Lebendige Demokratie in Brasilien

Ein zierlicher Mann mit schwarzem Schnauzbart und in dezentem Anzug bahnt sich den Weg durch die bunte Menge von AktivistInnen aus aller Welt. Rote Fahnen werden geschwenkt, „Olívio, Olívio“-Sprechchöre erschallen in der riesigen Halle der Katholischen Universität von Porto Alegre. Auf der Abschlussveranstaltung des Weltsozialforums erhält kaum jemand mehr Beifall als der Gastgeber: Olívio Dutra, 58, Gouverneur des Bundesstaates Rio Grande do Sul. Dutra gehört zur Gründergeneration der brasilianischen Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores), die soeben ihren 21. Geburtstag gefeiert hat und die wichtigste Linkspartei Lateinamerikas ist.
GewerkschafterInnen, progressive Christen, demokratische Sozialisten, orthodoxe und unorthodoxe Linke. Trotzkisten und BasisaktivistInnen aus einer Unzahl von Strömungen schlossen sich zu einer Partei „neuen Typs“ zusammen, die heute mehr WählerInnen hinter sich weiß denn je zuvor.
Porto Alegre war 1988 die erste Landeshauptstadt, in der ein PT-Politiker zum Bürgermeister gewählt wurde – eben Olívio Dutra. Die Kassen waren leer, die Gegnerzahl im einheimischen Establishment enorm. Also machte sich die kommunale PT-Spitze daran, ihre „Isolation zu durchbrechen“, so Luciano Brunet vom „Bürgerbüro der Beziehungen zur Gemeinschaft“. In Zusammenarbeit mit der Basisbewegung aus den Armenvierteln entstand die „Orçamento Participativo (OP)“, zu deutsch etwa „Partizipative Haushaltsaufstellung“, die inzwischen zum Markenzeichen von Porto Alegre und manch anderer PT-regierten Stadt geworden ist. „Wir fingen an, den Mangel transparent zu verwalten“, erzählt Brunet. „Die Bevölkerung wurde nach Prioritäten bei der Stadtentwicklung gefragt, die wenigen Mittel in den bedürftigten Stadtvierteln konzentriert“. Nach diesen beiden Prinzipien funktioniert die OP bis heute.

Eine Favela neu gebaut

Ab März werden auf Bürgerversammlungen in 16 Bezirken nun wieder die örtlichen Prioritäten festgelegt. Soll eine Kinderkrippe gebaut werden? Oder ist die Renovierung des Kulturzentrums wichtiger? Oder vielleicht doch die Asphaltierung zweier Nebenstraßen? Parallel dazu beraten VertreterInnen von Basisbewegungen auf fünf thematischen Foren über die Struktur der Investitionen im Stadthaushalt – derzeit etwa 15 Prozent des gesamten Etats, von dem der Löwenanteil noch aus laufenden Kosten, wie den Gehältern der städtischen Angestellten besteht. Die Bürger- und Delegiertenversammlungen erarbeiten jedes Jahr bis Ende September konkrete Investitionspläne, wobei die Exekutive nur den Umfang der bereitstehenden Mittel bekannt gibt. Der Bürgermeister präsentiert dann die Vorschläge unverändert dem Stadtparlament, das bis Ende November den Jahreshaushalt verabschiedet.
Im vergangenen Jahr waren rund 30 000 Menschen an der OP für den Jahresetat 2001 beteiligt – von 1,4 Millionen EinwohnerInnen insgesamt. Durch diese Form der direkten Mitbestimmung sind Korruption und Vetternwirtschaft, ein Grundübel der brasilianischen Politik, in Porto Alegre so gut wie unbekannt. Konservative Kritiker beklagen, dass Mitglieder der Arbeiterpartei den gesamten Prozess dominieren. Die PT verstoße gegen in der Verfassung vorgegebene Mechanismen der repräsentativen Demokratie, behauptet etwa der emeritierte Politologe José Giusti Tavares. Für ihn ist die OP ein „Machtinstrument der PT“. Das Wahlvolk scheint es nicht zu stören: Vor wenigen Monaten erzielte der jetzige Bürgermeister Tarso Genro, der bereits von 1992 bis 1995 im Amt war, in der Stichwahl 63 Prozent der Stimmen.
Ein konkretes Beispiel, wie sich die Bürgerbeteiligung auszahlen kann, ist der Wohnkomplex Lupicínio Rodrigues im Zentrum Porto Alegres. Noch vor drei Jahren befand sich an gleicher Stelle ein Armenviertel, eine „ziemlich wilde Favela“, wie Valdemar de Oliveira meint. Unter der Leitung des umtriebigen Vorsitzenden der örtlichen Bürgervereinigung erstritten sich die 80 Familien auf den OP-Versammlungen ihres Bezirks die Haushaltsmittel für den Neubau des Viertels. Während der Übergangszeit von einem knappen Jahr wohnten sie in großen Schuppen. Auch heute stehen Oliveira mit seiner vierköpfigen Familie nur zwei Stockwerke mit 30 Quadratmetern zur Verfügung, aber die Anlage hat jetzt einen Kindergarten und einen Gesundheitsposten. Das Gemeinschaftszentrum wird gerade eingerichtet. „In der kommenden OP-Runde wollen wir erreichen, dass vor dem Viertel eine Polizeistation eingerichtet wird“, sagt Oliveira, der vor 15 Jahren aus dem Hinterland von Rio Grande do Sul auf Arbeitssuche nach Porto Alegre gekommen ist. Gleich neben dem Gemeinschaftszentrum befindet sich ein städtisches Obdachlosenasyl, wo bis zu 40 „Straßenbewohner“ vorübergehend untergebracht werden. Hier wartet die sechzigjährige Delcy da Silva, die im nahegelegenen Stadtpark wohnt, auf ein warmes Essen. „Das Asyl ist nicht schlecht, aber es ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein“, klagt sie. Die Stadtregierung könne die sozialen Probleme nur lindern, räumt auch Luciano Brunet ein. „Natürlich wirkt sich die Wirtschaftskrise, vor allem die Arbeitslosigkeit, auch auf Porto Alegre aus“, sagt er. Die brasilianischen Kommunen erhielten nur 17 Prozent der gesamten Steuereinnahmen Brasiliens – im Gegensatz zu Europa, wo dieser Anteil im Schnitt drei Mal so hoch sei.

Rio Grande do Sul – größer als Uruguay

Seit zwei Jahren steht Olívio Dutra der Landesregierung von Rio Grande do Sul vor. Das südlichste Bundesland Brasiliens ist mit 280 000 Quadratkilometern größer als der Nachbar Uruguay oder die alte BRD – allerdings wohnen hier nur 11 Millionen Menschen. Nun setzt die PT-Landesregierung die OP auch im kompletten, weitgehend ländlich geprägten Staat um – eine „aufregende Erfahrung“, wie Iria Charão, die Ministerin für die „Beziehungen zu den Gemeinschaften“ meint. Die vitale 56-Jährige macht nach eigenem Bekunden seit ihrem Hauptschulabschluss vor 42 Jahren Basisarbeit und gehört zu Dutras MitarbeiterInnen der ersten Stunde. Mit ihrem 50-köpfigen Team hat sie die ehemalige Residenz der Vizegouverneure bezogen, den neoklassizistisch angehauchten Palacinho („kleinen Palast“). „Die OP ist ein einziger großer Volksbildungsprozess“, schwärmt die Ministerin. 190 000 Menschen hätten sich im ersten Jahr beteiligt, dann erwirkte ein Abgeordneter der Opposition ein zeitweiliges Verbot, die OP mit staatlichen Mitteln zu propagieren. „Danach setzten wir auf Mund-zu-Mund-Propaganda und sammelten Spenden für den Kauf der nötigen Materialien“, berichtet Charão. Und so sei trotz aller Behinderungen die Beteiligung im vergangenen Jahr noch einmal um 50 Prozent gestiegen. In den 497 Gemeinden finden alljährlich Bürgerversammlungen statt. „Für viele Menschen ist das die erste Chance gewesen, direkt mit RegierungsvertreterInnen zu reden“, so die Ministerin, die Wert darauf legt, den Prozess so oft wie nur irgend möglich vor Ort zu begleiten. „Bei den Kaingang-Indianern oder in so mancher Gemeinde mit deutschstämmiger Bevölkerung werden die Redebeiträge hin- und herübersetzt.“ Auch die Widerstände von Provinzfürsten, die ihre Pfründen in Gefahr sahen, hätten nachgelassen.

Originelle Lösungen bei knapper Kasse

Allerdings würden noch längst nicht alle Vorgaben der insgesamt 14000 Delegierten umgesetzt; etwa der Vorschlag, bei 30 Großunternehmen zusätzliche Steuern einzutreiben. Die Opposition, die im Landesparlament die Mehrheit hat, stellte sich quer. Alle Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, lässt auch der enge finanzielle Spielraum auf Landesebene nicht zu. Selbst politische Gegner der PT räumen jedoch ein, dass die hohe Transparenz bei den Entscheidungsprozessen zu einer effektiveren Nutzung der knappen Haushaltsmittel geführt hat. „Dadurch, dass die staatlichen Ausschreibungen offengelegt werden, sparen wir manchmal bis zu 30 Prozent. Korruption ist praktisch unmöglich geworden“, sagt Iria Charão. „Außerdem fühlen sich die Menschen einbezogen und schlagen deswegen oft originelle oder kostengünstigere Lösungen vor.” Der Politikwissenschaftler Denis Rosenfield von der Bundesuniversität Rio Grande do Sul lobt die durch die OP bestimmte Sozialpolitik der Landesregierung. Doch andere Bereiche, etwa die Bildungs- und Forschungspolitik, würden im Gegenzug vernachlässigt. Auch für die Ansiedelung neuer Firmen sei kein stimmiges Konzept vorhanden.
Die von der UNO und anderen internationalen Organisationen gepriesene OP hat in dutzenden brasilianischer Städte Schule gemacht und stößt auch in Metropolen wie Barcelona, Bologna, Montevideo und Buenos Aires auf großes Interesse. Die indische Wissenschaftlerin Vandana Shiva, Trägerin des alternativen Nobelpreises, bezeichnete Rio Grande do Sul gar als „den wahrscheinlich weltweit einzigen Ort, wo die Regierung macht, was die Bevölkerung will.“ Verständlich also, warum die InitiatorInnen des Weltsozialforums sich letztes Jahr für den Veranstaltungsort Porto Alegre entschieden. Natürlich nutzten die Gastgeber, die das Forum personell und finanziell nach Kräften unterstützten, die Gelegenheit zur Selbstdarstellung. Die OP wurde in mehreren überfüllten Workshops vorgestellt; mehrfach traten Olívio Dutra, PT-Ehrenvorsitzender Lula, und andere Parteigrößen auf. Zusätzlich organisierte Bürgermeister Tarso Genro ein Treffen progressiver Bürgermeister „für die soziale Integration“. Die lautstarke Präsenz der „Petistas“ (Anhänger der PT) und ihr Druck auf das Organisationskomitee, auch das kommende Treffen der Globalisierungskritiker in Porto Alegre auszurichten, wäre allerdings beinahe nach hinten losgegangen: Buchstäblich erst in letzter Minute fiel die Entscheidung für eine Neuauflage 2002 zu gleicher Zeit am gleichen Ort. Als sie bekannt gegeben wurde, feierten Tausende. Denn der Erfolg des diesjährigen Weltsozialforums machte Lust auf mehr. Nach dem intensiven Austausch von vielen Menschen aus aller Welt wird es im kommenden Jahr nun darauf ankommen, gemeinsam effektive Vorschläge für eine andere Weltordnung zu erarbeiten – und wo könnte das besser gelingen als in Porto Alegre, der Hauptstadt der partizipativen Demokratie.

Der Nachlass eines untergegangenen Regimes

Fernando Olivera, Kandidat für die peruanischen Präsidentschaftswahlen am 8. April, tritt im Wahlkampf vorzugsweise mit einem Besen auf. Damit will er nicht nur seine Mitbewerber um das höchste Amt der Republik hinwegfegen. Oberstes Ziel des ehemaligen Staatsanwaltes ist es, mit der Korruption aufzuräumen. Sein Wahlkampfslogan lautet „Ehrlichkeit, Ehrlichkeit, Arbeit“, seine Partei mit dem viel versprechenden Namen Unabhängige Moralische Front (FIM) führt den Besen im Logo. Olivera gefällt sich in der Rolle des Anklägers: Er führte der Öffentlichkeit im September letzten Jahres jenen Videostreifen vor, der zum Sturz des Montesinos-Fujimori-Regimes führte. Darauf war zu sehen, wie der damalige Präsidentenberater und faktische Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos den Oppositionsabgeordneten Alberto Kouri mit 15.000 US-Dollar besticht.

Vladimiro sorgt für alle

Nun muss Olivera im Kreise seiner engsten Parteigenossen kehren. Ernesto Gamarra, Abgeordneter der FIM und langjähriger Mitstreiter Oliveras an der moralischen Front, vertrat seine Partei als Vizepräsident in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Fall Montesinos. Dessen Mitglieder staunten nicht schlecht, als sie sich bei der Sichtung von Beweismaterial einen Videofilm anschauten, in dem Gamarra selbst auftauchte. Zu sehen war eine Szene aus dem letzten Jahr: Ein gewisser Luís Venero, dessen
Bruder Alberto zusammen mit Montesinos Waffen an die kolumbianische FARC-Guerilla lieferte, zahlt Gamarra 3.000 Dollar aus. Gamarra verpflichtet sich im Gegenzug, die Öffentlichkeit mit falschen Hinweisen zum illegalen Waffenhandel zu versorgen.
Obwohl sich Olivera umgehend von Gamarra trennte, ist die Glaubwürdigkeit seiner Moralischen Front dahin. Sein Trost: Auch andere Präsidentschaftskandidaten erwischte es. Die sozialdemokratische APRA, die den aus dem Exil zurückgekehrten Ex-Präsidenten Alán García ins Rennen schickt, musste sich von ihrem ehemaligen Innenminister Agustín Mantilla trennen. Der wurde gefilmt, als er 30.000 Dollar von Montesinos entgegennahm und versprach, sich im Wahlkampf des Jahres 2000 mit Angriffen gegen Fujimori zurückzuhalten. Alejandro Toledos Wahlbündnis Perú Posible strich seine Kongressabgeordnete Milagros Huamán Lu wegen eines kompromittierenden Videos mit Montesinos von der aktuellen Wahlliste. Und schließlich traf es auch die Kandidatin Lourdes Flores, Mitglied der konservativen PPC (Partido Popular Cristiano) und Gründerin des Wahlbündnisses Unidad Nacional. Ihr Parteigenosse Luís Bedoya, Bürgermeister in Limas feinem Stadtteil Miraflores, wurde sogar vorübergehend verhaftet, nachdem per Video bekannt wurde, dass er von Montesinos Geld angenommen hatte.
Videos und immer wieder Videos. Die Staatsanwaltschaft beschlagnahmte nach Montesinos’ Flucht im November letzten Jahres Hunderte von Videokassetten aus dessen Wohnung. Der ehemalige Geheimdienstchef hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seine Spitzel und Kollaborateure bei der Bezahlung ihrer Dienste oder bei Besprechungen filmen zu lassen. Die Inhalte dieser Filme, in den Medien Vladivideos genannt, beschäftigen die peruanische Öffentlichkeit zurzeit mehr als der Wahlkampf. Sie können den Ausgang der Präsidentschaftswahlen entscheidend beeinflussen. Alle Kandidaten leben mit der Furcht, vor den Wahlen könnte belastendes Videomaterial gegen weitere Politiker aus ihren Reihen auftauchen.
Dabei hat Montesinos die brisantesten Streifen vermutlich vor seiner Flucht vernichtet oder versteckt. Auch der damalige Präsident Fujimori, der verschiedene Wohnungen seines Beraters nach dessen Abtauchen ohne Staatsanwalt oder richterlichen Durchsuchungsbefehl persönlich durchkämmte, hat wahrscheinlich ihn selbst belastendes Material sichergestellt und mit nach Japan genommen. Darauf deutet die Tatsache hin, dass Fujimori auf allen Filmen, die sich jetzt im Besitz der Staatsanwaltschaft befinden, entweder gar nicht oder nur am Rande auftaucht.

Der faktische Staatschef

Das Gesamtbild, zu dem sich die Mosaiksteinchen der Videos verdichten, ist so neu nicht. Schon zuvor war bekannt: Vladimiro Montesinos, dessen illegal erworbenes Vermögen auf knapp eine Milliarde Dollar geschätzt wird, war der Kopf einer Mafia, die sich mit Drogen- und Waffenhandel, Erpressungen von Unternehmen, der Privatisierung von öffentlichen Unternehmen oder der Einflussnahme auf Gerichtsurteile hemmungslos bereichert hat (vgl. LN 319). Minister, hohe Beamte, die Armeespitze, Funktionäre und Unternehmer waren die Profiteure einer systematischen staatlichen Korruption, deren Geflecht verschiedene gesellschaftliche Sektoren durchzog.
Dennoch nimmt die Bevölkerung die Veröffentlichung der
Videos mit Interesse auf. Denn die Vladivideos zeigen – wenn auch unvollständig –, welche Oppositionsabgeordneten, Staatsanwälte, Richter, Unternehmer oder Journalisten im Dienst der Mafia standen und wie sie dafür entlohnt wurden. Zum Beispiel überzeugte Montesinos den Besitzer des Fernsehkanals 4, José Francisco Crousillat, mit der monatlichen Zahlung von 1,5 Millionen Dollar, seinen Sender zum Sprachrohr der Regierung zu machen. Crousillat verpflichtete sich vertraglich, politische Sendungen zu eliminieren und keine Wahlspots von Oppositionsparteien zuzulassen. Eduardo Calmell, Direktor des einst angesehenen Blattes Expreso, gab sich dagegen mit zwei Millionen Dollar auf die Hand zufrieden.

Wie die Wirtschaft wuchs

Die Filmstreifen geben deutlich Auskunft über die tatsächlichen Machtverhältnisse während der vergangenen zehn Jahre: Vladimiro Montesinos war nicht nur faktischer Geheimdienstchef, sondern auch faktischer Staatschef. Der Mann im Hintergrund kontrollierte direkt Justiz, Parlament, Streitkräfte, Medien und alle Behörden. Er schmiedete politische Bündnisse, verteilte Bestechungsgelder, setzte die Verabschiedung von Gesetzen durch und instruierte die Abgeordneten der Regierungsfraktion. Sein Komplize Fujimori repräsentierte das Regime lediglich nach außen.
Auch um die Sorgen der Wirtschaftsbosse kümmerte sich Montesinos. Dionisio Romero, mächtigster Unternehmer und Banker im Land, bat Montesinos persönlich, den Konkurs des Fischmehlunternehmens Hayduk zu verhindern, dem Romeros Banco de Crédito großzügig Kredite ausgezahlt hatte. Der Geheimdienstchef erteilte den mit dem Konkursverfahren beauftragten Justizbeamten entsprechende Anweisungen. Romero, der sein Wirtschaftsimperium in den letzten zehn Jahren beträchtlich ausweitete, nahm auch an wichtigen Beratungen teil. Ein Videostreifen zeigt, wie Romero und Montesinos mit führenden Generälen vor den Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr darüber diskutieren, ob man Fujimori schon nach dem ersten oder erst nach dem zweiten Wahlgang zum Sieger erklären solle.
Der US-Firma Newmont, die 51 Prozent der Anteile an der Yanacocha-Mine hält – der im peruanischen Cajamarca gelegenen, mittlerweile weltweit größten Goldmine –, hat Montesinos Umsätze von mehreren Hundert Millionen Dollar im Jahr zu verdanken. Als ein Schiedsgericht über die Anteile einiger Firmen an der Mine zu entscheiden hatte, intervenierte Montesinos persönlich zu Gunsten von Newmont. Auch das ist per Video belegt. Kein Wunder, dass bei solch rosigen Aussichten für US-Firmen einem weiteren Vladivideo zufolge der damalige US-Botschafter John Hamilton Montesinos zusicherte, die USA würden sich bei einer verfassungswidrigen dritten Kandidatur Fujimoris neutral verhalten. Wie die Unternehmensgruppe Romero oder die Firma Newmont sich für Montesinos’ Dienste bedankt haben, ist nicht bekannt.
Wenigstens sitzen führende Persönlichkeiten des alten Regimes
inzwischen hinter Gittern: die beiden letzten Oberkommandierenden der Streitkräfte des Regimes José Villanueva und Walter Chacón, der langjährige Polizeichef Fernando Dianderas, der ehemalige Vorsitzende der Wahlbehörde JNE und zwei Richter des Obersten Gerichtshofs. Auch Montesinos’ Schwester und seine Geliebte, auf deren Konten Millionenbeträge auftauchten, sitzen ein. Andere Kollaborateure der Mafia stehen unter Hausarrest. Einigen wenigen gelang es, sich rechtzeitig ins Ausland abzusetzen. Unter ihnen der Boss selbst, dessen Spuren sich in Venezuela verloren.
Ob wirklich alle Beteiligten ihren Vergehen entsprechend verurteilt werden, bleibt abzuwarten. Noch befinden sich einige von Montesinos Leuten in Justiz,
Medien und Kongress. Die verbliebenen Politiker aus Fujimoris Regierungsfraktion verteidigen das untergegangene Regime mit solcher Vehemenz, dass man glauben könnte, sie würden immer noch von Montesinos bezahlt. Sie behaupten, die Korruption wuchere in allen Parteien und Institutionen, die Praktiken der Fujimori-Regierung seien also nicht außergewöhnlich.
Nicolás Lúcar, politischer Agitator im gekauften Kanal 4 José Francisco Crousillats, versuchte Ende Januar sogar – selbstverständlich ohne Beweis –, den als integer geltenden Präsidenten Paniagua zu beschuldigen, Geld von Montesinos kassiert zu haben. Der empörte Präsident rief Lúcar daraufhin während der Sendung an, beschwerte sich und knallte den Hörer auf.
Noch dreister als Lúcar, der schließlich gefeuert wurde und in Costa Rica um politisches Asyl bat, tritt Carlos Boloña auf, der letzte Wirtschaftsminister des Regimes. Der glühende Neoliberale, der zu den engsten Vertrauten von Montesinos zählte, kandidiert bei den kommenden Präsidentschaftswahlen. Sein Hauptziel: die Bekämpfung der Korruption.

KASTEN

Dritter Weg gegen Opus Dei

Die wichtigsten Kandidaten der peruanischen Präsidentschaftswahlen

Die herausragenden Themen im diesjährigen Wahlkampf sind Arbeitslosigkeit und Korruption. Deshalb besitzt der Kandidat Carlos Boloña (50) bis November Wirtschaftsminister des korrupten Montesinos-Fujimori-Regimes, zum Glück keine Chance. Dagegen benimmt sich Alejandro Toledo (54) seit Monaten so, als sei er schon gewählt worden. Wie selbstverständlich reiste er zur Amtseinführung des mexikanischen Präsidenten Vicente Fox und mischte sich unter die anwesenden Staatschefs der Region. Immerhin: Toledo, der bei den letztjährigen Präsidentschaftswahlen um den Sieg betrogen wurde, kann sich den großen Verdienst anrechnen, den Widerstand gegen das Montesinos-Fujimori-Regime angeführt zu haben.
Doch Toledo kommt schlecht damit zurecht, dass er kein Oppositionsführer mehr ist. Im Gegensatz zum letzten Jahr muss er jetzt selbst Position beziehen, und das fällt ihm schwer. Niemand versteht so richtig, wohin der von ihm propagierte dritte Weg führen soll, den seine Vorbilder Tony Blair und Bill Clinton angeblich beschritten haben. Toledo füllt im Wahlkampf zwar noch Plätze und Straßen, doch die Menschen vermissen in seinen Worten eine klare Botschaft. Toledos Angst, sich festzulegen oder einen Fehler zu begehen, könnte ihm zum Verhängnis werden.
Neben Toledo schafft es nur noch ein Kandidat, die Massen zu mobilisieren: Ex-Präsident Alan García (51) der Ende Januar aus seinem neunjährigen Exil in Kolumbien und Frankreich zurückgekehrt ist. García spricht eine klare Sprache und ist ein begnadeter Redner. Als einziger Kandidat führt García einen linken Diskurs und bezieht eindeutig Front gegen neoliberale Wirtschaftspolitik. Doch seine Regierungszeit von 1985 bis 1990 steht für Inkompetenz und Korruption. Er hinterließ ein vom Bürgerkrieg zerrüttetes Land und eine Inflation von 7.600 Prozent. García trägt zudem die politische Verantwortung für die Ermordung von 80 meuternden Gefangenen in der Haftanstalt El Frontón im Jahre 1986. Vor allem sind es aber die zahlreichen Korruptionsskandale Garcías, die seinem erneuten Einzug in den Präsidentenpalast im Wege stehen.
García liegt in den Umfragen aber immerhin vor Fernando Olivera (42) dem Chef der Unabhängigen Moralischen Front (FIM), deren wichtigstes Thema schon seit Jahren die Korruption ist. Während der Präsidentschaft Fujimoris interessierte sich Olivera allerdings mehr für die Korruptionsskandale Alan Garcías als für jene der Regierungsmafia. So entging ihm, dass sein langjähriger Kampfgefährte an der moralischen Front, der FIM-Abgeordnete Ernesto Gamarra, selbst von Montesinos bestochen wurde. Dieses Versäumnis warf Olivera in den Umfragen deutlich zurück.
Die Entscheidung wird wahrscheinlich zwischen Alejandro Toledo und Lourdes Flores (41) fallen. Flores, langjähriges Mitglied der Christlichen Volkspartei (PPC) gründete mit dem Opus-Dei-Mann und langjährigen Fujimori-Kollaborateur Rafael Rey das Wahlbündnis Unidad Nacional. Vor einem Jahr hatte Rey noch auf den Kandidaten Federico Salas gesetzt, den Montesinos nach dem Wahlbetrug für 30.000 US-Dollar Monatsgehalt als neuen Ministerpräsidenten einkaufte. Auf der Parlamentsliste von Unidad Nacional kandidieren ebenfalls verschiedene Fujimori-Kollaborateure und Opus-Dei-Mitglieder.
Flores kommt in den Umfragen immer näher an Toledo heran. Die Gründe: Flores gilt als integrer und genießt die Unterstützung der Medien – besonders jener, die sich vorher an Montesinos verkauft hatten. Und viele PeruanerInnen trauen einer Frau mehr Standvermögen gegen die Versuchungen der Korruption zu. Toledo muss sich anstrengen. Sonst droht er abermals zur tragischen Figur der Wahlen zu werden.

Der Aufstand der Anständigen

Ein schönes Bild. Deutschland steht auf gegen Neonazis. 200.000 Menschen demonstrieren in Berlin für Menschlichkeit und Toleranz und verurteilen, wie es im Aufruf formuliert wurde, „Hass, Gewalt, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit“. Demonstrationen wie die vom 9. November in Berlin oder knapp zwei Wochen zuvor in Düsseldorf werden auch im Ausland deutlich wahrgenommen. In vielen Ländern Lateinamerikas wurde ausführlich über sie berichtet, und wir hoffen, dass nicht Wenigen die Angst genommen wurde, nach Deutschland zu kommen, sei es zu einer kurzen Urlaubsreise, zum Studium oder auch für die Suche nach Arbeit und einem besseren Leben.
Die Sache hat Charme, und doch bleibt ein schaler Nachgeschmack zurück. Der „Aufstand der Anständigen“, der hier zelebriert wurde, war verlogen. Dass der Rassismus in der Mitte der Gesellschaft verankert ist, gesteht selbst eine ganze Reihe RegierungspolitikerInnen ein. Dies zu benennen war am 9. November allerdings nicht erlaubt. Selbst so harmlose und in ihrer Aussage kaum in Frage zu stellende Transparente, wie zum Beispiel mit der Aufschrift „Nazis morden. Der Staat schiebt ab“, wurden von der Polizei einkassiert, mehrere Protestierer festgenommen.
Der rassistische Grundkonsens der deutschen Politik sollte nicht in Frage gestellt werden, sowohl Edmund „verrasst“ Stoiber als auch Otto „die Grenzen der Belastbarkeit durch Zuwanderung sind überschritten“ Schily und all die anderen ScharfmacherInnen der „Parteien der Mitte“ sollten sich zur Teilnahme bereit finden. So konnte es sich nur Paul Spiegel leisten, Kritik am Zündeln der PolitikerInnen zu üben. Anetta Kahane, seit Jahren in Brandenburg in Initiativen gegen Rechtsextremismus aktiv, wurde auf Drängen der CDU als Rednerin wieder ausgeladen.
So schlimm das Gerede der CDU von der deutschen Leitkultur und die Kritik daran berechtigt ist, in der Organisation der Demo wurde in einem wichtigen Punkt verwandtes Denken offenbar: Während die CDU Einwanderern eine vom Christentum und Judentum geprägte Werteordnung abverlangen will, wurden die Organisationen der in Deutschland lebenden MigrantInnen, die ja mehrheitlich aus islamischen Ländern kommen, erst gar nicht in die Vorbereitungen für den 9. November einbezogen.
Vor acht Jahren, im November 1992, hatten mehr als 300.000 Menschen in Berlin für die „Würde des Menschen“ demonstriert; nur wenig später stimmte die SPD der Asylrechtsänderung im Grundgesetz zu. Seit Jahren werden politisch Verfolgte mit den abstrusesten Rechtfertigungen in Länder abgeschoben, in denen ihnen erneute Verfolgung droht. Dass Schily und Co dagegen sind, dass Menschen in Deutschland totgetreten werden, weil sie anders aussehen, steht außer Frage. Keine Probleme haben sie aber damit, Flüchtlinge abzuschieben und sie der Gefahr von Folter und Mord auszusetzen. Der einzige Unterschied: In den Kongo oder nach Algerien, nach Angola oder in die Türkei abgeschobene Flüchtlinge sind keine Nachricht mehr wert, wenn sie dort erneut verfolgt werden. Weder die Bundesregierung noch die deutsche Wirtschaft muss deswegen Angst vor Exporteinbrüchen und Investitionsverlusten haben, die Opfer der Abschiebepolitik gefährden ja nicht das Bild Deutschlands in der Welt.
Nach der Zunahme rassistisch motivierter Gewalt in den letzten Monaten nun eine erneute Großdemonstration. Manch eineR der Teilnehmenden war an diesem Tag zum ersten Mal auf der Straße, um gegen das Treiben der Neonazis zu demonstrieren. Gut so. Nur wird solch ein „Aufstand der Anständigen“ weder etwas an der Asyl- und Abschiebepraxis der Bundesregierung noch am rassistischen Denken und Handeln vieler PolitikerInnen ändern. Schily wird weiter abschieben, Stoiber weiter hetzen, und Merz und Merkel werden auf der Suche nach Wählerstimmen weiterhin die Stammtische bedienen. Derweil liefern sie den Nazibanden das Gefühl, gar nicht so weit entfernt von diesen Schreibtischtätern zu sein. Nein, mit diesen PolitikerInnen kann man nicht für Menschlichkeit und Toleranz demonstrieren, es geht nur gegen sie.

Hühner, Ratten und Kamele

Freitags ist Waschtag in Lima. In einem symbolischen Akt reinigen DemonstrantInnen allwöchentlich vor dem Präsidentenpalast peruanische Fahnen, die sie vom korrupten Fujimori-Regime beschmutzt sehen. Beim letzten Termin im Oktober hielt eine resolute Frau den WäscherInnen eine Pfanne mit zwei Eiern entgegen. „Die fehlen, um Fujimori zu stürzen!“ rief sie und beklagte den fehlenden Kampfesmut der Opposition. Ganz Unrecht hatte sie zu diesem Zeitpunkt nicht. Obwohl der meistgehasste Mann Perus, der ehemalige Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos, wenige Tage zuvor seelenruhig aus Panama zurückgekehrt war, hatte es nur wenig Protestaktionen gegen das Regime gegeben.
Eine Woche später, am nächsten Waschtag, konnte die Frau ihre Eier beruhigt zu Hause lassen. Denn die Nachricht, dass der zurückgekehrte Montesinos 48 Millionen US-Dollar auf Schweizer Konten deponiert hält, löste eine Lawine aus, die das Regime unter sich begraben wird. Außerdem hatte ein Oberstleutnant namens Ollanta Humala gezeigt, dass es sehr wohl ganze Männer in Peru gibt.
Humala probte mit fünfzig Soldaten und zwei Zivilisten – darunter sein Bruder – den Aufstand. In der Nähe der südperuanischen Stadt Tacna nahm er einen General und vier Minenarbeiter als Geiseln und machte sich auf einen „Marsch durch ganz Peru“.

Maiskörner für die Armee

In einem „Manifest an die peruanische Nation“ bezeichnete der 38-jährige Heeresoffizier die Präsidentschaft Alberto Fujimoris auf Grund dessen Wahlschwindels als illegal und klagte die von Montesinos eingesetzte Armeespitze wegen Drogenhandel, Waffenschmuggel und anderer schmutziger Geschäfte an. Humala verkündete, er würde die Autorität von „Verbrechern“ nicht mehr anerkennen und erst dann die Waffen niederlegen, wenn ein neuer Präsident im Amt sei.
Spontan solidarisierten sich Tausende von DemonstrantInnen im ganzen Land mit den Rebellen. Hunderte von Reservisten zogen los, um sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen. In den Medien wurde Humala mit dem jungen Oberst Hugo Chávez verglichen, der im Jahre 1992 versuchte, die korrupte venezolanische Pérez-Regierung zu stürzen. Humalas Marsch durch ganz Peru kam indes nach einem Tag ins Stocken. Keine einzige zusätzliche Militäreinheit schloss sich der Rebellion an. In Tacna warf die mit Humala solidarische Bevölkerung empört Berge von Maiskörnern über die Kasernenzäune und beschimpfte die dort stationierten, untätigen Soldaten als feige Hühner.
Die meisten von Humalas Kämpfern verdienten sich ebenfalls ein paar Maiskolben. Sie ergriffen angesichts einer anrückenden Elitetruppe von 500 Mann die Flucht. Auch die Geiseln entkamen. Mit ganzen acht Männern hielt sich Humala zuletzt im peruanischen Hochland versteckt. Sein Bruder Antauro zog aus taktischen Gründen in eine andere Richtung. Er befehligt inzwischen rund 400 Reservisten, die mehr oder weniger schlecht bewaffnet sind. Die Armee traut sich nicht, gegen einen der beiden Brüder vorzugehen, denn sie kann sich kein Blutbad leisten. Wie auch immer das Abenteuer endet – die Rebellion zeigt, dass es in den Streitkräften brodelt.
Die Wut des Obersten Humala war durch die Rückkehr des Hauptverantwortlichen für die Korruption in der Armee entfacht worden – Vladimiro Montesinos. Der war Ende September nach Panama geflohen, weil die Veröffentlichung eines Videos, das ihn bei der Bestechung eines Abgeordneten zeigt, den Volkszorn erregt hatte.
Jetzt erhielt der Zivilist eine Landeerlaubnis auf einem Luftwaffenstützpunkt südlich von Lima. Dort wurde er von einer hochrangigen Militärdelegation empfangen und in einem Armeehubschrauber unter schwerer Bewachung in die Hauptstadt geflogen. Das war nicht nur für Offiziere wie Ollanta Humala schwer zu ertragen.
Auch Präsident Fujimori, den Montesinos offenbar erst bei einer Zwischenlandung im ecuadorianischen Guayaquil über seine bevorstehende Ankunft informiert hatte, fühlte sich brüskiert. Noch vor einem Monat hatte er den Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), César Gaviria, gebeten, ihn bei der Suche nach Asyl für seinen Berater zu unterstützen, da dieser angeblich mit einem Putsch gedroht hatte , falls kein Land ihn aufnehmen wollte. Die Frage, wer eigentlich das Land regiert, wurde nach Montesinos Rückkehr immer lauter. Ebenso die Forderungen nach einem sofortigen Rücktritt Fujimoris. Der Präsident musste handeln.

Jagdszenen aus Chaclacayo

Fujimori organisierte ein Medienspektakel nach dem Muster einer Telenovela. Zwei Tage nach Montesinos Ankunft zog sich der Präsident Kampfstiefel an, streifte sich eine Lederjacke über und blies persönlich zur Jagd auf seinen ehemaligen Berater.
Acht Geländewagen der Polizei, besetzt mit schwer bewaffneten Eliteeinheiten und hohen Armeeoffizieren, brachen zur „Operation Chaclacayo“ auf, so benannt nach dem Wohnort Montesinos. Die Karawane bahnte sich mit Blaulicht und quietschenden Reifen einen Weg durch den dichten Feierabendverkehr der Hauptstadt – die Präsidentenlimousine und Kamerateams im Schlepptau. Am Ziel gab ein wild gestikulierender Fujimori seiner Einsatztruppe genaueste Anweisungen.
Für den nötigen Adrenalinspiegel der Fernsehzuschauer sorgten Gerüchte, der Präsident wolle seinen Berater um jeden Preis festnehmen – tot oder lebendig. Als Montesinos nach vier Stunden immer noch nicht aufgetaucht war, rief Oberfahnder Fujimori zur Pressekonferenz. „Es gibt keinen Haftbefehl gegen Vladimiro Montesinos. Wir wollen ihn nur ausfindig machen,“ erklärte er den verdutzten JournalistInnen. Doch er versprach, die Suche werde fortgesetzt – Tag und Nacht, zu Lande und aus der Luft.
Am nächsten Tag ging der Präsident in Militäranlagen auf Spurensuche. Es hieß, Montesinos halte sich in der Kaserne der zweiten Heeresdivision auf, die von General Luís Cubas, Montesinos Schwager, befehligt wurde. Doch um diese Kaserne machte der Fahndungsleiter Fujimori einen Bogen. Dafür inspizierte er sie in einem seiner Lufteinsätze aus einem sicheren Hubschrauber von oben. Die Opposition begann sich über den Präsidenten lustig zu machen und bezeichnete seine Suchaktion als Show. Wieder bestand Handlungsbedarf für Fujimori.
Also besetzte er die Armeespitze neu. Der Chef der Streitkräfte, José Villanueva – wie Montesinos in Waffengeschäfte mit den kolumbianischen FARC verwickelt –, Montesinos Schwager Cubas sowie die Oberkommandierenden von Heer, Luftwaffe und Marine mussten ihre Generalsmütze nehmen.
Doch die vom Präsidenten eingesetzten Nachfolger sind wie fast alle Generäle ebenfalls Gefolgsleute von Montesinos. Villanuevas Posten erbte ausgerechnet der bisherige Innenminister, General Walter Chacón, der Montesinos Abflug nach Panama organisiert hatte.
Der rebellierende Oberst Ollanta Humala und die Opposition bezeichneten die Umbesetzungen als reine Kosmetik. Fujimori wird seinen Schatten Montesinos nicht los: Wollte er dessen Verbündete ernsthaft aus der Armee entfernen, so rückten womöglich Oberste vom Schlage eines Humala nach und der Präsident wäre erledigt.

Die Ratten verlassen das Schiff

Es kracht nicht nur im Gefüge der Streitkräfte und in den Querstreben des Präsidentensessels. Das ganze Regime fällt auseinander. Wie Ratten verlassen die Gefolgsleute Montesinos und Fujimoris die sinkende Fregatte des Regimes: die Generalstaatsanwältin zu Montesinos Gnaden, Blanca Nélida Colán, die Vizepräsidenten Francisco Tudela und Ricardo Márquez, eine ganze Schar von Abgeordneten und der Chef der Wahlbehörde ONPE, der bei den letzten Wahlen noch mit seinen unnachahmlichen Rechenkunststücken geglänzt hatte.
Die erst vor wenigen Monaten für teures Geld von Montesinos zusammengekaufte Parlamentsmehrheit ist für Fujimori unwiderruflich dahin. Auch alle Bemühungen Fujimoris, den Wahltermin zu verzögern, fruchteten nicht mehr: Am 8. April 2001 wird definitiv zu den Urnen geschritten.

Der Superwaschtag

Am Freitag, dem 3. November spitzte sich die Lage weiter zu. Wieder war Waschtag in Lima. Während draußen abermals die gereinigten peruanischen Fahnen zum Trocknen im Wind flatterten, rief Präsident Fujimori im Inneren seines Palastes wegen einer Waschaktion ganz anderer Art zu einer Pressekonferenz. Soeben waren auf den Schweizer Konten seines Partners Montesinos 48 Millionen US-Dollar gefunden worden. „Es besteht kein Zweifel an der illegalen Herkunft dieses Geldes,“ bekannte Fujimori und räumte ein, dass es sich um gewaschene Drogengelder handelt.
Gleichzeitig schwor er: „Ich habe absolut nichts von Vorgängen dieser Art gewusst.“ Der Präsident wusch an diesem Tag seine Hände – in Unschuld.
An Fujimoris Seite saß während der Pressekonferenz ein Staatsanwalt, der mit der Aufnahme der Ermittlungen gegen Montesinos beauftragt wurde. Es handelt sich um José Ugaz, der im Gegensatz zu der von Montesinos bestellten, korrupten peruanischen Strafjustiz einen guten Ruf genießt.
Für Vladimiro Montesinos wird es eng. Denn auch Beamte des FBI und der Antidrogenbehörde DEA haben inzwischen Ermittlungen gegen ihn aufgenommen. Sie verhörten den ehemaligen Boss der Drogenbande „Los Camellos“ – „die Kamele“, Boris Foguel, in einem panamaischen Gefängnis. Foguel sagte aus, regelmäßig Schutzgeld in Millionenhöhe an Montesinos gezahlt zu haben. Im Gegenzug soll der Geheimdienstchef dafür den reibungslosen Ablauf des Kokainhandels der „Kamele“ in Peru garantiert haben.
Die aufgespürten 48 Millionen US-Dollar sind mit Sicherheit nur ein Teil des Vermögens, das Montesinos im Ausland angehäuft hat. Weitere Konten auf seinen Namen werden auf den Kaiman-Inseln, in Andorra, Spanien, Panama und in Peru selbst vermutet. Die spanische Zeitung El País schätzt sein Gesamtvermögen auf eine Milliarde US-Dollar. Damit wäre Vladimiro Montesinos einer der größten VerbrecherInnen der lateinamerikanischen Geschichte.
In den peruanischen Medien wurden 30.000 US-Dollar auf die Ergreifung Montesinos ausgesetzt – eine Summe, die der Verfolgte mit Leichtigkeit um zwei Nullen ergänzen kann, um seiner Verhaftung zu entgehen. Ein Haftbefehl für Montesinos war vier Tage nach Fujimoris Pressekonferenz immer noch nicht erlassen worden.
Am Sonntag, den 5. November, unterlief Justizminister Alberto Bustamante ein folgenschwerer Fehler: Der Mann, der gern etwas tiefer ins Glas schaut, verriet der Presse, dass der Aufenthaltsort Montesinos bekannt und die Verhaftung nur noch eine Frage von Stunden sei. Doch die Stunden und Tage verstrichen. Bis dann der Innenminister behauptete, Montesinos sei weiterhin unauffindbar.

Chino, du Ratte

In diesem Durcheinander steht nur eines fest: Der Ex-Geheimdienstchef wird – solange Fujimori Präsident ist – vor keinem unabhängigen Gericht aussagen. Anderenfalls würden ihn der Präsident, Minister und Abgeordnete der Regierungsfraktion sowie die Führungsspitze der Armee auf seinem Weg ins Zuchthaus begleiten. Aus diesem Grunde wird Fujimori auch die Ermittlungen seines Staatsanwaltes Ugaz behindern, wo er nur kann.
Das sehen auch die DemonstrantInnen so, die sich mit der Reinigung der peruanischen Fahnen abmühten. „Chino, rata, donde está la plata?“ – „Chino, du Ratte, wo ist das Geld?“ fragten sie den Präsidenten, indem sie ihn mit seinem Spitznamen anredeten. Andere reimten „No hay presidente, hay un delincuente!“ – „Es gibt keinen Präsidenten, es gibt nur einen Verbrecher!“ und verteilten Plastikbeutel mit den Fotos Fujimoris und Montesinos in Sträflingskleidung und der Aufschrift „Wirf den Abfall in den Müll“. Die rebellierenden Brüder Humala meldeten sich derweil aus den Bergen und verschärften ihre Forderungen. Sie wollen erst dann die Waffen niederlegen, wenn Montesinos und Fujimori zusammen im Gefängnis sind.

„Fujimori und Montesinos sind Komplizen“

Der ehemalige Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos ist nach Peru zurückgekehrt. Was hat ihn dazu veranlasst?

Es gibt verschiedene Hypothesen. Zunächst war die panamaische Regierung nicht bereit, Montesinos politisches Asyl zu gewähren. Die Frage ist also, warum Montesinos nicht in ein anderes Land gegangen ist. Wahrscheinlich wollte er noch einige Dinge regeln. Zum Beispiel machte die Regierung am 23. Oktober die Ausschreibung der Wahlen von einem Amnestiegesetz abhängig, das genau auf Montesinos zugeschnitten war. Danach sollten Armee- und Regierungsangehörige nicht nur bei Verstößen gegen die Menschenrechte freigesprochen werden, sondern auch bei Verwicklungen in den Drogen- oder Waffenhandel. Einen Tag später kam Montesinos zurück. Womöglich wollte er Druck ausüben, um die Verabschiedung dieses Gesetzes zu beschleunigen, denn die Zeit war knapp. Vielleicht fühlte er sich in Peru aber auch sicherer.
In Panama hat vor kurzem der dort inhaftierte Drogenhändler Boris Foguel Montesinos Verwicklung in Drogengeschäfte bestätigt. Montesinos weiß: Ein Mann, gegen den wegen Drogenhandel ermittelt wird, bekommt in keinem Land der Welt Asyl.

Was sind die Gründe für den Konflikt zwischen Fujimori und Montesinos?

Der Konflikt begann, als klar wurde, dass Montesinos in Waffengeschäfte mit den kolumbianischen FARC verwickelt war. Von da an entzog die CIA ihrem ehemaligen Mitarbeiter Montesinos die Unterstützung, denn die USA hatten etwa zur gleichen Zeit den „Plan Kolumbien“ verabschiedet. Die USA übten Druck auf Fujimori aus, sich von Montesinos zu trennen. Fujimori konnte seinen Berater aber nicht entlassen, weil dieser der eigentlich mächtige Mann in Peru war. Nach der Veröffentlichung des Videos, das Montesinos bei der Bestechung des Abgeordneten Kouri zeigt, wurde der Druck auf Fujimori unerträglich. Doch Montesinos ging immer noch nicht. Daher musste Fujimori selbst zurücktreten.

Inzwischen ist bekannt geworden, dass Montesinos allein auf Schweizer Banken 48 Millionen Dollar deponiert hat. Die spanische Zeitung „El País“ schätzt sein Vermögen auf 1 Milliarde Dollar. Ist diese Zahl realistisch?

Hunderte von Millionen hat er sicherlich. Es handelt sich nicht nur um Geld aus Drogen- und Waffengeschäften. Montesinos stand zum Beispiel eine schwarze Kasse zur Verfügung, um Abgeordnete, Richter oder Militärs zu bestechen. Über diese Gelder hat er niemals Rechenschaft abgelegt. Dafür bekam er etwa 10 Millionen Dollar pro Jahr. Die Hälfte hat er in die eigene Tasche gesteckt. Außerdem hat er bei Beförderungen von Offizieren abkassiert.

Angesichts dieser Summen ist die Behauptung Fujimoris absurd, er habe von den Drogen- und Waffengeschäften seines Beraters nichts gewusst. Warum unterstützen die USA Fujimori immer noch?

Sie setzen auf Stabilität und sehen diese am ehesten garantiert, wenn Fujimori den Übergangsprozess leitet. Sie glauben, ein Rücktritt Fujimoris könnte zu einer unkontrollierbaren Situation führen. Dabei ist es den USA egal, ob Fujimori der Komplize Montesinos ist oder nicht. Der Präsident wird seine Konten in Japan haben. Dort leben seit dem Beginn seiner Präsidentschaft seine Schwester und sein Schwager. Die haben schon immer Fujimoris Geschäfte geführt.

Ist es aus Fujimoris Sicht nicht auch gefährlich, bis Juli im Amt zu bleiben? Sollte Montesinos aussagen, würde der Präsident doch wahrscheinlich selbst im Gefängnis landen.

Niemand kann sich vorstellen, dass Vladimiro Montesinos vor einem Gericht aussagt und seine Komplizen denunziert. Dann wäre nicht nur Fujimori. sondern ein Kreis von etwa 50 Personen erledigt: Minister, Generäle und Abgeordnete. Fujimori glaubt wahrscheinlich, dass er die Situation am besten lenken kann, wenn er selbst an der Macht bleibt. Er hat die Unterstützung der USA. Wenn es ihm gelingt, einen demokratischen Übergang zu organisieren, garantieren ihm die USA vielleicht sogar seine Straffreiheit.

Wie ist Fujimoris Suche nach Montesinos zu bewerten?

Natürlich weiß Fujimori, wo Montesinos steckt. Die Beteiligten verhandeln seit dessen Ankunft über eine mögliche Lösung. Aber die Regierung steckt in einer Klemme, denn die Möglichkeiten sind begrenzt. Wenn Montesinos entkommt, ist das schlecht. Noch schlechter ist es, wenn er festgenommen wird. Die beste Lösung wäre es für die Regierung, Montesinos umzubringen. Aber das geht natürlich nicht problemlos.

Was ist im Moment von den Verhandlungen am Runden Tisch zu halten?

Der Regierung bleibt nichts anderes übrig, als Zugeständnisse zu machen. Der Druck ist zu groß. Dennoch verzögert sie den Verhandlungsprozess, wo sie nur kann. Schon das Wahldatum hat sie so weit hinausgeschoben, wie es eben ging. Natürlich weiß Fujimori, dass kein Kandidat aus seinen Reihen die Wahlen gewinnen kann. Es geht also darum, eine möglichst große Fraktion im neuen Parlament zu bekommen, die sich später für eine Amnestie einsetzen kann. Außerdem wird die Regierung, solange sie die Medien, die Justiz und die Wahlorgane kontrolliert, den Oppositionskandidaten unterstützen, der ihr am freundlichsten gesinnt ist.

Der peruanische Rasputin

In den frühen Morgenstunden des 24. September landete auf dem Flughafen von Panama-Stadt ein Privatjet aus Lima. Der Passagier, der zusammen mit einem Leibwächter und einer Sekretärin aus der Maschine stieg, stellte einen Antrag auf politisches Asyl. In einem persönlichen Brief an die panamaische Präsidentin Mireya Moscoso schrieb er: „Wie öffentlich bekannt ist, bin ich Opfer einer politischen Verfolgung, die meine physische Integrität bedroht und mich zwingt, mein Land zu verlassen.“ Der Reisepass des Antragstellers ist peruanischer Herkunft und auf den Namen Vladimiro Lenin Montesinos Torres ausgestellt.
Der Ankömmling selbst hätte sich diesen Namen vermutlich nicht gegeben, denn den Kommunismus hat er zeitlebens bekämpft. Sein russischer Spitzname charakterisiert ihn besser. Der lautet Rasputin und ist dem unheilvollen Einfluss dieses Mannes auf die peruanische Politik geschuldet. Denn Vladimiro Montesinos war über ein Jahrzehnt der Schatten des peruanischen Präsidenten Alberto Fujimori. In den Achtzigerjahren betreute er Fujimori als Anwalt, und nach dem überraschenden Wahlsieg seines Mandanten im Jahre 1990 übernahm er als persönlicher Berater des Präsidenten die Leitung des Geheimdienstes SIN. Seine jetzige Flucht nach Panama markiert den Anfang vom Ende der Ära Fujimori.

Zehn und fünf macht fünfzehn

Montesinos stolperte über einen Videostreifen, dessen Schlüsselszene aus einem Kriminalfilm stammen könnte: Zwei dunkel gekleidete Männer verhandeln. Der eine ist offenbar der Boss. „Wie viel wollen Sie?“ fragt er und fügt hinzu: „Hier sind Zehntausend.“ Dabei zieht er ein Kuvert aus der linken Hosentasche und zählt ein paar Dollarscheine ab. Doch der andere besteht auf Fünfzehntausend. Lässig und ohne viel Aufhebens greift der Boss in seine rechte Hosentasche und befördert einen zweiten Umschlag hervor: „Gut. Zehn und fünf macht fünfzehn.“ Das Geld wechselt den Besitzer.
Der Boss ist Vladimiro Montesinos selbst. Das Video zeigt nämlich, wie Montesinos den Oppositionsabgeordneten Alberto Kouri besticht. Dieser lief als Gegenleistung für die ausgezahlten Dollars ins Regierungslager über. Als einer von insgesamt siebzehn Oppositionsabgeordneten. Und sicherte damit Fujimoris Liste, die bei den Wahlen nur 52 von 120 Sitzen errang, eine solide absolute Mehrheit. Der Geheimdienstchef wurde verraten, denn das Video ist durch eine Indiskretion an die Öffentlichkeit gelangt. Die Opposition behauptet sogar, sie könne mit weiteren Videoaufnahmen belegen, dass Montesinos auch die anderen Überläufer bestochen hat.
Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Videos demonstrierten Zehntausende im ganzen Land für die sofortige Verhaftung des Geheimdienstchefs. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und die US-Regierung hatten schon vorher das Ausscheiden der grauen Eminenz gefordert. Sie werfen Montesinos unter anderem vor, den offensichtlichen Wahlschwindel im Mai koordiniert zu haben. Präsident Fujimori hatte keine andere Wahl: Er gab im Fernsehen die Entlassung seines Beraters bekannt. Inoffiziellen Berichten zufolge hatte Montesinos sich aber zuvor geweigert zurückzutreten. Deshalb zog der Präsident nach japanischer Kamikaze-Tradition seinen letzten, entscheidenden Trumpf aus dem Ärmel. Er kündigte in der gleichen Fernsehansprache mit der baldigen Ausschreibung von Neuwahlen seinen eigenen Rückzug an. Erst damit war Montesinos erledigt.

Vladimiro ist überall

Montesinos und Fujimori waren einander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Der Geheimdienstchef konnte seine Fäden nur so lange im Hintergrund spinnen, wie der Präsident ihn deckte. Andererseits verfingen sich die Gegner des Fujimori-Regimes im dichten Netz der Verbindungen, die Montesinos geknüpft hatte. Der Präsident wusste: Montesinos war durch niemanden zu ersetzen.
Der ehemalige Hauptmann Montesinos sorgte für die Loyalität der Streitkräfte. Er schaffte es, die Armeespitze fast vollständig mit seinen Gefolgsleuten zu besetzen. Obwohl er einst wegen Urkundenfälschung ein Jahr im Militärgefängnis saß und unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde. Neun von dreizehn Generälen aus dem heutigen Oberkommando der Streitkräfte haben Montesinos ihre Ernennung zu verdanken. Fast die gesamte militärische Führungsriege hat gemeinsam mit ihm die Offiziersschule besucht.
Die Kontakte aus seiner Anwaltszeit nutzte Montesinos für die Gleichschaltung von Justiz und Polizei. Schon in den Achtzigerjahren war es ihm gelungen, sich durch ausgezeichnete Verbindungen zu Polizei, Richtern und Staatsanwälten einen Namen als erfolgreicher Strafverteidiger zu machen. Seine Mandanten waren fast ausschließlich Drogenhändler. Von den heutigen Richtern und Staatsanwälten amtieren kraft eines Regierungsdekretes 80 Prozent auf Zeit. Sie werden von einer Regierungskommission ernannt, die ihre Anweisungen offenbar vom SIN erhält. So berichtete die Zeitung La República, dass nach Bekanntwerden des Videoskandals eine offene Panik unter Richtern und Staatsanwälten ausbrach, weil sie ohne die schützende Hand des Geheimdienstchefs um ihren Job fürchteten.
Auch die Gleichgeschaltung der Medien, der Fujimori einen Teil seiner Popularität verdankt, wurde von Montesinos gesteuert. Mit Ausnahme eines Kabelkanals liegen alle Fernsehprogramme und fast die gesamte Boulevardpresse auf Regierungslinie. Verschiedene Redakteure mussten sich ins Ausland absetzen, weil sie jene Institution beim Namen nannten, die offen in die Programmgestaltung und das Redigieren von Zeitungsartikeln eingreift: den Geheimdienst SIN.
Im „kleinen Pentagon“, dem Amtssitz des Geheimdienstchefs, liefen am Ende mehr Fäden zusammen als im Präsidentenpalast. In dem Gebäude von 46000 Quadratmetern arbeiteten 200 Funktionäre der Streitkräfte, 1.000 Polizisten und 350 Zivilisten. Montesinos, der auch als ehemaliger Mitarbeiter der CIA gehandelt wird, koordinierte für das Regime die Drecksarbeit hinter den Kulissen und organisierte einen Spitzeldienst nach dem Vorbild der Stasi. In unzähligen Witzen, die über den Geheimdienstchef kursierten, geht es genau darum: Vladimiro sieht alles. Vladimiro hört alles. Vladimiro weiß alles. Vladimiro ist überall.

Das System Montesinos

„Seit neun Jahren lebe ich hier, 24 Stunden am Tag. Das weiß auch Präsident Fujimori. Wir Männer vom Geheimdienst arbeiten immer im Stillen. Das ist unsere Mission.“ Diese Worte sprach Vladimiro Montesinos im April 1999 vor laufenden Fernsehkameras in seinem Büro. Doch er arbeitete nicht nur für das Regime. Sein Wissen und seine Kontakte nutzte er intensiv für private Zwecke. Seit seiner erfolgreichen Anwaltskarriere wird er immer wieder mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht. Und eine ganze Reihe von Indizien deuten darauf hin, dass führende Offiziere in Armee und Geheimdienst in Waffenschiebereien verwickelt sind.
Der neueste Waffenskandal, der Weiterverkauf von 10.000 Kalaschnikow-Gewehren aus Jordanien an die kolumbianischen FARC (siehe LN 315/316), brachte Montesinos und den Heereschef Villanueva Truesta sogar selbst in Bedrängnis. Auch bei Beförderungen von Offizieren soll der Rasputin des Regimes laut Zeugenaussagen regelmäßig die Hand aufgehalten haben.
Überhaupt ist die Liste der Verbrechen lang, mit denen Montesinos in Verbindung gebracht wird. Dazu zählen die Verschleppung und Hinrichtung von neun Studenten und einem Dozenten der Universität La Cantuta im Jahre 1993, das Massaker von Barrios Altos, einem Stadtteil von Lima, bei dem ein Jahr zuvor vierzehn Menschen starben, und die Ermordung des Gewerkschaftsführers Pedro Huilca. Zwei Agentinnen des militärischen Geheimdienstes, Mariela Barreto und Leonor de la Rosa, versuchten Einzelheiten der Verbrechen des SIN an die Öffentlichkeit zu bringen. Barreto wurde daraufhin gefoltert und ebenfalls ermordet. De la Rosa gelang es, nach schwerer Folter ins Ausland zu entkommen. Sie ist heute gelähmt und sitzt im Rollstuhl.
Das System Montesinos schien perfekt. Wer gegen den Geheimdienstchef aussagen wollte, wurde bedroht oder verschwand. Oder die Justiz griff selbst ein. Als der Oppositionsabgeordnete Jorge del Castillo aufdeckte, dass Montesinos auf einem seiner Konten Einnahmen von 2,6 Millionen US-Dollar pro Jahr verbuchte, leitete die Staatsanwaltschaft nicht etwa Ermittlungen über die Herkunft des Geldes ein, sondern sie brachte del Castillo selbst auf die Anklagebank – wegen Verletzung des Bankgeheimnisses.
Und als der landesweit bekannte Drogenhändler Demetrio Chávez vor Gericht gestand, monatlich 50.000 US-Dollar an den Geheimdienstchef für die Landeerlaubnis seiner Flugzeuge gezahlt zu haben, wurde er in Isolationshaft gesteckt und mit Elektroschocks behandelt. Seitdem leidet er unter Gedächtnisschwund.
Die Generalstaatsanwältin Blanca Nélida Colán, die schon mehrfach Anzeigen gegen Montesinos wegen Drogenhandel abgewehrt hatte, spurte noch bis zum Schluss. Sie vernahm den Geheimdienstchef kurz vor dessen Abflug nach Panama wegen des Videoskandals. Doch sie legte den Fall umgehend zu den Akten, weil Montesinos aussagte, er hätte dem Abgeordneten Kouri die strittigen 15.000 Dollar für den Kauf eines Lastwagens geliehen. Was machte es schon, dass der wahre Grund der Geldübergabe aus dem aufgezeichneten Gespräch zwischen Montesinos und Kouri eindeutig hervorgeht.
Der Geheimdienstchef scheiterte am Ende daran, dass er alles selbst in die Hand nahm. Und sich so sicher fühlte, dass er sich bei seinen Delikten sogar filmen ließ. Das wäre ihm fast schon einmal zum Verhängnis geworden. Der Journalist Fabián Salazar brachte kurz vor den Wahlen Videobänder in seinen Besitz, auf denen ein brisantes Gespräch zwischen dem Geheimdienstchef und dem Vorsitzenden der obersten Wahlbehörde über die Organisation des Wahlbetrugs aufgezeichnet war. Salazar wurde überfallen, bevor er sein Material veröffentlichen konnte. Mit einer elektrischen Säge zertrennten ihm die Täter mehrere Sehnen seiner Hand und verschwanden mit den Bändern.

Die Ratte geht von Bord

Montesinos Verbündete in der Armee hielten ihm bis zum Schluss die Treue. Sie schützten ihn noch eine Woche in seinem Büro, damit er Akten vernichten oder Festplatten löschen konnte. Nach seinem Abflug in Richtung Panama wollten Gerüchte nicht verstummen, eine Gruppe von Offizieren bereite einen Putsch vor, um Montesinos die Rückkehr zu ermöglichen. Der entlassene Berater selbst soll noch in Lima mit einem Staatsstreich gedroht haben. Für den Fall, dass er nirgendwo Asyl bekäme. Ernst kann Montesinos das nicht gemeint haben. Denn er weiß, dass seine Zeit ohne Fujimori unwiderruflich abgelaufen ist. Eine Militärregierung Montesinos würde den Volkszorn zum Kochen bringen.
Die Regierung in Panama hat noch nicht über Montesinos Asylantrag entschieden. Derweil wurde der Geheimdienstmann im Ruhestand von panamaischen Demonstranten als Mörder, Delinquent und Ratte beschimpft. Der Vergleich mit dem Nagetier trifft schon insofern zu, als Montesinos als Erster von Bord des sinkenden Regierungsschiffs ging und damit in Sicherheit ist. Falls es mit dem Asyl in Panama wider Erwarten nicht klappt, geht es voraussichtlich weiter nach Marokko oder Tunesien.
Bislang hat Montesinos aus Peru nichts zu befürchten. Denn solange seine Gefolgsleute dort die führenden Positionen in den Streitkräften, der Regierung und der Justiz besetzen, wird es keinen Auslieferungsantrag geben. Trotz aller Anträge und Forderungen der Opposition. Die peruanische Regierung sprach dem Mann im Exil sogar offiziell ihren Dank aus. Für seine besonderen Verdienste bei der Bekämpfung des Drogenhandels und des Terrorismus.

Freies Geleit für Montesinos

Panama zählt zu den lateinamerikanischen Oasen, die nicht in der Wüste liegen. Zu den Steueroasen. Nicht weniger als 88 verschiedene Banken haben ihren Sitz in dem mittelamerikanischen Land, das daher zu einem magischen Anziehungspunkt für Asylsuchende einer etwas anderen Art geworden ist. Für die politischen Verfolger und nicht für die politisch Verfolgten. Für diejenigen, die sich auf Kosten der Bevölkerung in ihrem Land bereichert haben. Wie der Schah von Persien, der 1979 vor der Revolution nach Panama floh und sich für zwölf Millionen Dollar sein Asyl erkaufte. Oder der haitianische Ex-Diktator Raoul Cedrás, der bis heute von seinen Pfründen in Panama lebt. Ebenso wie José Serrano und Abdalá Bucarám, die korrupten Ex-Präsidenten Guatemalas und Ecuadors.
Der Name des vorerst letzten Asylsuchenden aus dieser Reihe ist Vladimiro Montesinos. Der ehemalige peruanische Geheimdienstchef floh bei Nacht und Nebel nach Panama. Zehntausende hatten zuvor in ganz Peru seine sofortige Verhaftung gefordert. Seine Verbrechen im Dienste des Fujimori-Regimes umfassen fast alle Delikte eines Strafgesetzbuches: Massaker, Mord, Entführung, Folter, Bombenanschläge, Drogenhandel, Waffenschiebereien, Erpressung und Bestechung. Die Früchte seiner Arbeit brachte er beizeiten in Sicherheit: Allein auf panamaischen Konten sollen mehrere hundertmillionen Dollar lagern, die Montesinos in Peru gestohlen hat. Ein Fall für Interpol, sollte man meinen. Doch die USA sind nicht bereit, wie vor zehn Jahren ganze Viertel von Panama-Stadt in Schutt und Asche zu legen, um dieses Mannes habhaft zu werden. Im Gegenteil: Das US-State Department ersuchte die panamaische Präsidentin Mireya Moscoso dringend, dem Asylantrag aus Peru stattzugeben.
Danach gab sich ein ganzes Dutzend lateinamerikanischer Staatschefs die Ehre. Ob Ernesto Zedillo, Fernando de la Rúa, Henrique Cardoso, Andrés Pastrana oder der Sozialist Ricardo Lagos – sie alle wählten Präsidentin Moscosos Telefonnummer und setzten sich persönlich für den Asylsuchenden ein. Die Fürsprache César Gavirias, des Generalsekretärs der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), liegt sogar schriftlich vor. Wie das State Department begründeten die lateinamerikanischen Präsidenten ihr Engagement mit der angeblichen Gefahr eines Militärputsches in Peru. Montesinos soll vor seinem Abflug nach Panama mit einem Staatsstreich gedroht haben, falls kein Land ihn aufnehmen wolle.
Montesinos Drohung war ein Bluff. Die USA hatten Montesinos schon seit dem offensichtlichen Wahlbetrug fallen gelassen, den der Geheimdienstchef für Fujimori organisiert hatte. Der spanischen Zeitung El País zufolge waren die USA sogar bereit, den erschwindelten Wahlsieg Fujimoris anzuerkennen, wenn dieser sich im Gegenzug von Montesinos getrennt hätte. Eine peruanische Militärdiktatur unter Führung von Vladimiro Montesinos wäre für die USA nicht akzeptabel gewesen. Auch aus innenpolitischen Gründen hätte ein solches Regime nicht lange Bestand gehabt. Denn die Generäle, die Montesinos an die Spitze der peruanischen Armee gesetzt hat, gelten als korrupt und werden nicht einmal im eigenen Offizierscorps unterstützt.
Über den Einsatz des State Department muss man sich nicht wundern. Vielleicht wollten sich die USA auf diese Weise bei Montesinos für eine langjährige erfolgreiche Zusammenarbeit bedanken. Vielleicht wollten sie einfach nur verhindern, dass der Ex-Geheimdienstchef später einmal vor einem peruanischen Gericht über seine ausgezeichneten Verbindungen zur CIA plaudert. Enttäuschend ist das Engagement der lateinamerikanischen Staatschefs. Sie haben einen Schwerverbrecher vor der Strafverfolgung bewahrt. An dieser Tatsache ändert sich auch dann nichts, wenn die panamaische Regierung den Asylantrag auf Grund der zahlreichen Proteste im Land ablehnen sollte. In dem Fall hätte Montesinos, dessen Visum in Panama nach 30 Tagen abläuft, dank seiner prominenten Fürsprecher zumindest freies Geleit in ein Land seiner Wahl. Vermutlich nach Marokko oder Tunesien.

Naht das Ende von General Oviedo?

Mit dem gescheiterten neuerlichen Putschversuch vom 18. Mai wurden zwei Dinge deutlich. Zum einen ist die Position des Präsidenten Luis González Macchi noch immer sehr schwach, besonders angesichts der Bedrohung, die ein freier Oviedo vom Ausland aus noch immer ausüben kann. Andererseits wurde an dem sehr schnell zusammengebrochenen Putschversuch deutlich, dass der Einfluss von Oviedo lange nicht so stark ist, wie er selbst immer wieder gern behauptet hat. In seinen berühmten Telefon-Interviews hat Oviedo immer wieder betont, dass die Regierung noch in diesem Jahr stürzen werde. Dabei nutzte er auch die stark gewachsenen sozialen und wirtschaftlichen Unruhen und Proteste insbesondere der Bauern aus und spielte sich als deren Führer auf. Fast alle Bauernorganisationen haben sich inzwischen klar von ihm losgesagt beziehungsweise negierten jegliche Verbindungen zu Oviedo.

Ein letztes Aufbäumen der Oviedo-Fraktion

Der Putschversuch im Mai ging von verschiedenen ehemaligen Militärs und Zivilisten der politischen Bewegung Oviedos UNACE (Unión Nacional de Colorados Éticos – eine Fraktion der regierenden Coloradopartei) aus. Dieser Personenkreis besetzte das Hauptquartier der 1. Kavalleriedivision, der stärksten Militäreinheit Paraguays, sowie das Polizeihauptquartier. Eigentlich war es weniger eine Besetzung, sondern eher ein freudiges Willkommen seitens verschiedener aktiver Offiziere. Mehrere Panzer feuerten auch auf den Regierungspalast, aber letztlich blieben doch fast alle Truppen loyal zur Regierung, insbesondere Luftwaffe und Marine sowie die entlegenen Teile des Heeres.

Säuberungsaktion des Präsidenten

Der Präsident González Macchi nutzte die Gunst der Stunde zum letzten Großreinemachen. Obwohl die prominentesten Oviedo-Anhänger im Militär bereits nach dessen Flucht im März vergangenen Jahres aus dem aktiven Dienst entlassen wurden, haben sich jetzt dessen letzte Sympathisanten offenbart. Durch die Verhängung des Ausnahmezustandes für 30 Tage und als Oberbefehlshaber der Streitkräfte ließ der Präsident 17 aktive und drei ehemalige Offiziere wie auch 18 Polizeioffiziere noch in der Putschnacht festnehmen. Dutzende weitere Verhaftungen folgten, darunter viele Mitglieder der UNACE-Fraktion der Colorados. Doch diesmal ging González Macchi noch weiter. Nachdem bereits der Putsch gegen Stroessner 1989 sowie die Putschversuche von 1996 und auch der vom Mai von der erwähnten und nahe der Hauptstadt stationierten 1. Kavalleriedivision (eigentlich einer Panzerbrigade) ausging, ordnete der Präsident deren Verlegung in einen 700 Kilometer entfernten Außenposten im Chaco an.
Es scheint sich die Idee durchzusetzen, dass nahe des Regierungszentrums stationierte Militäreinheiten nicht unbedingt ein Stabilitätsfaktor sind. Die verlegte Einheit wurde zudem noch dem absolut loyalen General José Key Kanasawa des dritten Armeekorps unterstellt. Auch das am Putschversuch beteiligte zweite Kavallerieregiment wurde von Cerrito nahe Asunción nach San Juan Bautista in Misiones verlegt, 200 Kilometer südlich von Asunción. Das Pikante ist, dass beide Militäreinheiten ihre Panzer zurücklassen mussten. Auch die jeweiligen Hauptquartiere der Armeekorps zogen um. Verschiedene Offiziere murrten zwar über diese „Demütigungen“, trugen sie letztlich jedoch mit Fassung.

General Oviedo verhaftet

Ein erneuter Putschversuch durch das Heer dürfte damit in Paraguay wesentlich schwieriger und die Karte „Militär“ wohl aus dem Spiel sein.
Augenscheinlich hielt sich General Oviedo bereits seit Monaten im brasilianischen Grenzort Foz de Iguaçu, wo er nun verhaftet wurde, auf, und reiste des Öfteren über die mehr oder weniger grüne Grenze in sein Heimatland. Mit einem beträchtlichen Arsenal an Mobiltelefonen versuchte der Ex-General, an den Strippen der Macht zu ziehen. Mit Sicherheit war den brasilianischen Behörden der Aufenthalt Oviedos seit längerem bekannt. Aber erst der gescheiterte Putschversuch dürfte die Brasilianer überzeugt haben, dass ein festgesetzter Oviedo besser zu kontrollieren ist.
Verschiedene Gerüchte besagen, Oviedo hätte seine Verhaftung selbst inszeniert, um danach politisches Asyl in Brasilien zu beantragen. Schließlich ist das größte lateinamerikanische Land damit bisher immer recht großzügig gewesen. Ganze Heerscharen von Juristen sollen angeblich bereits an einem Asylantrag Oviedos arbeiten. Aber diesmal könnte er sich verrechnet haben. Dass die Brasilianer es ernst meinen, zeigt auch, dass er von 120 Mann bewacht wird. Um ganz sicher zu gehen, arbeiten die besten Juristen Paraguays an einem juristisch einwandfreien Auslieferungsantrag, der sich auf den vom 18. Mai formulierten internationalen Haftbefehl stützt. Formfehler sollen auf jeden Fall vermieden werden. Sicher erschien die Auslieferung anfangs nicht, jetzt tauchen jedoch Anschuldigungen auf, die ein politisches Asyl unmöglich machen.
Die brasilianischen Kongressabgeordneten Magno Malta und Moroni Torgan beschuldigten den General des Drogenhandels, der Geldwäsche und des Waffenhandels. Am 15. August soll ein 500-seitiger Bericht vorgelegt werden, aber täglich kommt mehr ans Licht. Oviedo wird beschuldigt, durch die Organisation eines Drogenverteilerrings auf beiden Seiten der Grenze seit Beginn der 90er Jahre, als er bereits Oberkommandierender des Heeres war, über eine Milliarde US Dollar verdient zu haben.
Damit soll er zum sechstreichsten Mann Paraguays geworden sein. Teile der Erkenntnisse des Berichts sollen aus Quellen des CIA und der US-amerikanischen Antidrogenbehörde DEA stammen. Es heißt, dass Oviedo eine Organisation aufbaute, die das Vakuum nach dem Zusammenbruch des kolumbianischen Cali- bzw. Medellínkartelle ausfüllte.

Ein General und die Drogen

Seit 1993 soll Oviedo für brasilianische Banden, insbesondere im Raum Rio de Janeiro, der Hauptversorger mit Marihuana, Kokain und Waffen gewesen sein. Seine Verbindung zum Drogenboss Luiz Fernando da Costa alias Fernandinho Beira Mar gilt als erwiesen. Außerdem soll er ein Netzwerk für die Verschiffung von bolivianischem und kolumbianischem Kokain in die USA und nach Europa organisiert haben. Mit diesen Vorwürfen wird die Gewährung eines politischen Asyls unmöglich. Diese Beschuldigungen würden auch schlüssig erklären, woher Oviedo während seines Wahlkampfes in den Vorjahren die ungeheuren Geldmengen nahm.
Der paraguayische Auslieferungsantrag für Oviedo könnte damit allerdings ein neues Problem bekommen. Es ist gut möglich, dass die Brasilianer Oviedo für diese Verbrechen selbst verurteilen wollen. Paraguay würde damit für lange Zeit leer ausgehen. Für Präsident González Macchi wäre dies jedoch ein weiterer Gesichtsverlust. Allerdings dürfte die mögliche politische Einflussnahme Oviedos einem brasilianischen Gefängnis wesentlich geringer sein als aus einem paraguayischen.

Vizepräsidentschaftswahlen im August

Innenpolitisch wird sich in den nächsten Wochen das Geschehen auf die bevorstehenden Vizepräsidentschaftswahlen am 13. August konzentrieren. Nachdem die „Regierung der nationalen Einheit“ zusammengebrochen ist, weil die mehrheitlich regierenden Colorados ihr Versprechen, den Vizepräsidentenposten den Liberalen zu überlassen, zurückgezogen haben, steht eine interessante Auseinandersetzung bevor. Die jeweiligen internen Vorwahlen haben der Colorado Félix Argaña, der Sohn des im vergangenen Jahr ermordeten Vizepräsidenten Luis María Argaña, und der Liberale Julio César „Yoyito“ Franco sehr klar gewonnen. Erste Umfragen sehen überraschenderweise den Liberalen Franco vorn. Argaña, der für die konservativsten Kreise der Colorados steht – zu denen auch die erstarkenden Stroessneranhänger zählen – sollte aber auf keinen Fall unterschätzt werden.

Besuch beim Zahnarzt

Es scheint merkwürdig, immer wenn Präsident Luis González Macchi außer Landes ist, kommt es zu einschneidenden Ereignissen, vielleicht auch gerade deshalb. Im Dezember ging es um den Ex-General Lino Oviedo. Dieser hatte nach den Ereignissen um die Ermordung des Vizepräsidenten Luis María Argaña und den nachfolgenden Protesten der Bevölkerung im Februar/März vergangenen Jahres (siehe LN 297/305) zusammen mit dem damaligen Präsidenten Cubas Grau fluchtartig das Land verlassen und bekam von seinen guten Bekannten Menem politisches Asyl in Argentinien. Oviedo wird die geistige Urheberschaft am Attentat auf den Vizepräsidenten nachgesagt. Außerdem wurde die umstrittene Begnadigung seiner zehnjährigen Haftstrafe für einen Putschversuch von 1996 wieder aufgehoben. Das monatelange Tauziehen um seine Auslieferung hatte zu einer diplomatischen Verschnupfung zwischen beiden Nachbarstaaten geführt. Ohnmächtig über die erfolglosen Auslieferungsversuche trat sogar der damalige Außenminister Paraguays zurück. Argentinien sah sich dann wenigstens doch noch genötigt, Oviedo ins Abseits zu schieben und seinen Exilort von Buenos Aires nach Feuerland zu verlegen. Selbst seinem Freund Menem war Oviedo politisch doch etwas zu aktiv gewesen. Bereits während des argentinischen Präsidentschaftswahlkampfes hatte der Kandidat de la Rua seine Auslieferung nach Paraguay im Falle eines Wahlsieges angekündigt. Dann erfolgte ein Szenarium wie in einem schlechten Agentenfilm.

Oviedo hat Zahnschmerzen

Oviedo bat die Regierung Menem seinen Zahnarzt in Buenos Aires besuchen zu dürfen, die Erlaubnis erhielt er auch promt, obwohl es auch in Feuerland nicht gerade wenige Zahnärzte gibt. In Buenos Aires entkam er seinen Bewachern wie es die zuständigen Behörden formulierten. Zuletzt wurde er auf dem Flughafen Don Torcuato gesehen. Über sein Reiseziel wurde viel spekuliert, Brasilien, Uruguay – seine Anhänger bevorzugten schon immer die Variante, dass er heimlich nach Paraguay zurückgekehrt sei und es sich im Departament San Pedro gemütlich gemacht habe. Dies bestätigte auch der Grundbesitzer Miguel Angel Zelada gegenüber der argentinischen Zeitschrift Clarín und gab an, dass Oviedo auf einer seiner Besitzungen lebe und auf Garantieerklärungen des Obersten Gerichtshofes warte. Die Ehefrau Oviedos stützte diese Version.

Oviedo meldet sich aus Paraguay

Von offizieller argentinischer Seite hieß es jedoch, Oviedo halte sich im argentinischen Corrientes auf, der genaue Aufenthaltsort sei aber nicht zu ermitteln. Schließlich meldete sich Oviedo selbst beim Sender CBS in Miami und erklärte, dass er sich in Paraguay aufhalte. Er werde der nächste Präsident Paraguays sein, weil die gegenwärtige Regierung nicht die Verfassung einhalte und keine Wahlen ausrufe, verkündete er weiter. Da Präsident González Macchi im Ausland weilte, kasernierte sein Vertreter vorsichtshalber die Streitkräfte, weil er einen Putschversuch der Oviedoanhänger befürchtete.

Unsicheres Militär

Die Positionen der Streitkräfte sind unklar. Während der Amtszeit von Cubas Grau, der nur als Strohmann von Oviedo galt, waren Anhänger Oviedos in alle Schlüsselpositionen gesetzt worden. Mit der Flucht der beiden ins Ausland, setzte eine erneute Säuberungswelle ein, wie schon nach dem Putschversuch von Oviedo 1996. Doch dies genügte dem Präsidenten González Macchi nicht. Mehrfach nahm er als Oberkommandierender der Streitkräfte Umstrukturierungen und Zwangsversetzungen in den Ruhestand vor. Doch nach wie vor wird vermutet, dass der charismatische Ex-General zahlreiche Sympathisanten unter den Streitkräften besitzt, die den Zeiten der Diktatur nachtrauern. Viele Militärs kommen noch nicht mit ihrer Rolle in einer Demokratie zurecht. Andererseits gab es auch Gerüchte um einen Putschversuch von jüngeren Militärs, die González Macchi absetzen wollen um Neuwahlen auszurufen.

Zweifelhafte Rechtsgrundlage der Regierung

Präsident González Macchi begründet sein Amt in der Tat auf einer umstrittenen Rechtsgrundlage. Mit der Ermordung des Vizepräsidenten und der Flucht des damaligen Präsidenten Cubas Grau nach Brasilien wurde laut Verfassung der Senatspräsident zum Staatsoberhaupt. Bis dahin ist die Verfassung klar. Es sollen zwar Neuwahlen erfolgen, unklar bleibt jedoch ob für alle Ämter oder nur für das des Vizepräsidenten oder ob gar der dann gewählte Vizepräsident als Staatsoberhaupt nachrücken soll. Über solch ungewöhnliche Konstellationen hatte die damalige Verfassungsgebende Versammlung nicht nachgedacht. González Macchi denkt jedoch nicht daran sein Amt vor Ablauf der regulären Amtszeit aufzugeben. Der Termin für die Wahl eines Vizepräsidenten wurde mehrfach verschoben. Diese soll nun am 13. August stattfinden.

Maß voll bei den Liberalen

Der Anspruch auf Legitimität der Regierung González Macchi hat sich mit dem Ausscheiden der Liberalen (Partido Liberal Radical Auténtico) aus der Regierung weiter verringert. Nach der Flucht von Oviedo und Cubas Grau hatte sich eine Regierung der Nationalen Einheit gebildet, der neben den eigentlich regierenden Colorados auch die beiden stärksten Oppositionsparteien, die Liberalen und der Partido Encuentro Nacional, angehörten. Die Liberalen waren bereits seit längerem unzufrieden mit dem Regierungsstil des Präsidenten. Ihre beiden Minister hatten wenig erreicht. Sie hatten selbst die Partei in zwei Flügel gespalten, die der Präsident fleißig gegeneinander ausspielte. Als der Präsident dann noch sein beim Amtsantritt gemachtes Versprechen, das Vizepräsidentenamt den Liberalen zu überlassen, zurückzog, war das Maß voll. Die Liberalen traten aus der Regierung aus.
Der sozialdemokratisch orientierte Encuentro Nacional hält noch an der Koalition fest, aber auch Parteigründer, Unternehmer und derzeitiger Industrieminister Caballero Vargas zeigt sich zunehmend enttäuscht von der Erfolglosigkeit und Schwäche der Regierung González Macchi.
Neuste Umfragen der paraguayischen Tageszeitung ABC-Color von Ende Februar zeigen, dass 51 Prozent der Bevölkerung mittlerweile den Präsidenten González Macchi als Usurpatoren ansehen und über 58 Prozent unzufrieden oder sehr unzufrieden mit seiner Art der Amtsführung sind. Mit einem gewählten Vizepräsidenten wird sein Rücktritt immer wahrscheinlicher.

Coloradopartei mit Stroessnernostalgie

In der Coloradopartei bestehen weiterhin die drei großen Fraktionen. Die oviedistas haben politisch überlebt und betreiben einen Psychokrieg gegen den derzeitigen Präsidenten. Ihre Erzfeinde sind die argañistas, benannt nach dem ermordeten Vizepräsidenten. Dessen Söhne führen jetzt die Fraktion an. Nelson Argaña als Verteidigungsminister und Félix Argaña als aussichtsreichster Kandidat auf das Vizepräsidentenamt (er führt bei parteiinternen Umfragen mit 33 Prozent vor Enrique Riera mit 27 Prozent) sind hier die Wortführer. Die Brüder Argaña waren es auch, die auf die Ergreifung von Oviedo ein Kopfgeld von 100.000 US-Dollar ausgesetzt haben. Die dritte Fraktion die wasmosistas, eine Fraktion des ehemaligen Präsidenten Juan Carlos Wasmosy, spielt derzeit keine herausragende Rolle mehr. Als beunruhigend wird vor allem angesehen, dass die argañistas offen Positionen wie zu Zeiten der Stroessnerdiktatur vertreten und Vetternwirtschaft, Korruption sowie den Schmuggel im Lande eher fördern als bekämpfen. Der 86-jährige Altdiktator Stroessner hat sich kürzlich im brasilianischen Exil in einem Interview selbst zu Wort gemeldet, zeigte sich sehr gut informiert über die Lage im Lande und kündigte seine baldige Rückkehr an, ohne freilich einen genauen Termin zu nennen. Ähnlich wie in Chile könnte dieses Thema auch in Paraguay nochmals zu einer großen politischen Zerreißprobe werden.

Wirtschaftliche Talfahrt ungebremst

Neben den politischen Problemen steht Paraguay wirtschaftlich am Rande des Ruins, alle Wirtschaftsdaten sind rückläufig, die Exporte sind allein im letzten Jahr um ein Drittel gesunken. Die letzten Arbeitslosenzahlen liegen zwischen 50 und 55 Prozent. Massive Landbesetzungen von landlosen Bauern stehen an der Tagesordnung, um deren nacktes Überleben zu sichern. Nach anfänglichen Repressalien lenkte die Regierung hier zumindest ein und nahm die gesetzlich vorgeschriebenen Enteignungen von ungenutztem Land vor. Aber bisher war alles nur ein bescheidenes Reagieren, Konzepte und Lösungsansätze fehlen völlig. Der IWF hat für Paraguay einen Krisenplan vorgelegt, die Härten für die Bevölkerung dürften damit noch eher zunehmen.

Diplomatische Krise im Cono Sur

Und wieder war Ex-General Lino Oviedo der Anlaß für die Krise. Der Marionettenspieler, der die Regierung Cubas Grau nach seiner Pfeife hatte tanzen lassen und als Drahtzieher des Attentats auf Vizepräsident Argaña vom 23. März 1999 gilt, setzte sich damals sofort nach Argentinien ab und erhielt dort prompt politisches Asyl (vgl. LN 299). Er versteht sich nicht nur gut mit Noch-Präsident Carlos Menem, sondern ist auch in obskure Geschäfte mit ihm verbandelt.
Oviedo traf sich in seinem Luxusanwesen in Buenos Aires mit seinen Gefolgsleuten und beriet Strategien eines politischen Come-backs. Bereitwillig äußerte er sich vor allem auch gegenüber jedem Journalisten, der ihn sprechen wollte – und eckte damit hart an: Politische Betätigung ist nach einer lateinamerikanischen Abmachung für politische Asylanten verboten. Die paraguayische Regierung unter Luis Angel González Macchi reagierte entsprechend energisch und verlangte die Auslieferung Oviedos. Als Menem dies verweigerte, begann ein Schlagabtausch von Beschuldigungen und Beleidigungen auf höchster Ebene, der mit dem zeitweiligen Abzug der paraguayischen Botschafter aus Argentinien und Uruguay auch handfeste Konsequenzen hatte. Der argentinische Außenminister Di Tello wiederum zweifelte an, daß die vierjährige Amtszeit des paraguayischen Präsidenten nach der Frühjahrskrise überhaupt legal ist.

Diplomatische Eiszeit

Die diplomatische Eiszeit dürfte nicht enden, bevor nicht das Problem Oviedo bewältigt ist. Eine Lösung ist da allerdings nicht in Sicht. Die paraguayische Regierung will Oviedo im eigenen Land hinter Gitter bringen. Argentinien und die USA fürchten jedoch, daß bei einer Rückkehr Oviedos die gesamte Region destabilisiert werden könnte. Die beiden aussichtsreichsten Kandidaten für die argentinische Präsidentschaft am 24. Oktober, Duhalde von den regierenden Peronisten und De la Rúa von der oppositionellen Alianza, wollen die Menemsche Politik nicht weiterverfolgen, sondern Oviedo so schnell wie möglich außer Landes bringen.
Wenn sich keine Drittländer bereiterklären, Oviedo aufzunehmen – Panama, Venezuela und sogar Deutschland waren hypothetisch im Gespräch –, könnte es spätestens nach dem Amtsantritt des neugewählten argentinischen Präsidenten am 10. Dezember doch zu einer Auslieferung Oviedos nach Paraguay kommen. Zunächst hat Menem die Situation zu entschärfen versucht, indem er Oviedo Anfang Oktober zum Umzug von Buenos Aires ins 3 000 Kilometer südlich gelegene Feuerland zwang.

Ein Strohmann für Feuerland

Im verbalen Schlagabtausch ist von argentinischer Seite gelegentlich das Argument vorgebracht worden, die Regierung des Nachbarlandes wolle mit dem Wirbel um Oviedo in erster Linie von den hauseigenen politischen Problemen ablenken. Das ist nicht aus der Luft gegriffen, zumal bei den paraguayischen Bemühungen um Oviedo offenbar die politische Symbolik eine wichtige Rolle spielt. So ist es um den nach Brasilien geflohenen Ex-Präsidenten Cubas Grau bemerkenswert still, obwohl dieser als Strohmann Oviedos keine geringe Verantwortung für die Frühjahrsunruhen trägt. Oviedo, der nach wie vor damit droht, nach Paraguay zurückzukehren und dann einen „Staatsstreich mit Wahlstimmen“ zu führen, taugt jedoch viel besser als Feindbild, gegen das die politischen Kräfte in Paraguay mobilisiert werden können. Dabei darf allerdings der nach wie vor beträchtliche Einfluß vom charismatischen General Oviedo auf seine Anhänger nicht unterschätzt werden.

Personalkarussell und Flügelkämpfe

Die Krise scheint so schlimm, daß eine von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin für den 13. Oktober anberaumte Tagung über die deutsch-paraguayische Zusammenarbeit kurzfristig abgesagt werden mußte – immerhin waren zwei Minister der ehemaligen Oppositionsparteien und verschiedene Parlamentarier geladen. Schließlich könnte der eigene Posten bei der Rückkehr ja andersweitig vergeben sein. Trotz der Gründung einer Regierung der nationalen Einheit nach der Staatskrise im Frühjahr sieht es mit der Einheit schlechter denn je aus. Noch wird der vereinbarte Status quo gehalten und sind die Ministerposten entsprechend verteilt, sechs für die Colorados, je zwei für die Liberalen und den Encuentro Nacional. Aber das Personalkarussell dreht sich, schon mehrere Minister mußten – mitunter auch auf Drängen aus den eigenen Reihen – ihren Posten räumen, unter ihnen Anfang September auch Außenminister Miguel Saguier von den Liberalen.
Nicht nur die seit 1940 ununterbrochen regierende Colorado-Partei ist in sich zerstritten, auch der Partido Liberal Radical Auténtico besteht zumindest aus zwei miteinander zerstrittenen Fraktionen. Ein Parteitag der Liberalen wurde unlängst zum Kampfschauplatz, als die Delegierten mit allen möglichen Einrichtungsgegenständen gegeneinander vorgingen. Setzt sich dieser Trend fort, könnten durchaus wieder mehrere selbständige liberale Parteien entstehen – unter dem Stroessner-Regime waren es zu Spitzenzeiten acht. Der sozialdemokratisch orientierte Encuentro Nacional scheint noch nicht in diesem Maße betroffen, obwohl sich auch dort mehrere innerparteiliche Strömungen mit eigenen Namen und eigenen Programmen gebildet haben.

Ex-Präsident Wasmosy unter Druck

Geschickt hat es der Parteiflügel des ermordeten Vizepräsidenten Luis María Argaña geschafft, seine Machtposition innerhalb der Colorado-Partei auszubauen: Die beiden Söhne von Argaña scheinen die Fraktion fest im Griff zu haben. Obwohl die Fraktion UNACE des flüchtigen Generals Oviedo noch immer existert, laufen immer mehr ihrer AnhängerInnen zu den Argañisten über. Oder aber die Betroffenen werden aus der Partei ausgeschlossen – ein Schicksal, das Oviedo und 60 seiner Gefolgsleute ereilte. Gegenwärtig wird unter anderem versucht, den gewählten Bürgermeister von Ciudad del Este an der brasilianischen Grenze abzusetzen, weil er sich noch immer zu Oviedo und seiner Bewegung bekennt. Aber auch die dritte große Colorado-Fraktion des ehemaligen Präsidenten Wasmosy steht seitens des Argaña-Flügels unter Druck. Die Immunität von Wasmosy als Senator auf Lebenszeit wurde aufgehoben, und damit ist der Weg bereitet, ihm wegen Korruption den Prozeß zu machen. Unter diesen Bedingungen dürfte die Regierung der nationalen Einheit das Jahresende nicht überstehen.

Wir „machen“ mehr als Nicaragua

Das Informationsbüro Nicaragua e.V. beschränkt sich weder auf Informationsvermittlung noch auf Nicaragua. Gleichwohl ist und bleibt Nicaragua unser zentrales Thema. Obwohl wir eine der ältesten in Deutschland existierenden Soli-Institutionen sind, halten wir uns nicht an die Spielregeln des entwicklungspolitischen Lobbying. Unser Bemühen gilt der Suche nach internationalistischen Aktions-, Ausdrucks- und Austauschformen jenseits der klassischen Entwicklungspolitik.
Das Informationsbüro Nicaragua wurde bereits 1978 mit dem Ziel gegründet, über die kulturelle, soziale, wirtschaftliche und politische Situation in dem mittelamerikanischen Land zu informieren, um die Befreiungsbewegung der FSLN gegen die Diktatur Somozas zu unterstützen. Nach der Revolution entstanden in der Bundesrepublik mehr als 300 Solidaritätskomitees und Aktionsgruppen. Im Informationsbüro Nicaragua liefen in den 80er Jahren die Fäden der Kommunikation zwischen den Gruppen hier und in Nicaragua zusammen, dem Büro wurde die Aufgabe übertragen, Aktionen und Kampagnen zu koordinieren.
In den 90er Jahren haben sich die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen der Internationalismusarbeit entscheidend verändert. Mit dem Verlust der Regierungsmacht durch die FSLN und den gleichzeitig stattfindenden Umbrüchen in Europa hat sich die Solidaritätsbewegung mit Nicaragua weitgehend aus dem politischen Geschehen zurückgezogen. So ist unsere Koordinierungsfunktion auf ein relatives Minimum geschrumpft.
Unserem Selbstverständnis entsprechend wollen wir aber keine kleine, wenn auch kritische Nichtregierungsorganisation werden, die spezialisiert und professionalisiert arbeitet, und sich an die Stelle sozialer Bewegungen setzt. Als Korrektiv gegen eine fortschreitende „NGOisierung“ des Infobüros stehen neben dem permanenten Versuch, unsere Ansprüche und unser Handeln kritisch zu reflektieren, die Vernetzung mit alten und neuen Teilen der Bewegung auf lokaler, regionaler und bundesweiter Ebene und eine Ausweitung unserer inhaltlichen Arbeit.
Neuer Schwerpunkt ist dabei antirassistische Arbeit in Opposition zur herrschenden Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik. Deshalb unterstützen wir die Kampagne „kein mensch ist illegal“ und derzeit speziell eine Gruppe von KurdInnen im Wanderkirchenasyl in Wuppertal.
Inhaltlich beschäftigen wir uns in den letzten Jahren – neben der Berichterstattung über nicaraguanische Ereignisse – vor allem mit der kritischen Auseinandersetzung zu Fragen wie: herrschende Entwicklungsmodelle, dem Sinn, den Inhalten, der Form und der Umsetzung von Projektarbeit, dem Themenkomplex Organisationskritik, der Landfrage in Mittelamerika, d.h. den Auseinandersetzungen um Land und die Bedeutung von Landbesitz; der Bedeutung von Subsistenzproduktion, der Frauenpolitik in Nicaragua, der Straßenkinderproblematik; sowie mit den Themen Antirassismus und Migrationspolitik.
Lange Zeit wurde in der deutschen Solidaritäts-Landschaft darum gestritten, mit welchem internationalistischen Selbstverständnis Politik gemacht werden sollte. Die einen beriefen sich darauf, hier im „Herzen der Bestie“ Veränderungen herbeizuführen. Nur dadurch sei Ausbeutung und Unterdrückung in der sogenannten Dritten Welt zu beseitigen. Andere projizierten die eigenen Veränderungswünsche mitunter ausschließlich auf die Kämpfe in der sogenannten Dritten Welt. Wieder andere bestanden auf ihrem Hilfsanspruch, übersahen aber oftmals dabei, daß paternalistische Hilfe zu einem neuen Kolonialismus führen kann und lediglich die Funktion einer Entschuldigung besitzt. Wir versuchen, einen Mittelweg zu beschreiten und einen Begriff von Solidarität zu entwickeln und umzusetzen, der diese nicht als Einbahnstraße, sondern als einen Prozeß gegenseitigen Austauschs begreift.

Infobüro Nicaragua, Friedrich-Ebert-Straße 141b, 42117 Wuppertal,
Tel: 0202/ 300030

Integrationsmodell auf dem Prüfstand

Im Kern verfolgten die Mercosur-Staaten Argentinien, Uruguay und Brasilien in den letzten Jahren dieselbe Wirtschaftspolitik: Bindung der eigenen Währung an den US-Dollar, Überbewertung der heimischen Währung, Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite über Kapitalimporte. In den Nuancen und in der Dauer unterscheiden sich die Wirtschaftspolitiken etwas. In Argentinien wurde der Peso mit einer Parität von eins zu eins an den Dollar gekoppelt, während die Handhabung in Brasilien und Uruguay etwas flexibler war. In Argentinien und Uruguay geht diese Form der Politik bereits auf den Anfang der 90er Jahre zurück, während sie in Brasilien erst 1994/95 durchgesetzt wurde.
Die amtliche Begründung der neuen Politik war uniform: eine überbewertete Währung sollte für niedrige Importpreise und eine verschärfte Importkonkurrenz sorgen, diese wiederum sollten den Preisauftrieb dämpfen. Tatsächlich ging die Inflation mehr oder weniger dramatisch zurück, in Argentinien inzwischen bis zur Deflation. Entscheidender noch für die Dämpfung des Preisauftriebs war jedoch, daß der Verteilungskonflikt eindeutig zugunsten der Kapitalseite gelöst wurde. Damit entfiel der Anreiz für die in einem oligopolistischen Umfeld agierenden Unternehmer, auf Lohnerhöhungen prompt mit noch stärkeren Preiserhöhungen zu reagieren. Signifikanterweise war die Inflation in Uruguay am höchsten. Es war das Land, in dem die Gewerkschaften noch am konfliktfähigsten blieben. Die Interessen der (Groß-)Anleger wurden begünstigt und die Kapitalkonzentration nahm zu. In Argentinien verschärfte sich die Einkommenskonzentration. Diese war dort in gewisser Weise auch Wachstumsmotor. Die Industriebranchen, die hochwertige Konsumgüter für die wohlhabenden Bevölkerungsschichten produzierten, verzeichneten hohe Wachstumsraten, während ein Großteil der restlichen importsubstituierenden Industrien stagnierten oder ganz von der Bildfläche verschwanden. Auch in Brasilien und Uruguay belebte die Preisstabilisierung vorübergehend den Konsum. In Brasilien vermochten anfangs sogar die Armen mehr zu konsumieren. Ihr Einkommen war während der Hyperinflation am wenigsten indexiert gewesen, und so konnten sie zunächst von der Preisstabilisierung profitieren. Im allgemeinen wurde der Konsumboom jedoch vom Bürgertum und dem oberen Teil der Mittelklasse getragen, die auf Pump kauften. So ist die Kreditkarte die Eintrittskarte zum vollwertigen Konsumenten.
Neue Anlagefelder erschlossen die Regierungen dem aus- und inländischen Kapital zeitgleich durch eine Privatisierung der Sozialversicherung bzw. der Infrastruktur. In Argentinien ist dieser Privatisierungsprozeß fast abgeschlossen, während er in Uruguay auf erhebliche, allerdings nachlassende Widerstände stieß.

Die Kehrseite der Medaille

Die Politik überbewerteter Wechselkurse bei gleichzeitiger Außenöffnung trieb ganze Branchen in den Ruin. Damit hat die Branchenstruktur an Diversität verloren. Am deutlichsten ist die Reprimitivisierung der Industriestruktur in Uruguay, wo vornehmlich die nach Brasilien exportierenden Agrarindustrien wuchsen. Der überbewertete Wechselkurs und der florierende Oberschichtenkonsum ließen die Importe hochschnellen. Den entstehenden Devisenengpaß suchten die Regierungen über die Anziehung ausländischen Kapitals, beispielsweise mittels hoher Zinsen, auszugleichen. Der hieraus resultierende Abfluß von Zinsen und Dividenden verschlechterte seinerseits die Leistungsbilanz, so daß der Bedarf an Auslandskapital eher noch dringlicher wurde. Und so weiter und so fort. Besonders dramatisch war die Entwicklung in Brasilien. Hier weitete sich das Leistungsbilanzdefizit von 1,7 Milliarden im Jahr 1994 auf satte 33,4 Milliarden US-Dollar im Jahr 1997 aus. Die Auslandsschuld stieg im selben Zeitraum von 148,3 Milliarden auf 193,1 Milliarden, 1998 dann nochmals auf 235 Milliarden US-Dollar. Ähnlich war die Entwicklung in Argentinien und Uruguay. Die argentinische Auslandsschuld stieg von 1991 bis 1997 von 58,5 auf 109,3 Milliarden US-Dollar, in Uruguay stieg sie von 7,2 auf 12,5 Milliarden US-Dollar. Zwar nahmen auch die Devisenreserven zu, doch diese können in einer Krise so dahinschmelzen wie ein Speiseeis in der Äquatorsonne.

Brasilianische Krisendynamik

In Brasilien stieß das Modell am schnellsten an seine Grenzen. Brasilien verfügte über die komplexeste Ökonomie, in der auch am deutlichsten wurde, daß die US-amerikanische Wechselkurspolitik nur zufällig einmal in die für die brasilianische Ökonomie richtige Richtung geht. Zudem war der durch die Hochwährungs- und Zinspolitik zunehmend belastete Industriesektor in Brasilien unter den Mercosur-Ländern politisch immer noch am stärksten und damit am ehesten in der Lage, wenigstens partielle Veränderungen der Wirtschaftspolitik durchzusetzen.
Der Anstoß zur offenen Krise kam allerdings von außen. Nach den Finanzkrisen in Ostasien und Rußland entzogen die Anleger Brasilien ab dem August 1998 massiv das Vertrauen und das Kapital. Um den Wechselkurs bis zu den Wahlen zu halten, warf die Zentralbank 30 Milliarden US-Dollar auf den Markt. Auf diese Höhe können auch die direkten Kosten des Wahlsiegs Cardosos im Oktober taxiert werden. Der IWF half im November 1998 mit einem Finanzpaket von 41 Milliarden US-Dollar nach. Doch im Inneren schmolz die Machtbasis Cardosos. „Industriellenvereinigungen und Gewerkschaftszentralen reichten sich die Hände,“ so der brasilianische Ökonom Paul Singer in seinem jüngsten Buch O Brasil na crise, „um die Gesellschaft für die Verteidigung der Produktion zu mobilisieren, was ein erster entscheidender Schritt zur Anerkennung der Tatsache ist, daß sich die gültige Wirtschaftspolitik erschöpfte“. Auch die neugewählten Gouverneure wollten sich nicht mehr mit der gravierenden Einschränkung ihrer Handlungsspielräume durch die Budgetkrise zufrieden geben. Das Fanal war die Verhängung eines Zahlungsmoratoriums durch den Gouverneur von Minas Gerais, Itamar Franco, am 6. Januar 1999. Danach war bei der Kapitalflucht kein Halten mehr, und die Regierung mußte den Wechselkurs freigeben. Der Kurs des Real fiel wie ein Stein. Damit gab die Regierung einer zentralen Forderung der Produzentenkoalition nach. Anders sieht es bei der inneren Geldpolitik aus. Nach wie vor versucht die Regierung über extrem hohe Zinsen und eine deflationär angelegte Wirtschaftspolitik das Kapital im Lande zu halten und eine Verbindung von Zinssenkungen und Kapitalverkehrskontrollen zu umgehen. Die Hochzinspolitik läuft auf den allmählichen fiskalischen Selbstmord des Staates hinaus. Sie gehorcht jedoch durchaus einer machtpolitischen Rationalität. Bundesstaaten wie Rio Grande do Sul, das jetzt von der Arbeiterpartei (PT) regiert wird, oder Minas Gerais könnten zum Kern eines Gegenblocks im heterogenen brasilianischen Staat werden. Einen Präzendenzfall gab es bereits mit der Formierung eines neuen Machtblocks in der letzten „großen Krise“ im Jahr 1930. Dem will Cardoso durch geldpolitische Erdrosselung vorbeugen. Die Geldpolitik ist der zentrale politische Konfliktpunkt.

Folgewirkungen bei den Nachbarn

Die Exporteure in Argentinien und Uruguay hatten sich auf den Wechselkurs in Brasilien eingestellt. Für verschiedene Branchen beider Staaten war Brasilien in den letzten Jahren das einzige Land, in das sie noch exportieren konnten. Die Geschäftsgrundlage allseitig überbewerteter Währungen im Mercosur ist nun entzogen. Damit fallen die Integrationsvorteile nun anders aus.
An Daten über die Wirkungen der Abwertung auf den Außenhandel fehlt es noch. Einen Eindruck über das Ausmaß des Einbruchs vermitteln jedoch die brasilianischen Außenhandelsdaten für die ersten beiden Monate dieses Jahres. Danach nahm der Handel mit den anderen drei Mercosur-Staaten im Januar um 15,8 Prozent und im Februar um 32,6 Prozent ab. Der Warenversand Uruguays in den großen Nachbarn im Norden halbierte sich. Die unmittelbare Wirkung des erschwerten Exportes nach Brasilien ist jedoch begrenzter als man zunächst annehmen könnte. Die Exporte machten in Argentinien 1997 nur 7,9 Prozent und selbst im Kleinstaat Uruguay nur 13,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) aus. Es gingen in beiden Staaten zuletzt etwa ein Drittel der Exporte zum großen Nachbarn im Norden. Es sind also nur etwa drei bis 4,5 Prozent des BIP unmittelbar durch die verschlechterten Exportmöglichkeiten betroffen. In einigen Branchen, vor allem der Landwirtschaft und Agrarindustrie (in beiden Ländern Reis und Malz, in Uruguay auch Milch) sowie der Autoindustrie in Argentinien, ergibt sich hingegen ein dramatisches Bild. Die Landwirte sind zudem noch mit einem rapiden Verfall der internationalen Agrarpreise konfrontiert. Wie der argentinische Regionalwissenschaftler Alejandro Rofman gegenüber LN erklärte, sind beispielsweise die Preise für Äpfel in der argentinischen Provinz Mendoza um zirka 80 Prozent gesunken. Bei einjährigen Kulturen wurde die Aussaat daher stark verringert. In Corrientes betrug die Reduzierung bei Reis sogar ca. 40 Prozent. Durch die weitgehende Komplementarität der Außenhandelsstrukturen ist die Importkonkurrenz durch die auf einen Schlag verbilligten brasilianischen Produkte hingegen nicht so fühlbar.
Jene Regionen, die durch regionale Integration besonders begünstigt worden waren, trifft der erschwerte Export nach Brasilien nun am stärksten, daneben auch das argentinische Autozentrum Córdoba, sowie einige eher ländliche Gebiete in Argentinien und Uruguay. Da es sich dort vielfach um kleinere und mittlere Betriebe handelt, fehlt es den betroffenen Produzenten an Mitteln, um die Krise durchzustehen.
Die Hauptwirkung der Finanzkrise und Währungabwertung Brasiliens ist nicht direkter, sondern indirekter Natur. Der brasilianische Crash stellt die demselben Strickmuster folgenden wirtschaftspolitischen Modelle Argentiniens und Uruguays in Frage.
Die große Sorge der dominanten Sektoren beider Länder ist nun, daß ein Mißtrauensvotum des internationalen Finanzkapitals ihrem Modell die Grundlage entzieht. Daher setzen sie auf eine deflationäre Politik, welche noch größere Löcher in der Zahlungsbilanz durch eine (Er-)Drosselung der Binnennachfrage vermeiden soll. Eine IWF-Delegation empfahl der argentinischen Regierung (Nominal-)Lohnsenkungen. Die Kreditzinsen bleiben hoch, in Uruguay beliefen sie sich im Juli 1998 für Peso-Kredite real auf 45 Prozent, für Dollar-Kredite auf 8,6 Prozent. Die restriktive Politik bleibt nicht ohne Folgen. Die Produktion geht deutlich zurück, in Argentiniens Automobilindustrie zum Beispiel in den ersten beiden Monaten des Jahres um 48,7 Prozent. Die Arbeitslosigkeit steigt.
Die Regierungsparteien beider Länder wollen sich zumindest noch bis zu den anstehenden Wahlen ohne Abwertung über die Runden retten. Diesem Zweck diente auch das Gerede von einer völligen Dollarisierung der argentinischen Ökonomie.

Zersplitterter Protest

Die restriktiv angelegte Wirtschaftspolitik stößt in Argentinien und Uruguay auf Proteste. Speerspitze des Protestes ist vielfach der Agrarsektor. In Argentinien gingen nun erstmals auch die Großgrundbesitzer auf die Straße. Ihre Vertretung, die Sociedad Rural, legte zusammen mit anderen Agrarverbänden Mitte April den Landwirtschaftshandel lahm. Industriellenvereinigungen und die deutlich geschwächten Gewerkschaften sind in ihrem Protest weniger sichtbar. Die Regierungen suchen durch kleinere Steuererleichterungen und andere Zugeständnisse dem Protest die Spitze zu nehmen, der meist von spezifischen Gesellschaftssektoren organisiert wird. Dies ermöglicht es den Regierenden, zumindest potentiell, einzelne Interessengruppen gegeneinander auszuspielen. An den grundlegenden Tabus – überbewerteter Wechselkurs und Außenöffnung – wird in der Regel ohnehin nicht gerüttelt. Umfassende Alternativen präsentieren die oppositionellen Gruppen kaum.
Tatsächlich hätte eine Abwertung in Argentinien und Uruguay dramatischere Folgen als in Brasilien. Der Grund ist die hohe Dollarisierung. Unternehmen und Konsumenten sind fast ausschließlich in Dollar verschuldet. Zum Teil müssen laufende Ausgaben, wie Mieten, in Dollar beglichen werden. Damit gerät die soziale Basis der regierenden Parteien in die Finanzklemme. Auch der Bankensektor geriete in eine schwere Schieflage. Für Uruguay wäre dies ein Déjà-vu. Bereits Anfang der 80er Jahre endete derselbe Politikstil in Bankenkrach und Abwertung.
Gleichzeitig ist nicht zu erkennen, wie eine Abwertung umgangen werden kann. Eine Orientierung am Geld eines Staates mit einer völlig anderen sozio-ökonomischen Struktur und einem deutlich höheren Produktivitätsniveau ist auf die Dauer kaum durchhaltbar. Nur zufällig kann die Wechselkursentwicklung des US-Dollar für den Produktionssektor in Argentinien oder Uruguay in die richtige Richtung gehen. Es ist sicher kein Zufall, daß der Mercosur-Staat mit der komplexesten und gewichtigsten Produktionsstruktur als erster von der Dollarparität abging.

Bruchlinien im Mercosur

Der Streit um die Geld- und Währungspolitik ist der potentielle Bruchpunkt im Mercosur. Die Wechselkurse sind eine zentrale Determinante für Höhe und Richtung der Handels- und Kapitalflüsse wie für die Verteilung der Integrationsvor- und ¤nachteile. Zudem sind die Interessenkonstellation und Kräfteverhältnisse in der Geld- und Währungspolitik innerhalb des Mercosur unterschiedlich ausgeprägt.
Als dominante Macht scherte sich Brasilien nicht um seine Partner und wertete einseitig ab. Signifikanerweise redete Brasiliens Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso dann auch nicht als erstes mit dem ausgewiesenen Paritätsfetischisten Carlos Menem, sondern mit Uruguays Staatschef Julio Sanguinetti. Verhandelt wurde bilateral über die Krisenfolgen für die Mitgliedsländer, eine gemeinsame, hochrangig, besetzte Diskussion schoben die Mercosur-Staaten vor sich her. Mit erweiterten Kreditmöglichkeiten für die Mercosur-Exporteure bei Brasiliengeschäften kam Cardoso seinen Partnern etwas entgegen. Doch dann führte die Krise zu einem Hauen und Stechen im Mercosur. Brasilia düpierte seine Partner durch einseitige zollpolitische Maßnahmen und die Aufnahme von Verhandlungen über ein Handelsabkommen mit der Comunidad Andina, ohne seine Partner zu konsultieren. Als Begründung gab der zuständige brasilianische Staatssekretär, José Alfredo Graça Lima, an, ein Abkommen zwischen dem Mercosur und den Andenstaaten würde sich durch die divergenten Interessen Brasiliens und Argentiniens schwierig gestalten. Brasilien will für seine Industriegüter in der Andenregion freien Zugang schaffen, während es Argentinien und Uruguay eher um ihre Agrarprodukte geht. Für den obersten Verhandlungsführer Uruguays im Mercosur, Elbio Roselli, ist eine solche Politik der Alleingänge „unmöglich“.
Verschärft wurden die Konflikte im Mercosur durch die Involvierung von Spitzenpolitikern der anderen Mercosur-Staaten in die Fraktionskämpfe in Paraguays regierender Colorado-Partei. Das Umfeld Menems ist geschäftlich stark mit dem Putschisten-Militär Oviedo verbunden, ein enger Sanguinetti-Vertrauter ebenfalls mit der im jüngsten Machtkampf unterlegenen Colorado-Fraktion verbandelt. Dies blieb für die bilateralen Beziehungen zwischen Paraguay und diesen beiden Staaten nicht ohne Folgen. Menem gewährte seinem Geschäftsfreund Asyl, Uruguay erkannte die neue Regierung in Asunción zunächst nicht an. Der neue paraguayische Staatspräsident Luis González Macchi forderte seinerseits eine grundlegende Revision der Mercosur-Verträge.
Konstruktiver war der Umgang von Interessenverbänden mit der Krise. Um Schadensbegrenzung bemühten sich die Industriellenvereinigungen Argentiniens und Brasiliens. Grundsätzlicher wurden die Gewerkschaften im Mercosur. Sie suchen die Krise produktiv zu wenden und forderten in einem Gespräch mit Brasiliens Präsident Cardoso eine Demokratisierung des Mercosur. Doch scheinen die oppositionellen Kräfte derzeit zu schwach, um eine Abkehr vom liberalen Integrationsmodell durchzusetzen.

KASTEN:
In Sachen Bild:

Auf Wirtschaftsseiten spielen Fotos in aller Regel eine Nebenrolle. Oft genug liegt es daran, daß sich Redaktionen auf die Bebilderung ihrer Textbeiträge oder auf Standardmotive beschränken. In dem folgenden Wirtschaftsschwerpunkt wollen wir unsere Leserinnen und Leser nicht mit Fotos von Börsen, Bonzen und Bankern langweilen. Statt der üblichen optischen Ergänzung zum vorgegebenen Thema haben wir Bilder ausgesucht, von denen wir hoffen, daß sie für sich sprechen. Es geht nicht um eine getreue Zuordnung der Fotos zu bestimmten Ländern oder Themenbereichen. Eins ist ihnen allerdings gemein: Sie zeigen Menschen in Lateinamerika, auf dem Markt, bei der Arbeit, in alltäglichen Situationen. Die eigentlichen Subjekte jeder wirtschaftlichen Entwicklung, auch wenn sie meistens zu Objekten von Wachstums- und Profitinteressen gemacht werden.
Möglich war dieses Konzept dank der Unterstützung der Fotoagentur version. Seit längerem zeichnet sich diese in Köln und in Neukölln (für Nicht-BerlinerInnen: ein Hauptstadtbezirk) beheimatete Agentur durch sozial und politisch engagierte Fotografie aus. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den Entwicklungsländern, vornehmlich Lateinamerika. So vermittelt der Kölner Fotograf Herby Sachs auf den ersten Seiten einen visuellen Eindruck vom Leben in Mexiko, in Oaxaca und Juchitán. Jens Holst aus Berlin zeigt im Anschluß Arbeits- und Alltagssituationen in Chile sowie einen Einblick in die Lebensbedingungen von Haitianern in der Dominikanischen Republik. Last, not least, stellt uns der ebenfalls bei Köln beheimatete Fotograf Klaus Görgen einige Motive aus Kuba vor, die sich von vielen Standards der Kuba-Berichterstattung lösen und Alltagssituationen der dort lebenden Menschen zeigen.

Entspannung mit der Korkkugel

Ein bißchen mehr Show hätte ich mir von den US-Profis schon erwartet“, erklärte Nereo, ein kubanischer Baseballfan, etwas enttäuscht vom ersten Auftritt einer US-Major League-Mannschaft auf kubanischen Boden seit Ende der 50er Jahre. Zwar war es ein gutes Spiel, und vor allem die pitcher, die Werfer der lederummantelten Korkkugel, hatten einiges gezeigt, aber das erwartete große Spektakel war es in den Augen vieler KubanerInnen dann doch noch nicht. Nicht allein, weil die Kubaner mit 3:2 gegen die US-Profis verloren, sondern weil es eben nicht die denkwürdige Partie war, die sich viele versprochen hatten. Woran es lag, wußten auch hinterher die Fans nicht so recht zu erklären. „O.k., es war ein gutes, ein ausgeglichenes Spiel, aber es fehlten doch die Delikatessen, die Homeruns und auf unserer Seite eben auch einige der besten Spieler“, erklärt der 33jährige Habanero. Für das erste Aufeinandertreffen zwischen der kubanischen Nationalequipe und der Profimannschaft der Baltimore Orioles, Vorjahresvierter in der East Division der American League, wollten die Kubaner dann doch nicht ihren nationalen Spielbetrieb aussetzen, und so fand am Vorabend der Partie ein Spiel der Finalserie zwischen Santiago de Cuba und den Industriales aus Havanna statt. Logisch, daß die Stars dann 24 Stunden später nicht zum Auftritt gegen die Orioles zur Verfügung standen. Aber auch ohne einige der besten peloteros standen die Kubaner den Orioles in nichts nach – nur das Quentchen Glück fehlte den Kubanern in einer ausgeglichenen Partie im mit 50.000 Besuchern prall gefüllten Estadio Latinoamericano.

Überwindung der Hürden nach 52 Jahren

Fast alle Details bis hin zur Wahl der Schläger, ob Aluminium oder Holz, waren vorab in jahrelangen Verhandlungen geklärt worden. Eingefädelt hat das historische Ereignis der Besitzer der Orioles Peter Angelos höchstpersönlich, und im dritten Anlauf wurde sein Traum nun Wirklichkeit. Mitte Januar erhielt er gemeinsam mit einigen Repräsentanten der Major League Baseball und seinem Star-Outfielder B.J.Surhoff die Reisegenehmigung aus dem Weissen Haus und einigte sich mit den kubanischen Sportverantwortlichen in Havanna über das Procedere des wegweisenden Spiels. Damit sind die Orioles zur ersten US-amerikanischen Profimannschaft geworden, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in Kuba antritt. 1947, zwölf Jahre vor der kubanischen Revolution, hatten die Brooklyn Dodgers die Karibikinsel während der Frühjahrsvorbereitung besucht und einige Spiele gegen kubanische Teams bestritten.
Entgegenkommen sein dürfte dem Baseball-Impressario Angelos, daß in seinem Team bisher kein kubanischer Spieler unter Vertrag steht, denn die hätten sicherlich nicht die Reise in die ehemalige Heimat angetreten. Ein Grund, weshalb der spektakuläre Deal in der Major League nicht unumstritten ist.
Doch auch von kubanischer Seite wären in diesem Fall Vorbehalte zu erwarten gewesen, denn der Abgang von Spielern wie Livan Hernández oder dessen Halbbruder Orlando „El Duque“ Hernández, beides Ausnahmepitcher, hat die kubanischen Sportverantwortlichen getroffen und sie zum Umdenken veranlaßt.

Baseballfan Castro

Fidel Castro, oberster Baseballfan Kubas, machte den ersten Schritt nach langen Jahren des ideologischen Kleinkriegs zwischen den weltweit besten Baseballnationen: Ende November letzten Jahres betonte er gegenüber amerikanischen Leitartiklern, daß er kein Problem darin sehe, wenn kubanische Cracks in der US-Major League spielen würden und gutes Geld verdienen würden. Allerdings wäre es eine Schande, die auf die US-amerikanischen Gesetze zurückzuführen sei, daß diese dafür ihrem Land den Rücken kehren müßten. „Damit hat Fidel einen Kurswechsel eingeleitet und gleichzeitig den Deal mit den Orioles abgesegnet“, ist sich Jorge, ein kubanischer Baseballfan, sicher.
Politische Spielregeln
Angelos, der dank seiner großzügigen Spenden an die Parteikasse der Demokraten über beste Kontakte zum Establishment verfügt, unternahm seinen ersten Anlauf bereits 1995. Der scheiterte kläglich, als die Kubaner im Frühjahr 1996 zwei Zivilflugzeuge der Hermanos de Rescate, einer rechten exilkubanischen Organisation, im internationalen Luftraum abschossen. Auch zwei Jahre später winkten die zuständigen Stellen in Washington nur müde ab, doch im dritten Anlauf hatte Angelos den richtigen Moment abgepaßt. Er trat an die offiziellen Stellen heran, als diese gerade im Begriff waren die Embargoerleichterungen der Öffentlichkeit zu präsentieren und erhielt prompt die Erlaubnis, nach Havanna zu reisen, um den Deal einzufädeln. Der stand zwar noch lange auf der Kippe, da sich beide Seiten nicht über die Verwendung der Einnahmen einigen konnten und einflußreiche Exilkubaner gegen das Spektakel opponierten, aber letztlich erhielt Angelos dann doch grünes Licht für den Trip nach Kuba. Am 28. März konnte er Kubas oberstem Baseballfan dann im Stadion die Hand schütteln, der nach dem Ende des Spiels nur die Schultern zuckte und so die Niederlage seiner Lieblinge quittierte – es hatte nicht sein sollen.

Gewinner verschiedener Art

Ganz anders präsentierten sich die Kubaner hingegen im Camden-Yards-Stadion der Orioles in Baltimore. Weitaus besser eingestellt auf die ungewohnten Holzschläger, die in den USA im Gegensatz zu Kuba benutzt werden, wo mit Aluminium auf die Korkkugel gedroschen wird und eben mit der Crème de la Crème des kubanischen Baseballs – allerdings mit einer Ausnahme. German Mesa, legendärer Shortstop vom mehrmaligen Meister Villa Clara, hatte die Reise nach Baltimore nicht angetreten. Er war schlicht nicht berufen worden. Höchstwahrscheinlich weil er 1996 wegen illegaler Auslandskontakte im Rufe steht, die Insel verlassen zu wollen und in der US-Major League anzuheuern. Dort spielen mittlerweile zahlreiche Kubaner – nicht nur die Halbbrüder Hernández, die Meisterehren mit den Florida Marlins beziehungsweise den New York Yankees einfuhren, sondern auch Rolando Arrojo, ehemals Nationalpitcher. Allesamt sind sie bei Joe Cuba unter Vertrag, der hinter den Kulissen die Fäden zieht.
Cuba ist ein 37jähriger Spielerberater, der sich auf die Vermittlung kubanischer Baseballstars spezialisiert hat. Allein in den letzten drei Jahren hat er seinen Klienten, die sich zur Flucht ins „Baseballparadies“ USA entschieden, Kontrakte im Wert von 33 Millionen US-Dollar vermittelt. Das dickste Schnäppchen machte Cuba, der mit mindestens fünf Prozent am Geschäft beteiligt ist, mit der Unterschrift von Rolando Arrojo, der allein für seine Unterschrift unter den Vertrag sieben Millionen US-Dollar erhalten haben soll. Aber auch für Orlando „El Duque“ Hernández von den New York Yankees handelte er einen 6,6 Millionen-Dollar-Vertrag aus. Dessen Halbbruder Livan Hernández, beim Ex-Meister Florida Marlins unter Vertrag und zum wertvollsten Spieler der Finals im letzten Jahr gewählt, brachte es hingegen nur auf 4,4 Millionen US-Dollar. Aber nicht nur diese „dicken Brocken“ hat Cuba in der Major League untergebracht, sondern auch das Gros der mittlerweile knapp zwanzig Kubaner, die in den USA Baseball spielen.
Lange hat es gedauert, bis Cubas ehrgeizige Pläne, mit kubanischen peloteros sein Geld zu verdienen, Früchte trugen. Drei Jahre lang reiste er der kubanischen Nationalequipe hinterher, investierte allein 150.000 US-Dollar für Reisekosten, ohne daß einer der Stars sich dazu entschloß, sein Heimatland zu verlassen und sich von ihm „beraten“ zu lassen. Der erste, der den Weg zu Cuba fand, war Osvaldo Fernández, der im Juli 1995 Kuba verließ und vom Spielervermittler über den Umweg der Dominikanischen Republik zu den San Francisco Giants vermittelt wurde. Ihm folgte wenige Monate später Livan Hernández, über den Cuba Kontakte zu weiteren Spielern aufnahm. Cuba war denn auch in Baltimore zugegen und suchte den Kontakt zu den peloteros von der Zuckerinsel, die sich in bestechender Form zeigten.

Kubanische Größen und erfolglose Werbung

Aufgefallen sein dürften ihm Spieler wie Daniel Castro, nicht nur in der kubanischen Presse als Gigant der Offensive gelobt, oder Andy Morales, der den ersten kubanischen Homerun auf seinem Konto verbuchte. Aber auch Omar Linares, kubanische Legende am third base, Orestes Kindelan und Norge L. Vera zeigten sich in Spiellaune, und so zogen die Kubaner auf 12:3 davon. Die Orioles zeigten Schwächen in der Offensive, während die Kubaner genau dort glänzten und sich für die Niederlage auf der Insel revanchierten. Am Ende, in Erwartung des sicheren Sieges, fehlte den Kubanern ein wenig die Konzentration im mit knapp 50.000 Besuchern gefüllten Camden-Yards-Stadion, so daß die Orioles das Ergebnis mit einem Homerun zum 12:6 noch etwas freundlicher gestalten konnten.
Für Joe Cuba war seine Visite in Baltimore allerdings wenig erfolgreich. Zwar konnte er mit dem einen oder anderen Spieler nach eigener Auskunft Kontakt aufnehmen, aber keiner der Stars von der Zuckerinsel blieb in Baltimore, um sich dem Spielervermittler anzuvertrauen. Auf dem Rückweg klingelte dann das Autotelefon Cubas, aber nur ein einziger Kubaner hatte sich von seinem Team abgesetzt: Rigoberto Herrera Betancourt, ein 54jähriger Ex-Nationalspieler, der als Wurftrainer die Mannschaft begleitete, hatte um politisches Asyl nachgesucht. Die anderen sechs Kubaner, die ihren Flieger verpaßten, weil sie schlicht verschlafen hatten, waren auch nach der Befragung durch die US-Behörden willens, auf die Insel zurückzukehren.
Unterdessen bemühen sich bereits zahlreiche Clubs der USA, um in den gleichen Genuß wie die Orioles zu kommen und sich mit der kubanischen Equipe zu messen. Unter ihnen angeblich auch die New York Yankees von Orlando „El Duque“ Hernández. Der hat allerdings schon angekündigt, daß er an einem derartigen Spiel nicht teilnehmen würde – über seinen Agenten Joe Cuba.

Mord, Exil und Neubeginn

Mit der Ermordung des Vizepräsidenten Luis María Argaña am Morgen des 23. März auf offener Straße, erreichte eine politische Auseinandersetzung ihren traurigen Höhepunkt, die mit ihrer Mischung aus Korruption, Palastintrigen, Demagogie und am Ende mit Morden eher ins 19. Jahrhundert oder ein Hollywood-Script paßt. Das Attentat ereignete sich, als Argaña mit seinem Jeep auf dem Weg in sein Dienstgebäude war. Ein militärisch gekleidetes, gut organisiertes Killerkommando stoppte durch einen erzwungenen Unfall den Wagen des Vizepräsidenten, und drei maskierte Personen eröffneten aus Maschinenpistolen und anderen Handfeuerwaffen gezielt das Feuer auf Argaña. Auch ein Leibwächter wurde getötet und der Fahrer schwer verletzt. Das Tatfahrzeug wurde kurz darauf nur einige Straßen weiter brennend und von einer Handgranate zerrissen gefunden. Von den Tätern fehlt jede Spur.
Der 66jährige Vizepräsident Luis María Argaña galt als aussichtsreichster Kandidat beim Ringen um die nächste Präsidentschaft Paraguays. Die Hintergründe seines Todes sind mit Sicherheit in den politischen Verwicklungen, in die er gemeinsam mit anderen prominenten Politikern, so etwa den Ex-Präsidenten Wasmosy und Cubas Grau sowie dem ehemaligen Heereschef General Oviedo verstrickt war, zu suchen (siehe LN 297).

Die Ermordung des “guten Freundes”

Die politischen Umstände, die kaltschnäuzige Art der Anteilnahme von dem zu diesem Zeitpunkt noch amtierenden Präsidenten Cubas Grau und dem General Oviedo an dem Tod ihres „guten Freund“ Argaña ließen die Schuldfrage über die Verantwortlichkeit des Attentats in der Öffentlichkeit sehr schnell als geklärt erscheinen. Vermutlich wird man die genaue Täterschaft nie völlig aufklären, aber die Frage, wem die Ermordung Argañas am meisten nützte, läßt sich recht eindeutig beantworten.
Argaña hatte seit seiner Zeit als Vorsitzender des Obersten Gerichtshofes unter Stroessner sowie seiner politischen Karriere in der Zeit nach Stroessner viele Feinde. Auch Wasmosy könnte zu diesen zählen; als Senator allerdings genießt dieser völlige Immunität. Für die Präsidentschaft kann er laut Gesetz auch nicht zur Wiederwahl kandidieren: Er hätte also kein politisches Motiv.
Anders dagegen Cubas Grau und Oviedo, die sich zum Zeitpunkt des Mordes aufgrund eines drohenden Amtsenthebungsverfahrens in derart aussichtsloser Lage befanden, daß es für sie nichts mehr zu verlieren gab. Ein extremer politischer Befreiungsschlag in Form eines Mordes hätte für sie vielleicht noch die Rettung bringen können. Oviedo hatte bereits mehrfach gedroht, daß Ströme von Blut fließen würden, wenn sein Wille unerfüllt bliebe. Auch die nachfolgenden Ereignisse sprechen für eine Verstrickung von Cubas Grau und Oviedo in den Mord. Während das Parlament unverzüglich die Untersuchungen zum Amtsenthebungsverfahren vorantrieb, kam es auf den Straßen um den Präsidentenpalast und das Parlamentsgebäude zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern Oviedos und für mehr Demokratie demonstrierenden Jugendlichen. Daß sich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt auch über 10.000 Bauern in der Stadt befanden, war Zufall. Sie hatten Demonstrationen für gerechtere Agrarpreise geplant. Waren die Sympathien für Oviedo bereits im Februar in der Bevölkerung drastisch gesunken, erreichten sie zu diesem Zeitpunkt den Gefrierpunkt. Die Bauern, lange Zeit die treuste Anhängerschaft Oviedos, bildeten einen menschlichen Schutzwall zur Erhaltung der Demokratie um das Parlamentsgebäude. Es folgten brutale Angriffe von Oviedoanhängern auf die DemonstrantInnen, die von der Polizei nicht unterbunden wurden. Im Gegenteil, die AngreiferInnen erhielten noch Unterstützung von den Sicherheitskräften. Die vom Präsidenten herbeizitierte Armee, die mit Panzern anrückte, hielt sich zurück. Spätestens als auf ein Lichtsignal die Oviedoanhänger den Platz verließen und Heckenschützen das Feuer auf die Demonstranten eröffneten, war die politische, moralische und tatsächliche Verantwortlichkeit klar. Auch Fernsehaufnahmen identifizieren die Mörder mit den Schußwaffen in den Händen als Oviedoanhänger; die Schüsse fielen aus Büroräumen eines Oviedo nahestehenden Senators.
Die Bevölkerung reagierte mit absoluter Empörung. Das Parlament tagte inzwischen in einer Dauersitzung, die Absetzung des Präsidenten Cubas schien so gut wie sicher, unklar war jedoch noch die Haltung der Streitkräfte, deren oberste Ränge von wieder oviedotreuen Militärs besetzt sind. Nach einigen unklaren Stunden gab jedoch nach der Luftwaffe auch die strategisch wichtige, in Asunción stationierte 1. Kavalleriedivision (Panzertruppen) bekannt, loyal zum verfassungskonformen Präsidenten und damit zu einem Nachfolger von Cubas zu stehen. Damit verlor der Präsident seinen letzten Rückhalt. Cubas Grau kam mit seiner Rücktrittserklärung der nunmehr sicheren Amtsenthebung zuvor.
Auf den Straßen der Hauptstadt feierten über 150.000 Menschen den Rücktritt ihres Präsidenten als „Sieg der Demokratie“, wie auf vielen Transparenten zu lesen war. Während Cubas sich bereits unter Aufsicht der Präsidentengarde befand, ermöglichte er seinem Freund Oviedo jedoch noch die Flucht. Oviedo setzte sich unverzüglich mit 360.000 US-Dollar in den Taschen und falschem Paß per Flugzeug eines befreundeten Großgrundbesitzers nach Argentinien ab. Aufgrund des falschen Passes wurde er in Argentinien kurzzeitig festgesetzt, aber sein Bekannter, der argentinische Präsident Menem, gewährte ihm umgehend politisches Asyl.
Auch Cubas Grau sah sich zur Flucht in die brasilianische Botschaft genötigt, nachdem Haftbefehle gegen ihn ergangen waren. Die Brasilianer gewährtem auch ihm, wie schon 1989 dem Diktator Stroessner, Asyl. Obwohl beiden Exilanten von ihren Aufnahmeländern jegliche politische Betätigung untersagt ist, scheint Oviedo nur wenige Wochen nach den Ereignissen wieder politische Fühler nach Paraguay auszustrecken. Von der neuen Regierung, sowohl vom neuen Außenminister Miguel Abdón Saguier von der PLRA, als auch vom neuen Verteidigungsminister Nelson Argaña, Sohn des ermordeten Vizepräsidenten und Vertreter der Colorados, wird die Auslieferung des Exgenerals durch Argentinien, wo er nicht als politisch Verfolgter eingestuft wird, betrieben. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Paraguay und Argentinien könnten durch die Frage der Auslieferung in Zukunft beträchtlich belastet werden.

Politische Opposition in der Regierung

Unmittelbar nach dem Rücktritt von Cubas Grau wurde verfassungskonform der 53jährige Senatspräsident Luis Angel González Macchi zum neuen Staatsoberhaupt vereidigt. Er gehört ebenfalls der Coloradopartei an. Die ParaguayerInnen haben den Rücktritt von Cubas Grau und die Ernennung von González Macchi mit Freudenfesten und Feuerwerk gefeiert. Allerdings begrüßten sie so bisher jeden neuen Präsidenten.
Doch bisher steigerten sich bloß die Enttäuschungen: Während das Land sich wirtschaftlich am Boden befindet, ändert dies nichts an der Tatsache, daß sich sämtliche Präsidenten bisher als korrupt erwiesen. In seiner Antrittsrede versprach González Macchi den ParaguayerInnen ein Ende der Gewalt, kündigte aber auch an, daß die Zeit der Straflosigkeit beendet sei – eine klare Botschaft an Oviedo sowie an die Expräsidenten Cubas Grau und Wasmosy, gegen die sich die Verdachtsmomente wegen Korruption immer mehr erhärten.
Einerseits ist González Macchi ebenso wie einige der neu ernannten Coloradominister durch die Vergangenheit belastet: Er bekleidete bereits Ämter während der Stroessnerzeit. Andererseits geben erste Zeichen Anlaß zu verhaltenem Optimismus: Erstmals seit 1947 gibt es wieder vier Ministerposten, die durch die Oppositionsparteien besetzt werden, wie zum Beispiel das Amt des Außenministers. Eine Entlassungswelle in Armee und Polizei stärkten auch dort die demokratischen Kräfte. Die Oviedomilitärs, die nach dem Putschversuch 1996 entlassen und durch Cubas Grau wieder eingestellt worden waren, mußten erneut unverzüglich ihre Posten räumen. Hart ging man auch mit den Verantwortlichen in der Polizei um, die die Übergriffe der Oviedoanhänger und der eigenen Beamten auf die für Demokratie eintretenden Demonstranten ermöglicht hatten.
Zielstrebig soll mit der alle gewählten Parteien umfassenden Koalitionsregierung an die Lösung der drängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme herangegangen werden, die während der politischen Krise fast unberücksichtigt blieben. Neue Konflikte scheinen jedoch vorprogrammiert: Weitere Privatisierungen etwa werden von den Colorados abgelehnt, während die Opposition für die Weiterführung der Privatisierungspolitik zur Konsolidierung der Staatsfinanzen ist. Im Gespräch sind neue Auslandskredite in Höhe von über zwei Milliarden Dollar, um die Wirtschaft anzukurbeln und aus der Krise zu führen. Eine einhergehende Auslandsverschuldung will man als Risiko tragen.
Gestärkt werden soll vor allem auch der Agrarexportsektor, um neben der Schaffung von Beschäftigung auch schnell Devisen ins Land zu holen. Mit einer EU-Kommission hat man bereits über eine neue wirtschaftliche Zusammenarbeit verhandelt.
Allerdings zeigte sich, daß der Ämterschacher der neuen Regierungskoalition erst einmal auch die neu geweckte Euphorie schnell zum Erlahmen bringen kann. Dies gilt nicht nur für die oberste Ebene der „Koalitionsregierung der Nationalen Einheit“, sondern vor allem auch für die Jobs in den Ministerien und Staatsbetrieben. Schon gab es massive Proteste und Streikdrohungen von Coloradomitgliedern, die bei der Verteilung der Posten leer ausgegangen sind. Mit vier Ministerien an die ehemaligen Oppositionsparteien Encuentro Nacional und Partido Liberal Radical Auténtico sehen viele der Mitglieder der Colorados ihre Felle davonschwimmen. Der öffentliche Dienst war bisher ihre alleinige Domäne.
Doch die Personalstellen, derzeit von Oviedoanhängern belegt, lassen sich aufgrund der schlechten Finanzsituation nicht von heute auf morgen umbesetzen. Im Finanzministerium drohen bereits Streiks, um die vorzeitige Entlassung der OviedosympathisantInnen zu erzwingen. Bisher haben nur die Oppositionsparteien erklärt, daß es ihnen nicht primär um Ämter, sondern um die Inhalte der Regierungsarbeit geht. So wollen die Liberalen des PLRA in einem Parteitag am 11. Juli darüber entscheiden, ob sie der Koalitionsregierung weiter angehören wollen oder nicht. Die Entscheidung des Encuentro Nacional dazu steht ebenfalls noch aus.

Gewählt wird – nur was?

Sicher scheint gegenwärtig, daß am 21. November diesen Jahres Neuwahlen durchgeführt werden. Unklar ist jedoch noch, ob nur der Vizepräsident neu gewählt wird oder auch der Präsidentenposten selbst zur Disposition steht. Die Verfassung ist in diesem Punkt nicht eindeutig. Sie sieht im Artikel 234 vor, daß der Präsident vom Vizepräsidenten, vom Vorsitzenden des Senats, des Abgeordnetenhauses und des Obersten Gerichts in genau dieser Reihenfolge vertreten wird. Eine Nachwahl für den Vizepräsidentenposten ist auch nur während der ersten drei Jahre einer Legislaturperiode vorgesehen. Nach strenger Auslegung der Verfassung braucht nur der Vizepräsident neu gewählt werden. González Macchi würde danach bis 2003 Präsident Paraguays bleiben können. Die Koalitionsvereinbarung sieht übrigens vor, daß ein Politiker der Oppositionsparteien das Amt des Vize bekleiden soll. Noch haben weder VerfassungsrechtlerInnen und schon gar nicht die WählerInnen das letzte Wort gesprochen.

Politische Alternativen

Die Coloradopartei, bisher äußerst autoritär von Führern im Stile von Caudillos gelenkt, wird in der nächsten Zeit die stärksten Veränderungen durchmachen. Mit Oviedo und Cubas haben zwei der drei wichtigsten Flügel der Partei ihre Führer verloren. Wahrscheinlich wird Oviedos Bewegung UNACE in der Bedeutungslosigkeit versinken. Wie angedeutet setzt der Verdrängungsprozeß aus öffentlichen Ämtern und damit potentiellen Machtpositionen bereits im vollen Umfang ein. Zwar besitzt die UNACE noch einige Parlamentsabgeordnete, aber auch diese werden in die Isolation gedrängt. Bei der Vereidigung eines Oviedoanhängers als Nachfolgekandidat verlassen regelmäßig alle Abgeordneten ihre Plätze und das Parlament ist nicht beschlußfähig, der Eid kann nicht abgenommen werden. Ein kleiner, aber wirksamer Trick.
Der Argañaflügel der Coloradopartei wird bestehen bleiben, wer jedoch die Führung übernehmen wird, ist noch ungewiß. Im Gespräch ist Nestor Argañas, der bereits einen Ministerposten erhielt. Ebenfalls möglich wäre der Präsident der Coloradopartei, Bader Rachid Lichi. Auch im Flügel von Wasmosy brodelt es, die Korruptionsvorwürfe gegen den Expräsidenten werden immer lauter. Eigentlich besteht die Frage, was diese Partei außer Traditionsgefühl wirklich noch zusammenhält.
Falls es den beiden großen Oppositionsparteien, dem Partido Liberal Radical Auténtico und dem Partido Encuentro Nacional gelingen sollte, wieder gemeinsame Kandidaten für die Präsidentschaft zu nominieren, dürften sie dieses Mal die besten Chancen auf einen Sieg haben, obwohl das über Generationen geprägte Zugehörigkeitsgefühl zur Coloradopartei noch immer sehr stark ist: Die Partei zählte unter Stroessner weit über eine Million Mitglieder, was immerhin ein Drittel der EinwohnerInnen Paraguays entspricht.
Eine nennenswerte Partei aus dem links neben dem sozialdemokratisch ausgerichteten Partido Encuentro Nacional liegenden Spektrum ist nicht in Sicht. Paraguay wurde in den 35 Jahren unter Stroessner mit einem absoluten Antikommunismus indoktriniert, der alle links orientierten Bewegungen rücksichtslos verfolgte. Die kleineren Parteien wie der Partido Comunista Paraguayo oder der Partido Democrático Popular sind defacto bedeutungslos. Die Partei der Arbeit ist in der Gewerkschaftsbewegung aufgegangen. Konsequentester Hoffnungsträger für eine dauerhafte demokratische Entwicklung ist nur der Partido Encuentro Nacional und, abgesehen von einigen personalistischen Tendenzen auch noch der traditionelle Partido Liberal Radical Auténtico.
Neuste Umfragen im Auftrag der Zeitung ABC Color von Mitte des Monats haben gezeigt, daß die neue Regierung von Luis Angel González Macchi eine breite Unterstützung in der Bevölkerung genießt. Landesweit sind 73,2 Prozent mit der Arbeit der Exekutive einverstanden. Noch mehr, 74,2 Prozent der WählerInnen, zeigen sich mit der Art der Amtsübernahme durch González Macchi sowie der Kabinettszusammensetzung zufrieden und sehen darin eine starke Verbesserung der Situation des Landes. Würden heute Wahlen stattfinden, würde der Präsident mit 31,8 Prozent der Stimmen sein Amt behalten, abgeschlagen mit 13,4 Prozent würde der Politiker Guillermo Caballero Vargas vom Partido Encuentro Nacional folgen.
Auch die Arbeit des Parlaments wird überwiegend positiv bewertet: Immerhin 62,3 Prozent sehen die Tätigkeit der Abgeordneten als positiv an, nur 16,6 Prozent kritisieren das Parlament.
Allerdings kann sich die Gunst der WählerInnen jederzeit ändern und bis zum 21. November ist es noch lang.

KASTEN:
Wer ist wer in Paraguay

Asociación Nacional Republicana (Partido Colorado)
Gegründet: 1887
Ideologie: Konservativ, nationalistisch, personalistisch
Eingetragene Wähler: 943.759
Seit 1940 Regierungspartei

Partido Liberal Radical Auténtico
Gegründet: 1977 (geht auf den Partido Liberal von 1887 zurück)
Ideologie: liberal (als traditionelle Partei kaum Unterschiede zu den Colorados)
Eingetragene Wähler: 575.305

Partido Encuentro Nacional (Partei der Nationalen Zusammenkunft)
Gegründet: 1991
Ideologie: sozialdemokratisch, basisdemokratisch, sozial marktwirtschaftlich
Eingetragene Wähler: 130.468

Partido Revolucionario Febrerista
Gegründet: 1936
Ideologie: sozialdemokratisch
Eingetragene Wähler: 35.702

Partido Democrata Cristiano
Gegründet: 1960
Ideologie: Christlich-sozial
Eingetragene Wähler: 12.300

Partido Comunista Paraguayo
Gegründet: 1928
Ideologie: marxistisch
Eingetragene Mitglieder: unbekannt

Partido Humanista
Gegründet: 1989
Ideologie: ökologisch
Eingetragene Mitglieder: unbekannt

Partido Democrático Popular
Gegründet: 1990 (ging aus gleichlautender Bürgerbewegung unter Stroessner hervor)
Ideologie: antiimperialistisch, links, sozialistisch
Eingetragene Mitglieder: unbekannt

Exilchilenen: Leben in der DDR

Über zwei Stunden wartet die junge Chilenin in der Friedrichstraße, bis endlich ein Auto vorfährt. Zwei Männer, vermutlich von der Staatssicherheit, treten auf sie zu und schieben sie, Sekunden später, in den Wagen. Das Ziel ist unbekannt; die Fahrt erscheint unendlich lang. Nach über zwei Stunden kommen sie in Eisenhüttenstadt an. Im Hotel Lanik, der ersten Aufenthaltsstation vieler Chilenen, stehen Dolmetscher und Betreuer bereit. Die junge Frau wird noch am selben Tag ins Krankenhaus gebracht, wo am Abend ihr erstes Kind das Licht der Welt erblickt. Ihr Mann, der bereits einen Job im Dresdner Foto-Betrieb Pentacon bekommen hat, weiß nichts von der Ankunft seiner Frau. Am nächsten Morgen wird er knapp vom Abteilungsleiter informiert: „Es ist ein Mädchen.“
Bereits am 25. September 1973, zwei Wochen nach Pinochets Putsch, beschloß das DDR-Politbüro „Solidaritätsmaßnahmen“ zur Aufnahme politischer Flüchtlinge aus Chile. Die Unterbringung und Eingliederung der Emigranten lief – für DDR-Verhältnisse – relativ unbürokratisch ab. Über den FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) und das Solidaritätskomitee der DDR wurden Mittel bereitgestellt, um die Unterbringung, Betreuung und Einkleidung der Chilenen zu finanzieren. Bis Dezember 1974 flossen insgesamt 9,6 Millionen Mark, zum großen Teil aus Mitteln des FDGB, in die Eingliederungsmaßnahmen der chilenischen Flüchtlinge. So erhielt jede Emigrantenfamilie mindestens 2.500 Mark Übergangsgeld um die Zeit, bis ein Job für sie gefunden wurde, zu überbrücken. Das entsprach mehr als dem Dreifachen des durchschnittlichen Monatsverdienstes einer ArbeiterIn in der DDR. Zur Einrichtung von Wohnungen gewährte der Staat langfristig zinslose Kredite, die in sehr niedrigen Raten (5% des Nettoeinkommens) abzuzahlen waren (Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Zentrales Parteiarchiv [SAPMO, BArch-ZP], Sign.-Nr. DY 301 IV B 2/20/201).
Die ersten zwei Monate verbrachten die chilenischen Neuankömmlinge zunächst in größeren Sammelstellen, meist Hotels oder FDGB-Ferienheimen, wo sie medizinisch betreut und ihre Papiere in Ordnung gebracht wurden. Danach teilte man sie auf die verschiedenen Bezirke, wie Halle, Dresden, Gera, Suhl, Cottbus, Leipzig und Rostock auf. Dort hatten die Bezirksräte die unpopuläre Aufgabe, Wohnungen und „zumutbare“ Jobs für die Emigranten zu finden. Das Erste war angesichts chronischer Wohnungsnot und dementsprechend langer Wartelisten von Wohnungssuchenden ein besonders delikates Unterfangen. Von oben hieß es, die Chilenen müßten bei der Bereitstellung von Wohnungen unbedingt bevorzugt werden – so schrieb es die internationale Solidarität vor.
Aber der „normale“ DDR-Bürger war diesbezüglich weniger einsichtig und ließ hin und wieder seinen Unmut über die „Wohnungsräuber“ freien Lauf. Sonia Cifuentes, Emigrantin und ehemals Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes in Chile erzählt: „Ich arbeitete am Fließband in der Endfertigung bei Pentacon. Eine Frau neben mir warf mir immer böse Blicke zu und sagte etwas zu mir, das ich nicht verstand. Später erfuhr ich, daß sie mir vorwarf, den Leuten in der DDR die Wohnungen wegzunehmen und mir riet, doch wieder nach Chile zurückzukehren.“ Derartige Kritik erfuhr jedoch schnell einen Dämpfer von oben – und Ruhe war.
Hin und wieder gab es auch Prügeleien zwischen chilenischen und deutschen Arbeitern, aus ähnlichen Gründen. Aber irgendwann hörten die Feindseligkeiten auf. „Als wir die DDR-Arbeiter besser kennenlernten, merkten wir, Arbeiter sind überall auf der Welt gleich. Nur deutsche Arbeiter können nicht tanzen,“ fügt Sonia amüsiert hinzu.
Aggressive Ausländerfeindlichkeit kam aber auch deshalb nicht auf, weil die Zahl der Emigranten relativ gering war. Im April 1975 lebten knapp 1.000 chilenische Flüchtlinge in der DDR, wovon – nach Angaben des Politbüros – ca. 880 bereits Arbeit und Wohnung hatten. Fast ein Drittel von ihnen waren Mitglieder der KP bzw. des Kommunistischen Jugendverbandes. Daneben waren etwa 130 Mitglieder des Sozialistischen Jugendverbandes und die Führung der Sozialistischen Partei in die DDR emigriert. Der Rest gehörte der Radikalen Partei, linken Splittergruppen (MAPU, MIR) oder keiner politischen Gruppierung an.

Aller Anfang ist schwer

Für viele chilenische Flüchtlinge bedeutete das Asyl in der DDR eine radikale Veränderung ihres Lebens. Während der ersten Jahre glaubten die meisten, bald zurückkehren zu können. „Wir lebten ständig mit gepackten Koffern hinter der Tür.“ Diese dauerhafte Aufbruchsstimmung wurde bis 1978 auch von den chilenischen Parteiführungen geschürt, die sich in der DDR zum Antifaschistischen Chile-Komitee, einer Art kleinen Unidad Popular im Exil, zusammengeschlossen hatten. Das Komitée, insbesondere die KP, orientierte die Emigranten nur auf einen kurzfristigen Aufenthalt und warb für eine schnelle Rückkehr nach Chile, um in den Reihen des Volkes gegen Pinochets Diktatur zu kämpfen. Einige kamen den Aufforderungen, ihren Ideen doch Taten folgen zu lassen, nach. Viele aber kostete die Rückkehr in ihre Heimat das Leben.
Innerhalb des DDR-Politbüros gab es verhaltene Kritik an den Aufbruchsermutigungen der KP-Führung. Schließlich war die Eingliederung der Emigranten mit einem erheblichen finanziellen und organisatorischen Aufwand verbunden. Chilenische Studenten brachen ihr Studium oder ihre Ausbildung ab, um den Aufforderungen der KP nachzukommen. Einige wollten gar nicht erst Deutsch lernen, weil sie eine „Germanisierung“ befürchteten (SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. DY 301 IV B 2/20/102). In der Basis der Kommunistischen Partei erweckte die Schieberei lukrativer Studienplätze unter emigrierten Mitgliedern der KP-Führung Unmut und Verdrossenheit.
Trotz einiger argwöhnischer Blicke in Richtung innere Angelegenheiten der Emigranten, enthielt sich die SED-Führung jedoch jeglicher Einmischung. Ihre Verantwortung endete da, wo die sozialen Belange der Chilenen einigermaßen befriedigt waren. Unstimmigkeiten politischer Natur hatten sie unter sich zu lösen.
Ein weiteres Problem für die Chilenen war die völlige Umstellung ihrer sozialen Gewohnheiten. Zunächst mußte sich die Mehrheit der Emigranten mit Hilfsarbeiterjobs und einem Monatsverdienst von 400 bis 600 Mark zufriedengeben, ein Gehalt das einen bescheidenen Lebensstandard, aber auch nicht mehr, sicherte. „Die verschiedensten Leute vom einfachsten Arbeiter, gefolterten Gefangenen bis hin zum Wissenschaftler kamen in die DDR. In Cottbus zum Beispiel, waren die Massen der emigrierten Arbeiter untergebracht. Aber die Mehrheit der Emigranten waren Studenten, Akademiker, Rechtsanwälte, Lehrer, Ärzte. Mindestens 90% der Leute hatten ein Abitur,“ erklärte Sonia. Am schwersten fiel es jedoch emigrierten Bürgerlichen, wie zum Beispiel dem ehemaligen Justizminister der Allende-Regierung, und Künstlern, in der DDR Fuß zu fassen. Erstere vermißten die Standards gehobener gutbürgerlicher Lebensweise. Die KünstlerInnen, hauptsächlich in Rostock angesiedelt, kamen wahrscheinlich mit der Kultur des sozialistischen Realismus und der künstlerischen Enge in der DDR nicht zurecht. Einige kapitulierten schließlich vor der Realität einer Gesellschaft, die sie in Chile besungen hatten; sie zogen dem lieber das kapitalistische, aber an künstlerischen Freiheiten weit mehr bietende Frankreich, ja sogar Venezuela und Peru vor.

Und heute?

Nach dem Mauerfall herrschte unter den DDR-Chilenen Verwirrung gepaart mit Aufbruchsstimmung – Aufbruch in eine Heimat, die vielen über die Jahre hinweg politisch fremd geworden war. Die meisten kehrten Anfang der 90er Jahre zurück. Andere wiederum hatten sich an die Beschränkungen, die Ecken und Kanten der DDR gewöhnt, eine mehr oder weniger bescheidene Karriere gemacht und eine neue Heimat gefunden. Mit der Wiedervereinigung wurde ihnen nun plötzlich auch diese, wie ein Teppich unter den Füßen, weggezogen. Trotzdem kam ein Zurück nach Chile nicht in Frage. Sonia erzählt offen: „Als die Mauer fiel, habe ich geheult, denn ich wußte ja, was nun kommen würde. Ich hatte den Kapitalismus in Chile noch gut in Erinnerung. Meine schöne heile Welt war zusammengebrochen.“
Am belastendsten war zunächst die juristische Unsicherheit. Viele fürchteten, ausgewiesen zu werden. Nachdem sich das antifaschistische Chile-Komitee aufgelöst hatte, gründeten die im Osten Berlins verbleibenden Chilenen im November 1991 den Verein „Gabriela Mistral,“ der ihnen Rechtsbeistand in Sachen Aufenthaltsgenehmigung bot. In Rostock bildete eine kleine Gruppe von Chilenen den Arbeitskreis TALIDE, eine Organisation, die sich für Entwicklungsprojekte in Chile engagiert.
Heute leben noch rund 6.700 Chilenen in der gesamten Bundesrepublik. Die meisten sind auf ihrer jeweiligen Seite der ehemaligen Mauer geblieben. Die unterschiedlichen Erfahrungen, die Ost- und Westchilenen während des Exils sammelten, haben neue, voneinander verschiedene Identitäten geformt. Während viele in der DDR gebliebenen Chilenen ihre Exilzeit, wenn auch mit Abstrichen, überwiegend positiv beurteilen – viele schätzen noch heute die Ausbildungsmöglichkeiten in der DDR – klagen einige Westchilenen über die geringen beruflichen Chancen, die ihnen das Leben im Exil zuweilen sehr schwer machten. Hin und wieder fiel dann auch ein neidendes Wort über die „privilegierten“ Schwestern und Brüder im Osten. „Die beiden verschiedenen Systeme haben uns stärker geprägt als unsere gemeinsame Vergangenheit in Chile,“ erklärt Manuel Huertas, Präsident von „Gabriela Mistral.“ „Wir sind inzwischen mehr mit der DDR als mit Chile verwachsen. Einige von uns waren seit ihrer Ausreise nach dem Putsch nie wieder dort.“ Und schmunzelnd fügt er hinzu, daß unter den Berliner Ostchilenen, wie in der DDR eben, weit mehr Solidarität und Zusammenhalt herrsche als unter den „Wessis.“ Heute sind die aufreibenden Streitereien der Nachwendezeit beigelegt, die erhitzten Gemüter beruhigt, man lernt miteinander umzugehen, spricht höflich voneinander und lebt nach wie vor jeder auf seiner Seite der ehemaligen Mauer.

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