte Partei (die UDI) denkt genau das Gegenteil. Das wahrscheinlichste Ergebnis ist deshalb, daß die Rechten nicht nur einen Präsidentschaftskandidaten aufstellen (was irrelevant ist, weil sie sich in diesem Punkt sowieso verloren wissen), sondern , daß sie mit zwei parlamentarischen Listen antreten, was bedeuten würde, weniger als das nötige Drittel zu erhalten, mit dem sie Reformen verhindern können.

Das Kalkül des Generals

Augusto Pinochet kann man viel vorwerfen, nur eins nicht: nicht gut kalkulieren zu können. Seine Berechnungen sagen ihm, daß er fast sicher mit einer Wahlniederlage der Rechten rechnen muß. Dies würde den Raum für Reformen öffnen. Deshalb will er jetzt ein Abkommen erzielen, solange die Bedingungen noch nicht so schlecht sind, wie sie in Zukunft sein werden. Deshalb jetzt den “Boinazo” und nicht später. Für diese These spricht, daß der jetzige Forderungskatalog der Armee sehr präzise ist -im Gegensatz zu den gewollt undeutlichen Forderungen bei der “Alarmübung” im Dezember 1990 -und ein Hauptziel hat: eine definitive und nicht mehr rückgängig zu machende Amnestie für alle während der Diktatur begangenen Verbrechen durchzusetzen, etwa in der Art wie sie in Uruguay und in Argentinien durchgeführt wurde.
So, argumentieren militärische Quellen, würde die Spannung zwischen dem zivilen und dem militärischen Sektor beendet werden, und dann könnte sich Pinochet ins Privatleben zurückziehen. Seine Motive, noch im Amt zu bleiben -nämlich seine Untergebenen zu schützen- wären dann hinfällig. Das ist die Forderung und das Angebot.

Auch wenn der Ausgang noch ungewiß ist, zweifeln wenige, daß die Fordern-gen des “Boinazo” maßlos überzogen sind. Pinochet verfügt nicht über die nötige Macht ,um vom “Boinazo” zum offenen Putsch überzugehen. Und sollten die Forderungen erfüllt werden ,würde dies den Bruch des politischen Blocks der Regierung bedeuten und sie in unvorstellbarem Maße in Verruf bringen.
Das macht eine begrenzte Verhandlungslösung wahrscheinlich, bei der die Regierung einige Unterpunkte zubilligen muß. Dies wäre aber sehr irritierend für Pinochet. Er würde sich im Gegenzug dazu verpflichten ,in Zukunft die institutionellen Wege einzuhalten und weder auf “Alarmübungen” noch auf “Boinazos” zurückzugreifen. Kommt es so, hätte Pinochet fast sein ganzes Kräftepotential ausgeschöpft, ohne große Erfolge zu erzielen. Wenn er jedoch eine Einigung für das “Schlußpunkt- Gesetz” erzielt, was aber bis jetzt schwer vorstellbar ist, so wäre dies ein völlig neues Szenario, bei dem die Diskussion über das Ende des Übergangs (Transicion) belanglos wäre. Dann wäre darüber zu diskutieren, wo und wann sich die Transicion in eine Falle hat locken lassen.

Kasten:

Das binominale Wahlsystem

Um den Bestand ihres Gesellschaftsmodells auch für die Zukunft möglichst abzusichern, erfanden die Ideologen des Militärregimes das “binominale Wahlsystem”, eine Variante des Mehrheitswahlrechts. In jedem Wahlkreis werden zwei Abgeordnete gewählt, und nur wenn eine Partei oder ein Parteienbündnis mehr als zwei Drittel der Stimmen erhält, fallen ihre/ihm beide Sitze zu; im andern, dem Normalfall, erhalten der erste und der zweite Sieger je eine/n Abgeordnete/n (z.B. bei einem Stimmenverhältnis von 55 Prozent zu 45 Prozent). Das Modell läßt bewußt kleine Parteien oder unabhängige KandidatInnen ohne Chance, es zwingt auch großere Parteien zu Bündnissen und damit zu Kompromissen, zum Ausgleich; radikale Positionen werden zur parlamentarischen Erfolglosigkeit verdammt. Deshalb bedeuten die Schwierigkeiten der Rechten, eine gemeinsame Kandidathnenliste aufzustellen, eine ernsthafte Gefahr für ihre politische Zukunft -gleichzeitig aber auch, um ihres politischen Überlebens willen, den Zwang zum Bündnis.


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Der Condor kreist noch über dem Cono Sur

Ein Artikel, ein chilenischer Agent und peinlich berührte Militärs

Am 12. Mai dieses Jahres erschien in Mate Amargo ein Artikel von E.F. Huidobro mit dem Titel “Ya la Vimos” (Das kennen wir doch). Darin wird die Existenz von Todesschwadronen öffentlich gemacht, die in Uruguay zum ersten Mal im Juli 1971 in Erscheinung traten. Huidobro spricht von diesen Todesschwadronen als Gruppen, die teilweise zum “legalen” Repressionsapparat (Polizei, Militär), gehören, an denen aber auch Zivilpersonen beteiligt sind und Leitungsfunktionen innehaben. Im Artikel beschreibt Huidobro die Verbrechen der Todesschwadronen von ihren ersten Aktionen in den 70er Jahren bis zum heutigen Tage.
Er verweist auf die Verantwortung des derzeit amtierenden Präsidenten, Luis Alberto Lacalle, der sich als unfähig erwiesen habe, den Provokationen der Militärs zu begegnen und somit zu ihrem Spielball geworden sei.
“Schlimmer noch”, schreibt Huidobro, “die Regierung versucht die Streitkräfte von dem abzulenken, was aktuell mit ihnen passiert”, nämlich vom Verfall des Soldes und der immer angespannteren sozialen Situation der Soldaten. Dazu greife die Regierung in die Trickkiste: Es werden Truppen nach Kambodscha und Mosambique geschickt und der neueste Knüller ist ein Gesetzentwurf, in dem die Streitkräfte völlig legal zu Wächtern der inneren Ordnung des Landes gemacht werden.
Die Militärs lehnen diese Maßnahmen größtenteils ab. In einer Morgenzeitung ließen sie erklären, daß sich der Präsident mit seinem Gesetzentwurf außerhalb der Verfassung bewege und daß sie wenig Lust verspürten, bei seinen Spielchen mitzumachen.
Huidobro ruft zur Wachsamkeit auf, nicht nur wegen der Existenz von Todesschwadronen, sondern auch wegen der Stümperhaftigkeit, mit der die Regierung versucht, die Situation zu beruhigen. Die Maßnahmen verstärken den Druck innerhalb der Militärs eher noch, stellen das Land international vor große Probleme, und die Bevölkerung wird erneut dem Terror der Rechtsradikalen ausgesetzt.
Die Antwort der Regierung auf diesen Artikel kam postwendend.
Die Staatsanwaltschaft leitete gegen den Autor ein Verfahren mit dem Vorwurf ein, er habe den Präsidenten beleidigt, indem er ihn einen “Esel” und einen “Betrunkenen” genannt habe.
Am Sonntag, den 8. Juni, zwei Tage vor der Verkündung des Urteils einer Haftstrafe von sechs Monaten gegen Fernandez Huidobro und Jorge Zabalza, macht die Regierung überraschenderweise die Entführung des chilenischen Biologen Eugenio Berrios öffentlich, der hochkarätiger Agent des Geheimdienstes DINA ist. Er soll, nach Informationen der chilenischen Justiz und der dortigen Menschenrechtsorganisationen, unzählige Verbrechen zu verantworten haben. Der Agent der Pinochet-Diktatur war im Mai 1992 mit falschen Papieren und Unterstützung chilenischer, argentinischer und uruguayischer Militärs aus Chile geflohen und hatte sich seitdem in Uruguay versteckt gehalten.

Agent Berrios: Ein Beweis für die Zusammenarbeit der Folterer

Berrios verfügte über viele Informationen, die für Pinochet und seinen engsten Mitarbeiter sehr kompromittierend werden könnten. Er war aktives Mitglied der “Red Condor”, der Koordination der Militärs aus Argentinien, Chile, Uruguay, Paraguay und Brasilien, wo seit 1976 Repressionsmaßnahmen untereinander abgestimmt wurden. Anscheinend wurde Berrios zwar zunächst von eben jenen Militärs geschützt, dann jedoch von ihnen entführt, da es zu gefährlich schien, ihn auf freiem Fuß zu lassen. Im November 1992 gelang es ihm, der Überwachung der Militärs zu entkommen und in einem Polizeirevier der Provinz Canelones, 48 Kilometer vor Montevideo, auf seine Entführung hinzuweisen. Verschiedene an Presse und Parlamentsabgeordnete gerichtete anonyme Briefe berichten, daß zahlreiche Militärs Berrios gewaltsam aus dieser Polizeistation weggeholt und die dortigen Beamten gezwungen hatten, die Anzeige, die er wegen seiner Entführung gemacht hatte, aus ihren Akten zu tilgen.
Es ist sicher kein Zufall, daß all diese Informationen erst am 8. Juni öffentlich gemacht wurden. Möglicherweise befürchtete die Regierung, die MLN-Tupamaros seien im Besitz dieser Informationen und würden sie in ihrer Zeitung Mate Amargo oder am zweiten Verhandlungstag des Gerichtsverfahrens gegen Huidobro und Zabalza veröffentlichen.
Der Fall Berrios hat das Land bereits in eine institutionelle Krise gestürzt, die sich im Zwist zwischen bürgerlicher Regierung und Armee manifestiert: Präsident Lacalle versprach zunächst, den Fall bis zur letzten Konsequenz zu untersuchen. Die militärischen Befehlshaber jedoch gaben den Entführern des Chilenen ihre volle Unterstützung und entzogen dem Verteidigungsminister der Regierung das Vertrauen. Lacalle gab schließlich am 11. Juni dem Druck der Oberbefehlshaber der Streitkräfte nach. Anstatt den Fall Berrios gründlich zu durchleuchten, akzeptierte er, daß die darin verwickelten Militärs der Militärjustiz übergeben wurden, was eine Aufklärung unmöglich macht. Als einziges Bauernopfer wurde der Chef des militärischen Geheimdienstes an einen anderen Posten versetzt – ein kleiner Fisch inmitten von so vielen Haien. Die uruguayische Bevölkerung, die Massenorganisationen und politischen Parteien bereiten sich darauf vor, die aktuelle “Demokratie” gegen einen möglichen Staatsstreich zu verteidigen, und selbst die USA schickten eine geheimdienstliche Verstärkung zur US-Botschaft in Uruguay.

“Du bist als nächstes dran” – Pressefreiheit in Uruguay

Inmitten dieser Ungewißheit häufen sich neue Drohanrufe, neuerdings gegen die Parlamentsabgeordneten Matilde Rodriguez und Leon Lev, gegen den Polizeiunterkommissar Hernandez, der Zeuge der Entführung des Chilenen Berrios aus dem Polizeirevier geworden war, und schließlich auch gegen die Schwester von Fernandez Huidobro. In allen diesen Fällen war die Botschaft dieselbe: “Wenn Du weiter mit Deinen Anklagen Staub aufwirbelst, bist Du als nächstes dran”.
Vor dem Hintergrund all dieser Ereignisse verdient ein Thema besondere Aufmerksamkeit: die mangelnde Presse- und Meinungsfreiheit in Uruguay sowie in all den Ländern, die derzeit unter vegleichbaren “Demokraturen” leben. Innerhalb weniger Monate sind mehrere Journalisten wegen Verleumdung oder Beleidigung verurteilt worden, oder wurden entlassen, weil sie zensierte Informationen weitergeleitet hatten. Drei Journalisten der Wochenzeitung “Brecha” der Nachrichtenrdakteur eines privaten Fernsehkanals, und schließlich Fernandez Huidobro und Zabalza sind die jüngsten Fälle, jedoch nicht die einzigen. Ziel dieser Maßnahmen ist die Einschüchterung aller JournalistInnen, damit sie sich selbst zensieren, ohne daß Justiz und Regierung dabei in der Öffentlichkeit als Zensoren und Repressoren wahrgenommen werden. Das alte und längst hinfällige uruguayische Pressegesetz erlaubt solche Schachzüge.

Aufruf zu Protestbriefen

Alle Einzelpersonen, Menschenrechtsorganisationen, internationalen Presseverbände, alternativen Medien, sowie alle politischen und sozialen Gruppierungen sind aufgefordert, sich per Brief oder Fax an den Obersten Gerichtshof in Uruguay zu wenden und die Rücknahme des Gerichtsurteils sowie die Einstellung des Verfahrens gegen Fernandez Huidobro und Jorge Zabalza zu fordern.

Musterbrief an den Obersten Gerichtshof:

Señores Ministros de la Suprema Corte de Justicia,
por la presente deseamos manifestar nuestra preocupación por las denuncias de la actuación de un Escuadrón de la Muerte en la Republica Oriental del Uruguay. Por la información que se maneja a nivel internacional, el mismo ha sido responsable del asesinato de varias personas con trayectoria militante u opiniones progresistas, ha colocado bombas, ha atentado contra locales y autos, ha amenazado de muerte indiscriminadamente a menores, familiares de denunciantes de su existencia, sindicalistas y legisladores y hasta la fecha sus integrantes siguen sin ser identificados.
A su vez le solicitamos la anulación del juicio que la Fiscalía de la Nacion ha entablado contra Eleuterio Fernandez Huidobro y Jorge Zabalza por el artículo de prensa que denuncia la existencia de dicho Escuadrón, juicio sentenciado por la justicia de vuestro pais a 6 meses de prision por el delito de desacato. Entendemos que el no procesamiento de los dos condenados es de suma importancia, para preservar el derecho de informar de todos los trabajadores de la comunicación, en el marco de garantías para su persona.
Pensamos que la aplicación de la sentencia a estos dos periodistas es un ataque a la libertad de prensa.
Sin más, los saludamos muy atentamente.

Sehr geehrte Herren Richter vom Obersten Gerichtshof,
durch den vorliegenden Brief wollen wir unsere Besorgnis zum Ausdruck bringen über die Hinweise auf die Aktivitäten einer Todesschwadron in der Republik Uruguay. Der internationalen Informationslage zufolge hat diese Todesschwadron die Ermordung mehrerer Personen zu verantworten, die politisch aktiv waren oder fortschrittliche Meinungen vertraten. Sie hat ferner Bomben gelegt, Attentate gegen Häuser und Autos verübt, sowohl Minderjährige, Familienangehörige derjenigen, die auf ihre Existenz hinweisen, als auch GewerkschafterInnen und Abgeordnete mit dem Tode bedroht. Bis zum heutigen Tage sollen ihre Mitglieder unbekannt sein.
Gleichzeitig fordern wir Sie auf, das Gerichtsverfahren einzustellen, das die Generalstaatsanwaltschaft gegen Eleuterio Fernandez Huidobro und Jorge Zabalza eingeleitet hat wegen des Zeitungsartikels, der die Existenz der oben genannten Todesschwadron zum Thema hat. Wir fordern Sie auf, das von der Justiz ihres Landes in diesem Verfahren gefällte Urteil über eine sechsmonatige Haftstrafe wegen Unehrerbietigkeit gegenüber dem Staat zurückzunehmen. Wir sind der Ansicht, daß die Annulierung dieses Urteils von höchster Wichtigkeit ist, um das persönliche Recht, frei informieren zu können, für alle im Medienbereich Tätigen zu erhalten.
Wir denken, daß die Vollstreckung des Urteils gegenüber diesen beiden Journalisten einen Angriff auf die Pressefreiheit darstellt.

Die Adresse des Obersten Gerichtshofs lautet:
Corte Suprema de Justicia
Hector Gutierrez Ruiz 1310
Montevideo – Uruguay
Tel.: 00 59 82 – 90 10 41/42/43, 90 25 22 oder 91 91 04
Fax: 00 59 82 – 98 33 26
Eine Kopie der Protestschreiben sollte in jedem Fall an die Redaktion der Zeitschrift Mate Amargo gesandt werden. Die Adresse lautet:
Mate Amargo
Tristan Narvaja 1578
Montevideo – Uruguay
Tel.: 00 59 82 – 49 99 56 oder 49 99 57
Fax: 00 59 82 – 49 99 57

Kasten:

Chronologie der Drohungen und Attentate

1992: Eine Bombe mit Plastiksprengstoff zerstört das Auto des linken Abgeordneten (MPP/Frente Amplio) Hugo Cores. Zwei Bombenanschläge auf die Anwaltspraxis von J.P. Sanguinetti, Expräsident des Landes, Angriffe auf eine Bäckerei der Artilleriekaserne in Montevideo. Anschläge gegen die Botschaft der USA, Anschlag auf ein Auto in unmittelbarer Nähe des Hauses des Chefs der Streitkräfte und des US Botschafters. Bombenanschlag auf Gleisanlagen der Bahn im Landesinneren. Eine Bombe explodiert am Marinedenkmal. Für mehrere Anschläge übernimmt eine Gruppe mit dem Namen “Guardia de Artigas” die Verantwortung.
1993: Am 23. April wird der Aktivist der MLN-Tupamaros Ronald Scarzella ermordet aufgefunden. Francisco Martinez de Cuadra, ehemaliger MLN-Tupamaro, wird bewußtlos und mit elf Messerstichen verletzt gefunden. Eine Polizeistreife bringt ins Krankenhaus. Dort wird er später verhaftet. Vorwurf: Beteiligung an mehreren Raubüberfällen.
Ein weiterer Ermordeter wird in Salinas gefunden. Er ist der Bruder eines bekannten Ex-Tupamaros, der heute in Venezuela lebt.
Ein Mitglied der MLN-Tupamaros, er ist Gewerkschafter im Gesundheitsbereich, wird zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er Medikamente mitgenommen hatte.
Das Haus der Witwe von Raul Sendic, Xenia Itté, sie ist Präsidentin des “Movimiento por la tierra”, einer von Raul Sendic mitbegründeten Landbewegung, wird mit Hakenkreuzen, Beleidigungen und Morddrohungen beschmiert.
Das Büro des Movimientos und eine kleine Farm werden angegriffen, außerdem wird versucht, den Jeep der Organisation von der Straße abzudrängen. Eine der Töchter Ronald Scarzellas erhält einen Tag nach dem Tod ihres Vaters Morddrohungen. Ein Gewerkschaftskollege von Scarzella, wird ebenfalls mit dem Tod bedroht.


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“Das hat mit unserer Lage nichts zu tun”

“Zu den herkömmlichen Schwerpunkten Krankheitsentstehung, Entwicklung von Impfstoffen, Behandlungsmöglichkeiten und gesellschaftliche bzw. finanzielle Unterstützung der Kranken kam ein fünfter Bereich hinzu: Die Entwicklung von AIDS in der Dritten Welt,” erklärt der Kongreßvorsitzende Karl-Otto Habermehl von der Freien Universität. “Wir sind uns bereits des Ausmaßes des Problems in Afrika bewußt. Nun geraten aber Asien und Südamerika in den Blickpunkt, und das in viel explosiverer Form als erwartet. Darum müssen wir die Länder der Dritten Welt und Osteuropas stärker einbinden.” Für mehr als 2000 TeilnehmerInnen aus den armen Regionen dieser Welt wurden daher die Reisekosten übernommen, um ihre Teilnahme zu ermöglichen, darunter auch viele LateinamerikanerInnen.
In einer Reihe von Vorträgen und Symposien wurden die sozialen, kulturellen, ökonomischen Faktoren der Ausbreitung von AIDS beleuchtet und die unterschiedlichen gesundheitspolitischen und pädagogischen Ansätze miteinander verglichen. Ziel der OrganisatorInnen war es, einen Erfahrungsaustausch zwischen den verschiedenen Ländern zu ermöglichen. So soll die Ressourcenvergeudung eingedämmt werden, die dadurch entsteht, daß jedes Land für sich Untersuchungen durchführt, die an anderen Stellen dieser Welt bereits gelaufen sind.
Auch bei der überall verbreiteten Immunschwächekrankheit zeigt sich die Zweiteilung der Welt. 75% der mit dem AIDS-Erreger HIV (Humanes Immundefizienz-Virus) infizierten Menschen leben in den Entwicklungsländern, ihr Anteil wird in den kommenden Jahren auf 90% anwachsen. Betroffen ist v.a. in Afrika in erster Linie der aktive Bevölkerungsanteil, die meisten AIDS-PatientInnen sind zwischen 20 und 45 Jahre alt und bilden das entscheidende ökonomische Potential in den verschiedenen Ländern.
Dadurch bekommt die AIDS-Epidemie ihre besondere Bedeutung, obwohl weltweit immer noch weitaus mehr Menschen an prinzipiell behandelbaren Infektionskrankheiten und besonders an Tuberkulose sterben. Diese Krankheiten betreffen allerdings in stärkerem Maße Kinder und alte Menschen, die volkswirtschaftlichen Auswirkungen sind daher geringer. Das ist zwar nicht weniger schlimm, aber übt nicht den gleichen ökonomischen Druck auf die Regierungen aus.
Schwerpunkt des Kongresses waren naturgemäß die wissenschaftlichen Vorträge und Workshops, die durch Hunderte von Postern über Einzelstudien ergänzt wurden. Die medizinische AIDS-Forschung verfolgt im Moment drei Hauptstränge: Entwicklung eines geeigneten Impfstoffes, Behandlung des Immunschwächesyndroms durch antivirale Substanzen einerseits und der begleitenden opportunistischen Infektionen andererseits und die gentechnische präventive und kurative Manipulation der betroffenen Abwehrzellen.
Am erfolgversprechendsten stellt sich derzeit die Möglichkeit dar, in absehbarer Zeit einen allgemein einsetzbaren, verträglichen und wirksamen Impfstoff anbieten zu können. Einen von der beobachtenden Presse bei der ansonsten sensationsarmen Konferenz dankbar aufgenommenen Höhepunkt stellte die Ankündigung des US-Amerikaners Daniel Bolognesi dar, einen solchen Impfsubstanz in den nächsten zwei Jahren anbieten zu können. Doch selbst wenn dies gelänge, würde das die Ausbreitung der Epidemie zunächst nicht bremsen können.
Dazu bedarf es eines Medikaments, das die Krankheit heilen kann, also das Immunschwäche-Virus direkt tötet oder lahmlegt. Die bekannteste dieser antiviralen Substanzen ist das sogenannte AZT (Azidothymidin), das die Vermehrung des HIV hemmt. Die zunehmend beobachtete Resistenz kann durch die Kombination mit ähnlichen Stoffen hinausgezögert werden. Erwähnenswert erscheint die Tatsache, daß kurz vor Beginn der AIDS-Konferenz die Ergebnisse einer großen Studie mit mehr als 1700 PatientInnen aus Großbritannien, Frankreich und Irland vorgestellt wurden, die bisherige Behandlungsvorstellungen in Frage stellt. Danach beeinflußt AZT (Handelsname Zidovudin) bei HIV-positiven Personen nicht den Beginn oder Verlauf der AIDS-Erkrankung und verlängert nicht die Überlebenszeit.
Trotz dieser Erkenntnis hatte einer der Hauptsponsoren des Kongresses, das Pharma-Unternehmen Wellcome, in einer Parallelveranstaltung Gelegenheit, die Vorzüge einer frühzeitigen AZT-Behandlung darzulegen. Schließlich gehört Wellcome zu den wichtigsten AZT-Produzenten in der Welt. Wenn aufgrund der genannten Untersuchung die zum Beispiel von der US-Gesundheitsbehörde erfolgte Zulassung von AZT zur Prophylaxe der AIDS-Erkrankung bei HIV-Infizierten zurückgenommen wird, bedeutet das für die Pharma-Industrie herbe Einbußen.

Rückkehr der Tuberkulose

Das könnte aber den Nebeneffekt haben, daß wieder mehr Augenmerk auf die Entwicklung neuer Antibiotika gelegt wird. Dies zeigt sich in besonders bedrohlicher Form am Beispiel der Tuberkulose (Tbc), die immer schon als klassische soziale Krankheit galt und in den vergangenen Jahrzehnten zumindest in den entwickelten Ländern eine immer geringere Rolle spielte. Nicht zuletzt aufgrund der Ausbreitung der Immunschwächekrankheit AIDS, in erster Linie aber wegen der zunehmenden Verelendung bestimmter Bevölkerungsgruppen tritt die Tbc in den Industrienationen nun immer häufiger auf.
Dabei zeigt sich ein besonderes Problem: Es gibt zur Zeit sechs Standardmedikamente, die in Kombination in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich gegen diese Krankheit eingesetzt wurden, sofern die Mittel dafür zur Verfügung standen. In jüngerer Zeit wurde jedoch eine vermehrte Unempfindlichkeit der Erreger gegenüber diesen Substanzen beobachtet, die Gefährlichkeit der Erkrankung wächst daher. Die Wirksamkeit der bisher entwickelten Antibiotika gegen die vielen Schmarotzerkrankheiten, die im Zusammenhang mit AIDS auftreten, ist in vielen Fällen unzureichend. Gut zu behandeln ist derzeit nur die AIDS-typische Lungenentzündung, doch die meisten anderen AIDS-Erscheinungen sind nicht oder nur teilweise therapierbar. Die Mehrzahl der auslösenden Erreger kommt zwar überall vor, kann jedoch einem Menschen mit funktionierendem Abwehrsystem nichts anhaben, so daß bis zum Auftreten der Immunschwächekrankheit entsprechende Medikamente nicht erforderlich waren.
Der dritte Ansatzpunkt in der aktuellen AIDS-Forschung ist die genetische Veränderung der menschlichen Zellen, um sie gegen das HIV unempfindlich zu machen. Das Virus greift eine bestimmte Art von Abwehrzellen an, dringt in sie ein und ändert die darin gespeicherte Erbinformation, so daß die Zelle ihre eigentliche Funktion nicht mehr erfüllt. Dadurch bricht letztlich das gesamte Abwehrsystem in sich zusammen. Das Virus bedient sich bestimmter zelleigener Bausteine, deren Herstellung durch gentechnische Manipulationen gehemmt wird, so daß sich das Virus nicht mehr vermehren und in die Zellfunktion einmischen kann. Im Reagenzglas gelingt dies in recht überzeugender Form, im lebenden Organismus sind die Abläufe jedoch komplexer und komplizierter.
Dennoch ist davon auszugehen, daß in den nächsten Jahren entsprechende Versuche, die z.Zt. im Tierexperiment getestet werden, auch beim Menschen Anwendung finden. Sollte es den GenetikerInnen gelingen, auf diesem Wege als erste eine effektive Behandlungsmöglichkeit anbieten zu können, müßte die Gentechnologie-Diskussion völlig neu geführt werden. Unbestreitbar birgt die genetische Veränderung prinzipiell unübersehbare Folgen in sich, doch welchem/r AIDS-Kranken kann eine solche Chance in Anbetracht der schrecklichen Prognose vorenthalten werden?

AIDS-Forschung – Für wen?

Die medizinisch-naturwissenschaftliche Forschung ist auf der nördlichen Halbkugel konzentriert, die allermeisten AIDS-Kranken leben in der südlichen Hemisphäre. Daß weltweit so heftig an dieser Krankheit geforscht wird, haben diese Menschen mehr als ihrer eigenen dramatischen Situation der Tatsache zu verdanken, daß es in den reichen Ländern eine nicht kleine und vor allem einflußreiche Gruppe von LeidensgenossInnen gibt. Und für die wird im wesentlichen Forschung betrieben. Die Ärztin Mary Basset aus Simbabwe bringt das Problem auf den Punkt. Zwischen dem britischen Infektiologen Ian Weller und dem Entdecker des HIV, Luc Montagnier, an die sich die allermeisten Fragen der JournalistInnen richten, erklärt sie auf einer Pressekonferenz: “Worüber hier gesprochen wird, hat mit der Lage in meinem Land überhaupt nichts zu tun. Wir haben kein AZT, um AIDS zu behandeln. Wir haben noch nicht einmal Rifampicin, um die Tuberkulose zu behandeln. Dafür gibt es gar kein Geld.”
Welches Entwicklungsland soll in der Lage sein, die in absehbarer Zeit entwickelten Arzneimittel zu kaufen, die ja die hohen Forschungskosten wieder hereinbringen müssen? Und ob die reichen Industrienationen bereit sind, durch Finanzierung der AIDS-Therapie ihre Ausgaben für Entwicklungshilfe effektiv zu erhöhen, bleibt abzuwarten. 300.000 US-Dollar wollte die Europäische Gemeinschaft Venezuela Anfang des Jahres zur AIDS-Bekämpfung zur Verfügung stellen. Diese eher symbolische Summe wurde letztlich auf ganz Lateinamerika verteilt und geriet damit zu einer Karikatur der Entwicklungspolitik. Die LateinamerikanerInnen auf der AIDS-Konferenz fühlten sich denn auch gänzlich hintangestellt und gegenüber den anderen Kontinenten benachteiligt. Vertreter aus Chile und Argentinien schlugen einen kollektiven Boykott der nächsten Konferenz in Tokio vor, fanden damit aber nicht die ungeteilte Zustimmung der übrigen RepräsentantInnen. Das Interesse von Regierungsstellen und Nichtregierungsorganisationen der reichen Länder ist nach wie vor stärker auf Afrika und Südasien, hier in erster Linie Indien, gerichtet, allenfalls Brasilien wird gemeinhin als Land mit nennenswerter AIDS-Problematik anerkannt.

Weltweite Konzentration aller Kräfte

Doch Enttäuschung über den Ablauf und vor allem über die Ergebnisse der IX. AIDS-Konferenz zeigte sich nicht nur unter den LateinamerikanerInnen. Viele Selbsthilfe- und Betroffenenorganisationen äußerten Kritik an der Organisation und der offiziellen AIDS-Politik. Sie fordern eine weltweite Konzentration aller Kräfte im Kampf gegen die Immunschwächekrankheit. Ziel von konkreten Protestaktionen wurden in erster Linie die Pharma-Konzerne Hoffmann-LaRoche und Astra, die von den Act-Up-Gruppen wegen ihrer Verkaufspolitik angegriffen wurden. Aufgrund überhöhter Preise bleibt vielen Kranken in den USA der Zugang zu bestimmten Medikamenten versperrt, die für die Behandlung bestimmter Erscheinungsformen der Immunschwäche-Krankheit unerläßlich sind.
Die AIDS-Konferenz stand im Spannungsverhältnis zwischen dem vergleichsweise langsamen Fortschritt in der medizinischen Forschung und der hohen Erwartungshaltung der Betroffenen, die zwangsläufig enttäuscht werden mußte und oft zu einer sehr vorwurfsvollen Haltung gegenüber den anwesenden WissenschaftlerInnen führte. Von Seiten der Selbsthilfegruppen wurde kritisiert, ihnen sei nicht genügend Platz eingeräumt worden, was eine völlige Verkennung des Charakters einer solchen Konferenz zum Ausdruck bringt.
Zum ersten Mal in der Geschichte dieses wissenschaftlichen Kongresses wurden in großem Umfang gesellschaftliche Gruppen und Organisationen einbezogen, um einen Austausch zwischen Forschung und alltäglicher Erfahrung mit der Immunschwächekrankheit zu ermöglichen. Hätte es diese Form der Zusammenarbeit zu einem früheren Zeitpunkt gegeben, wäre mensch vielleicht schon eher auf die Idee gekommen, sich in der AIDS-Wissenschaft stärker um die sog. Langzeitüberlebenden zu kümmern. Es bestehen gute Aussichten, daß die Beobachtung der Reaktionen bei jenen Menschen wichtige Erkenntnisse zu Tage fördern, die teilweise bereits 10, 12 oder 15 Jahre mit dem HI-Virus leben und noch nicht an AIDS erkrankt sind. Vielleicht liegt hier ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Krankheit.


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Editorial Ausgabe 229/230 – Juli/August 1993

Daß die Lateinamerika Nachrichten ihren zwanzigsten Geburtstag mit dem Schwerpunkt Chile begehen, ist für die Redaktion so logisch, wie es vermutlich für einen Großteil unserer LeserInnen inzwischen der Erläuterung bedarf: 1993 – 1973? Richtig, der Putsch in Chile…
Der Impuls, auf hektografierten Blättern in ein paar hundert Exemplaren Informationen über Chile in der “Bundesrepublik und West-Berlin” zu verbreiten, entstand im Juni 1973 aus Solidarität mit dem “Chilenischen Weg zum Sozialismus” unter Salvador Allende – in der Hoffnung/Zuversicht, Unterstützung für das bedrohte Experiment mobilisieren zu kön­nen; schon für die Nummer 5 erzwang der Sep­tember-Putsch eine neue Zielrichtung: Unter­stützung für den Widerstand in Chile, Infor­mation für die unglaubliche Zahl spontan ent­stehender Chile-Solidaritätskomitees in (west)deutschen Städten. Das war in diesem unserem Land einmal möglich: Engagement für Menschen in fernen Ländern (wie, um wei­tere signifikante Beispiele zu nennen, davor mit Vietnam, danach mit Nicaragua). Nicht, daß wir uns (allzugroße) Illusionen über die Erfolge der Solidaritätsbewegung machen: Aber damals gingen Tausende auf die Straßen, wenn AusländerInnen in ihren Ländern um­gebracht wurden (und sammelten Gelder für den – auch bewaffneten – Widerstand).
Chile unter Allende – daran ist zu erinnern – war ein Beispiel, schien eine Alternative zu den bewaffneten Befreiungsbewegungen, stand für den friedlichen Weg zum Sozialismus. Die Re­gierung des heutigen Chile versteht sich wie­derum als beispielhaft, und das in zweierlei Hinsicht: als wenn schon nicht “friedlicher”, so doch weitgehend gewaltfreier Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie, gleichzei­tig als ökonomisch erfolgreiches Beispiel für den Weg aus der Unterentwicklung. Galt die Sympathie der Chile-Nachrichten eindeutig der zunächst bedrängten, dann geschlagenen Lin­ken, so versucht das vorliegende Heft, die Kehrseite der “makroökonomisch” so glänzen­den Erfolgsbilanz der heutigen Regierung Aylwin zu zeigen.
Was für die Welt im großen gilt, trifft natür­lich auch auf den Kosmos unserer Redaktion zu: Sie ist nicht mehr, was sie einmal war. Der Wechsel findet wie im “ächten Leben” ständig statt, von der “GründerInnengeneration” sind noch zwei Vertreter (sic! tatsächlich zwei männliche Wesen) in der Redaktion aktiv, und die Arbeitsweise ist wie seit den ersten Num­mer gebändigt chaotisch: Wir lernen ständig aus unseren Fehlern, wissen nur nicht, was. Nur so ist wohl ein Projekt wie die LN zwan­zig Jahre lebensfähig geblieben. Daß aus den Chile-Nachrichten im Jahre 1977 die Latein­amerika Nachrichten wurden, war der “roll-back”-Strategie der Rechten gegenüber linken Bewegungen in Lateinamerika geschul­det (nach Chile: Argentinien, dann Peru).
Daß wir über die Arbeiterklasse gar nicht mehr, über die ArbeiterInnenbewegung kaum noch, über Basisbewegungen gelegentlich, über Kuba viele Jahre gar nicht, dann vereinzelt, zuletzt häufiger und meist kritisch, über Fraueninitiativen und ökologische Pro­bleme relativ regelmäßig, über kulturelle Trends immer noch zu wenig, über spirituelle Trends hoffentlich nimmer berichten – das hat nur noch bedingt mit den objektiven Gegeben­heiten, aber viel mit den subjektiven Befind­lichkeiten, also der jeweils real-existie­renden Redaktion zu tun: Die zehn bis zwan­zig Leute, die sich wöchentlich versammeln, sind nach einem Jahr schon wieder andere. Ob im Laufe der zwanzig Jahre 200 oder 400 Individuen mitgearbeitet haben, ist ziemlich bedeutungslos und wohl auch nicht zuverlässig festzustel­len; die Redaktion der LN bestätigt allmonat­lich die jahrtau­sendealte Weisheit, daß “alles fließt”.
Diese antike Einsicht bedeutet auch – und das Unsseidank! – daß sich in der Redak­tion nie­mals hierarchische Strukturen ausge­bildet haben. Angesichts der Weisheit und Erfahrun­gen der länger Mitarbeitenden natür­lich ein Jammer, aber eben auch die Chance eines Pro­jektes wie den LN: ohne zu verkrusten (glauben wir) offen zu blei­ben und andere Menschen (hoffen wir) sensibel zu machen für die Probleme eines Kontinents jenseits der Grenzen unserer Festung (West-)Europa.


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Geliebtes Erbe einer verhaßten Zeit

Wenn Leute, die die chilenische Regierung vertreten, heutzutage mit Kolleginnen und Kollegen aus den Nachbarländern diskutieren, vermeiden sie es sorgfältig, von Chile als Modell zu sprechen. Ihnen ist es, egal ob sie aus der Christdemokratischen oder der Sozialistischen Partei kommen, peinlich, als überheblich zu gelten, so als sollte am chilenischen Wesen die Welt ringsum genesen. Und gelegentlich lassen sie auch noch erkennen, daß sie keinem Nachbarland die Opfer wünschen, die die lange Nacht der Pinochet-Diktatur gekostet hat. Sobald sie aber untereinander sind, geht ihnen ganz flott von den Lippen, daß sich ihr Land jetzt in der “zweiten Phase des Exportmodells” befindet. Das soll bedeuten, daß sie die Ergebnisse der unter der Militärdiktatur durchgesetzten neoliberalen Revolution, nämlich eine exportorientierte, aktive Weltmarktintegration des Landes mit allen Konsequenzen für seinen inneren Zustand voll akzeptieren und nur innerhalb dieses Rahmens etwas im Sinne von Demokratie und sozialem Ausgleich ändern wollen. Nicht Chile ist also das Modell, sondern Chile hat sich nur frühzeitig nach einem Modell ausgerichtet, das nach dieser Vorstellung andere Länder – unter möglichst weniger kostspieligen Umständen – auch adoptieren müßten.

Die Linksintellektuellen ohne Alternative

Diese Einschätzung, daß es zu dem herrschenden Wirtschaftsmodell keine wirkliche Alternative gebe, wird heute auch von der Mehrheit der einstmals linken Intellektuellen geteilt, die vor zwanzig Jahren mit Salvador Allende für einen demokratischen Sozialismus kämpften und dann für lange Jahre ins Exil gehen mußten. Diese Position ist in der Koalition, die den Präsidenten Patricio Aylwin trägt, so weit akzeptiert, daß die rechte Opposition derer, die mit der Diktatur sympathisierten, für den kommenden Wahlkampf gar kein rechtes Thema hat und in den Meinungsumfragen hoffnungslos zurückliegt.
Woher aber nun diese freudige Akzeptanz des neuen chilenischen Weges? Woher die Angst vor jeder Abweichung vom Pfad der kapitalistischen Tugend? Woher der Erfolg der Warnung “Keine Experimente!”, ganz im Sinne von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard seligen Angedenkens?
Ein großer Teil der Erklärung liegt in dem relativ hohen Wachstum, das die chilenische Wirtschaft seit Mitte der achtziger Jahre und ganz besonders seit dem Amtsantritt der demokratischen Regierung Anfang 1990 erfahren hat. Chile war – neben Uruguay – eins der ganz wenigen Länder, die im sogenannten “verlorenen Jahrzehnt Lateinamerikas” zwischen 1980 und 1990 nicht einen Rückgang der Wirtschaftsleistung erlebt haben, und überhaupt das einzige Land, dessen Produkt pro Kopf in dieser Zeit spürbar zunahm.
Das folgende Schaubild zeigt, wie sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung in Chile im Vergleich zu den Nachbarländern verändert hat. Während es in Peru von 1980 bis 1992 um gute, genauer: katastrophale 30 Prozent gesunken ist, in Bolivien auf niedrigstem Stand noch nicht einmal das Niveau von 1970 wieder erreicht hat und in Argentinien trotz hoher Zuwachsraten in den letzten beiden Jahren die gut 20 Prozent Schrumpfung seit 1980 immer noch nicht wieder wettgemacht hat, verzeichnet es in Chile seit 1982, als es dort unter den Stand von 1970 zurückgefallen war, ein erst langsames, dann sich steigerndes Wachstum um insgesamt 30 Prozent. Der Abstand zum reicheren Argentinien hat sich erheblich verringert, der zu den ärmeren Nachbarländern Peru und Bolivien erheblich vergrößert. Alle, die sich in Chile den Luxus einer Auslandsreise leisten können, kommen mit dem Eindruck zurück: “Bei uns funktioniert es besser!”
Bisweilen verbindet sich damit der Traum, binnen kurzem den Anschluß an die Entwicklung der Industrieländer zu erreichen, Teil der Ersten Welt zu werden. Und in der Tat: In dem großen, weiträumigen Oberklassenviertel von Santiago können sich die gutsituierten Leute wochenlang über weite Strecken bewegen, ohne der Armut zu begegnen. Modernste Wohnanlagen und schmucke Villen wechseln mit luxuriösen Einkaufspassagen, attraktiven Hotels und postmodernen Bankpalästen, zwischen denen geschniegelte Yuppies mit ihren schlanken Aktenkoffern – eifrig telefonierend – hin und her laufen oder fahren.

Eine gigantische Umverteilung

Dieser konzentrierte und heute offen zur Schau gestellte Reichtum ist aber nicht nur das Ergebnis der Wachstumsraten der letzten Jahre, sondern vor allem Resultat einer gigantischen Umverteilung der Einkommmen zu Lasten der Armen und zu Gunsten der Reichen. Nach Angaben der in dieser Hinsicht sicher unverdächtigen Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen (CEPAL) ist in Chile zwischen 1970 und 1990 der Anteil der Armen von 17 auf 35 Prozent der Bevölkerung und der Anteil der extrem Notleidenden von sechs auf zwölf Prozent der Bevölkerung gestiegen. Diese gigantische Umverteilung war einerseits das Ergebnis der nach 1973 erfolgten Durchsetzung des neoliberalen Wirtschaftsmodells mit der völligen Liberalisierung des Marktes, der totalen Ausrichtung auf den Außenhandel und der drastischen Reduzierung der Rolle des Staates in der Wirtschaft und im Bereich des Sozialen. Andererseits wurde die Umverteilung noch einmal verschärft durch die tiefen Wachstumskrisen von 1975 und 1982, die der Schockbehandlung durch die Chicago Boys unter der Diktatur folgten.
Nimmt man die geamte Zeit seit 1970 bis heute, so ist Chile – bezogen auf den Durchschnitt der Bevölkerung – den Industrieländern keineswegs näher gerückt. Um ganze 1,2 Prozent jährlich ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in den 22 Jahren seither gewachsen. Entscheidend für das Bewußtsein der Leute – auch der armen Leute – ist aber, was jetzt passiert; und jetzt boomt die Wirtschaft: Um 10,4 Prozent hat die Wirtschaftsleistung 1992 zugenommen. Wo gibt es das – außer in China – noch auf der Welt? Für 1993 sieht es nicht viel schlechter aus. Und die Inflation sinkt. Und das Auslandskapital strömt herein. Und die Deviseneinnahmen aus dem Export nehmen zu. Und die Investitionsquote steigt.
Unter diesen Umständen setzt auch die Mehrheit der Armen ihre Hoffnung nicht auf die Abschaffung des Wirtschaftsmodells, das ihre Armut erst erzeugt oder noch verschlimmert hat, sondern – unter der demokratischen Regierung – auf einen gerechten Anteil an dem produzierten Wachstum. Regierungsfunktionäre aus dem Planungsministerium haben ausgerechnet, daß tatsächlich im Jahre 1992 die Einkommen der unteren 40 Prozent der Einkommenspyramide um zwei Prozent schneller gewachsen sind als der Durchschnitt. Bei diesem Tempo würde es noch viele Jahrzehnte brauchen, bis eine ähnliche Einkommensverteilung wie im Jahr 1970 wieder erreicht würde; aber die Situation der Armen wird wenigstens nicht noch schlechter.

Liberalismus in den Köpfen

Daß das Wirtschaftsmodell so breit akzeptiert wird, liegt aber auch daran, daß es sich über die neoliberalen sogenannten “Modernisierungen” seit den achtziger Jahren in den Verrichtungen des täglichen Lebens und in den Köpfen niedergeschlagen und festgesetzt hat. Die Privatisierung der grundlegenden sozialen Dienste im Gesundheitswesen und in der Sozialversicherung, die Übertragung des Bildungswesens auf die Gemeinden, die Zerschlagung und Neuordnung der Gewerkschaften durch den sogenannten “Plan Laboral” und die Zerstörung der Berufskammern, alle diese Maßnahmen zielten darauf, die Gesellschaft zu atomisieren und an den Gedanken zu gewöhnen, daß vom Staat nichts zu erwarten ist: “Jede ist ihres Glückes Schmiedin.” Und da unter der Diktatur diesen Ideen der Herrschenden nichts entgegengesetzt werden konnte, wurden sie zu den herrschenden Ideen im Lande. Unternehmerischer Geist kennzeichnet heute nicht nur die UnternehmerInnen, sondern auch die Werktätigen bis hin zu den Bettlern, die sich zur Steigerung der “Effizienz” ihrer Arbeit eine Krawatte umbinden.
Die Ausrichtung auf den Export ist auf den ersten Blick beeindruckend erfolgreich. Immer steigende Deviseneinnahmen haben nicht nur die Finanzierung des Luxus der Oberschicht, sondern auch eine Reduzierung der Auslandsschulden möglich gemacht. Aber auch der Blick auf die endlos erscheinenden neuen Obst- und Weingärten, Kiefern- und Eukalyptuswälder, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die vielgepriesenen “nichttraditionellen” Exporte von Obst und Holz, Wein und Zellulose eben doch insofern sehr traditionell sind, als es sich um Rohstoffe oder wenig verarbeitete, rohstoffnahe Produkte handelt, bei denen die komparativen Vorteile gegenüber den ausländischen Konkurrenten in der Ausbeutung des Bodens und schlecht bezahlter – häufig weiblicher – Arbeitskräfte liegen. An ein dauerhaftes Wachstum dieser Art von Exporten ist nicht zu denken; und unter ökologischen und sozialen Gesichtspunkten wäre es auch gar nicht wünschenswert.
Die Vernachlässigung ökologischer Gesichtspunkte ist ohnehin eins der wesentlichen Kennzeichen des chilenischen Modells. Kaum jemand wagt es, die Argumentation gegen Smog und Pestizide, gegen Monokulturen und Naturwaldvernichtung soweit zu treiben, daß auch die Heilige Kuh des Wachstums um jeden Preis ins Zwielicht geriete. Die Regierung des Präsidenten Aylwin und ihre fast sichere Nachfolgerin unter dem Christdemokraten Eduardo Frei werden froh sein, wenn sie die Fortsetzung des neoliberalen Wirtschaftsmodells mit fortgesetztem Wachstum, einem Minimum an Verbesserung im Sinne sozialen Ausgleichs und der Aufrechterhaltung einigermaßen demokratischer Verhältnisse kombinieren können. Für manche Länder in Lateinamerika und Osteuropa mag solches Streben Modellcharakter haben; von sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Vernunft sind die Verhältnisse in Chile immer noch weit entfernt.


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Neuer Präsident aus den Reihen der alten Stroessner-Partei

Stroessner ging – der Beginn eines steinigen Wegs zur Demokratie

Die Zerstrittenheit der Opposition hat den “Colorados” bei den Präsidentschaftswahlen den Sieg beschert und somit zunächst die Perspektive auf eine demokratische Öffnung Paraguays blockiert. Juan Carlos Wasmosy reichte eine relative Mehrheit von 40 Prozent, um den Einfluß der Partei des Ex-Diktators Alfredo Stroessner auch für die kommenden fünf Jahre zu sichern. Nach fast 35 Jahren Militärdiktatur wurde Stroessner im Februar 1989 in einem blutigen Militärputsch gestürzt. Der Führer des Staatsstreiches, General Andres Rodríguez, kündigte noch in derselben Nacht die Demokratisierung Paraguays an. Dieses Versprechen machte ein Mann, der in der Militärhierarchie unmittelbar hinter Stroessner stand und der seinen gewaltigen Reichtum während der Diktatur zusammengerafft hatte. So groß die Hoffnungen nach der Vertreibung Stroessners ins brasilianische Exil waren, so gering erschienen die Chancen auf Veränderung. Rodríguez nutzte die Gunst der Stunde und wurde kurz nach dem Putsch im Mai 1989 als Kandidat der offiziellen “Colorado”-Partei, die auch schon Stroessner als politische Basis gedient hatte, mit offiziell über 70 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt.
Die nach dem Abgang Stroessners immer stärker werdende Opposition zwang Rodríguez und die “Colorado”-Partei zu schrittweisen Zugeständnissen. Dabei nutzten die GegnerInnen Rodríguez’ die Freiräume aus den nach dem Putsch wiedereingeführten Grundrechten der Presse- und Versammlungsfreiheit. Höhepunkt dieser Entwicklung waren die Kommunalwahlen von 1991. Der Bürgermeisterposten in Asunción, eines der wichtigsten Ämter in Paraguay, ging an den unabhängigen und als links geltenden Kandidaten Carlos Filizzola der Bewegung “Asunción für alle”. Doch der über 35 Jahre gut funktionierende Apparat der “Colorados”, offiziell auch unter dem Namen “Nationale Republikanische Vereinigung” (ANR) agierend, hatte nur wenig von seiner Wirksamkeit eingebüßt. Trotz der Fraktionierung der Partei nach dem Sturz Stroessners wahrte sie in entscheidenden Momenten nach außen stets eine gewisse Einheit. Die kommunalen Parteisektionen sind nach wie vor relativ leicht zu mobilisieren. Dies zeigte sich Ende 1991 anläßlich der Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung. Die “Colorados” erzielten wie zu Zeiten der Diktatur eine absolute Mehrheit. Die 1992 von diesem Gremium verabschiedete Verfassung wurde als die Grundlage des neuen demokratischen Paraguays dargestellt. Obwohl die “Colorados” über die absolute Mehrheit verfügten, entsprach die Verfassung in vielen Punkten den Forderungen der Opposition. Abgeordnete aus den eigenen Reihen stimmten oft aus machtpolitischem Kalkül gegen die offizielle Linie der Partei. In einem Punkt waren sich die “Colorados” jedoch einig: Wahlen werden bereits im ersten Wahlgang mit relativer Stimmenmehrheit entschieden. Das Kalkül, mit dieser Wahlrechtsreform die in sich gespaltene Opposition zu überflügeln, ging schließlich auf.

Kandidatenkür als Farce: Pressemanipulationen und interner Wahlbetrug

Der Wahlkampf um das Präsidentenamt begann schon sehr zeitig. Bereits unmittelbar nach dem unerwarteten Sieg des unabhängigen Kandidaten Filizzola bei den Kommunalwahlen erklärte der reiche Unternehmer Guillermo Caballero Vargas seine Kandidatur. Anfangs war er um ein ausgesprochen sozialdemokratisches Image bemüht. Da die Sozialdemokratie in Paraguay aber kaum eine Basis hat – nur die eher unbedeutende “Febrerista”-Partei baut auf sozialdemokratischen Grundsätzen auf – wurde mehr auf den Aspekt des Neuen, Unverbrauchten und Erfolgreichen gesetzt. Caballero Vargas stützte sich auf das Bündnis “Nationales Zusammentreffen” (“Encuentro Nacional”), einen Zusammenschluß verschiedener kleiner Organisationen, Parteien und Parteiflügel. Vargas investierte Millionen in den Wahlkampf. Vor allem Presse und Rundfunk wurden von ihm beherrscht, ausgesprochen tendenziöse und wahrscheinlich gekaufte Artikel und Wahlprognosen unterstützten seine Kandidatur.
Der zweite Oppositionskandidat, Domingo Laino, wurde von der “Authentisch Liberal Radikalen Partei” (PLRA) nominiert. Er zehrte vor allem von seinem Ruf als unerschrockener Kämpfer gegen die Stroessner-Diktatur. Allein 1988 wurde er zehnmal verhaftet. Die PLRA besteht bereits seit über einhundert Jahren und verfügt vor allem in den ländlichen Gegenden traditionell über eine große AnhängerInnenschaft, die sie auch in den Jahren der Diktatur bewahrte.
Der dritte aussichtsreiche und letztlich siegreiche Kandidat war Juan Carlos Wasmosy, nominiert von der herrschenden “Colorado”-Partei. Er ist ebenfalls reicher Unternehmer und vorrangig in der Baubranche tätig, die seit dem Bau des Itaipú-Staudamms an der Grenze zu Brasilien ständig wächst.
Bereits seiner Nominierung als Präsidentschaftskandidat hing der Ruch von Betrug und Manipulation an. Wasmosy, erklärter Favorit des derzeitigen Präsidenten Rodríguez sowie der nach wie vor sehr mächtigen Militärs, hatte die parteiinternen Wahlen gegen den erzkonservativen und stroessnerfreundlichen Luis María Argana verloren. Eine von der Parteiführung eingesetzte Untersuchungskommission erklärte diese interne Wahl mit dem zweifelsohne berechtigten Hinweis auf Manipulationen für ungültig und ernannte prompt den als gemäßigt geltenden Wasmosy zum Sieger. Argana rief daraufhin offen dazu auf, nicht für Wasmosy zu stimmen. Seine zahlreiche AnhängerInnenschaft stand daher vor dem offensichtlichen Dilemma, mit der Erststimme (Präsidentenstimme) entweder einen Oppositionskandidaten zu wählen oder einen ungültigen Wahlschein abzugeben. Die meisten AnhängerInnen Arganas stimmten für Caballero Vargas, denn die Stimme dem liberalen Erzfeind Domingo Laino zu geben, kam für diesen konservativsten Teil der “Colorados” nicht in Frage.

Wahlkampf mit Mauscheleien

Caballero Vargas hatte zwar Presseberichten zufolge leichte Vorteile in Asunción, verfügte aber in den ländlichen Regionen über keine nennenswerte politische Basis. Die “Colorado”-Partei mobilisierte ihre AnhängerInnen mit populistischen Losungen und vor allem mit dem Schüren von Angstpsychosen: Falls die Opposition siegen würde, bekämen alle “Colorados” die Rache für die langjährige Unterdrückung während der Diktatur zu spüren, zum Beispiel durch den Verlust des Arbeitsplatzes in Staatsunternehmen oder im öffentlichen Dienst.
Am 9. Mai, dem Wahlsonntag, standen nicht nur das Präsidenten- und das neu geschaffene Vizepräsidentenamt, sondern auch 45 Senatoren- und 80 Deputiertensitze sowie 17 Gouverneursposten und 167 Gouverneursräte zur Abstimmung. Das Wahlverfahren selbst war ausgesprochen umständlich. In Asunción galt es drei, im übrigen Land fünf Stimmzettel auszufüllen. Um unmittelbarem Wahlbetrug vorzubeugen, waren zahlreiche Kontrollmechanismen eingeführt worden. Die Stimmabgabe selbst verlief recht ruhig, die Beteiligung war mit über 70 Prozent ausgesprochen hoch. In der Provinz Alto Paraguay kam es zu Übergriffen und Manipulationsversuchen durch “Colorados”, die vor allem der Einschüchterung der Opposition und der indigenen Bevölkerung dienen sollten. Gerüchte, daß Personalausweise, die zur Identifizierung als Wahlberechtigte notwendig sind, aufgekauft wurden, konnten allerdings nicht bewiesen werden.
Der eigentliche Eklat begann mit Schließung der Wahllokale um 17 Uhr. Bereits Minuten später gab Humberto Rubin vom bekannten Radiosender Nanduti Hochrechnungen bekannt, die die “Colorado”-Partei zur Siegerin erklärten. Diese Prognose beruhte auf willkürlichen Befragungen von WählerInnen beim Verlassen der Wahllokale. Offensichtlich wurden diese Aussagen gekauft. Pikanterweise unterlag gerade Radio Nanduti während der Stroessner-Diktatur harten Verfolgungen und direkten Repressalien durch die “Colorados”. Mit Bekanntgabe dieses “Ergebnisses” begannen sofort im ganzen Lande Siegesfeiern der AnhängerInnen der “Colorados”, deren Schar erstaunlich schnell um zahlreiche “ÜberläuferInnen” anwuchs.
Offensichtlich sollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen geschaffen werden. Offizielle Angaben zu einem Teil der Wahlbezirke lagen dagegen erst 24 Stunden nach der Wahl vor. Gleichzeitig wurde die Auswertung der unabhängigen Initiative SAKA (Guaraní-Wort für Transparenz) von offizieller Seite lahmgelegt. Die staatliche Telefongesellschaft ANTELCO unterbrach unter dem Vorwand technischer Probleme, die eigenartigerweise nur bei SAKA auftraten, alle entscheidenden Telefonleitungen. Erst durch massive Einflußnahme des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, der eine BeobachterInnengruppe leitete, intervenierte Präsident Rodríguez bei der Telefongesellschaft. Schließlich konnten die MitarbeiterInnen von SAKA doch noch ihre Ergebnisse zur Auswertung nach Asunción weiterleiten.
Die Parallelauswertung dieser Initiative bestätigte am Ende allerdings bis auf geringe Differenzen die offiziellen Wahlergebnisse. Die befürchtete Manipulation der Wahlergebnisse blieb anscheinend aus. Alles spricht indessen dafür, daß die “Colorado”-Partei darauf vorbereitet war, Wahlfälschungen vorzunehmen. Eine “interne” Stimmenauszählung, die den Sieg Wasmosys ergab, machte Manipulationen jedoch überflüssig.
Zweifel an der Sauberkeit der Wahlen wurden auch durch die Tatsache genährt, daß am Wahltag völlig überraschend die Landesgrenzen geschlossen wurden. Eine Million ParaguayerInnen, die beispielsweise in Argentinien wohnen, wurden daran gehindert, ihre Stimme abzugeben. Die im Ausland lebenden ParaguayerInnen gelten fast ausschließlich als AnhängerInnen der Opposition.

Favorit der Militärs neuer Präsident

Eine Woche nach der Wahl lagen noch immer keine offiziell bestätigten Wahlergebnisse vor. Den bisher veröffentlichten Angaben zufolge, die aber kaum noch größeren Veränderungen unterliegen werden, wird Juan Carlos Wasmosy von der “Colorado”-Partei der neue Präsident Paraguays und Angel Roberto Seifert neuer Vizepräsident. Wasmosy erhielt 40,3 Prozent der abgegebenen Stimmen, Laino 32 Prozent und Caballero Vargas 23,4 Prozent. Die “Colorados” verfügen über insgesamt 60 Senatoren und Deputierte, die Liberalen über 49 und die “Nationale Zusammenkunft” entsendet 16 Abgeordnete ins neue Parlament. Die “Colorado”-Partei wird zukünftig in 13 Provinzen und die Liberalen in vier Provinzen den Gouverneur stellen.
In Paraguay wird es von 1993 bis 1998 eine Regierung geben, die fast zwei Drittel der WählerInnen gegen sich hat. Die “Colorado”-Partei profitierte davon, daß zwei fast gleich starke Oppositionskandidaten gegeneinander antraten und sich die Stimmen streitig machten. Damit sind die Oppositionsführer mitverantwortlich für den Erfolg der “Colorado”-Partei, denn ein gemeinsamer Kandidat hätte gewiß die Mehrheit der WählerInnen hinter sich gebracht.
Wie schon zu Zeiten der Stroessner-Diktatur macht sich der Mangel an politischer Zusammenarbeit zwischen den Oppositionskräften schmerzhaft bemerkbar. Die Chance für einen politischen Wechsel und die Fortführung der Demokratisierung wurde für weitere fünf Jahre vertan. Allerdings ist die Opposition mit einer Mehrheit im Parlament jetzt seit Jahrzehnten erstmals in der Lage, in Paraguay Politik und gesellschaftliche Veränderung mitzubestimmen oder gar zu erzwingen, denn mit der neuen Verfassung sind auch die Rechte des Parlaments gewachsen. Es bleibt zu hoffen, daß sowohl die “Authentisch Liberal Radikale Partei” als auch die “Nationale Zusammenkunft” aus den Wahlen entsprechende Lehren gezogen haben und eine gemeinsame parlamentarische Arbeit anstreben. Die parlamentarische Zusammenarbeit könnte für die Wahlen von 1998 zu einer Listenverbindung der Oppositionsparteien führen, deren Erfolg dann den endgültigen Schlußstrich unter die Stroessner-Diktatur bedeuten könnte.


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Keine Chance gegen den Schlamm

Die Katastrophe wurde nach Angaben von MeteorologInnen durch einen plötzlichen Temperaturanstieg in den Kordilleren und sintflutartige Regenfälle in 2500 Meter Höhe ausgelöst, die gigantische Schneemassen in Wasser verwandelten und innerhalb von Minuten eine tödliche Lawine aus Geröll, Steinen und Schlamm in Bewegung setzten. Das Zentrum der Katastrophe lag in den am Kordilleren-Aufstieg gelegenen Poblaciones “Las Higueras” und “Los Perdices”. Bis zu 50 Tonnen schwere Felsbrocken wurden durch die Gewalt der Lawine ins Tal geschleudert.
Über eine Hubschrauber-Luftbrücke versuchten Einheiten der Luftwaffe und der Polizei bis in die Nachtstunden hinein Menschen, die inmitten der Wassermassen auf den Dächern ihrer eingestürzten Hütten oder auf Bäumen und Geröllhalden ausharrten, in Sicherheit zu bringen. Währenddessen hatten sich die tiefer gelegenen Teile von Südost-Santiago in von reißenden Flüssen getrennte Inseln verwandelt. Auch in anderen Teilen Chiles hatte die Überschwemmung verheerende Auswirkungen. Im Cajón del Maipu hungerten 2000 Menschen, weil alle Verbindungswege abgeschnitten wurden und die Luftbrücke der Polizeihubschrauber nicht in der Lage war, schnell genug Lebensmittel zu transportieren. Auch in der V. Region, vor allem in San Felipe und Los Andes, wurden viele Menschen obdachlos. Außerdem wurde die Straßenverbindung nach Argentinien über den “Paso de los Libertadores” völlig zerstört. Vermutlich ist ein Jahr Arbeit nötig, um diese wichtigste chilenisch-argentinische Verkehrsader wiederaufzubauen. Etwas weiter südlich, in Rancagua, mußte die Kupferproduktion im größten Untertagebergwerk der Welt eingestellt werden, weil die Geröll- und Schlammlawinen die Zufahrtswege und Elektrizitätswerke auf Monate unbenutzbar gemacht haben.
Das Ausmaß der Katastrophe wurde auch von den politisch Verantwortlichen Santiagos mitverschuldet. Alle Warnungen von GeographInnen, daß die “Quebrada de Macul”, der Berghang im Südosten der Stadt, an dem die am stärksten betroffenen Armenviertel liegen, nicht besiedelt werden dürfe, wurden in den Wind geschlagen. Die Tatsache, daß praktisch seit dreißig Jahren ohne ausreichende Stadtplanung das Wachstum Santiagos in geographischen Krisenbereichen stattfand, machte es möglich, daß Siedlungen für zehntausende von Menschen ohne entsprechende Abwassersysteme und ohne Abflußsysteme für Regenwasser errichtet wurden. Diese Nachlässigkeit forderte jetzt ihren Tribut. Es ist kein Zufall, daß es die Armen im Südosten der Stadt sind, die diese Katastrophe heimgesucht hat. In den reichen Vierteln wurden seit den Überschwemmungen von 1982 und 1987 erhebliche Mittel in Hochwasserschutz-Systeme – etwa am Mapocho-Fluß – investiert.

Behörden ignorieren Warnungen der Betroffenen

Die Geschichte eines Nachbarschaftsverbandes (“junta de vecinos”) in der Mapocho-Anrainer-Gemeinde Quinta Normal belegt, daß die Zusammenhänge zwischen Naturkatastrophen und fehlender Vorsorge durch die sträfliche Fahrlässigkeit der verantwortlichen PoltikerInnen verschärft werden. Über ein Jahr lang hatte die Junta de Vecinos darum gekämpft, daß die Stadtverwaltung die Uferböschung des Mapocho befestigt, um die tiefer als der Fluß gelegene Siedlung zu schützen. Die Bitten und Vorschläge der Nachbarschaftsorganisation wurden einfach ignoriert. Erst als in der Nacht nach der Katastrophe der Hochwasserstand des Mapocho die unzureichende Dammkrone zu zerstören und in Quinta Normal eine unabsehbare Katastrophe zu verursachen drohte, stellte die Stadtverwaltung Lastwagen zur Verfügung, um mit Steinen die Dammkrone zu sichern.
Die von der Katastrophe Betroffenen wurden zuerst in Notquartieren untergebracht, auf engstem Raum zusammengepfercht. Hier versuchen PsychologInnen, PsychiaterInnen, ÄrztInnen und Priester vor allem denjenigen zu helfen, die Angehörige verloren haben – und nicht mit der Situation fertig werden können.
Die Tage, die auf die Überschwemmung folgten, haben schonungslos die Planungs- und Koordinationspannen staatlicher Stellen deutlich gemacht. So gab es nicht einmal einen öffentlich sichtbaren Krisenstab, bei dem die Fäden, etwa für die Verteilung von zahlreich gespendeten Hilfsgütern, zusammengelaufen wären. Tausende von freiwilligen HelferInnen, die in das Kastrophengebiet vorstießen, blieben während der ersten Tage nach der Wasserflut fast völlig auf sich allein und ihre Spontaneität gestellt.
Massive Kritik mußte sich vor allem die staatliche Katastrophenhilfe-Behörde ONEMI gefallen lassen, weil nach und nach durchsickerte, daß MeteorologInnen Stunden vor dem Niedergehen der Schlamm- und Geröllawine Alarm gegeben und auf die gefährliche klimatische Konstellation von wolkenbruchartigem “warmen” Regen in 2500 m Höhe über den Schnee- und Eisfeldern der Anden aufmerksam gemacht hatten. Dem Wasserversorgungsunternehmen im Cajón del Maipo, das Santiago mit Trinkwasser versorgt, reichte die Zeit beispielsweise, um die teuren Meß-, Steuer- und Ansauginstallationen abzumontieren und in Sicherheit zu bringen, während der Maipo-Fluß in Minutengeschwindigkeit zum tödlichen Strom anschwoll. Eine Warnung an die Bevölkerung in den Krisensektoren an den Kordillerenabhängen von Santiago wurde jedoch nicht ausgesprochen, geschweige denn Evakuierungsmaßnahmen eingeleitet.


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Versteckte Erfolge gescheiterter Wirtschaftspolitik

Lateinamerika ist der Schauplatz gescheiterter Wirtschaftspolitiken – so scheint es zumindest. Von staatlich kontrollierten Entwicklungsprogrammen über autoritäre Marktstrategien bis hin zu heterodoxen Ansätzen zur Bekämpfung von Hyperinflation bei gleichzeitigem Verzicht auf neoliberale Privatisierungsprogramme ist jede Form der Wirtschaftspolitik innerhalb der letzten zwanzig Jahre einmal ausprobiert und für gescheitert erklärt worden.
Alle Mißerfolge haben bisher nicht dazu geführt, die gängigen Wirtschaftspolitiken oder die ihnen zugrunde liegenden Theorien zu verwerfen. Stattdessen bewegt sich die aktuelle Debatte um Stabilisierung und Anpassung noch immer im engen Rahmen traditioneller, neoliberaler und strukturalistischer Ansätze. Dabei leiden die lateinamerikanischen Volkswirtschaften unvermindert an Massenarbeitslosigkeit, Inflation und Zahlungsbilanzschwierigkeiten.
Woher kommt dieses ungebrochene Vertrauen zu gescheiterten Theorien und Strategien in Lateinamerika? Für gewöhnlich wird das mit dem Hinweis erklärt, diese Theorien und Strategien seien andernorts erfolgreich gewesen, und in Lateinamerika sei nur die richtige Umsetzung versäumt worden. Eine andere mögliche Erklärung besteht darin, daß ein nach Kriterien wie Arbeitslosigkeit, Inflation und Zahlungsbilanzungleichgewichten gemessener Mißerfolg gleichwohl als Erfolg gewertet werden kann, sofern einmal aus einer anderen Perspektiven geschaut wird. Obwohl neoklassische und strukturalistische Ansätze nicht zu makroökonomischen Gleichgewichten führten, haben sie doch auf ihre Art gesteigerte Ausbeutung sowie die Stärkung der dafür notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen mit sich gebracht. Die klassischen Ansätze waren also genau in jener Dimension erfolgreich, die bislang keine Beachtung in der Standard-Debatte fand: dem Verhältnis der Klassen.

Die Herausforderung für die Linke

Die von der augenblicklichen theoretischen und politischen Debatte vorgegebenen Maßstäbe zu akzeptieren, wäre gleichbedeutend damit, die Kriterien von Erfolg und Scheitern gleich mit zu übernehmen. Die Herausforderung, der sich die Linke gegenübersieht, besteht darin, über die traditionelle Kritik an marktfixierter neoliberaler Politik hinauszugehen, sich deutlich vom strukturalistischen Pol der Debatte abzusetzen, um die Beschränkungen beider Seiten zu offenbaren. Den Gesichtspunkt der Auseinandersetzung zwischen Klassen in den Vordergrund zu rücken, stellt eine Möglichkeit dar, die Begrenztheit der augenblicklich stattfindenden Diskussion zu überwinden.
Die Mehrheit der mainstream-ÖkonomInnen denkt, makroökonomische Stabilisierungs- und Anpassungspolitik habe nichts mit der Klassenfrage zu tun. Sie übersehen dabei die Wechselwirkung zwischen Formen kapitalistischer (und anderer) Ausbeutung auf der einen Seite sowie Stabilisierung und Anpassung auf der anderen Seite. Stattdessen gehen sie davon aus, daß die Probleme von Stabilisierungs- und Anpassungspolitiken “naturgegeben” seien, weil es innerhalb der Wirtschaft einen steuernden Mechanismus gebe, der nicht mit der Auseinandersetzung zwischen Klassen in Verbindung gebracht werden könne. Auch über die Maßstäbe für erfolgreiche Wirtschaftspolitik besteht Einigkeit: Vollbeschäftigung, Preisstabilität und eine ausgeglichene Zahlungsbilanz.
Worin sich neoklassische und strukturalistische ÖkonomInnen unterscheiden – und was die größte öffentliche Aufmerksamkeit erfährt -, sind die angebotenen Rezepte für wirtschaftlichen Erfolg und selbstverständlich die Begründungen für fehlgeschlagene Strategien. Die Neoklassik wird meist mit den Vorstellungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und anderen kreditgebenden Institutionen in Verbindung gebracht: strikte Geldpolitik, Abbau staatlicher Defizite, Liberalisierung des Binnen- und Außenhandels sowie des Kapitalmarkts. Der Strukturalismus kritisiert diese orthodoxen Politikempfehlungen und setzt sich im Gegenzug für eine heterodoxe Politik ein, die Lohn- und Preiskontrollen ebenso einschließt wie andere Interventionen des Staates in das Marktgeschehen.
Dieser Gegensatz läßt sich größtenteils aus den unterschiedlichen theoretischen Ansätzen herleiten. In der neoklassischen Theorie ist es das menschliche Individuum, das in letzter Konsequenz wirtschaftliche Prozesse steuert. Stabilisierung und Anpassung werden als die natürliche Folge einer Politik angesehen, die es den Individuen gestattet, rationale Entscheidungen auf freien Märkten durchzusetzen. Der Staat braucht nur einzugreifen, um Marktverzerrungen zu beseitigen, die die Wahlfreiheit der MarktteilnehmerInnen einschränken.

Heilt der Markt sich selbst?

Nach neoklassischen Vorstellungen kann es zu zeitweisen Ungleichgewichten kommen, wenn ein unerwartetes Ereignis wie das plötzliche Steigen der Ölpreise eintritt, ohne daß die Individuen genug Zeit hatten, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Das Ungleichgewicht kann fortbestehen, wenn Marktverzerrungen wie starre Löhne oder staatliche Kontrollen der Devisenmärkte die MarktteilnehmerInnen davon abhalten, die notwendigen Anpassungsmaßnahmen zu ergreifen. Sobald diese Hindernisse jedoch überwunden und den Individuen gestattet wird, ungehindert ihre Entscheidungen auf freien Märkten zu treffen, wird die Wirtschaft wieder einen Gleichgewichtszustand erreichen. Nach der neoklassischen Lehre stehen PolitikerInnen vor der Alternative, entweder nichts zu tun und auf die individuelle Entscheidungskompetenz der MarktteilnehmerInnen zu vertrauen, oder aber im Falle von Marktverzerrungen beziehungsweise staatlichem Mißmanagement Marktbeschränkungen aufzuheben und den Staat auf seine eigentliche Funktion zu verweisen: die Sicherung freier Märkte und privaten Eigentums.
StrukturalistInnen haben immer wieder die neoklassische Sichtweise eines möglichst passiven Staates kritisiert. Sie argumentieren, daß Märkte nicht aus eigener Kraft zu Gleichgewichtszuständen zurückfinden, sondern staatlicher Leitung bedürfen. Auch die Annahme, Makroökonomie ließe sich durch individuelles Verhalten erklären, wird zurückgewiesen. Die Probleme um Stabilisierung und Anpassung ergeben sich vielmehr aus Machtbeziehungen und anderen wirtschaftlich-sozialen Verhältnissen. Preise etwa seien nicht durch das freie Wechselspiel von Angebot und Nachfrage bestimmt, sondern würden in gewissen Grenzen von mächtigen Großunternehmen vorgegeben. Der Strukturalismus geht weiterhin von Voraussetzungen aus, die von der Neoklassik geleugnet werden: begrenzte Kapitalmärkte, Unsicherheit wichtiger MarktteilnehmerInnen, geringe Risikoinvestitionen, Engpässe bei der Produktion von Nahrungsmitteln. Nicht Einzelentscheidungen spielen die zentrale Rolle; es sind eben diese unausweichlichen Defizite von Märkten, die die wirtschaftliche Entwicklung bestimmen. Darum sprechen sich StrukturalistInnen auch im Gegensatz zu NeoklassikerInnen für gesteigerte Marktkontrollen aus. Die Regulierung von Löhnen und Preisen, Industriepolitik, staatlich kontrollierter Devisenhandel und eine aktive Ausgabenpolitik des Staates bilden die Bestandteile strukturalistischer heterodoxer Politik.

Existenz von Klassen und Ausbeutungsverhältnissen

Das grundlegende Problem innerhalb dieser Debatte besteht darin, daß das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Klassen einer Gesellschaft ausgeblendet wird. Sowohl die Neoklassik als auch der Strukturalismus richten ihre Aufmerksamkeit auf nahezu “naturgegebene” Gesetzmäßigkeiten des Marktgeschehens, die weder etwas mit der Existenz von Klassen noch mit Ausbeutungsverhältnissen zu tun haben. Es ist die Aufgabe von MarxistInnen und anderen Linken, den Zusammenhang zwischen Anpassungspolitik und Klassenauseinandersetzung aufzuzeigen. In der marxistischen Theorie wird davon ausgegangen, daß die Aneignung der Mehrarbeit der direkten ProduzentInnen, also der ArbeiterInnen, in der kapitalistischen Form des Mehrwerts oder in anderen nichtkapitalistischen Formen erfolgt. Erst einmal angeeignet, wird die Mehrarbeit an Handelshäuser, Banken oder den Staat verteilt – in und außerhalb Lateinamerikas.
Sollte “Klasse” als Begriff in der herkömmlichen Betrachtungsweise – etwa im Strukturalismus – doch einmal eine Rolle spielen, werden darunter dann nur Gruppen von MarktteilnehmerInnen verstanden, die Einkommensströme für sich in Anspruch nehmen und unterschiedliche Konsum-, Spar- und Investitionsneigungen haben. In diesem Sinn beziehen sich StrukturalistInnen anders als ihre neoklassischen KontrahentInnen häufig auf Machtverhältnisse und Gesellschaftsstrukturen, übersehen aber dennoch die Existenz von Ausbeutungsverhältnissen samt ihrer wichtigen sozialen Effekte.

Argentinien, Brasilien, Peru: Versuchsfelder für mainstream-ÖkonomInnen

Die Auswirkungen der neoklassisch-strukturalistischen Debatte lassen sich anhand der jüngsten Entwicklungen in Argentinien, Brasilien und Peru aufzeigen. Diese Länder haben in den vergangenen 20 Jahren als eine Art Versuchsfelder für WissenschaftlerInnen beider Richtungen gedient. Orthodoxe und heterodoxe ebenso wie kombinierte Politiken sind angewendet worden, um gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte zu korrigieren, die auf hausgemachte Fehler und weltwirtschaftliche Turbulenzen zurückgeführt wurden. In allen drei Beispielen wurden die Strategien von NeoklassikerInnen und StrukturalistInnen in die Tat umgesetzt und letztendlich als gescheitert erklärt. Die Reihenfolge der angewandten Strategien variierte von Land zu Land. Argentinien startete Mitte der siebziger Jahre mit einem überaus orthodoxen Programm. Unter der Herrschaft der diversen Militärregierungen schloß es sich dem Trend in Chile und Uruguay an und galt als eines der Beispiele für die Auswirkungen neokonservativer Wirtschaftspolitik in Lateinamerika. Unter der zivilen Regierung Alfonsín wurde in Argentinien anschließend eine Mischform praktiziert, ehe mit dem heterodoxen plan austral eine Strategie gewählt wurde, die eindeutig der strukturalistischen Position zuzuordnen war. Auf der anderen Seite wurde in Brasilien mit einem Mittelweg begonnen, der erst später in ein orthodoxes Programm mündete. Nachdem das Scheitern beider Wege offenbar geworden war, experimentierte die brasilianische Regierung unter Sarney zwischen den Jahren 1986 und 1987 mit dem heterodoxen Cruzado-Plan. Die folgenden Wahlen brachten die “modernistische” Collor-Regierung an die Macht, die jene orthodoxe Wirtschaftspolitik verfolgte, für die sich die Neoklassik einsetzt. Ebenso wie Argentinien begann Peru Mitte der siebziger Jahre mit orthodoxer Wirtschaftspolitik unter der Kontrolle des Militärs. Der Übergang zu einer zivilen Regierungsform fand hingegen unter Beibehaltung neoklassisch inspirierter Wirtschaftspolitik statt. Erst als der Populist Alan García 1985 gewählt wurde, war mit dem heterodoxen Inti-Plan ein Wandel zu beobachten. Auch dieses Programm versagte jedoch, so daß sich seit 1990 wieder marktorthodoxe Rezepte durchgesetzt haben.

Erfolge der StrukturalistInnen nur von kurzer Dauer

Der Ausgangspunkt aller drei heterodoxen Strategien – Austral, Cruzado und Inti – bestand in der Auffassung, daß die früheren Stabilisierungs- und Anpassungsprogramme an den strukturellen Problemen lateinamerikanischer Volkswirtschaften vorbeigegangen seien. Staatliche Kontrollen wurden als notwendig angesehen, um zur Wiederherstellung eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu gelangen. Diese strukturalistischen Strategien, die nach den neueingeführten Währungen in den jeweiligen Staaten benannt wurden, wiesen verschiedene Gemeinsamkeiten auf, die einer neoklassischen Liberalisierungspolitik von Grund auf widersprachen: Renten und Spareinlagen wurden nicht länger an die Inflation angepaßt, Löhne und Preise staatlicher Kontrolle unterworfen und gezielt Subventionen und Kredite vergeben. In allen drei Fällen traten sehr schnell dramatische Veränderungen ein: Produktion und Beschäftigung stiegen, die Inflation wurde eingedämmt, und die externe Zahlungssituation verbesserte sich. Diese Erfolge heterodoxer Politik waren jedoch nicht mehr als ein Strohfeuer. Obwohl in allen drei Staaten immer neue Pläne und Programme aufgelegt wurden, kehrten Rezession und Hyperinflation zurück, mußten Schuldenzahlungen an ausländische GläubigerInnen eingestellt werden. Die heterodoxe Wirtschaftspolitik wurde überall als die Ursache für die Krise angesehen. Mit der Wahl neuer Regierungen – Menem in Argentinien, Collor in Brasilien und Fujimori in Peru – schlug das Pendel nun wieder zugunsten orthodoxer neoliberaler Politik aus.

Kritik nach der neoliberalen Wende

Heute sieht sich die Freihandelspolitik wieder wachsender Kritik gegenüber. Selbst in Argentinien, das von NeoklassikerInnen so hoch gelobt wird, kann über das Versagen des Austeritätsprogramms unter Wirtschaftsminister Domingo Cavallo nicht hinweggesehen werden: Das Außenhandelsdefizit wächst, und als Konsequenz aus den Massenentlassungen von Staatsbediensteten und steigender Erwerbslosigkeit sinken die Reallöhne. Um das Haushaltsdefizit des Staates unter Kontrolle zu bekommen, sind auch die Altersrenten dramatisch gesunken. Früher oder später wird in Argentinien, Brasilien, Peru und in ganz Lateinamerika die neoklassische Orthodoxie wieder an Boden verlieren.
Selbstverständlich unterscheiden sich Neoklassik und Strukturalismus in der Bewertung der Ursachen für diese Fehlentwicklungen. NeoklassikerInnen machen vor allem fortgesetzte staatliche Interventionen für das Scheitern ihrer Strategie verantwortlich – noch immer wird den Regierungen vorgeworfen, sie würden protektionistische Maßnahmen und andere irrationale Marktkontrollen aufrechterhalten. StrukturalistInnen verteidigen sich mit dem Hinweis, ihre Programme seien mit orthodoxen Maßnahmen gekoppelt worden, so daß sich die Turbulenzen übertrieben freier Märkte ausgewirkt hätten.
Wenn wir jedoch die Klassenfrage in die Diskussion um Stabilisierung und Anpassung integrieren, wird deutlich, wie irreführend die Erklärungsansätze beider Richtungen sind. Ein Anstieg der Erwerbslosigkeit wird für gewöhnlich als Versagen orthodoxer Stabilisierungs- und Anpassungspolitik angesehen. Versuche, den Kräften des “freien” Marktes zum Durchbruch zu verhelfen, indem die Staatsausgaben eingedämmt, Realzinsen zur Anregung der Spartätigkeit erhöht sowie Außenhandelszölle gesenkt werden, führen häufig zu Erwerbslosigkeit und unterbeschäftigten LohnempfängerInnen. Steigende Erwerbslosigkeit ist im allgemeinen mit sinkenden Reallöhnen verbunden – eine Tendenz, die wiederum die Klassendimension von Kapitalismus deutlicher werden läßt. Zum einen sind die ArbeitgeberInnen nun in der Lage, Arbeitskräfte zu einem Lohn anzustellen, der unterhalb der durchschnittlichen Lebenshaltungskosten der ArbeiterInnen liegt. Mit den Worten marxistischer Wert-Theorie ausgedrückt, ist der Marktpreis für Arbeit unter ihren Wert gefallen. So erhalten die KapitalistInnen ein Einkommen, das über den der Arbeit entzogenen Mehrwert hinausgeht. Dieser Vorteil steigert die Profitrate des Kapitals – ein unmittelbarer Klassenerfolg als Konsequenz aus dem Sinken der Reallöhne.
Sollte diese Situation über einen gewissen Zeitraum Bestand haben, dann wird das durchschnittliche Lebensniveau der LohnempfängerInnen voraussichtlich sinken. Mit anderen Worten wird der Wert der Arbeitskraft auf ihren niedrigeren Marktpreis fallen. Die Summe des Mehrwerts innerhalb kapitalistisch wirtschaftender Unternehmen und damit der Grad an Ausbeutung werden steigen – beides ein Beleg für kapitalistischen Erfolg.

Staatsausgaben zum Vorteil des Kapitals

Ein zweiter grundlegender Mangel, der insbesondere heterodoxen Programmen vorgehalten wird, besteht in wachsenden Haushaltsdefiziten des Staates. Wiederum führt die Klassenanalyse staatlicher Defizite zu ganz anderen Erkenntnissen. Es ist sehr hilfreich, die beiden unterschiedlichen Dimensionen typischer Staatsaktivitäten zu unterscheiden, die für gewöhnlich mit Haushaltsdefiziten in Verbindung gebracht werden: staatseigene Betriebe und laufende Staatsausgaben. Aus der Perspektive von Klassengegensätzen heraus sind öffentliche Betriebe, die über Märkte gehandelte Waren in klassischen Unternehmer-Arbeiter-Beziehungen produzieren, kapitalistische Unternehmen. Die Einkünfte dieser Betriebe auf einem bestimmten Niveau zu halten oder aber auszudehnen, heißt nichts anderes, als immer größere Teile der Bevölkerung in kapitalistisch bestimmte soziale Verhältnisse zu drängen und den Mehrwert aus der Beschäftigung von StaatsarbeiterInnen zu erhöhen. Die kapitalistische Tendenz der Mehrwertaneignung findet demnach also auch innerhalb des Staates statt.
Staatsausgaben können zudem dazu beitragen, den Kapitalismus auch außerhalb des Staatsapparates zu stärken. Mit Hilfe steigender Ausgaben für Programme in verschiedenen Bereichen können viele der wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Voraussetzungen hergestellt werden, die es privaten KapitaleignerInnen ermöglichen, die Mehrwertaneignung fortzusetzen. Lateinamerikanische Staaten haben häufig direkt zugunsten kapitalistischer Interessen in- und außerhalb des Staatsapparates gehandelt. Die Klassenerfolge während der Nachkriegsperiode sind eine Erklärung dafür, warum die EntwicklungsökonomInnen und PolitikerInnen noch immer nicht die Begrenzungen der herrschenden Debatte überwunden haben. Indem der Aspekt der Klassenauseinandersetzung systematisch ausgeblendet wird, gelingt es sowohl NeoklassikerInnen als auch StrukturalistInnen, die klassenbezogenen Konsequenzen ihrer Politik zu verdrängen.

Die Zukunft des Sozialismus überdenken

Um es deutlich zu machen: Ich behaupte nicht, daß eine bestimmte Gruppe – etwa “die herrschende Klasse” – in ihrem Handeln von einem festen Klassenbegriff geleitet wird. Ebensowenig unterstelle ich die Existenz einer versteckten Logik, die zwangsläufig dazu führt, daß klassenunabhängige Politikfehler in Erfolge innerhalb der Klassenauseinandersetzung umgemünzt werden. Keine dieser beiden traditionellen Erklärungsversuche ist hilfreich, sondern irreführend und politisch schädlich. Der erste Erklärungsversuch würde eine Verschwörung unterstellen, der zweite stützt sich auf den Begriff eines geheimen telos oder eines inneren Gesetzes, das die Gesellschaft steuert. Vielmehr sind die kapitalistischen Erfolge in den Klassenauseinandersetzungen, die in Argentinien, Brasilien, Peru und überall in Lateinamerika zu beobachten waren, das Ergebnis einer sich ständig wandelnden Kombination von Umständen. Wirtschaftliche und politische Kämpfe schlagen sich genauso nieder wie staatliche Stabilisierungs- und Anpassungsstrategien.
Es ist vor allem die Klassenanalyse, die die widersprüchlichen Folgen der Stabilisierungs- und Anpassungsprogramme deutlich macht. Diese Sichtweise eröffnet einen Ausweg aus dem Hin und Her zwischen bereits gescheiterten Strategien und leistet einen wichtigen Beitrag zur Neubestimmung von Entwicklungszielen und Wegen, diese umzusetzen. Außerdem ist es aus dieser Perspektive leichter, die Zukunft des Sozialismus zu überdenken. Sie ermöglicht es, sich die Abschaffung jedweder Form der Ausbeutung und somit den Übergang zu kollektiven Organisationsformen von Gesellschaft vorzustellen.


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Staatsfeind No 2

Mitte Februar herrschte in offiziellen Kreisen überschwenglicher Optimismus. Nach zweieinhalb Jahren der Eingeständnisse (seit Fujimoris Regierungsantritt, G.L.), stand Peru kurz davor, auf dem Treffen des Internationalen Währungsfonds den Status eines kreditwürdigen Landes wiederzuerlangen. Aber plötzlich kündigte die USA am Vorabend des für den 24. Februar angesetzten Treffens Einwände bezüglich der Einhaltung der Menschenrechte und gegenüber der gesamten Gültigkeit der repräsentativen Demokratie in Peru an. Der Fall Peru wurde von der Tagesordnung des IWF gestrichen. Ein tosende radikale, antiimperialistische Rhetorik, wie sie schon seit zwanzig Jahren nicht mehr zu hören war, betäubte daraufhin das Land.
Der Regierung zufolge bewies diese Maßnahme der USA, daß die neue US-Politik gegenüber Lateinamerika von “Amateuren” gestaltet würde, von Angehörigen anachronistischer akademischer Zirkel, von übriggebliebenen “Fundamentalisten” und “Dinosauriern” der Carter Ära. Nach ihrer Meinung war die nordamerikanische Haltung entscheidend von den Menschenrechtsorganisationen sowie einigen Schriftstellern und Journalisten beeinflußt worden, insbesondere von Mario Vargas Llosa und Gustavo Gorriti. Diese wurden als pro-senderistisch und als Verräter des Vaterlandes denunziert, die mit “Halbwahrheiten” ihrem Land schadeten. Die besagten Halbwahrheiten bestanden darin, die Verletzung der Menschenrechte in Peru als “systematisch” zu bezeichnen, nicht nur Sendero Luminoso als Hauptschuldigen verantwortlich zu machen und zudem nicht anzuerkennen, daß sich die Situation gebessert habe.
Nach der regierungsamtlichen Position ging es vor allem um eine Imagefrage. Die peruanischen Botschaften haben es nicht geschafft, die “Wahrheit” über Peru zu verbreiten. In den darauffolgenden Tagen, während verschiedene Minister Verhandlungen in Washington aufnahmen, entfesselte sich in Peru ein wahres Progrom gegen die Menschenrechtsorganisationen. Dieses wurde sogar noch stärker, als sich die Regierung verpflichtet sah, die nordamerikanischen Konditionen anzunehmen: Beaufsichtigung durch Spezialeinheiten der UNO und der OAS; ein monatliches Treffen mit der vielgescholtenen Nationalen Menschenrechtskoordination (CONADEH); Untersuchung der zwölf gravierendsten bisher unaufgeklärten Fälle von staatlichen Menschenrechtsverletzungen und Garantien für das Rote Kreuz, das wegen angeblicher Kontakte zu Sendero unter Beschuß geraten war.
Auf der Grundlage dieser Vereinbarungen gaben die USA Peru grünes Licht für die Mitarbeit in den multilateralen Organisationen. Diesen Wandel präsentierte die peruanische Regierung sogleich als Triumph der “guten Peruaner” und als Rückzug der USA. Die Ernennung von Botschafter Alexander Watson zum Subsekretär für Angelegenheiten Lateinamerikas im US-Außenministerium wurde als Höhepunkt dieses Sieges und als Triumph des Pragmatismus interpretiert.
Pragmatismus zeigte die peruanische Regierung tatsächlich, nachdem sie schließlich die Bedeutung des Themas begriffen hatte. Schon vor der IWF-Tagung hatte es Anzeichen für eine Änderung ihrer Haltung gegeben, sowohl bezüglich der miserablen Situation in den Gefängnissen als auch der Bestrafung von Militärs, die wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt worden waren. Im Februar wurde zum ersten Mal ein Offizier verurteilt, und in den letzten Wochen folgten weitere. Außerdem wurde ein Gesetz verabschiedet, demzufolge die verurteilten Militärs und Polizisten ihre Strafe in normalen staatlichen Gefängnissen absitzen müssen. Aber das Progrom gegen Menschenrechtsorganisationen geht weiter.

MenschenrechtlerInnen mit weltweitem Prestige

Die Menschenrechtsorganisationen sind aus der Zivilgesellschaft heraus entstanden. Vielerorts konnten sie mit der Unterstützung der Kirche rechnen. Ihre Legitimität gewinnen sie durch die Qualität ihrer Berichte, die sorgfältig von internationalen Institutionen überprüft werden. Eine merkwürdige Situation. Diejenigen, die es nicht wagen würden, die Professionalität des IWF oder der IDB (International Development Bank) zu hinterfragen, glauben, die UNO oder die Regierungen Europas oder der USA ließen sich von oberflächlichen oder böswillig verfälschten Berichten “betrügen”.
In den letzten 13 Jahren ist in Peru eine ganze Generation von weltweit anerkannten MenschenrechtsexpertInnen herangewachsen. Die CONADEH hat mehrere internationale Preise gewonnen. Der Peruaner Enrique Bernales ist einer der fünf Sonderbeauftragten für Menschenrechtsangelegenheiten der UNO. Peruaner bilden außerdem die größte Gruppe in der Friedens- und Wahrheitskommission der UNO in El Salvador, wo Javier Pérez de Cuéllar für die Friedensverhandlungen verantwortlich war. Pilar Coll – bis Januar Präsidentin von CONADEH – wurde im Februar vom spanischen König ausgezeichnet, zweifellos eine Antwort auf die Angriffe, denen sie vorher immer wieder ausgesetzt war.
Aber die Regierung nutzt diesen Erfahrungsschatz nicht als Grundlage für eine antisubversive Strategie, die auf Respektierung gegenüber der Menschenrechte beruhen könnte. Schon seit Präsident Belaúnde sich damit brüstete, die Berichte von Amnesty International ungelesen in den Müll zu werfen, hat sich die Regierung darauf verlegt, die Menschenrechtsorganisation, wo immer es geht, schlecht zu machen.
Dabei ist es nur zu begrüßen, wenn die Regierung selbst Institutionen besitzt, um die Einhaltung der Menschenrechte zu überwachen. Aber der Staat darf hier kein Monopol haben. Außerdem haben die staatlichen Institutionen bis heute nie funktioniert. Das liegt zum einen daran, daß sie nicht Produkt eines nationalen Konsenses sind. Zum anderen haben sie nie besonderen Eifer bei der Kontrolle der Menschenrechtssituation gezeigt und auch keine staatliche Unterstützung für ihre Arbeit erhalten. Der gegenwärtig existierende “Nationale Rat für den Frieden” beschränkt sich darauf, einige Fernsehspots zu produzieren und besitzt keine Führung, die in Peru oder auf internationaler Ebene auch nur die mindeste Legitimation besitzt.

Die Menschenrechtsorganisationen und Sendero Luminoso

Der wohl irritierenste Aspekt der Arbeit innerhalb der Menschenrechtsgruppen ist, daß sie den Staat von Grund auf kritisieren, die terroristischen Gruppen aber nicht mit dem gleichen Nachdruck. Deswegen klagt man sie, sei es aus Ignoranz oder aus mangelndem Vertrauen, einer pro-senderistischen Haltung an. Die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen beruht auf dem internationalen Recht, insbesondere den internationalen Menschenrechtsstandards und dem Flüchtlingsrecht. Nach Internationalem Recht sind einzelne Gruppen oder Personen nicht Gegenstand von zwischenstaatlichen internationalen Verpflichtungen.
Letztlich kontrolliert man den Staat, damit er sein Wort halte und seine Aufmerksamkeit auf die Verbrechen der Rebellen lenke. Das bekräftigt auch die “Kommission Wahrheit und Versöhnung in Chile”: “Es lenkt die Aufmerksamkeit von der besonders wichtigen Tatsache ab, daß der Staat, der sich das Gewaltmonopol vorbehält und gleichzeitig für den Schutz der Rechte seiner Bürger verantwortlich ist, gerade diese Gewalt zur Verletzung der Menschenrechte einsetzt.”
Mit anderen Worten kann der Staat sich nicht mit terroristischen Gruppierungen auf die gleiche Stufe stellen, um gegeneinander aufzurechnen, wer die Menschenrechte weniger verletzt.
Tatsächlich haben die Menschenrechtsorganisationen, die aus dieser Tradition heraus entstanden sind, Sendero Luminoso während der ersten Jahre nicht verurteilt. Ab 1985 allerdings begann sich die Situation zu ändern. Die Menschenrechtsgruppen grenzten sich von Sendero ab. Sie haben es sogar geschafft, einen wichtigen Beitrag zur Theorie und Praxis der internationalen Menschenrechte zu leisten, indem sie Einfluß darauf nahmen, wie die internationalen Organisationen ihre Konzeptionen neu gestalteten. So bezieht beispielsweise Amnesty International seit 1991 aufständische Gruppen als Objekt der Überwachung in ihre Arbeit ein. Die Aktivitäten Sendero Luminosos waren für Amnesty International ein wichtiges Beispiel für die Notwendigkeit, ihren Ansatz zu erweitern. Auch die Vereinten Nationen bezogen in den letzten Jahren subversive Gruppen in ihre Kritik an der Verletzung von Menschenrechten ein, nicht zuletzt auf Druck der peruanischen Delegation unter Leitung von Enrique Bernales hin.

Was sind “systematische” Menschenrechtsverletzungen?

Die Regierung und ihre Helfershelfer haben in letzter Instanz zwar zugegeben, daß der Staat die Menschenrechte verletze, aber gleichzeitig bekräftigt, es handele sich um Einzelfälle. Tatsächlich gab es in Peru glücklicherweise weder ausufernde Aktivität von paramilitärischen Gruppen, noch staatliche Einrichtungen wie die berühmt-berüchtigte “Escuela de Mecánica de la Armada” in Argentinien, wo man tagtäglich Folter praktizierte.
In Peru entwickelte der Staat eine Strategie, die man “autoritär, aber nicht massenmörderisch” (“autoritaria no-genocida”) nennen könnte. Unter den Ordnungskräften gibt es zweifellos einige Mitglieder, die für Massaker oder für das Verschwinden von Menschen verantwortlich sind. Diese hatten zum Teil hohe Posten in den Gebieten des Ausnahmezustand, und konnten auf das stillschweigende Einverständnis der Armeeführung rechnen, die aus einer übersteigerten Haltung und der Überzeugung, “daß der Krieg eben so ist”, zu extremen Maßnahmen griff. In einigen Fällen von Menschrechtsverletzungen ist es nicht nur so, daß die Angeklagten straffrei ausgingen, sondern sogar noch befördert wurden, ohne daß die zivilen Autoritäten irgendetwas unternahmen.
Diese Kombination des Aufstiegs der Militärs zu einer der mächtigsten gesellschaftlichen Insitutionen und ziviler Selbstaufgabe haben Peru seit Jahren an weltweit erste Stelle rücken lassen, was Verhaftete und Verschwundene sowie den alltäglichen Mißbrauch wie Folter, Prügel oder auch Vergewaltigung von inhaftierten Frauen angeht.
Francisco Eguiguren hat diese Situation als einen “systematischen Verzicht auf Strafe” definiert. Im Februar 1993 wurde ein Offizier der Menschenrechtsverletzungen angeklagt – ohne Zweifel aufgrund von internationalem Druck und nicht aus demokratischer Einstellung heraus. Die immer gleichen staatlichen Handlungsmuster auf diesem Gebiet über Jahre hinweg zeigen Kontinuität. Nach dem Wörterbuch definiert das ein systematisches Handeln.

Die Gefahren des Newspeak

Die aktuelle Debatte über die Menschenrechte haben ein Klima enthüllt, das einige als “faschistisch” bezeichnen. Dieser Begriff ist maßlos, aber was wirklich ans Licht kam, ist die “sanchopansahafte” Natur (ohne jede idealistische Regung) unseres Liberalismus, umso mehr als es sich geschichtlich gesehen um eine rückläufige Entwicklung in Lateinamerika handelt. Die Regierenden sind jederzeit bereit, auf die Knie zu fallen, um den totalen Markt aufzubauen. In diesem Punkt herrscht völlige Inflexibilität. Man darf sich nicht einen Milimeter zurückziehen. Es ist eine Frage der Prinzipien. Aber wo es um Leichteres geht, als Peru in ein neues Hong Kong zu verwandeln, ist ein solcher Eifer ist nicht zu spüren: Wenigstens die Menschenrechte zu respektieren, die Bauern nicht massenweise zu verhaften und keine zu Boden geschlagenen Frauen zu vergewaltigen. Hier werden auf einmal internationales Verständnis und Flexibilität erwartet, mit einem Wort: Pragmatismus.
Offensichtlich soll die Bedeutung des Themas heruntergegespielt und die Verteidiger der Menschenrechte abgewertet werden. Wenn in diesem Artikel von einem Progrom gegen sie gesprochen wurde, geschah dies, um den alten Mechanismus aufzuzeigen, der benutzt wird, um sie zu kritisieren: Die Schaffung eines Sündenbocks, dem falsche und unveränderliche Charakteristika zugesprochen werden. Das Böse soll so ausgetrieben werden; es steht außerhalb von uns, die wir es nicht nötig haben uns zu ändern, sondern versuchen, seine Infiltration zu verhindern. Der Artikel von Daniel D’Ornellas in der peruanischen Tageszeitung Expreso (11.3.1993) ist dafür paradigmatisch. Der Kolumnist schreibt:
“Es war naiv zu denken, nur weil der Kommunismus zerstört worden ist… habe diese Ideologie keine Anhänger mehr und höre auf, jede Gelegenheit zur Infiltration zu nutzen. Nur daß sie heute in anderem Gewand daherkommt und eine andere Sprache spricht: Die der Menschenrechte. Aber ihre destruktive Botschaft ist immer noch die gleiche.”
Bezeichnenderweise nennt sich der Artikel “Eine neue Sprache sprechen”. Das sollte der orwellsche Newspeak sein, in welchem Lüge Wahrheit bedeutete. Der Zirkelschluß ist perfekt: Die Verteidiger der Menschenrechte sind alte verstockte Kommunisten; die Kommunisten zerstören; deswegen ist das Anliegen dieser Organisationen, auch wenn sie für den Schutz des Lebens und für die Menschenrechte eintreten von Natur aus destruktiv.
Bislang gibt es noch keine Umfragen, aber es ist vorhersehbar, daß die Mehrheit, die Fujimori unterstützt, Argumentationen wie die D`Ornellas akzeptieren oder sich indifferent gegenüber dem Thema verhalten wird. Ich beziehe mich allein auf die Angst. Angst, die internationale Hilfe zu verlieren, in welche so viele Hoffnungen gesteckt werden, und in deren Namen so viele Opfer gebracht wurden. Aber vor allem ist es Angst, Entrüstung und Zorn gegenüber Sendero Luminoso.
Wenn irgendetwas in der letzten Zeit klar geworden ist, dann ist es die Tatsache, daß Sendero Luminoso jenseits der menschlichen Opfer und der Sachschäden eine viel wichtigere “Errungenschaft” für sich verbuchen kann: In den 13 Jahren der Gewalt sind die Bedingungen dafür geschaffen worden, daß der autoritäre Liberalismus mit der mehrheitlichen Unterstützung der Bevölkerung rechnen kann. Der “Strom von Blut” Senderos hat den Weg zu einem autoritären common sense gepflastert, in dem die Verteidigung der Menschenrechte als Komplizenschaft mit dem Terrorismus betrachtet wird.
Angesichts der Schwäche der demokratischen Opposition und der weiten Verbreitung von Unverständnis und Indifferenz hängt die Respektierung der Menschenrechte in Peru an einem seidenen Faden. Wenn die Vereinigten Staaten oder Europa ihre Politik ändern würden oder wenn Alberto Fujimori sich entscheiden würde, seinen Pragmatismus aufzugeben und uns in ein ähnliches Abenteuer wie Alan Garcías “Antiimperialismus” zu schleifen, würde sich die Situation noch einmal dramatisch verschlechtern.

entnommen aus: argumentos No.5, März 1993, Lima


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Ein Tröpfchen auf den glühenden Stein

Die scheinbar gute Nachricht kam Anfang März 1993 aus Bolivien. Den Unterhändlern des Landes ist es gelungen, mittels mehrerer Mechanismen die Schulden gegenüber den ausländischen Privatbanken auf Null zu reduzieren. Im Kern laufen diese Mechanismen darauf hinaus, daß es Bolivien gestattet wird, die Schuldentitel zu einem Preis von 16 Prozent des ursprünglichen Wertes von den Gläubigerbanken zurückzukaufen, was praktisch einem Erlaß von ungefähr fünf Sechsteln der Schulden gleichkommt. Vergleicht man das damit, daß 1953 der unter den Kriegsfolgen leidenden Bundesrepublik nur gut die Hälfte der Schulden erlassen wurden, so scheint das eine generöse Geste der ausländischen Privatbanken zu sein, die der Nachahmung und Ausdehnung wert wäre.
Scheint aber nur. Um die Grenzen und die wirkliche Bedeutung dieses Verhandlungsergebnisses zu ermessen, bedarf es einiger zusätzlicher Informationen:

Nichts mehr zu holen

Erstens machen die Schulden Boliviens gegenüber den ausländischen Privatbanken überhaupt nur einen geringen Teil der Auslandsschuld des Landes aus. Nominell betrugen sie vor einem Jahr etwa 680 Millionen US-Dollar, während sich die Gesamtschuld bis heute auf 3,7 Milliarden US-Dollar beläuft. Die übrigen Schulden bestehen bei internationalen Finanzorganisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank oder der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) sowie bei anderen Staaten. Die Finanzorganisationen sind von ihren Statuten her gezwungen, auf die Durchsetzung von Zahlungsdisziplin – um der “Kreditfähigkeit” der Länder willen – zu drängen und erlassen deshalb grundsätzlich keine Schulden. Und die anderen Staaten kennen immer noch ärmere Länder, denen aus Gründen der “Gerechtigkeit” zuerst die Schulden erlassen werden müßten. Da das aber seine Zeit braucht, wird nie was draus. Kurz: Bolivien behält den größten Teil seiner Schulden.
Zweitens ändert sich nichts Entscheidendes – im Unterschied zu London 1953. In den letzten zehn Jahren hat Bolivien als Ergebnis seiner Auslandsschuld durchschnittlich jedes Jahr 250 Millionen US-Dollar netto an Zinsen und Kapitalerträgen ins Ausland transferiert. Da der Wert der Warenexporte des Landes in dieser Zeit zwischen 500 und 800 Millionen US-Dollar schwankte und für unbedingt erforderliche Einfuhren draufging, waren die Zinsen nur zu bezahlen, indem die Gläubiger die notwendigen Summen erneut zur Verfügung stellten. Mit anderen Worten: Es wurde nur noch die Fiktion aufrechterhalten, daß das Land zahlungsfähig und damit “kreditwürdig” sei. In Wirklichkeit sind die Schulden längst unbezahlbar.
Das ist nun drittens nichts Neues, und deshalb hätte eigentlich schon 1987, als die Verhandlungen zwischen Bolivien und den Privatbanken begonnen, mit der Einsicht gerechnet werden dürfen, daß da nichts mehr zu holen sei. Aber es hat noch ganze sechs Jahre gedauert, bis eine Einigung zustandekam. Insgesamt 131 Banken mußten ihren Segen zu dem Deal geben, wobei peinlich darauf zu achten war, daß keine besser behandelt wurde als die andere. Ein Teil der Schuldentitel wurde in dieser Zeit auch im Rahmen sogenannter “debt for nature swaps” zu niedrigen Kursen von internationalen Organisationen aufgekauft und für Zwecke des Naturschutzes in Bolivien eingesetzt.
Während die Bundesrepublik mit dem Londoner Abkommen von 1953 ihre Kreditfähigkeit wiedergewann und die deutschen Unterhändler mit dem Bankier Hermann Josef Abs an der Spitze darüber besonders stolz waren, ist die Abmachung Boliviens mit den ausländischen Privatbanken geradezu die Besiegelung der totalen Kreditunwürdigkeit des Landes. Schon 1987 erklärte der Botschafter des Landes in den USA: “Die Banken machen das Geschäft mit uns nur, weil wir ihnen zugesagt haben, auf lange, lange Jahre hinaus nicht mehr mit Kreditwünschen an sie heranzutreten.” In der Tat: Ein Land, das nur ein Sechstel seiner Schulden begleichen kann und danach immer noch hohe Schulden hat, ist kein seriöser Partner.
Für die zehn oder elf beteiligten deutschen Banken war der lange Zeitraum der Verhandlungen noch einmal ein besonderer Gewinn, weil sie die Kredite schon vor langer Zeit zu 80 bis 90 Prozent steuersparend abgeschrieben hatten, gleichwohl aber in der ganzen Zeit die Zinsen und jetzt noch einmal 16 Prozent der Gesamtschuld einstreichen konnten.

Das gibts nur einmal, das kommt nicht wieder

Zur Nachahmung taugt das Beispiel nicht, weil die Banken nicht auf Dauer zulassen können, daß die verschuldeten Länder ihre Schuldentitel selbst zu dem Preis zurückkaufen, der auf dem freien Markt dafür gezahlt wird. Denn dann bräuchten die Länder nur keine Zinsen mehr zu zahlen, und schon wären die Schulden nichts mehr wert. Dieser traurige Zustand ist gegenwärtig in Nicaragua, dessen Schuldentitel zu sechs Prozent ihres ursprünglichen Wertes gehandelt werden, beinahe erreicht.
Länder, die auf die zukünftige Zufuhr von privatem Kapital noch Wert legen, müssen deshalb darauf achten, daß ihre Schuldentitel auf dem sogenannten Sekundärmarkt zu einem möglichst hohen Prozentsatz gehandelt werden. So ist denn auch die chilenische Regierung ganz besonders stolz, daß die chilenischen Schuldenpapiere inzwischen zu 90 Prozent gehandelt werden. Kolumbien mit seinen Drogengeldern und Uruguay haben inzwischen über 75 Prozent erreicht, Mexiko, Costa Rica und Venezuela liegen bei über 60 Prozent, und Argentinien nähert sich inzwischen auch den 50 Prozent.
Würden diese Länder ihre Schulden zu diesen Prozentsätzen zurückkaufen wollen, dann wären sie sofort pleite. Sie werden also mit ihren hohen Schulden weiterleben müssen. Sobald sie aber trotz der schweren Zinsenlast wirtschaftliche Erfolge erreichen, verschwindet die Bereitschaft der Gläubigerbanken zu einem Schuldenerlaß völlig.
“Germanwatch” ist zuzustimmen: Ein Schuldenerlaß für die Länder Lateinamerikas und überhaupt der Dritten Welt nach dem Vorbild von London 1953 wäre nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern auch ein Zeichen ökonomischer Vernunft. Der Deal Boliviens mit den ausländischen Privatbanken aber ist nur ein winziges Tröpfchen auf einen glühenden Stein.


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“Wir machen unsere eigene Einigung!”

LN: Ab dem 1.1.1994 werden Argentinien und Brasilien einen gemeinsamen Markt haben, dem 1995 auch Uruguay und Paraguay beitreten werden. Mit welchen Gefühlen stehen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern dem gegenüber und welche Erwartungen verbinden sie damit?
J.K.: Hier in Lateinamerika gibt es einen Traum, den wir von unseren Vorfahren geerbt haben. Das ist die Vision eines vereinigten Lateinamerika, eines großen Vaterlandes. Daher kommt es, daß wir einer Integration, in diesem Fall der Länder des Cono Sur, nicht prinzipiell ablehnend gegenüberstehen. Wir stellen uns jedoch frontal gegen die Integrationspolitik, die von den Regierungen unserer Staaten in den Verhandlungen zum MercoSur betrieben wird. Sie treffen und trafen Entscheidungen, ohne irgendjemanden zu fragen – nicht einmal die Bevölkerung, die sie gewählt hat. Und dazu kommt, daß die Einigung, die sie wollen, eine rein wirtschaftliche ist. Wenn wir sagen, daß wir eine Gemeinschaft wollen, dann meinen wir damit etwas viel umfassenderes, eine Einigung von Volk zu Volk, eine geschwisterliche Einigung, die von Kooperation und gegenseitiger Hilfe geprägt ist. Wir wollen eine Zusammenarbeit zwischen brasilianischen Bäuerinnen und Bauern sowie paraguayischen Bäuerinnen und Bauern, zwischen ArgentinierInnen und UruguayerInnen: eine Integration zwischen ProduzentInnen, wo gemeinsam Verbindungen geknüpft werden, die nicht nur durch die Spielregeln des Marktes bestimmt sind, sondern vor allem durch Solidarität.
Die Frage des MercoSur beschäftigt inzwischen sehr viele Leute hier in Argentinien, nicht nur landwirtschaftliche ProduzentInnen. Auch Organisationen der KleinuntemehmerInnen sind besorgt, weil niemand wirklich die Folgen absehen kann. Um Widerstand zu organisieren, haben wir es aber mit sehr kurzen Zeiträumen zu tun – ein, zwei Jahre. Das ist sehr wenig Zeit angesichts der wenigen Kontakte, die wir bisher hatten.

Wie ist denn die momentane Situation der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in Argentinien?
Das ist stark abhängig vom jeweiligen Produkt. Argentinien ist ja sehr groß, so daß jede Region ein bestimmtes Produkt hervorbringt. Beispielsweise finden wir ProduzentInnen von Tee und Yerba Mate in Misiones, Baumwolle im Chaco. Im Zentrum gibt es Weizenanbau, Mais und Soja, während aus dem Süden vor allem Wolle, Felle, Früchte, Zwiebeln und Kartoffeln kommen. Einige Produkte erzielen einen guten Preis auf dem internationalen Markt, beispielsweise Früchte, und diejenigen, die sie anbauen, befinden sich in einer verhältnismäßig guten Situation.
Aber fast alle KleinproduzentInnen haben große Schwierigkeiten mit der Kommerzialisierung ihrer Produkte. Es gibt ZwischenhändlerInnen, die wiederum zu größeren Unternehmensgruppen gehören, die man als die eigentlichen BesitzerInnen der Produktion betrachten kann. Hier gibt es fünf Gruppen, die die Preise für Baumwolle bestimmen und die Produktion unter sich aufteilen. Die ganze Produktion an Lebensmitteln wird hier von drei Gruppen bestimmt, zum Beispiel die Getreideproduktion von “Molinos del Rio de La Plata”, die zum Multi Bunge y Born gehören und in Argentinien genauso wie in Brasilien die Preise für Mais und Sonnenblume bestimmen. Ähnlich sieht es im Fall von Geflügel aus, wo die internationale Gruppe Targil wegen ihrer Monopolstellung die Preise für die gesamte Produktion bestimmt. Die größte Schwierigkeit für KleinproduzentInnen besteht darin, daß der gesamte Zwischenhandel von diesen drei oder vier Gruppen bestimmt wird. Genauso bestimmen die auch die Preise die KonsumentInnen und stecken sich die Gewinnspanne in die Tasche.

Gibt es denn Möglichkeiten, dagegen Widerstand zu leisten?
Es gibt einige Bestrebungen, sich von, dieser Abhängigkeit zu lösen, was aber sehr schwierig ist. Zum Beispiel haben WollproduzentInnen im Süden acht Kooperativen gegründet, um die Vermarktung zu organisieren. Gleichzeitig organisieren die Kooperativen auch den Großeinkauf von Grundnahrungsmitteln wie Zucker, Milch, Yerba für ihre Mitglieder.
Kooperativen haben hier in Argentinien eine lange Geschichte; es hat lange Zeit funktioniert, daß ProduzentInnen ihre Waren mittels eines Systems von Kooperativen vermarkteten. Das erfordert allerdings einige Voraussetzungen, wie beispielsweise Ehrlichkeit, die heute aber oft nicht gegeben sind: Vor kurzem ist eine der ältesten Kooperativen Argentiniens eingegangen, die Kooperative “El hogar obrero”, die seit 1905 bestand. Diese Kooperative bestand aus mehreren Teilen; sie war Konsumkooperative, auch Wohnungsbaukooperative und besaß ungefähr 100 Fabriken und circa 600 Verkaufsstellen in jedem größeren Dorf in Argentinien. Es gab auch eine Zeit des argentinischen Peronismus, wo vom Staat Initiativen ausgingen, Gruppen von KleinproduzentInnen gegenüber den Großen zu schützen, aber heute geht in dieser Richtung nichts mehr vom Staat aus. Es wird immer nur vom sogenannten freien Markt gesprochen, der in Wirklichkeit von Oligopolen oder Monopolen beherrscht wird.
Eine andere Aktion des Widerstands haben wir in Paraguay beobachtet, wo eine Kampagne gegen Multis organisiert wurde. Statt Baumwolle zu säen, soll die eigene Produktion diversifiziert werden, um der eigenen Familie eine einigermaßen gute Ernährungsgrundlage zu schaffen. Nur die Überschüsse sollen auf dem Markt verkauft werden. Die “Baumwollbarone” reagierten, indem sie den Kleinbäuerinnen und Kleinbauern Samen aus den USA versprachen, die 2000 Kilogramm pro Hektar an Ertrag liefern (normaler Samen liefert ungefähr 1200 Kilogramm je Hektar). Dieser Samen sollte verschenkt werden und die notwendige Chemie gleich mit dazu. Da Samen für die KleinproduzentInnen sehr teuer ist, wurde also auf diese Weise versucht, die Abhängigkeit der Kleinen zu erhalten.

Inwieweit könnt Ihr denn einschätzen, welche Auswirkungen die wirtschaftliche Integration des Cono Sur haben wird?
Zollschranken und staatliche Kredite stellen bisher einen Schutz für einheimische, vor allem bäuerliche ProduzentInnen dar. In den nun abgeschlossenen Verträgen sind die Regierungen übereingekommen, sich so weit wie irgend möglich aus dem Wirtschaftsgeschehen zurückzuziehen und alles den von ihnen so gepriesenen Marktkräften zu überlassen. Auf einem solchen Markt werden nur die Großen bestehen können, vor allem die transnationalen Konzerne. Außerdem wurden die Verträge sehr eilig ausgearbeitet. Vergleiche das doch mit den Verhandlungen zum EG-Binnenmarkt, über den seit fast 30 Jahren verhandelt wird, und jetzt ist immer noch nicht abzusehen, was passieren wird! Wenn wir das beobachten, dann drängt sich doch der Verdacht auf, daß diese Verhandlungen ganz entscheidend von den transnationalen Gruppen beeinflußt wurden, denn die werden sicher Vorteile haben und wollen die nationalen Ökonomien noch ausschließlicher als heute unter sich aufteilen.
Es ist schon abzusehen, wer den Nutzen aus diesem gemeinsamen Markt ziehen wird. Beispielsweise hat Argentinien gute Chancen, Weizen nach Brasilien zu exportieren, oder nach Paraguay oder auch Uruguay – Fleisch ebenso und auch Milchprodukte. Die kleineren Länder wie Paraguay und Uruguay werden dagegen keine Chance haben. Die Zuckerindustrie in Paraguay etwa wird sicher nicht gegenüber dem argentinischen Zucker bestehen können. Die Kleineren werden ruiniert oder zumindest erheblich schlechter dastehen. Zum Beispiel ist die Sojaproduktion in Brasilien um die Hälfte billiger als in Argentinien. Wer also wird in Argentinien noch Soja produzieren?

Warum ist Brasilien so viel billiger?
Das hat verschiedene Gründe. Vor allem sind die Arbeitskräfte viel billiger. Aber auch insgesamt ist das Land industrialisierter als Argentinien. Niemand spricht über die sozialen Auswirkungen – darüber, was es bedeutet, wenn ganze Industriezweige eingehen werden. Eine Angleichung der Produktionskosten im Sinne der Industrie wird sich an den niedrigsten Standards orientieren. Das bedeutet noch niedrigere Löhne, Abfindungszahlungen und schlechtere Arbeitsbedingungen für die ArbeiterInnen. Außerdem besteht natürlich ein Interesse die Macht der Gewerkschaften so weit wie nur möglich einzuschränken. Über diese Faktoren gibt es keine Verhandlungen, da wird nichts vertraglich geregelt. Deswegen ist es wichtig, daß wir uns ein Bild verschaffen, nicht nur über unser eigenes Land, und daß wir mit den ArbeiterInnen, den Gewerkschaften zusammen arbeiten.

Im August 1992 gab es ein Treffen von Kleinbauern- und KleinbäuerInnenorganisationen des Cono Sur in Asunción, Paraguay, das unter dem Motto “Wir machen unsere eigene Einigung!” stand. Wie kam es zu diesem Treffen?
Im Rahmen des Treffens der 500-Jahre-Kampagne 1991 in Guatemala trafen sich Bäuerinnen- und Bauernorganisationen aus Brasilien, Uruguay, Paraguay und Argentinien zum ersten Mal. Dort entstand die Idee zu einem Kongreß in Asunción, Paraguay zum Thema “MercoSur”. Es gab dann in Argentinien einige Vorbereitungstreffen, die hier in Buenos Aires stattfanden und schließlich fuhren wir zu dem Kongreß nach Paraguay.

Wer waren denn die teilnehmenden Organisationen?
Aus Brasilien kamen die Landlosenbewegung “Sem Terra” und VertreterInnen der Abteilung Landwirtschaft des Gewerkschaftsverbandes CUT. Aus Paraguay nahmen die Vereinigung der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern (Federación Campesina de Paraguay) und auch die Bewegung der LandbesetzerInnen teil. Auch aus Chile waren VertreterInnen gekommen, obwohl Chile ja gar nicht am MercoSur beteiligt ist. Es kamen Leute von der bäuerlichen Organisation “El Surco” und von der Mapuche-Organisation AD MAPU. Aus Argentinien schließ- ‘lich nahmen aus dem Süden der CAI (Consejo Asesor Indígena), aus dem Nordosten VertreterInnen des MAM (Movimiento Agrario de Misiones, Landbewegung Misiones) und aus dem Zentrum, aus der Pampa, nahm MARP (Movimiento Agrario de la Region Pampeana) teil.
Ein Ergebnis dieses Treffens war der Beschluß der Organisationen, sich und ihre Arbeit regional zu koordinieren. Dazu wurde eine Organisation mit dem Namen Asociación Regional de los Movimientos Campesinos gegründet.

Worin soll die Arbeit dieser Organisation bestehen? Glaubt Ihr, an der bestehenden Konzeption des gemeinsamen Marktes noch etwas ändern zu können? Bisher wurden verschiedene Arbeitsgruppen gegründet, zum Beispiel eine, in der Wissenschaftlerinnen aus den verschiedenen Ländern sich austauschen und sich gemeinsam eine Vorstellung davon erarbeiten, was der MercoSur für uns bedeuten wird. Außerdem wurde eine Menschenrechtskommission ins Leben gerufen, weil es eine große Zahl von Menschenrechtsverletzungen, Repressionen und Verfolgung gegenüber KleinbäuerInnen und Bauern gibt – vor allem gegen über den LandbesetzerInnen in Brasilien und Paraguay. Außerdem gibt es eine Kommission für Kommunikation und Erziehung, die eine gemeinsame Zeitschrift herausgeben wird. Auf diese Weise wollen wir uns so gut wir können den Vereinigungsplänen der Regierungen entgegenstellen.

Auf welchen Weg wollt Ihr das erreichen, wie stark seid Ihr in eurem Widerstand?
Eine Schwierigkeit ist, daß es hier in Argentinien im Gegensatz zu Brasilien keine nationale Organisation der KleinbäuerInnen und Kleinbauern gibt. Es gibt viele unterschiedliche Grüppchen, Gruppen und Organisationen, aber alle haben eine sehr geringe “Reichweite”, sie umfassen im Höchstfall eine oder zwei Provinzen. Wir haben uns mit VertreterInnen des CAI aus dem Süden, des MAM und des MARP hier in Buenos Aires getroffen und darüber eine Menge diskutiert. Dann haben wir einen Arbeitsplan entworfen, mit dem es möglich sein könnte, daß sich drei regionale Organisationen (Norden, Süden, Zentrum) aus den kleinen
Organisationen bilden. Das bedeutet für die drei Organisationen Arbeit für das ganze Jahr, um all diese Gruppen zu versammeln. Es sollen drei regionale Treffen stattfinden, bevor dann ein nationales Treffen vorbereitet werden kann. Nur auf diese Weise können wir eine starke Opposition gegen die Regierung bilden und selbst mehr Klarheit erlangen über die zu erwartenden Auswirkungen der Integration.
In einer ähnlichen Situation der Uneinigkeit befinden sich auch die meisten Indigena-Organisationen und Comunidades. Für unsere gemeinsame Opposition gegen den MercoSur wäre es gut, wenn auch sie sich zusammenschließen würden. Es gibt bisher einige größere Organisationen, wie die Asociación de Pueblos Guaraníes (Zusammenschluß der Guaraní in Misiones) oder den CAI im Süden, in dem sich mehrere Comunidades Mapuche zusammengeschlossen haben. Wenn sich landwirtschaftliche ProduzentInnen und Indígenas auf nationaler Ebene zusammenschließen würden, dann gäbe uns das ein viel stärkeres Gewicht in der Diskussion um die Integration.
Nur wenn sich auf regionaler Ebene und in allen betroffenen Ländern die Organisationen zusammenschließen, haben wir die Möglichkeit, unseren Forderungen gegenüber den Regierungen Ausdruck zu verleihen. Nur wenn wir Unterstützung von vielen haben, wenn es Unterschriftensammlungen gibt oder Demonstrationen oder Straßenblockaden, Sitzstreiks, können wir die Regierenden dazu bringen, ihre Positionen zu überdenken.
Auch wenn wir nicht viel Zeit haben, können wir bei guter Arbeit in zwei Jahren so stark sein, daß wir wirkungsvoll Widerstand leisten können.

Da bist Du ja ganz schön optimistisch! Arbeitet Ihr denn schon mit anderen Gruppen oder Organisationen zusammen?
Die Klein- und mittelständischen UnternehmerInnen haben eine Organisation, APYME (Asociación de la pequeña y mediana empresa), in der sich genau diejenigen zusammengeschlossen haben, die die größten Befürchtungen vor dem MercoSur haben. Außerdem haben wir Kontakte zu einigen Gewerkschaften. Es ist uns sehr wichtig, die Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu suchen, damit die Integration, die wir wollen, die zwischen Bäuerinnen und Bauern, aber auch zwischen allen anderen, den ArbeiterInnen, den StudentInnen stattfindet.

Kasten:

Gemeinsamer Markt im Cono Sur – MercoSur

Im “Vertrag von Asunción” vom März 1991 verständigten sich die vier Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay auf die Schaffung eines “Gemeinsamen Marktes im Cono Sur”. Dieser Prozeß soll bis zum 31.12.1994 abgeschlossen sein. Im Vertrag werden vier Ziele festgelegt:
1. Freier Austausch von Waren, Kapital, Technologie und Arbeitskräften
2. Die Festlegung einheitlicher Zollschranken an den Grenzen des gemeinsamen Marktes
3. Abstimmung der makroökonomischen Politik
4. Abstimmung der Außenpolitik, vor allem bezüglich der Handlungsweise innerhalb internationaler Organe, wie GATT oder ALADI (Asociación Latinoamericana de Integración).
Die einzigen erkennbaren Fortschritte, die bisher erzielt wurden, bezogen sich auf den Abbau der Zollschranken innerhalb des MercoSur. Zwischen Argentinien und Brasilien sollen diese bis zum 1.1.1994, im Handel mit den beiden anderen Staaten bis zum 1.1.1995 vollständig abgebaut sein. Unter den Bedingungen des MercoSur soll auf brasilianische Produkte eine Importsteuer von 14 Prozent erhoben werden. Allerdings hat Argentinien unter Wirtschaftsminister Cavallo schon jetzt nur noch Importsteuern von durchschnittlich 9 Prozent eingeführt, so daß brasilianische Waren in Argentinien starker internationaler Konkurrenz ausgesetzt sind.
Aufgrund der unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation der vier Staaten erscheint es außerordentlich rätselhaft, wie eine Abstimmung der Wirtschafts- und Außenpolitik erreicht werden soll.
In Argentinien und Brasilien konzentrieren sich 92 Prozent der gesamten Außenhandelsaktivitäten der vier Länder. Gleichzeitig sind aber die beiden kleineren Staaten weitaus abhängiger vom Handel innerhalb der Region. Der Handel innerhalb des MercoSur hat in Uruguay einen Anteil von 33 Prozent am gesamten nationalen Außenhandel, für Brasilien hingegen sind es nur 4 Prozent. Währenddessen wickelt Brasilien drei Viertel seines Außenhandels mit den “entwickelten” Ländern ab.
Während der achtziger Jahre führten Argentinien und Brasilien Verhandlungen, die zu einer Vereinfachung des Handels in bestimmten Industriezweigen führen sollten. Damals war von einem gemeinsamen Markt noch nicht die Rede, aber im Bereich der Maschinenindustrie wurden, vor allem für Argentinien, bedeutende Handelserleichterungen vereinbart.
Im Zuge der “Initiative für Amerika”, die US-Präsident Bush im Juni 1990 propagierte und mit der eine “Freihandelszone von Alaska bis nach Feuerland angestrebt wird, wurde dann von Vereinbarungen über bestimmte Wirtschaftszweige Abstand genommen. Neues Ziel war nun die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, der auch Uruguay und Paraguay einschließen sollte. Wofür die EG Jahrzehnte brauchte, das wollten die vier Regierungschefs in ein paar kurzen Jahren abhandeln. DiplomatInnen geben inzwischen ZU, dass diese Ansprüche vielleicht doch ein wenig zu hoch gegriffen sind.
Dafür wird jetzt Chile als möglicher zusätzlicher Partner umworben. Worin Vorteile des MercoSur für Chile liegen sollten, ist unklar, zeigt sich doch das Lieblingskind der WirtschaftswissenschaftlerInnen viel eher an einem bilateralen Abkommen mit den USA interessiert.
Um deutlich zu machen, daß die Integrationsbemühungen am lateinamerikanischen Südkegel nicht gegen die USA gerichtet sind, unterzeichneten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay 1991 ein “Rahmenabkommen über Handel und Investitionen” (auch “4+1-Abkommen”) mit den USA.
Nachdem sie die Rahmenbedingungen für den gemeinsamen Markt geschaffen hatten, ziehen sich die Regierungen immer weiter zurück, um die konkrete Ausgestaltung des MercoSur den privaten Unternehmen zu überlassen. Die transnationalen Unternehmen haben schon jetzt mit massiven Firmenaufkäufen, Kooperationsverträgen und Absprachen reagiert. Unternehmen mit Produktionsstätten in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern sind zur Strategie der Konzentration von Produktionsstätten übergegangen, was natürlich mit Entlassungen verbunden ist. Von staatlicher Seite aber gibt es keine Anstrengungen, die sozialen Folgen des Liberalisierungs- und Umstrukturierungsprozesses abzufangen. Von einem einheitlichen Arbeitsrecht oder Sozialsystem ist erst gar nicht die Rede.


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Atom(alp)träume am Rio de la Plata

Wie auch in anderen Ländern üblich war die Öffentlichkeit erst nach mehreren Tagen überhaupt von dem Zwischenfall unterrichtet worden. Greenpeace machte darauf aufmerksam, daß es sich um einen schweren Zwischenfall gehandelt habe, in dessen Verlauf zwei Tonnen radioaktiven Wassers ausgetreten seien und widersprach damit den Aussagen der CNEA, die den Vorfall herunterspielte.
In der Umgebung des Atommeilers sind bis heute keine Messungen zur Feststellung erhöhter Radioaktivität durchgeführt worden. Die ca. 300-köpfige Bürgerversammlung in Zárate, bei der auch zahlreiche lokale Organisationen, Werks- und Gewerkschaftsvertreter und Unterstützer von Greenpeace anwesend waren, machte daher die Untersuchung durch von der CNEA unabhängige Wissenschaftler zu ihrer ersten Forderung. Dazu haben sie allen Grund, denn bei der CNEA handelt es sich um eine sogenannte Kontrollbehörde, die direkt vom Präsidialamt abhängig ist. Eine 1984 durch die Regierung Alfonsin eingereichte Gesetzesnovelle, die eine weitreichende Autonomie für die Atomkontrollbehörde vorsah, ist nie ratifiziert worden. Allerdings wurde später eine andere unabhängige Institution zur Kontrolle der Atomenergie gegründet, der Abgeordnete von Bundes- wie Landesparlamenten sowie Wissenschaftler verschiedener Universitäten angehören. Ihr ist es in der letzten Zeit durch die Verbreitung von Informationen gelungen, zur Aufklärung über die Gefahren der Atomenergie und zu einer breiteren Diskussion über die Atompolitik beizutragen.
Zwar war es bei der Versammlung in Zárate zu einer offenen Aussprache zwischen den verschiedenen Parteien gekommen, bei der Greenpeace-Vertreter großen Beifall erhielten, aber die Tatsache, daß sich weder der Bezirksbürgermeister noch ein anderer Ratsvertreter sehen ließ, belegt, wie bereits im Vorfeld hinter den Kulissen Politik gemacht wurde. Offensichtlich hatten die Vertreter der CNEA den Bürgermeister davon überzeugt, die Beziehungen zu ihnen besser nicht zu belasten, denn schließlich habe das Werk runde 800 Millionen bereitgestellt, um damit die Straßen des Stadtteils zu pflastern.
Immerhin hatten 15 Abgeordnete mit zu der Versammlung aufgerufen, von denen jedoch lediglich einer vor Ort erschien. Dieser forderte ebenfalls die Stillegung des Werkes, bis die Ursachen für den Unfall behoben seien. Auch er wies auf die Notwendigkeit einer unabhängigen Untersuchungskommission hin. “Atucha kann sich nicht selbst kontrollieren,” stellte er lapidar fest und fügte hinzu, eine Demokratie funktioniere nur mit sich überschneidenden Kontrollen.

Altbekannte Argumente der Atomlobbyisten

Mit Greenpeace-Vertretern und der CNEA stehen sich Atomkraftgegner und -befürworter in klaren Fronten gegenüber. Nach den Worten des anwesenden Atom-Funktionärs, der sich selbst als “Ökologen” bezeichnete, liest sich das so: “Von Greenpeace trennt uns eine philosophische Frage. Wir sind überzeugt, daß die Atomenergie sehr nützlich und kaum gefährlich ist.” Und auch in einem weiteren Fall, der gerade in Argentinien diskutiert wird, der Wiederinbetriebnahme des Atommeilers von Embalse, sind altbekannte Argumente von der Atomlobby zu hören. Dort warnt der ehemalige Direktor der staatlichen Stromfirma (Empresa Nacional de Centrales Eléctricas – ENACE) Jorge Cosentino, Mitglied der Peronisten, vor den ökonomischen Folgen für die Region. Dem Atomfunktionär muß bei dieser Gelegenheit entfallen sein, daß in Argentinien bereits der Bau eines Atomkraftwerkes pro Kilowatt ca. 3500 US-Dollar kostet im Gegensatz zu lediglich 1000 US-Dollar bei einem herkömmlichen Gaskraftwerk. Dabei sind die erheblichen Kosten für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle noch nicht einmal berücksichtigt. Cosentino hatte schon Ende der 80er Jahre darauf gedrängt, die Wiederinbetriebnahme von Embalse zu beschleunigen. Das Atomkraftwerk am Rio Tercero in der Provinz Córdoba, errichtet durch eine kanadische und eine italienische Firma, mußte noch während seiner Probelaufzeit von 24 Monaten abgeschaltet werden. Schon die Auftragsvergabe an die kanadische Atomic Energy Canada Limited (AECL) und die italienische Firma Italimpianti zur Errichtung des Kraftwerks war Anfang der 70er Jahre unter dubiosen Umständen erfolgt. Dem ehemaligen peronistischen Wirtschaftsminister Gelbard konnte erst nach seinem Tod nachgewiesen werden, daß er Schmiergelder für die Baugenehmigung entgegengenommen hatte. Im Januar 1984 war dann eine 24-monatige Betriebserlaubnis erteilt worden, bis sich in einem Kraftwerk gleichartigen Bautyps in Kanada ein schwerer Zwischenfall ereignete. Daraufhin mußte Embalse vom Netz. Seitdem lagen die Kraftwerksbetreiber, die bestreiten, daß sich ein solcher Zwischenfall in Embalse ereignen könne, mit dem Chef der Kontrollkommission CNEA, Alberto Constantini, im Clinch. Der inzwischen verstorbene Constantini verweigerte eine Inbetriebnahme, bevor nicht gründliche Reparaturen durchgeführt worden seien. Allein die Kosten für die zur Diskussion stehenden Reparaturen belaufen sich auf mindestens 200 Millionen US-Dollar. Und wieder fallen den Atomvertretern Argumente ein, die die Angelegenheit kostensparend gestalten sollen: bei Embalse handele es sich gar nicht um den gleichen Bautyp wie in Kanada, ist von Embalse-Direktor Eduardo Díaz zu hören, und CNEA-Funktionär Aníbal Núñez beteuert, “diese Sache hat viel mit politischen und institutionellen Ressentiments zu tun.” Inzwischen ist das Kraftwerk schon 15 Jahre alt und schon aufgrund seiner begrenzten Lebensdauer nicht mehr rentabel. Da die Betriebserlaubnis noch nicht definitiv erteilt wurde, dürfte der Atommeiler für eine Privatisierung uninteressant geworden sein, selbst wenn die anfallenden Reparaturkosten durch einen potentiellen Käufer nach altem Muster auf den Staat und damit den Steuerzahler abgewälzt würden.
Genügend Argumente für einen Ausstieg aus der Atomtechnologie, sollte man meinen. Aber leider verstummt auch der Applaus für Greenpeacevertreter genau in dem Moment, da die Sprache auf die komplette Stillegung kommt. In Atucha I arbeiten 450 Beschäftigte, die in ihrer großen Mehrheit auch direkt in der Nähe des Werkes wohnen. “Wir leben direkt am Werk mit unseren Familien, etwas, was wir sicher nicht machen würden, wenn wir Atucha für risikoreich hielten”, so der Gewerkschaftsvertreter von Luz y Fuerza in Zárate auf der Bürgerversammlung und zahlreiche Arbeiter klatschen ihm stürmisch Beifall. Aber welcher argentinische Arbeiter hat schon die freie Wahl von Arbeitsplatz oder Wohnort?
Greenpeace dagegen erhielt 24 Stunden nach der Versammlung in Zárate einen anonymen Anruf: “Wenn ihr weiter gegen das Atomkraftwerk arbeitet, werdet ihr in tausend Stücke zerfetzt. Letzte Aufforderung!” Juan Schroeder, aktueller Greenpeace-Sprecher in Buenos Aires bestätigt, es habe schon früher solche Anrufe gegeben. Es sei eben so, daß wenn man sich ernsthaft für eine Sache einsetze, auch immer Interessen von bestimmten Leuten verletzt würden.


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Die Stille – leer

Der Meister spielt und singt nicht mehr. Atahualpa Yupanqui starb am 23. Mai im Süden Frankreichs eines natürlichen Todes. Er wurde vor 84 Jahren in der Provinz Buenos Aires geboren. Reisen durch Argentinien, Bolivien und Peru inspirierten ihn zu mehr als 1.000 Liedern über Leben und Leute in der Pampa und den Anden (unter anderem Los Hermanos, Caminito del indio, Los ejes de mi carreta, Nostalgias tucumanas) Bereits vor vielen Jahren widmete ihm ein deutscher Gitarrist – Wolf Biermann – folgendes Gedicht:

Atahualpa Yupanqui

Der berühmte Linkshandspieler
spielt seine Gitarre. Und das
kannst Du von ihm lernen:
Löcher
ja in der Musik die Löcher
sind das Beste, sind das Schwerste
prallgefüllte Pausen bersten
zwischen Ton und Ton. So tiefe
Pausen traut sich nur der
Meister
Und in Argentinien, als sie Yupanqui gefangen hielten
die Faschisten, da zermalmten sie mit einer Schreibmaschine
seine rechte Hand ihm, die
zum Greifen

Jetzt, im Süden von Paris
spielt der Alte im Exil
wieder. Und mit neuer Technik
überspielt er die zerschlagnen
Finger
jetzt spielt er die Leere
voller noch die Pausen
bluten
ja, jetzt ist der stille Abgrund
zwischen Ton und Ton
vollendet


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Mr. Clean, Mr. Washington und Mr. Broker

Nationale und internationale Reaktionen

Ob der Wunschkandidat der USA bei den Präsidentschaftswahlen von 1990 die Aufhebung des von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verhängten Embargos erreichen wird, muß angesichts der fast einhelligen internationalen Ablehnung seiner Wahl zumindest vorerst bezweifelt werden. Mit Ausnahme des Vatikans weigerten sich alle Staaten, VertreterInnen zur offiziellen Amtseinführung Bazins zu schicken.
Auch innerhalb Haitis stieß Bazins Ernennung zunächst auf breite Ablehnung. Nach der Bestätigung durch das Parlament hielten die Proteste der haitianischen Bevölkerung an. Während Teile der “sozialistischen” PANPRA offenbar mit den neuesten Entwicklungen zufrieden sind, bemüht sich die dem legitimen Staatspräsidenten Aristide nahestehende FNCDH (Nationale Front für Veränderung und Demokratie), nach außen ein geschlossenes Bild der Ablehnung zu geben. Ein Senatsmitglied, das für Bazin gestimmt hatte, wurde aus der Partei ausgeschlossen. Jedoch weisen Berichte aus Haiti darauf hin, daß es auch innerhalb der FNCDH Sympathien für das Regierungsprogramm des neuen Ministerpräsidenten gibt.

Herausragende Eigenschaft: Politische Flexibilität

Mit Bazin haben die Militärs einen Mann zum Ministerpräsidenten erkoren, der bereits in der Vergangenheit bewiesen hat, sich mit den jeweils dominierenden Machtinteressen in Haiti arrangieren zu können. Als Finanzminister unter dem Diktator Duvalier machte sich Bazin mit einer Anti-Korruptionskampagne einen Namen: Mr. Clean. Ebensowenig brachte der Sturz Duvaliers 1986 Bazin in Verlegenheit. Durch seine enge Anlehnung an die USA galt Bazin in seiner neuen Rolle des Mr. Washington als Fürsprecher des sicheren Übergangs Haitis in eine Demokratie westlichen Zuschnitts. 1990 bei seiner Kanditur bei den Präsidentschaftswahlen gegen Aristide klar gescheitert, spielte Bazin auch nach dem Militärputsch vom vergangenen September keine Hauptrolle auf der politischen Bühne, bis er vor wenigen Wochen als Kandidat für das Ministerpräsidentenamt in die Diskussion gebracht wurde. Als – nach eigenen Worten – ehrlicher “Makler” für die Interessen aller HaitianerInnen stellte er unter seinem neuen Pseudonym, Mr. Broker, am 12. Juni sein neues Kabinett vor, in dem ausschließlich PolitikerInnen stehen, die den Staatsstreich unterstützt haben.

“Der Putsch war ein Betriebsunfall auf dem Weg zur Demokratie”

Mit den Worten, der Putsch sei nur ein Betriebsunfall auf dem Weg zur Demokratie gewesen, machte Bazin klar, daß er die Position der Militärs vorbehaltlos anerkennen würde. Gleichzeitig erklärte Mr. Broker seine Bereitschaft, mit Aristide über dessen Rückkehr zu verhandeln. Zentrale Bedingung sei allerdings Aristides Verzicht auf die Forderung, Raoul Cédras, den Anführer des Putsches, als Oberkommandierenden der Streitkräfte zu entlassen. Angesichts dieser nahezu unzumutbaren Bedingung wird die Strategie der MachthaberInnen in Port-au-Prince überdeutlich. Sollte Aristide an seinen Forderungen festhalten, könnte er der Weltöffentlichkeit als derjenige vorgeführt werden, der jede Lösung der Krise in Haiti blockiert. Für den eher unwahrscheinlichen Fall der Zustimmung Aristides wäre die Spaltung der Lavalas-Bewegung absehbar, während gleichzeitig ein seiner Kompetenzen beraubter Präsident als Beruhigungsmittel für die Bevölkerungsmehrheit noch immer tauglich wäre.
Doch ganz egal, welchen Verlauf die Verhandlungen mit Aristide nehmen werden: die Machtcliquen in Port-au-Prince spielen erneut auf Zeit und hoffen, zumindest mittelfristig die internationale Anerkennung des gewaltsam hergestellten Status quo zu erreichen. Nach der Aufhebung des OAS-Embargos könnte Bazin dann endlich sein Wirtschaftsprogramm in die Tat umsetzen, das einerseits umfassende Privatisierungen und andererseits den Aufbau einer Exportwirtschaft durch die Ansiedlung von Billiglohnindustrien vorsieht. Um sich dabei der Hilfe der USA zu vergewissern, hat Bazin bereits von der Möglichkeit eines US-Militärstützpunktes im Norden Haitis als Ersatz für das kubanische Guantánamo gesprochen.

Verstöße gegen das Embargo

Bisher zeigten die Präsidenten der amerikanischen Staaten offiziell wenig Bereitschaft, das Embargo zu lockern. Die New York Times berichtete in ihrer Ausgabe vom 6. Juni sogar über Pläne, eine multinationale Eingreiftruppe nach Haiti zu entsenden. US-Präsident George Bush dementierte diese Berichte umgehend und sprach sich stattdessen dafür aus, das Handelsembargo zu verschärfen. Bei einem Treffen in Caracas am 14. Juni arbeiteten die Präsidenten Venezuelas, Frankreichs und der USA, Carlos Andres Pérez, François Mitterand und George Bush, sowie Brian Mulroney, der Ministerpräsdent Kanadas, neue Pläne zur strikteren Anwendung des Embargos aus. Die mit Abstand skurrilste Begründung für diese Maßnahme gab Andres Pérez, der die Putschversuche in Peru und in seinem eigenen Land auf den “perversen Einfluß” der PutschistInnen in Port-au-Prince zurückführte.
Nach Angaben des US-Bundesrechnungshofes in Washington wird das Embargo fortwährend durchbrochen. Nicht nur Staaten der Europäischen Gemeinschaft, die sich offiziell nicht dem OAS-Embargo angeschlossen hat, verstießen gegen die Handelsblockade, sondern auch Mitgliedsländer der OAS. Brasilien liefert Stahl, Argentinien Chemikalien, Kolumbien Öl, Venezuela Verbrauchsgüter und die Dominikanische Republik Reifen und Dieselmotoren.

Kritik an der Flüchtlingspolitik der USA

BeobacherInnen in Washington sehen im Eintreten der Bush-Administration für eine schärfere Handhabung des Embargos ein Manöver, das von der Auseinandersetzung um die eigene Flüchtlingspolitik ablenken soll. Nachdem Bush die Schließung des US-Stützpunktes in Guantánamo für haitianische Flüchtlinge verfügt hatte, mehrten sich die kritischen Stimmen innerhalb des Kongresses, die die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme bezweifelten. Sie verwiesen darauf, daß die EinwanderungsbeamtInnen in Guantánamo einem Drittel der Flüchtlinge gestattet hätten, einen Asylantrag in den USA zu stellen. Mit der Schließung Guantánamos und dem Abfangen von Flüchtlingsbooten in internationalen Gewässern verstoßen die USA sowohl gegen das eigene Einwanderungsgesetz als auch gegen die internationale Flüchtlingskonvention. Auch der zynische Ratschlag des Regierungssprechers Boucher, die HaitianerInnen könnten schließlich direkt in der US-Botschaft in Port-au-Prince einen Asylantrag stellen, hat den Protest von Oppositionellen und Menschenrechtsgruppen in den USA entfacht. Sie verweisen darauf, daß die Botschaften in der haitianischen Hauptstadt einerseits durch hohe Zäune und andererseits durch Kontrollen des Militärs absolut unzugänglich sind. Es gibt eine Vielzahl von Berichten über Menschen, die beim Versuch, in die US-Botschaft zu gelangen, verhaftet wurden und seitdem nicht wieder aufgetaucht sind.
Auch die Staaten in der Karibik reagierten auf den Beschluß der USA, Guantánamo zu schließen, mit Ablehnung. “Die US-Entscheidung könnte ein großes Problem für andere Länder schaffen”, kommentierte ein Angehöriger des Außenministeriums von Jamaika. Die Bahamas haben ihre Küstenwache angewiesen, Flüchtlinge noch auf hoher See abzufangen und zurück nach Haiti zu schicken. Menschen, denen es trotzdem gelingt, die Bahamas zu erreichen, werden unter dem Vorwurf der illegalen Einreise inhaftiert. Auch Kuba kündigte an, haitianische Flüchtlinge auf dem Luftweg zu repatriieren.

Bazin: Der Weizsäcker der Karibik?

Nachdem nun nahezu alle Fluchtwege abgeschnitten sind, hat sich die Lage der HaitianerInnen rapide verschlechtert. Das OAS-Embargo hat mehr als 150.000 Menschen den Arbeitsplatz gekostet, ohne die wirtschaftlichen Eliten des Landes empfindlich zu treffen. Infolge einer Dürrekatastrophe steht dem Land eine Mißernte bevor, die unausweichlich zu einer Hungersnot führen wird, wenn die internationale Staatengemeinschaft nicht ihre Hilfslieferungen ausdehnt.
Die Militärs reagieren mit unverminderter Brutalität auf jede Form des Protests gegen die neuen MachthaberInnen. ZeugInnen berichten immer wieder von nächtlichen Gewehrsalven in den Armenvierteln der Städte sowie von Leichen, die am nächsten Morgen auf offener Straße gefunden werden. Trauriger Höhepunkt der Repression war ein Anschlag auf “La Fami Se Lavi”, ein Heim für Straßenkinder, das von Aristide eingerichtetet worden war und am Abend der Bestätigung Marc Bazins durch den haitianischen Senat in Flammen aufging.
Während sich auf der politischen Bühne mit der Wahl Bazins vordergründig betrachtet Bewegung ergeben hat, droht die Krise für die Bevölkerung Haitis unvorstellbare Ausmaße anzunehmen. So wird der deutsche SPIEGEL wohl noch lange vergeblich nach einem “Weizsäcker der Karibik” suchen müssen, der den Weg aus der Krise weist. Marc Bazin, alias Mr. Clean, alias Mr. Washington, alias Mr. Broker, taugt zu wenig mehr als zu einem karibischen Mr. Zelig, einem politischen Chamäleon, das sich geschickt jedem politischen Wandel anzupassen weiß.


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“Es wird weder eine Amnestie noch Begnadigungen geben”

Frage: Was empfindet jemand wie Sie, der in Chile so viele Jahre für die Ein­haltung der Menschenrechte und die Verteidigung der Regime-Opfer ge­kämpft hat, nach der Bekanntgabe des Berichtes der Rettig-Kommission?

R.G.: In den 17 Jahren der Diktatur wurden wir als Lügner und Vaterlandsver­räter hingestellt, als Diener des Terrorismus, nur weil wir offen gesagt haben, daß in Chile gefoltert wird, daß in Chile die Gefangenen verschwinden, daß in Chile Oppositionelle ermordet werden. 18 Jahre später, nach einem Jahr Demo­kratie, vertritt die chilenische Regierung die Auffassung, daß alles, was wir, ein winziges Grüppchen, seit dem 11. September 1973 immer wieder gesagt haben, die Wahrheit ist. In diesem Sinne bedeutet die Veröffentlichung des Rettig-Be­richts einen Höhepunkt einer juristischen, politischen und nicht zuletzt auch sehr persönlichen Entwicklung. Als Mitarbeiter des Friedenskommitees und später des Solidaritätsvikariates sind wir, genauso wie die Leute von der Menschen­rechtskommission, immer für eine Option des Lebens eingetreten, für eine klare Ausrichtung unserer beruflichen Arbeit. Dieser Weg war voller Erfolgserlebnisse und voller Unannehmlichkeiten, immer wurden wir als Lügner hingestellt, die die Wahrheit verdrehten. Heute wird dagegen endlich anerkannt, daß wir immer die Wahrheit gesagt haben.
Ich möchte noch hinzufügen, daß alle Menschenrechtsorganisationen in Chile ihre Archive der “Kommission Wahrheit und Versöhnung” zur Verfügung ge­stellt haben, die ohne das Solidaritätsvikariat, ohne die Menschenrechtskommis­sion niemals diese phantastische Arbeit hätte leisten können.

Frage: Welche Konsequenzen, welche Auswirkungen wird der sog. Rettig-Be­richt in Chile haben?

R.G.: An erster Stelle möchte ich eines sagen: Dieser Bericht wird keinerlei juristi­sche Konsequenzen haben. Dieser Frage wird in dem Bericht auch gar nicht nachgegangen, die Leute, die gegen die Menschenrechte verstoßen haben, kön­nen unbehelligt weiterleben. Das könnten sie allerdings auch dann, wenn sie in dem Bericht namentlich genannt worden wären, denn dabei handelt es sich ja gar nicht um ein Urteil, sondern eben nur um den Bericht einer Kommission. Poli­tisch wird besonderes Gewicht auf eine Aussage gelegt, die aus Argentinien kommt und heute zu einem Schrei in ganz Lateinamerika geworden ist, das ‘Nunca más’ – Nie wieder! Die chilenische Gesellschaft darf nicht noch einmal dasselbe Schicksal erleben, unter dem sie bisher gelitten hat.
Es gibt in unserem Land Leute, die der Diktatur nachtrauern. Und diese Leute haben große Macht. Unser Bestreben ist es, sie auf die Seite der Demokratie her­überzuziehen. Im ersten Jahr haben wir das nicht geschafft. Die gesellschaftlichen Gruppen, die während der Diktatur hinter Pinochet standen, stehen auch in der Demokratie hinter ihm; und der Pinochetismus ist nicht auf der Seite der Demo­kratie!

Frage: Wird in Chile die Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen genauso im Sande verlaufen wie in Argentinien und Uruguay?

R.G.: Im Fall Argentiniens hat es zwar eine Begnadigung gegeben, aber erst nachdem die Schuldigen mehrere Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Das sollte nicht vergessen werden.
In Chile wird es aber keine Straffreiheit geben! Die gibt es hier schon in Form der Amnestie von 1978, die sich auf alle zwischen 1973 und ’78 begangenen Men­schenrechtsverletzungen bezieht. Diese Amnestie kann nicht aufgehoben wer­den, dazu fehlt es uns an juristischer Macht. Denn die demokratischen und für die Achtung der Menschenrechte eintretenden Parlamentarier stellen eine Min­derheit im Senat, weil Pinochet immerhin neun nicht vom Volk gewählte Senato­ren ernannt hat, bevor er gegangen ist. Damit die Menschenrechtsverletzungen vor 1978 nicht in Vergessenheit geraten, müßte der Oberste Gerichtshof seine Meinung ändern und das Amnestiegesetz nicht anwenden. Doch das wird das Oberste Gericht sicherlich nicht tun, auch wenn ich das, ehrlich gesagt, für eine Fehlentscheidung halte.
Bei den neueren Menschenrechtsverletzungen wird es weder Begnadigungen noch eine Amnestie geben, in diesem Sinne hat sich Präsident Aylwin eindeutig geäußert. Ich möchte dazu Folgendes sagen: Die Probleme, auf die wir bei der Wahrheitsfindung in diesen Fällen stoßen, entstehen nicht durch die Amnestie, sondern durch die kriminellen Methoden, die die Geheimdienstagenten des Regi­mes angewendet haben, um die Identifizierung der Verantwortlichen unmöglich zu machen. Ohne die Täter ausfindig zu machen, kann nicht Recht gesprochen werden. Erst in dem Augenblick, wo die Verantwortlichen bekannt werden, tritt die Justiz in Aktion. So beispielsweise im Fall des Mordes an dem Journalisten José Carrasco, der von Leuten in Militäruniformen und mit typischem Militärjar­gon während der nächtlichen Ausgangssperre entführt und ermordet wurde: Bisher wußte niemand, wer den Mord begangen hatte, doch heute ist ein Täter ermittelt. Dazu muß allerdings gesagt werden, daß er nicht wegen des Mordes auffällig wurde, sondern durch seine Beteiligung an Scheck- und anderen Betrü­gereien. Als sein Foto in mehreren Zeitungen erschien, wurde er identifiziert. Heute sitzt er in Untersuchungshaft und steht unter Anklage wegen Mordes an José Carrasco. Werden wir noch weitere solche Fälle aufdecken können? Das ist zumindest unser Ziel.

Frage: Es gab von verschiedenen Seiten Kritik daran, daß in dem Rettig-Be­richt keinerlei Namen von Folterern und anderen Tätern genannt werden. Wie stehen Sie zu dieser Kritik?

R.G.: Als Menschenrechtsanwälte haben wir ein ungeheures Problem zu bewälti­gen: Wir müssen die Menschenrechte immer respektieren, immer. Wir müssen auch über die Menschenrechte der mutmaßlichen Folterer und Gewalttäter wa­chen. Der Rettig-Bericht ist kein Urteil, er ist einfach ein Untersuchungsbericht. Die Sábato-Kommission in Argentinien hat ebenfalls keine Namen von Folterern bekanntgegeben. Denn wie soll sich ein eventueller Beschuldigter verteidigen, wenn der Bericht schon veröffentlicht worden ist? Er erscheint in einer Auflage von 1,2 Millionen Exemplaren, er ist für alle Ewigkeit da. Und wie soll sich je­mand verteidigen, der vielleicht gar keine Schuld hat? Daher war es nicht mög­lich, die Namen bekanntzugeben, ohne damit eine offenkundige Verletzung der Menschenrechte zu begehen.
Und das Ganze hat noch eine andere Konsequenz, die meiner Meinung nach aller­dings nicht beabsichtigt war: Wären die Namen erschienen, würden die Leute vermutlich denken, was für ein schlechter Mensch ist dieser oder jener Poli­zist oder Militär. Da aber kein Name veröffentlicht wurde, gibt es für die Leute nur einen Namen, nämlich den des Mannes, der für alles verantwortlich ist. Ich glaube nicht, daß die Namen aus diesem Greunde nicht bekanntgegeben wurden, das hat aber eine unbeabsichtigte, jedoch sehr begrüßenswerte Konse­quenz. Die Öffentlichkeit weiß, wer der Schuldige ist.

Frage: Für viele ist das politische System in Chile nichts anderes als eine be­wachte Demokratie, in der es zwar eine gewählte Regierung gibt, die Armee aber als graue Eminenz im Hintergrund wirkt. Wie gestaltet sich in Ihrer Hei­mat das Verhältnis zwischen Regierung und Militär, und welche Chancen hat die Demokratie in Chile?

R.G.: Ich würde den Begriff “bewachte Demokratie” lieber durch einen anderen ersetzen: Die chilenische Regierung ist durch und durch demokratisch, das steht außer Zweifel. Aylwin ist ein Demokrat, seine Minister sind allesamt Demokra­ten, alle Regierungsbeamte. Das Problem ist, daß wir uns in einem gesetzlichen Rahmen und in einer Staatsstruktur bewegen, die in sich undemokratisch sind, wo es sehr mächtige Institutionen gibt, die nicht den Willen des Volkes repräsen­tieren, darunter keine geringere als der Senat. Es war ein überaus konfliktreiches Jahr mit vielen Reibungspunkten zwischen einem Teil der Armee und der Regie­rung als legitimem Ausdruck des Volkswillens.
Die Bilanz ist letztlich positiv, das heißt, das zivile Zusammenleben hat sich ge­gen den Militarismus durchgesetzt. All die Versuche des Militarismus, die Demo­kratisierung zu bremsen und in die Enge zu treiben und durch ständige Angriffe auf die Demokratie Freiräume für sich zu schaffen, ist im ganzen Land auf vehemente Ablehnung gestoßen. Diese Strategie hat nur in den Kreisen Rückhalt gefunden, die sich mit dem Militärregime identifiziert haben. Das sind allerdings nicht wenige, Aylwin hat gerade mit 55% der Stimmen gewonnen, das war alles andere als ein überwältigender Wahlsieg. Ich glaube aber, Präsident Aylwin und die demokratischen Kräfte wären heute in der Lage, mit einem viel größeren Vorsprung zu gewinnen.
Ich möchte meine Eindrücke von der Jugend anführen, die die Freiheit, die sie heute hat, gar nicht kannte und noch nicht einmal davon geträumt hat. Das sehe ich an der Reaktion meiner Kinder und ihrer Freunde: Heutzutage wird im Fern­sehen über alles diskutiert, es gibt kein Thema, über das nicht diskutiert wird. Das kannten sie vorher gar nicht, und sie sind regelrecht gefesselt. Alle beteiligen sich, alle äußern ihre Meinung, vorher waren sie bloße Zuschauer der Meinung Anderer. Heute haben alle das Recht auf eine eigene Meinung, und sie beziehen Stellung. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Zum anderen hat der Staat seine aggressive Rolle aufgegeben. Wenn man früher, um bei diesem wichtigen Medium zu bleiben, den Fernseher anschaltete, drang der Diktator in die eigenen vier Wänder der Leute ein, beschimpfte uns als Vater­landsverräter, abgehalfterte Politiker, Machthungrige, und das mir einem aggres­siven, arroganten Ton. Präsident Aylwin tritt heutzutage gar nicht im Fernsehen auf, allenfalls als eine Nachricht unter vielen, wenn es etwas Nennenswertes gibt. Ganze vier Male hat er im Fernsehen gesprochen, vorher war das ständig der Fall. Und das Schöne daran ist, daß diese vier Male zum einen die Weihnachtsan­sprache war, eine chilenische Tradition, und zum anderen die Bekanntgabe der Ernennung der Rettig-Kommission, die Entgegennahme des Rettig-Berichts und die Bekanntgabe der Ergebnisse dieses Berichts. Also einzig und allein in Men­schenrechtsfragen, und das ist sehr gut so.


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