ARGENTINIEN KOMMT AUS DEN TURBULEZEN NICHT HERAUS

Mächtige Strippenzieherin Die Vizepräsidentin Cristina Kirchner polarisiert in Argentinien (Foto: Vitalis Hirschmann via Flickr, CC BY-NC 2.0)

Lange stellte sich in Argentinien die Frage, welcher nicht-peronistische Präsident als erster das Ende seiner Amtszeit erreicht. Erst dem neoliberalen Mauricio Macri gelang das, als er am 10. Dezember 2019 an Alberto Fernández übergab, der ihn an den Wahlurnen geschlagen hatte. Was Macri schaffte, war keinem Nicht-Peronisten seit Juan Peróns Wahlsieg 1946 vergönnt. Dessen Erbe wird von rechts bis links bis heute rund um die peronistische Gerechtigkeitspartei PJ reklamiert.

Nun stellt sich erstmals die Frage ob eine peronistische Regierung das Ende ihrer Amtszeit erlebt, die turnusmäßig bis zum 10. Dezember 2023 währt. Die Mitte-links-Regierung von Alberto Fernández ist in schweren Gewässern. Der argentinische Winter zeigte das mehr denn je und ob der angebrochene Frühling Besserung bringt, ist äußerst ungewiss.

Die Regierung von Alberto Fernández war von Anfang an ein breiter Kompromiss. Auf Initiative der Ex-Präsidentin Cristina Kirchner wurde ein Dreierbündnis von links bis rechts geschmiedet. Die linke Cristina ließ dem Zentristen Alberto Fernández den Vortritt und kandidierte „nur“ als Vize, Fernández konnte den Rechtsperonisten Sergio Massa ins Wahlkampfboot holen und stellte ihm den Vorsitz des Abgeordnetenhauses in Aussicht. Massa war 2015 maßgeblich mitverantwortlich für die Spaltung des peronistischen Lagers in zwei Blöcke und verhalf damit Macri indirekt zum Sieg.

Der Kompromiss wurde mit dem Wahlsieg belohnt. Doch den Burgfrieden über die gesamte Wahlperiode zu halten, gestaltete sich in der durch die Corona-Pandemie verschärften Wirtschaftskrise zunehmend als schwierig. Stein des Anstoßes aus Sicht von Cristina Kirchner war vor allem der von außen geholte Wirtschaftsminister Martín Guzmán, dem der peronistische Stallgeruch abging. Das Abkommen, das der Ökonom, der früher unter anderem an der New Yorker Columbia University tätig war, mit dem verhassten Internationalen Währungsfonds (IWF) im Januar 2022 schloss, mit dem die neuerliche Zahlungsunfähigkeit Argentiniens vorerst abgewendet werden konnte, stieß bei Cristina Kircher und ihren Anhänger*innen auf keine Gegenliebe. Argentinien ist mit 44 Milliarden Dollar (derzeit etwa 44 Milliarden Euro) beim IWF verschuldet – aufgenommen hatte diesen Kredit 2018 Expräsident Mauricio Macri. Ohne die Zustimmung der Opposition um Macri Mitte März 2022 hätte das Abkommen mit dem IWF den Senat nicht passiert, da der linke Kirchner-Flügel der Regierungspartei Frente para todos dagegen stimmte und damit die Regierungskrise verschärfte.

Alberto Fernández hatte einst als viel beachteten Coup den wissenschaftlich renommierten Guzmán als Wirtschaftsminister geholt. Politische Ränkespiele waren dessen Sache nicht. Guzmán warf schließlich entnervt von wiederkehrenden Angriffen der Anhänger*innen der Vizepräsidentin Anfang Juli die Brocken hin. Seine Kritiker*innen vom linken Flügel der peronistischen Partei warfen ihm Übereifer bei den Plänen zur Reduktion des Haushaltsdefizits vor. Eine Regierungsquelle, die anonym bleiben wollte, erklärte der Nachrichtenagentur Reuters, Guzmáns Rücktritt sei darauf zurückzuführen, dass er keine politische Unterstützung für seine Agenda erhalten habe. Guzmán selbst schwieg sich über den Grund für seinen Rücktritt aus, doch sein anschließender Appell sprach Bände: Präsident Fernández solle die Konflikte innerhalb der regierenden Mitte-links-Koalition beheben, damit der nächste Minister nicht mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen habe wie er selbst. Der nächste Minister war eine Ministerin: Silvia Batakis, eine Vertraute von Cristina Kirchner. Sie war von 2011 bis 2015 Wirtschaftsministerin der bevölkerungsreichsten Provinz Buenos Aires und steht der kirchnernahen Organisation La Cámpora nahe, die von Cristinas Sohn Máximo 2006 gegründet wurde.

„Das ist das Schlimmste, was seit der Wiederherstellung unserer Demokratie passiert ist“

Was nach einem Durchmarsch der wirtschaftspolitischen Positionen von Cristina Kirchner aussah, entpuppte sich als kurze Episode im innerperonistischen Machtkampf. Batakis hielt sich nur 24 Tage im Amt. Einen Tag nach ihrem Antrittsbesuch beim IWF in Washington wurde ihre Absetzung beschlossen. Der Streit um die Ausrichtung der Finanz- und Wirtschaftspolitik war auch nach Guzmáns Rückzug munter weitergegangen. Schließlich wurde es den mächtigen Provinzgouverneuren zu bunt. Mit Nachdruck verlangten sie eine Einigung und eine Kabinettsumbildung. Und sie bekamen ihren Willen: Neuer Wirtschaftsminister mit zusätzlichen Kompetenzen, wie sie Guzmán gefordert hatte, wurde Sergio Massa, der Dritte aus dem Dreierbündnis von 2019. Neben Wirtschaft umfasst sein Super-Ministerium die zuvor eigenständigen Ressorts Produktion und Landwirtschaft. Dass der Minister für Produktion Matías Kulfas Anfang Juni entlassen wurde, nachdem er Cristina Kirchner öffentlich dafür kritisiert hatte, eine Anpassung der Gas- und Strompreise zu blockieren, kam ihm beim neuen Ressortzuschnitt zupass.

Massa machte bei der Vorstellung seiner Leitlinien dann klar, dass er beim Sparen auf den Pfaden Guzmáns wandeln wolle. Seine erste Priorität gilt der Reduzierung des primären Haushaltsdefizits – jenes ohne Berücksichtigung des Schuldendienstes aus Zins und Tilgungszahlungen. Es soll wie Guzmán es mit dem IWF vereinbart hat, auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gesenkt werden. Derzeit liegt es bei drei Prozent – und würde damit den EU-Maastricht-Regeln genügen, nicht aber dem IWF.

Massa will die Einsparungen vor allem über eine zielgerichtetere Subventionierung der Energiepreise erreichen, die durch die infolge des Ukraine-Krieges gestiegenen globalen Energiepreise den Staatshaushalt stärker belasten denn je. Ab August hat die Regierung unter Massas Anleitung eine „Tarifsegmentierung” eingeführt, so dass die kaufkräftigere Bevölkerung nicht mehr in den Genuss von Subventionen kommt, die bis dahin seit der Krise 2001 von allen in Anspruch genommen werden konnten und wurden.

Massa will auch eine Obergrenze für den subventionierten Energieverbrauch pro Haushalt einführen und kündigte an, dass ab September auch der Wasserverbrauch segmentiert werden soll. Nur noch Grundkontingente werden subventioniert, Vielverbraucher müssen teuer ihren Mehrverbrauch selbst finanzieren. Laut Massa wird der Staat mit diesen Maßnahmen „500 Milliarden Pesos pro Jahr einsparen”. Das entspricht etwa den 0,5 Prozent des BIPs, um die das Haushaltsdefizit gesenkt werden muss.

Die Kirchner-Vertraute Silvia Batakis hielt sich nur 24 Tage im Amt

Ob die Rechnung aufgeht, bleibt offen. Massas Ankündigungen stießen nicht auf ungeteilte Zustimmung. Am 17. August zogen Hunderttausende Demonstrant*innen in Buenos Aires zum Parlament. Aufgerufen hatten Gewerkschaftsverbände und verschiedene politische und soziale Organisationen. Sie fordern die Anpassung von Löhnen, Renten und Sozialhilfen an die Inflation. Die Demonstration richtete sich nicht explizit gegen die Regierung, forderte von ihr jedoch eine „entschiedene Politik zugunsten der schwächeren Teile der Gesellschaft und gegen die konzentrierten Wirtschaftsgruppen“.

Überlagert wurden die Proteste nur wenige Tage später durch die Korruptionsanklage gegen Cristina Kirchner. Am 22. August forderte die Staatsanwaltschaft zwölf Jahre Haft wegen angeblicher Korruption. Kirchner genießt Immunität und ob das Bundesgericht der Staatsanwaltschaft folgt, ist auch noch nicht ausgemacht, aber in Argentinien kochen seitdem die Emotionen hoch. Direkt nach dem Verdikt der Staatsanwaltschaft zogen Gegner*innen von Kirchner vor ihr Haus im gehobenen Stadtvierel Recoleta, wo auch die Grabstätte der Ikone Evita Perón liegt, um sie zu beschimpfen. Ihre zahlreichen Anhänger*innen reagierten prompt, strömten ihrerseits zu ihrem Haus und halten seitdem ununterbrochen eine Mahnwache ab. Ihr Motto: „Wenn sie Cristina anfassen, werden sie Aufruhr ernten.“

Aus dieser Menge heraus hat am 1. September der Attentäter, der von der Bundespolizei als Fernando Andre Sabag Montiel, ein 35-jähriger Brasilianer, identifiziert wurde, agiert. Nach Angaben der Polizei war er bereits wegen Waffenbesitzes vorbestraft. Er gilt als bekennender Rechtsradikaler. Und es war denkbar knapp: Nur die Ladehemmung der Pistole rettete Cristina Kirchner das Leben. Ein Kopfschuss aus nächster Nähe, wie ihn der Attentäter – von Fernsehkameras dokumentiert – versuchte, ist in der Regel tödlich. Zur Befriedung der Lage wird das missglückte Attentat kaum beitragen.

Friedlich blieb der Tag darauf, den die Regierung zum freien Tag erklärte, um der Bevölkerung die Teilnahme an den Kundgebungen zu ermöglichen. Auf der Plaza de Mayo versammelten sich viele Tausend Menschen, um Cristina Kirchner ihre Solidarität zu bekunden und ein Ende der politischen Gewalt einzufordern. Das tat noch am Tag des Attentats auch Präsident Alberto Fernández. „Das ist das Schlimmste, was seit der Wiederherstellung unserer Demokratie passiert ist“, sagte das Staatsoberhaupt in einer aufgezeichneten Botschaft, die gegen Mitternacht gesendet wurde. „Cristina bleibt am Leben, weil die Waffe, die fünf Kugeln enthielt, aus einem technisch noch nicht bestätigten Grund nicht abgefeuert wurde, obwohl sie ausgelöst worden war“, sagte er. Er rief dazu auf, keine weitere Minute zu verschwenden, um „Gewalt und Hass aus dem politischen und medialen Diskurs zu verbannen.“ Wenigstens die zerstrittenen Peronisten könnte dieses Attentat wieder zusammenrücken lassen. Für ganz Argentinien ist das kaum zu erwarten.

// UNSICHERHEIT VON OBEN BIS UNTEN

Sicherheit ist in Haiti trügerisch. „Ich bedanke mich beim Chef der Sicherheitseinheit des Nationalpalastes. Das Ziel dieser Leute war ein Attentat auf mein Leben. Dieser Plan wurde vereitelt.“ Allzu viele nahmen dem haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse am 7. Februar 2021 diese Geschichte nicht ab, auch wenn 23 potenzielle Attentäter präsentiert wurden. Ein neuer Trick zum Machterhalt, um sich ein weiteres Jahr Präsidentschaft zu sichern, vermuteten viele.

Am 7. Juli 2021 hatte Moïse weder Grund noch Zeit, um seinem Sicherheitschef Dimitri Herard zu danken. Angeblich sieben bewaffnete kolumbianische Söldner stürmten die Residenz des Präsidenten, das Sicherheitspersonal schaute zu. „Operation der DEA, alle runter!“ Dass sich Herard und seine Sicherheitskräfte allein davon zur Untätigkeit bewegen ließen, ist kurios. Ein paar der Söldner informierten nun die haitianischen Ermittler darüber, ihnen sei gesagt worden, es gehe darum, Moïse festzunehmen und der US-Anti-Drogenbehörde DEA zu übergeben.

Fest steht: Haiti erlebt unsichere Zeiten. Seit Juni wurden laut UN allein in der Hauptstadt Port-au-Prince 15.500 Menschen wegen Bandenkriegen zur Flucht gezwungen. Ebenfalls steht fest: Der 53 Jahre alte Staatschef ist in der Nacht zum 7. Juli in seiner Residenz überfallen und erschossen worden. Seine Ehefrau wurde schwer verletzt. Insgesamt waren laut Polizeiangaben 26 kolumbianische Söldner und zwei US-Amerikaner haitianischer Herkunft an der Mord-Operation beteiligt. Die DEA weist jede Verantwortung von sich, keiner habe in ihrem Auftrag gehandelt.

Der Anschlag gegen den umstrittene Moïse, der gerade einmal von 600.000 der 11 Millionen Haitianer*innen gewählt wurde, ist der neueste Ausdruck der Privatisierung der Sicherheit. Gegen seinen Sicherheitschef Herard, seinerseits Eigentümer einer privaten Sicherheitsfirma, ermittelten US-Behörden bereits wegen Waffenschmuggels in den USA und Haiti. Inzwischen ist er auch im Zusammenhang mit der Ermordung von Präsident Moïse festgenommen worden. Seit dem Erdbeben 2010 wurde Haitis Sicherheit weitgehend privatisiert. Ein Staat im Staate, ein Sicherheitskomplex mit beträchtlichen Mitteln. Privatarmeen spielen darin eine so große Rolle, dass sie offenbar auch einen Präsidenten töten können.

Seit dem 7. Juli hat Haiti nun zwei Ministerpräsidenten. Der Interims-Premierminister und Außenminister Claude Joseph wurde anfangs von der internationalen Gemeinschaft als Regierungschef stillschweigend akzeptiert, obwohl Moïse kurz vor seinem Tod mit Ariel Henry schon einen Nachfolger für Joseph ausgerufen hatte, dem die Vereidigung noch bevorstand. Auch er will an die Schalthebel der Macht. Die Core Group ermutigte inzwischen nachdrücklich den Ex-Innenminister Henry, eine „konsensuelle und inklusive“ Regierung zu bilden.

Joseph hat bisher Polizei und Militär hinter sich. 2004 war er in die Absetzung des gewählten Präsidenten Jean-Baptiste Aristide involviert. Federführend waren damals die Ex-Kolonialmacht Frankreich und die Hegemonialmacht USA. Der kolumbianische Rundfunksender Caracol hat Joseph mit Berufung auf die Ermittelnden als Hauptverdächtigen ausgemacht, was Haitis Interims-Polizeichef Léon Charles brüsk zurückwies.

Für Sicherheit sollte seit 2004 theoretisch auch die UN-Mission Minus­tah sorgen. Ihr Hauptfokus: die Straßengangs in den Armenvierteln. Die Bewohner*innen der Viertel gelten als Unsicherheitsfaktor, Teilhabe an der Gesellschaft ist für sie nicht vorgesehen.

Was Haiti weiterhin fehlt sind Sicherheit und Perspektiven. 80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht nur einen Regierungswechsel, sondern eine grundlegende Reform von Staat und Gesellschaft. Die sogenannte Core Group, in der unter anderem die UN, die USA, Kanada, Frankreich und auch Deutschland vertreten sind, unterstützt die Forderungen der Zivilgesellschaft nicht. Und das, obwohl diese Forderungen mehr als legitim sind: Zugang zu öffentlichen Gütern, freie Wahlen, Sicherheit. Die Haitianer*innen fragen sich, warum ihnen das verwehrt bleibt. Diese Antwort bleibt Ihnen die Core Group weiterhin schuldig.

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