La Madre de todas las marchas

Die Vereinigung Madres de Abril Protest am ersten Jahrestag des Muttertagsmassakers (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr , CC BY 2.0)

In LN 587 (Mai 2023) haben wir einen Beitrag („La Madre de todas las marchas“) abgedruckt, mit dessen Aussagen wir zum Teil nicht übereinstimmen. Insbesondere trifft das auf den ersten Satz des Artikels zu, der weder historisch korrekt ist noch in unsere kritisch-solidarische Berichterstattung zu Nicaragua passt. Den Fehler haben wir uns zu großen Teilen selbst zuzuschreiben. Aufgrund von mangelnder Zeit und ungründlicher Prüfung durch die LN-Redaktion im Vorhinein haben wir nicht die nötige journalistische Sorgfalt walten lassen. Dafür möchten wir uns bei unseren Leser*innen entschuldigen. In Absprache mit de*r Autor*in bringen wir den Beitrag online ohne besagten ersten Satz.

Daniel Ortega, der Präsident Nicaraguas, regierte seit der Sandinistischen Revolution 1979 und ist nach einer Unterbrechung seit 2006 wieder durchgehend im Amt. Die Unterstützung seiner Regierung durch das Volk verlor er jedoch spätestens am 19. April 2018, als man begann, Widerstand gegen die Reform des Sozialversicherungssystem (INSS) zu leisten. Die Proteste gingen mit Machtmissbrauch und Gewalt einher, nicht nur direkt von Ortega aus, sondern auch durch die Hand der Polizei und durch Regierungsunterstützer*innen, die die Bevölkerung zum Schweigen bringen und die Proteste unterdrücken wollten. Von da an wehrte sich die Bevölkerung, insbesondere viele Studierende, in Form von Protesten, Demonstrationen und Barrikaden gegen die Regierung. Seit Beginn der Proteste 2018 durchläuft Nicaragua eine sozialpolitische Krise, die viele Tote und viele Mütter ohne Kinder hinterließ. Der Muttertag spielt für die Bevölkerung dabei eine besondere und historisch tragische Rolle.

Die Vereinigung Madres de Abril Protest am ersten Jahrestag des Muttertagsmassakers (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr , CC BY 2.0)

In Nicaragua wird der Muttertag, anders als in anderen Ländern, am 30. Mai gefeiert. Das Datum wurde 1940 von dem damaligen Diktator Anastasio Somoza Garcia festgelegt, der den Muttertag auf den Geburtstag seiner Mutter legte. Am 10. Mai 2022 erklärte das Ortega-Murillo-Regime den Muttertag zum gesetzlichen Feiertag, 20 Tage vor seiner Begehung. Jedoch gibt es seit 2018 keinen Grund mehr zum Feiern. Stattdessen ist der Muttertag zum Tag der Trauer und des Gedenkens geworden. Am 30. Mai 2018 fand ein Massenaufstand der Opposition statt, der unter dem Namen „La madre de todas las marchas“ (dt: Die Mutter aller Protestzüge) bekannt wurde und sich zu einem Blutbad entwickelte. Es versammelten sich zwischen 500.000 und einer Million Demonstrierende in den Städten Estelí, Chinandega, Masaya und der Hauptstadt Managua. Die Demonstration wurde bewusst am Muttertag begangen, da zentrales Element die Forderung nach Gerechtigkeit der ungefähr 83 Mütter war, die ihre Kinder während der vorangegangenen Aufstände durch die Hände der Ortega-Murillo-Diktatur verloren hatten. Sie wollten an diesem Tag nicht feiern, sie gingen stattdessen auf die Straße, um Veränderung und Aufarbeitung zu fordern.

Mörtel und Steine als Verteidigung gegen Schüsse auf Demonstrierende

Doch auch diese Demonstration endete gewaltvoll: 15 Nicaraguaner*innen wurden getötet, weitere 199 Personen wurden schwer verletzt. Die nationale Polizei und Paramilitärs verwendeten die Scharfschützengewehre Dragunov (SVD) und AK 47/52 gegen die protestierende Bevölkerung. Der Protest wurde zu einem Massaker. Die Geschehnisse wurden live in den sozialen Medien übertragen, wodurch nachvollziehbar wurde, wie die Menschen sich mit Mörtel und Steinen gegen die Schüsse und Kugeln verteidigen mussten. Laut Aussagen von Demonstrant*innen und verschiedenen Aufnahmen im Internet griffen die Schocktruppen den Demonstrationszug in mehreren Schüben an und zielten bewusst auf Köpfe und Brust der Teilnehmer*innen, sodass einige der Opfer sofort starben, während andere es noch bis ins Krankenhaus schafften, dort jedoch ihren Verletzungen erlagen.

Während der Präsident leere Worte verkündete, versammelten sich die Demonstrant*innen mit Plakaten mit Botschaften wie „Wir sind lebende Tote, weil sie unsere Kinder töten“, „Lass doch deine Mutter kapitulieren, denn wir tun es nicht“, „Da die Regierung es nicht schafft, ihre Ideen in unsere Köpfe zu setzen, setzt sie gegen uns Kugeln ein“ oder „Weder Resignation noch Vergeben noch Vergessen, Gerechtigkeit für die Mütter!“. An diesem 30. Mai sind es fünf Jahre seit dem Massaker, das nach wie vor straflos und unaufgearbeitet bleibt. Die Nicaraguaner*innen werden weder vergessen noch vergeben. In vielen Herzen besteht weiterhin die Hoffnung, dass die Ortega-Murillo-Diktatur für ihre Taten bestraft wird. Auch an diesem Muttertag wünschen wir uns keine Geschenke, sondern ein freies Nicaragua.

STRAFLOSIGKEIT UND WENIG HILFE

Vermisst: Chilen*innen suchen noch immer nach ihren in der Colonia ermordeten Angehörigen / / Foto: Zazil-Ha Troncoso, wikimedia, (CC BY-SA 4.0)
Es war ein herber Schlag für die Opfer: Am 6. Mai 2019 gab die Staatsanwaltschaft Krefeld bekannt, dass das Verfahren gegen Hartmut Hopp eingestellt wird. Nach fast acht Jahren Ermittlungen seien „weitere erfolgsversprechende Ermittlungsansätze nicht mehr vorhanden“, auch wären einige Taten mittlerweile verjährt, so die Begründung von Oberstaatsanwalt Axel Stahl. Der heute 75-jährige Hartmut Hopp war enger Vertrauter des Sektenführers Paul Schäfer und leitete das Krankenhaus, in dem Patient*innen zum Teil zwangssterilisiert, mit Schlägen und Elektroschocks gefoltert oder durch Psychopharmaka für die tägliche Arbeit in der Colonia gefügig gemacht wurden. Auch war Hopp derjenige, der die von Deutschen in Chile gegründete Sektensiedlung nach außen repräsentierte und die Kontakte zum Pinochet-Regime pflegte. In Chile wurde Hopp 2011 zu einer fünfjährigen Haftstrafe wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch von Kindern verurteilt. Wie auch weiteren Colonia=Führungsmitgliedern gelang es ihm jedoch, vor dem drohenden Strafvollzug nach Deutschland zu fliehen.
Die Ersuche Chiles, Hopp auszuliefern oder die Haftstrafe in Deutschland antreten zu lassen, wurden von der deutschen Justiz abgelehnt. Die konkreten Vorwürfe gegen Hopp, die seit 2011 in Krefeld untersucht wurden, umfassten die Beteiligung am Mord von drei chilenischen Oppositionellen, Beihilfe zu Sexualstraftaten sowie gefähr- liche Körperverletzung.

Viele Zeug*innen wurden niemals vernommen, sondern ignoriert

Hartmut Hopp war das letzte Führungsmitglied der Colonia Dignidad, gegen das in Deutschland noch Ermittlungen liefen. Und so war das Verfahren wahrscheinlich die letzte Chance, die Verbrechen der Colonia Dignidad in Deutschland nicht nur mit Worten zu verurteilen.
Hinter der Einstellung von Hopps Verfahren steht bezeichnenderweise eine ganze Reihe von langwierigen und erfolglosen Ermittlungen: Auch die Verfahren gegen Reinhard Döring und weitere führende Köpfe der Sekte waren ergebnislos eingestellt worden (s. LN 465/536). Kein einziges Mal wurde in Deutschland Anklage gegen eines der Colonia-Führungsmitglieder erhoben. Dies macht die Bundesrepublik für sie zu einem sicheren Hafen der Straflosigkeit, in dem sie ungestört ihren Lebensabend verbringen können.Jan Stehle, Experte für die Colonia Dignidad beim Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile und Lateinamerika (FDCL), nennt die Straflosigkeit „unglaublich frustrierend“. In einer gemeinsamen Presseerklärung von Stehle, Andreas Schüller vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und der Opfer-Anwältin Petra Schlagenhauf werfen sie der Krefelder Staatsanwaltschaft unzureichende Ermittlungen vor. Viele Zeugen, die für eine Aussage bereit gewesen wären, seien niemals vernommen, sondern schlicht ignoriert worden. Dem Vorwurf der Körperverletzung mit Psychopharmaka sei zudem nicht genug nachgegangen worden. Anwältin Schlagenhauf kündigte bereits Beschwerde gegen die Einstellung an, doch die Aussichten sind wenig erfolgsversprechend.

Quelle: Interpol

Auch bei der UN stieß der Umgang der deutschen Justiz mit den Colonia-Dignidad-Verbrechen auf Kritik. Der UN-Antifolterausschuss bekundete in seinem sechsten periodischen Bericht zu Deutschland ernsthafte Besorgnis, dass die derzeitige Situation Straflosigkeit begünstige. Für die Opfer und ihre Angehörigen ist Hopps Fall eine bittere Enttäuschung. Fassungslos zeigte sich zum Beispiel ein Angehörigenverband aus der Maule-Region. Der deutsche Staat mache sich durch die Straflosigkeit zum Komplizen der Menschenrechtsverletzungen, die in der Colonia Dignidad begangen wurden, stellten sie in einem offenen Brief fest, den die Sprecherin der Verbände, Myrna Troncoso, auf ihrer Facebook-Seite veröffentlichte.
Nur eine Woche nach dem Schock gab es weitere Neuigkeiten für die Opfer, diesmal auf politischer Ebene. Eine gemeinsame Kommission aus Bundestag und Bundesregierung präsentierte am 17. Mai ein Hilfskonzept für die Opfer der Colonia Dignidad. Das Konzept sieht eine einmalige Zahlung von bis zu 10.000 Euro vor, sowie einen zusätzlichen Fonds „Pflege und Alter“. Die Hilfe solle „rasch und unbürokratisch“ verlaufen, auch durch Einrichtung von Beratungsmöglichkeiten für die Opfer.
Eine verstärkte politische Aufarbeitung des Kapitels Colonia Dignidad war in Deutschland 2016 langsam ins Rollen gekommen. Der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier bekannte eine „moralische Verantwortung des Auswärtigen Amtes“ und die Bereitschaft, „Maßnahmen zur Aufarbeitung zu ergreifen“. Deutsche Diplomaten hatten jahrelang freundschaftliche Kontakte zur Colonia gepflegt und Vorwürfe gegen die Sekte, unter anderem von Amnesty International, ignoriert. Im Jahr 2017 wurde schließlich in einem Bundestagsbeschluss festgehalten, die Verbrechen aufzuarbeiten.

Vermögen von ehemaligen Führungsmitgliedern der Sekte wurden bisher nicht angetastet

Die Einsicht und auch die Hilfe kommt spät, besonders wenn man das fortgeschrittene Alter der Betroffenen bedenkt. Viele der Opfer waren nach Auflösung der Sekte zurück nach Deutschland gekommen und leben seit Jahren am Existenzminimum, da sie meist keine Rentenansprüche geltend machen können. Außerdem sind psychische und gesundheitliche Leiden nach Jahren der Repression und Zwangsarbeit keine Seltenheit – auch bei den Opfern der Sekte, die bis heute auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad leben. Staatliche Hilfe ist also dringend notwendig. Zudem gibt es weitere Opfergruppen, vor allem in Chile, die keine Erwähnung im Hilfskonzept finden. Jan Stehle vom FDCL äußert sich kritisch zum Konzept der Kommission: Eine Einmalzahlung sei keine nachhaltige Hilfe für die Opfer. Das Vorgehen vermeide vielmehr einen Präzedenzfall zu schaffen, auf den andere Opfergruppen, die ebenfalls Entschädigung vom deutschen Staat fordern, sich berufen könnten. Es müsse nun genau beobachtet werden, so Stehle, wie mit dem zweiten, nicht klar umrissenen Fonds „Pflege und Alter“ zukünftig verfahren werde und wer letztendlich Hilfe erhält. Zum Teil ist es keine leichte Aufgabe, Täter und Opfer klar voneinander zu unterscheiden, da einige ehemalige Bewohner*innen sich in einer Grauzone befinden.
Das Hilfskonzept ist zwar fraglos eine Verbesserung, doch bleibt die Aufarbeitung insgesamt nur symbolisch, besonders weil viele Forderungen des Bundestagsbeschlusses, wie die strafrechtlichen Ermittlungen voranzutreiben, nicht oder enttäuschend umgesetzt wurden: Die Vermögen von ehemaligen Führungsmitgliedern der Sekte wurden bisher nicht angetastet. Obwohl diese Vermögen, wie es im Beschluss hieß „teilweise durch Sklavenarbeit, Rentenbetrug, Waffenproduktion und -handel und andere Straftaten“ angehäuft werden konnten, wurden sie von der Justiz immer noch nicht umfassend untersucht oder beschlagnahmt. Ehemalige Zwangsarbeiter*innen werden derweil mit dem schmalen Hilfskonzept abgespeist. Die strafrechtlichen und politischen Bemühungen wirken wie ein später und eiliger Schlussstrich, der unter das Kapitel Colonia Dignidad gesetzt werden soll. Ein bitterer Geschmack bleibt nach den jüngsten Ereignissen zurück.

 

DIE ENTFERNUNG DIE UNS TRENNT

 

Renato Cisneros ist 18 Jahre alt, als sein Vater 1995 stirbt. Er weiß, dass Luis Federico Cisneros, genannt „El Gaucho“, im peruanischen Militär hohe Posten bekleidete, doch erst Jahre nach seinem Tod beginnt er, sich ernsthaft mit dessen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Wer war dieser Mann wirklich? Welche Macht besaß er während den diktatorischen Präsidentschaften von Francisco Morales Bermúdez und Fernando Belaúnde? Was weiß er über die Verschwundenen, die Toten jener Zeit?
„Dies ist ein Buch über ihn oder jemanden, der ihm sehr ähnlich ist, verfasst von mir oder jemandem, der mir sehr ähnlich ist. Ein Roman, keine Biografie“, sagt Renato Cisneros gleich zu Beginn von Die Entfernung, die uns trennt, denn er weiß, „dass jede Wiedergabe dieser Wirklichkeit zur Fälschung, zur Verzerrung, zum Trugbild verdammt ist“. Dennoch bemüht er sich um Wahrheitsfindung. Und die fängt bei der Familie an.

Eine verhasste öffentliche Figur als Vater

Enttäuschende Väter und illegitime Liebschaften ziehen sich durch die Geschichte der Familie Cisneros. Auch der „Gaucho“ lässt die große Liebe in seinem Geburtsland Argentinien zurück, als er nach Peru, das Land seiner Familie, zurückkehrt. Dort zeugt er später erst mit der einen, dann mit der anderen Frau insgesamt sechs Kinder. Kurz nach Renato Cisneros’ Geburt wird der Vater zum Innenminister ernannt, ist oft abwesend, und erzieht die Kinder mit strenger Hand. Er unterdrückt sie, um sie „hart“ zu machen. Und doch gibt es die Momente der Nähe und des Stolzes, die der kleine Renato eifrig herzustellen versucht. Erst nach 150 Seiten nähert sich der Autor der politischen Seite des Vaters an und ändert somit radikal die Perspektive. Nun geht es weniger um den Papá denn um den Politiker, der Freund und Bewunderer von Pinochet, Videla und Viola ist, enge Beziehungen mit den Folterern der argentinischen Militärdiktatur pflegt und in seinem eigenen Land für Entsetzen sorgt.
Gewiss, Die Entfernung, die uns trennt hat in Peru, wo der Name Cisneros jeder und jedem geläufig ist, eine ganz andere Bedeutung als für deutsche Leser*innen. Das macht den Roman aber nicht weniger eindringlich. Er liefert nicht nur einen guten Einblick in rund drei Jahrzehnte peruanischer Geschichte (samt zahlreicher Unruhen), erzählt aus einer persönlichen, intimen Sicht. Das Buch ist auch das Zeugnis eines Mannes, der versucht, die öffentliche, verhasste Figur mit dem privaten Vater in Einklang zu bringen, der Abscheu und Horror ob der Taten, von denen er erfährt, empfindet, ohne dabei aufzuhören, ihn zu lieben und zu verehren.
Die Entfernung, die uns trennt ist weder Abrechnung noch Rechenschaft. Das Buch ist eine literarische, psychologische wie kritische Auseinandersetzung um die Frage, welche Faktoren bestimmend dafür sind, zu was für einem Menschen man sich entwickelt, und welchen Einfluss das auf die nächste Generation haben kann. Wie sehr der Vater sein eigenes Leben geprägt hat, realisiert Renato Cisneros erst im Verlauf der Recherche: „Wie viel haben die Kinder der Cisneros unternommen, um etwas Wirkliches über ihren jeweiligen Vater in Erfahrung zu bringen? Wie viel haben sie als Kinder erlebt, was sie als Erwachsene nicht verziehen haben? Wie viel, was ihnen schadete und was sie nicht erzählten, als sie selbst zu Vätern wurden?“

 

EINE RICHTERIN FÜR DIE GERECHTIGKEIT

YASSMIN BARRIOS
ist Richterin in Guatemala und Präsidentin des speziell eingerichteten Gerichtshof Tribunal Primero A de Mayor Riesgo, für Fälle mit besonders hohem Sicherheitsrisiko. Sie hat Prozesse zu den während des Bürgerkriegs verübten Massakern verhandelt sowie gegen den Ex-Diktator Efraín Ríos Montt.

Foto: Markus Dorfmüller


Wir waren am Wochenende in Sepur Zarco – einige der Frauen sind sehr frustriert, dass es zwar ein für sie positives Urteil gibt, aber dass die Umsetzung auf sich warten lässt. Können Sie das nachvollziehen?
Oh ja, für die Frauen hat die Übergabe der Finca, also des Landstreifens, Priorität, aber die ist bisher nicht vom Fleck gekommen. Das ist das Problem und dafür müssen ihre Anwältinnen nun sorgen – ich als Richterin habe da keinen Einfluss mehr.

Welche Relevanz hatte dieser Prozess für Sie persönlich: war es schlicht ein Fall?
Jeder Fall hat aus meiner Perspektive wichtige Charakteristika – so auch dieser. Klagen gegen Militärs von indigenen Frauen sind etwas Besonderes in Guatemala und darüber hinaus. Sepur Zarco war also etwas Besonderes – vor allen Dingen aus der Perspektive der Frauen.

Es hat auch Angriffe auf Sie persönlich gegeben, Kampagnen in den sozialen Netzwerken – warum?
Weil ich ein paar Prozesse verhandelt habe, die für dieses Land extrem wichtig waren: den Prozess gegen die Mörder von Monseñor Juan Gerardi, der den Bericht der katholischen Kirche zu den Menschenrechtsverletzungen im Bürgerkrieg herausgebracht hatte, den Prozess gegen Ex-Diktator Efraín Ríos Montt oder eben den Sepur Zarco Prozess, wo es um die spezifischen Rechte der Frauen ging. Kurz vor der Urteilsverkündung im Falle Gerardi wurde eine Granate auf mein Haus geworfen – das war 2001. Es war ein Akt der Einschüchterung, es ist nichts passiert und ich bin am nächsten Tag zur Arbeit gegangen. Das ist meine Verpflichtung, aber damit hatte niemand gerechnet. Aber ich habe und fühle diese Verantwortung.

Augenblicklich scheint der Druck auf die Justiz enorm. Was passiert in Guatemala, wird die Justiz systematisch geschwächt?
In den letzten Monaten hat es in Guatemala eine kaum zu übersehende Schwächung des Rechtsstaats gegeben. Die Nichtumsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts ist dabei der gravierendste Fall.

Steckt dahinter eine Strategie?
Es ist kaum zu übersehen, dass man den Ermittlern der CICIG (Internationale Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala der UNO) in den letzten Jahren mehr und mehr Schwierigkeiten gemacht hat zu arbeiten – vor allem in Korruptionsfällen. Die CICIG hat in vielen Fällen die Staatsanwaltschaft animiert in diesem Bereich zu ermitteln und das hat sicherlich unsere Justiz gestärkt. Gleiches gilt für die neuen Instrumente, die die Justiz durch die Initiative der CICIG erhalten hat. Das hat unter dem Strich zur Stärkung der Justiz geführt. Die CICIG war und ist extrem wichtig.

Droht eine Rückkehr in die Straflosigkeit mit dem Ende der CICIG? Das Mandat läuft am 3. September 2019 aus.
Ja, ich denke das ist schon der Fall. Mit der Unterstützung der CICIG wurde die Ermittlungsarbeit im Justizsektor spürbar gestärkt – auch auf wissenschaftlicher und auf akademischer Ebene. Vor allem im Bereich der Korruption. Ich bin dafür, das Mandat der CICIG zu verlängern. Sie ist ein wichtiger Faktor, aber das müssen andere entscheiden.

Fehlt es an internationaler Unterstützung?
Ich denke, dass die internationale Beobachtung, die Begleitung der Arbeit der CICIG wichtig ist. Doch die hat in den letzten Monaten nur in Teilen stattgefunden, sodass die CICIG heute geschwächt ist. Grundsätzlich denke ich, dass die Verträge respektiert werden sollten, denn schließlich ist die CICIG auf Bitten der Regierung von Guatemala entstanden.

Aber es hat den Anschein, dass die Regierung diese Verträge nicht respektiert.
Die Regierung hat eine andere Sicht der Dinge, die der breiter Bevölkerungskreise widerspricht.

Wie denken Sie über den CICIG-Direktor Iván Velásquez? Ist es nachvollziehbar, dass er nicht nach Guatemala einreisen darf und die Arbeit aus dem Ausland leisten muss (siehe LN 536)?
Ich denke, dass der CICIG-Direktor das Recht hat in Guatemala zu arbeiten. Das hat das Verfassungsgericht auch so bestätigt, aber die Regierung blockiert das.

Was war in Ihrer Karriere der schwierigste Prozess?
Jeder Prozess hat seine spezifischen Elemente und von jedem Prozess lässt sich etwas lernen. Doch in dem Gerardi-Prozess bin ich gewachsen, daraus habe ich viel mitgenommen. Aber mit diesem Prozess und dem Anschlag auf mein Haus, habe ich auch an persönlicher Freiheit verloren. Seitdem kann ich mich nicht mehr so wie vorher in Guatemala bewegen. Ich bin auf Schutz angewiesen. Ich muss mich unter Polizeischutz in der Stadt bewegen, in einem gepanzertem Wagen.
Der andere Fall, der mich sehr beschäftigt hat, war jener über den Genozid an den Ixil (Indigene in Guatemala, Anm. der Red.), der Prozess gegen Efraín Ríos Montt. Da bin ich von den Medien angegriffen worden, von einflussreichen Kreisen, die dahinter stehen und bin stark stigmatisiert worden. Guatemala ist nach wie vor ein Land, in dem die Rechte der Frau kaum akzeptiert werden. Das habe ich damals am eigenen Leib erfahren: ich bin etikettiert worden, mir wurde vorgeworfen einseitig zu argumentieren, die Gesellschaft zu schwächen. Das war aber nicht der Fall, denn dieser Prozess hat zur Stärkung der Zivilgesellschaft in Guatemala beigetragen. Teile der Zivilgesellschaft wurden mit dem Prozess erst sichtbar.
Das war ein überaus brisanter politischer Prozess. Ich bin keine politisch aktive Frau, gehöre keiner politischen Gruppe an – das wurde mir aber damals vorgeworfen. Dabei bin ich vor allem Juristin. Ich will der Justiz zu mehr Glaubwürdigkeit verhelfen, die Gesetze durchsetzen. Ich diene dem Rechtsstaat.

Sind Sie als Kommunistin bezeichnet worden?
Ja, das war der Fall und ich fühlte mich während des Prozesses in den kalten Krieg zurückversetzt – im Jahr 2013 herrschte ein Klima wie zu Zeiten der Berliner Mauer. Es prallten zwei Ideologien aufeinander, obwohl die Berliner Mauer bereits 1989 eingerissen wurde. In Guatemala herrschte in dieser Zeit ein Klima der Stigmatisierung, der latenten Bedrohung – zumindest auf medialer Ebene.

Kehrt dieses Klima zurück, fehlt ein Dialog zwischen den Generationen?
Ich glaube, dass wir diesen Dialog zwischen den Generationen brauchen und uns Richtern kommt dabei die Aufgabe zu, über Verbrechen der Vergangenheit heute zu urteilen. Das ist eine wichtige Aufgabe, denn die betroffenen Menschen hatten lange Jahre keinen Zugang zur Justiz, mussten oft den Weg über die interamerikanische Menschenrechtskommission gehen. Das ist ein Defizit und ich denke, dass die jüngere Generation erfahren muss, was in diesem Land passiert ist – das ist eine gesellschaftliche Herausforderung. Wir haben eine Aufgabe, wir müssen aus unserer Geschichte lernen und die kulturelle Vielfalt schätzen lernen. Das ist eine Herausforderung und viele dieser Fragen waren im Völkermordprozess präsent. Da wurden wir als Gesellschaft auf diese Probleme erst hingewiesen, auf die Polarisierung, auf die Stigmatisierung auf die Defizite bei der freien Meinungsäußerung. Wir wurden auf die tief sitzenden Probleme in unserer Gesellschaft hingewiesen.

Ist diese Gesellschaft nach wie vor traumatisiert vom Bürgerkrieg?
Ich denke ja, denn es gibt bis heute Ängste, die eigene Meinung kundzutun, Rechte einzufordern – der Krieg hat vielfältige Spuren hinterlassen nicht nur bei der Generation der Opfer, sondern auch bei den nachwachsenden Generationen.

2015 schien es so als wäre die Zivilgesellschaft erwacht (siehe LN 492). Wie sieht es 2018 aus?
Es gibt Initiativen, die Freiräume zu reduzieren, Teilnahme zu erschweren und die Bürgerrechte einzuschränken.

Wie steht es um die Rechte der Frauen in Guatemala, haben sie gleiche Rechte?
Aus juristischer Perspektive haben wir die gleichen Rechte, aber in der Praxis ist es alles andere als einfach, diese Rechte auch durchzusetzen. Da bildet die Justiz sicherlich keine Ausnahme. Guatemala ist eine Gesellschaft, die zutiefst vom Machismo geprägt ist; hier wird über die Kleidung der Frauen öfter debattiert als über ihre Leistung. Frauen müssen mehr leisten, um hier ernst genommen zu werden. Das ist eine Folge der patriarchalen Strukturen in diesem Land.

Haben Sie Vertrauen in die guatemaltekische Gesellschaft?
Ja, und mir gefällt es auch einmal in eine Schule zu gehen und mit Schülern zu diskutieren. Das ist mir wichtig und wenn es meine Zeit zulässt, gehe ich auch an die Schulen, um zu hören wie die neue Generation agiert und denkt. Dabei lerne ich auch etwas über die sozialen Verhältnisse im Land. Das gefällt mir.

Wie blicken Sie in die Zukunft?
Wir befinden uns in einer Krise, aber Krisen helfen auch dabei, sich selbst neu aufzustellen, zu definieren und nach vorn zu blicken. Wir müssen uns, jeder in seinem Bereich, für die Zukunft dieses Landes engagieren, dafür gerade stehen. Es geht darum, unser Land zu retten.

Thelma Aldana, die ehemalige Generalstaatsanwältin, will bei den Wahlen im Juni für die Präsidentschaft kandidieren – ist es Zeit für eine Präsidentin?
Das könnte eine wichtige Erfahrung für ein Land wie Guatemala sein. Es gibt Frauen, die entscheidungsfreudig sind, die ein Land führen können und ich denke, dass es Frauen gibt, die dazu in der Lage sind, die sensibler auftreten, die eine andere Perspektive verfolgen. Mir erscheint das eine gute Option für die Zukunft.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ERINNERUNGSSPLITTER

Dass Bolivien ein wichtiges Einwanderungsland nach dem zweiten Weltkrieg war, ist relativ bekannt. Weniger verbreitet ist allerdings, welche Beziehungen zwischen den heterogenen Gruppen von deutschen Immigrant*innen bestanden. Dieser Frage widmet sich das Buch „Transnationale Spurensuche in den Anden“ von Juliana Ströbele-Gregor.
Die Autorin, die als Kultur- und Sozialanthropologin unter anderem am Lateinamerika-Institut der FU Berlin forschte, ist Wissenschaftlerin, doch zugleich auch Zeitzeugin: Mit 9 Jahren kam sie 1952 als Tochter des ersten deutschen Botschafters nach dem zweiten Weltkrieg nach Bolivien. Ströbele-Gregors „Erinnerungssplitter“, die die dokumentarische Spurensuche leiten, sind subjektive Anknüpfungspunkte für eine detaillierte Darstellung des sozio-politischen Gefüges im Bolivien der 50er und 60er Jahre. Anhand von Einzelschicksalen, darunter ihr eigenes, beschreibt die Autorin die Erfahrungen der Emigrant*innen aus Nazi- und Nachkriegsdeutschland. Zitate aus den vielen Interviews, die sie mit Kindheitsfreund*innen in den 2000er Jahren führte, verschmelzen mit Archivquellen, diplomatischen Berichten und zeitgenössischen Artikeln zu einer „multiperspekt­ivischen Geschichtserzählung“.
Dabei fokussiert sich Ströbele-Gregor auf die Perspektiven der drei völlig verschiedenen deutschen Einwanderungswellen: Da war zunächst die alteingesessene deutsche Kolonie, die schon seit Ende des 19. Jahrhunderts in Bolivien existierte und deren Bewohner*innen oftmals antisemitisch eingestellt waren. Während des zweiten Weltkrieges, als Bolivien zunächst noch eine sehr großzügige, wenn auch interessengeleitete Migrations- politik verfolgte, kamen zudem geschätzte 10.000 Jüd*innen ins Land. Sie suchten Zuflucht vor den Nazis, von denen einige nach Kriegsende ebenfalls nach Bolivien flüchteten, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Die Clubs und Schulen, in denen die Deutschen ihr sozio-kulturelles Leben organisierten, bestehen zum Teil bis heute. Die Lebensräume der Juden und Jüdinnen waren davon stark abgegrenzt. Die Autorin kritisiert, dass die nationalsozialistischen Tendenzen der deutschen Kolonie in der (Nach-)Kriegszeit bis heute nicht ausreichend aufgearbeitet wurden.
Nicht zuletzt durch den Beruf ihres Vaters kam Ströbele-Gregor mit den sehr unterschiedlichen Kreisen in Kontakt. Dabei hörte sie viele Fluchtgeschichten, die für sie diffus blieben; erst später kam das Verstehen und damit „die Scham, Deutsche zu sein“. So stellte sich 1972 etwa heraus, dass der Vater einer Schulfreundin Klaus Barbie war, der „Schlächter von Lyon“. Die Autorin widmet ihm und Monika Ertl, einer weiteren Schulfreundin und der angeblichen Mörderin von Che Guevara, jeweils ein ganzes Kapitel. Zwei der drei Kapitel sind also personenbezogen und relativ kurz. Eine Gliederung anhand der drei Gruppen von Migrant*innen wäre eventuell schlüssiger gewesen. Nichtsdestotrotz besticht das Buch durch seine Detailliertheit, die nur selten trocken wirkt. Die „Erinnerungssplitter“ bleiben aufgrund der kindlichen Perspektive eher schwammig; dennoch sind sie eine interessante Ergänzung, die die Fülle an Fakten auflockert. So gelingt es Ströbele-Gregor, die Forschungslücken hinsichtlich der Beziehungen von geflüchteten Jüd*innen und alteingesessenen Deutschen in Bolivien mit einem persönlichen Werk über ihre „emotionale Heimat“ zu verkleinern.

 

EIGENE ERMITTLUNGEN UNNÖTIG

Verbrechen in der Colonia Dignidad Der deutsche Staat war mitverantwortlich (Foto: AFDD Talca/FDCL)

Das in Berlin ansässige European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hatte im April 2018 Strafanzeige gegen Reinhard Döring erstattet und der Staatsanwaltschaft Münster Hinweise auf dessen mögliche Beteiligung an Mordtaten vorgelegt. Aussagen ehemaliger Bewohner*innen der Sektensiedlung Colonia Dignidad aus vorherigen Gerichtsverfahren in Chile belegen, dass nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 in der Colonia dutzende Gegner*innen der Pinochet-Diktatur erschossen und ihre Leichen verscharrt wurden. Wenige Jahre später wurden die Leichen wieder ausgegraben und verbrannt. Die betreffenden Aussagen stammen zu großen Teilen aus der Zeit nach März 2005, als der Sektenführer Paul Schäfer festgenommen wurde und die chilenischen Strafverfolgungsbehörden unter hohem Ermittlungsdruck standen. Der Beschuldigte Döring hatte sich jedoch bereits im Jahr 2004 nach Deutschland abgesetzt, sodass er in Chile nicht vernommen werden konnte. Deshalb seien die Informationen über ihn aus den chilenischen Ermittlungen spärlich, erklärt Jan Stehle vom Berliner Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL), der seit Jahren zu dem Fall Colonia Dignidad forscht. Verschiedene Beschuldigte deckten sich in diesem Verfahren bis heute gegenseitig, so die Einschätzung Stehles. 2005 wurde Döring von der chilenischen Justiz international zur Fahndung ausgeschrieben. Die deutschen Justizbehörden ignorierten das chilenische Festnahmeersuchen allerdings und leiteten bis 2016 auch keine eigenen Ermittlungen gegen Döring ein.

In einem anderen Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Bonn hatte Reinhard Döring im Jahr 2009 als Zeuge ausgesagt und Straftaten wie die Bewachung von Gefangenen zugegeben, jedoch eine Beteiligung an Mordhandlungen verneint. Obwohl es Hinweise darauf gebe, so der Wissenschaftler Stehle, dass Döring Gefangene zu Erschießungen führte, wurden diese von der Staatsanwaltschaft Münster nicht als ausreichend relevant erachtet, um einen Anfangsverdacht wegen Beihilfe zum Mord zu begründen. „Der Beschuldigte war nach den vorliegenden Erkenntnissen lediglich als Bagger- und Kraftfahrzeugführer beschäftigt […]“, so lautet nun die Mitteilung der Staatsanwaltschaft Münster. Paul Schäfer habe niemals eine Person „von Anfang bis Ende“ in die Verbrechensbegehung eingeweiht, so will es die Münsteraner Staatsanwaltschaft aus einer Aussage eines weiteren, nicht näher benannten Colonia-Mitglieds, das Gefangene bewacht hat, erfahren haben. Die Staatsanwaltschaft Münster habe diese Aussagen eines Beschuldigten nicht durch eigene Ermittlungen überprüft und mit anderslautenden Aussagen kontrastiert, kritisiert Jan Stehle vom FDCL. Stattdessen zitiere sie in der Einstellungsmitteilung einen Brief des Beschuldigten Döring und erwähne, dass dieser „unwiderlegbar angegeben“ habe, in der Colonia Dignidad selbst Opfer einer nicht näher bezeichneten Straftat geworden zu sein. „Dies ist ein düsterer Tag für die Angehörigen der in der Colonia Dignidad Ermordeten und für alle, die sich seit Jahrzehnten für eine Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad einsetzen“, resümiert Stehle. Die Staatsanwaltschaft Münster habe es nicht für notwendig erachtet, den Beschuldigten zu vernehmen, so sein Fazit. Allem Anschein nach seien keine eigenen Ermittlungsschritte unternommen worden, obwohl viele Ansätze dazu vorlägen, sagt der Mitarbeiter des FDCL. Stattdessen würde der Version des Täters unhinterfragt übernommen. „Kann es tatsächlich sein, dass in zweieinhalb Jahren sogenannter Ermittlungen nur einige Altakten gelesen und Briefe nach Chile geschrieben wurden? Wer so handelt, kapituliert vor einer Verbrechensgeschichte, die Hunderten von Menschen immenses Leid zugefügt hat“, urteilt Stehle. Die Begründung für die Einstellung lasse vermuten, dass sich die Staatsanwaltschaft entweder mit der Komplexität des Sachverhalts überfordert sehe – oder kein wirkliches Aufklärungsinteresse habe.

„Dass es nicht einfach ist, vier Jahrzehnte zurückliegende Verbrechen in einem anderen Land aufzuklären, steht außer Frage. Wer jedoch nach jahrzehntelanger Untätigkeit – wie die nordrhein-westfälische Justiz im Fall Colonia Dignidad – heute Ermittlungsansätze ignoriert und stattdessen die Täterdiskurse salonfähig macht, arbeitet eher einer Aufklärung zuwider als sie zu befördern. Dies ist traurig und in einem Rechtsstaat ein Skandal“, stellt Stehle fest. Auch die Rechtsanwältin Petra Isabel Schlagenhauf, Anwältin von Opfern der Colonia Dignidad, kritisiert das Münsteraner Gericht scharf. „Diese Entscheidung reiht sich ein in die lange Reihe von Versagen der deutschen Justiz im Umgang mit den Verbrechen, die in der Colonia Dignidad geschehen sind“, so die Berliner Anwältin. Die Exekution dutzender Personen sei durch mehrere Aussagen von Zeug*innen belegt. Dies gelte ebenso für die Tatsache, dass die Leichen der Menschen in Massengräbern vergraben und nach Jahren wieder ausgegraben wurden. „Wie man dies als nicht gesichert darstellen kann, ohne überhaupt die Zeugen, die hierzu aussagen können – und auch teilweise in anderen Verfahren dazu ausgesagt haben – zu vernehmen, bleibt das Geheimnis der Staatsanwaltschaft Münster“, so Schlagenhauf. Dass die Colonia Dignidad in der Diktaturzeit ein Folterzentrum des Geheimdienstes beherbergte, und dass dort politische Gefangene umgebracht wurden, wird nicht ernsthaft bestritten. Aber auch zum Verdacht gegen den in diesem Verfahren Beschuldigten hätte man nach Ansicht von Schlagenhauf und Stehle weitere sinnvolle Ermittlungen anstellen können. „Dies ist scheinbar aber nicht gewollt“, so deren bitteres Resümee.

 

 

BEIHILFE ZUR FOLTER

„Es war Volkswagen, die dafür verantwortlich waren, dass ich von den Geheimpolizisten des DOPS an meinem Arbeitsplatz bei VW in São Bernardo do Campo verhaftet, noch auf dem Werksgelände geschlagen und von dort direkt in das Folterzentrum DOPS verschleppt wurde. Dort wurde ich wochenlang gefangen gehalten und schwer gefoltert.“ Lúcio Bellentanis Stimme dröhnt tief durch den bis auf den letzten Platz angefüllten Theatersaal der Berliner Schaubühne. Die Empörung über das, was der Metallarbeiter und Gewerkschafter im Juli 1972 bei VW do Brasil und in den Wochen nach seiner Verhaftung erlebte, ist ihm noch immer anzumerken. „Wenn VW wenigstens einmal sagen würde, dass es ihnen leid täte, dass sie Verantwortung übernehmen, dann wäre dies ein erster Schritt“, sagt der mittlerweile 73-Jährige. „Der zweite Schritt wäre eine Kollektiventschädigung. Denn wir lassen uns nicht spalten, gar einzeln verhandeln, wie VW das so gerne wollte.“

Bellentani war im November 2017 auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung nach Berlin gereist, um den Druck auf VW zu erhöhen. Denn seit September 2015 wird auf Betreiben der Arbeiter*innen wie Bellentani von der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo untersucht, ob VW mit den Repressionsorganen der Militär­diktatur kollaboriert hat. In Berlin nahm Bellentani mit 60 anderen Menschenrechts­akti­vist*innen aus fünf Kontinenten an dem Reality-Schauspiel „General Assembly“ in der Schaubühne teil, das der Regisseur Milo Rau orchestrierte. Angehörige der Opfer der Brand­katastrophe der für die Textilkonzerne in Pakistan und Bangladesch schuftenden Arbeiter*innen waren bei dem dreitägigen Theater am Berliner Ku‘damm ebenso vertreten wie von Landgrabbing durch Palmölfirmen betroffene Landarbeiter*innen aus Indonesien oder Witwen der 34 im Jahr 2012 während eines Streiks von der südafrikanischen Polizei erschossenen Minenarbeiter der Platin-Mine der britischen Firma Lonmin. Alle Betroffenen und Aktivist*innen hielten als Delegierte eines simulierten Weltparlaments ihre Redebeiträge in fünf Minuten und standen dann noch vier Minuten den anderen Delegierten und der Verteidigung Rede und Antwort.

Lúcio Bellentani berichtete über seine Verhaftung und die Folter, erklärte den überraschten Zuhörer*innen, welchen gewichtigen Anteil VW do Brasil daran hatte. Und er berichtete, was sich in den vergangenen zwei Jahren in der Ange­legenheit ergeben hat.

Im September 2015 (siehe LN 497) hatten ehemalige Arbeiter*innen, die zur Zeit der Militärdiktatur (1964-1985) bei VW do Brasil Repres­sion erlitten hatten, gemeinsam mit Rechts­anwält*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und allen elf brasilianischen Gewerkschaftsdachverbänden eine Sammelklage bei der Zivilkammer der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo eingereicht. Das Ziel: Die Kollaboration von VW do Brasil mit der Militärdiktatur zu untersuchen und zu prüfen, inwieweit VW finanziell haftbar dafür gemacht werden könne.

Seither ermittelt die Staatsanwaltschaft, hat über ein Dutzend Zeug*innen vernommen, darunter sowohl die Arbeiter*innen als auch die ehemaligen VW-Werkschützer*innen. Erstere erzählten detailliert über die Bespitzelungen durch VW, ihre Verhaftungen, über die schwarzen Listen, die, wie sie später feststellten, von VW über die Mitarbeiter*innen erstellt wurden und an die Repressionsorgane weitergegeben wurden. Letztere offenbarten auffällig viele Erinnerungslücken, wiesen Anschuldigungen vehement zurück, sie hätten an den Verhaftungen der Mitarbeiter*innen aktiv mitgewirkt und Infos an die Geheimagent*innen der Militärdiktatur weitergegeben, so dass in einigen Fällen nur auf Basis dieser Tipps Menschen verhaftet wurden und in den Folterkellern der Diktatur landeten. Der Chef des VW-Werkschutz, Adhemar Rudge, stritt die Authentizität seiner Unterschrift unter solchen an den Geheimdienst weitergeleiteten Doku­menten mit VW-Stempel und Briefkopf ab, beschwerte sich im Nachhinein über den „Skandal, dass da jemand meine Unterschrift gefälscht hat!“

Bellentani berichtete vor den Theater-Zuschauer*innen auch ausführlich von dem Fall seines Kollegen Heinrich Plagge. Am 8. August 1972 war er gegen 14 Uhr in das Büro des VW do Brasil Managers Ruy Luiz Giometti gerufen worden, wo neben Giometti zwei Unbekannte auf ihn warteten und ihn für verhaftet erklärten. Plagge wurde in das DOPS verschleppt, dort 30 Tage lang gefoltert und anschließend in ein Gefängnis verlegt, aus dem er am 6. Dezember – rund vier Monate nach seiner Verschleppung – freigelassen wurde. Am 22. Dezember 1972, 16 Tage nach seiner Entlassung, erhielt er die Kündigung durch Volkswagen.

„Aber“, so berichtet Lúcio Bellentani vor der Schaubühne in die herbeigeilten Mikorophone der Journa­list*innen, „es kommt noch schlim­mer: Heinrich Plagges Frau hat auch beim Staatsanwalt ausgesagt. Sie berichtet, wie an jenem 8. August am Nachmittag ein höherer VW-Mitarbeiter zu ihr nach Haus kam und ihr mitteilte, ihr Mann habe kurzfristig für die Firma auf Dienstreise gehen müssen, daher habe er keine Zeit mehr gehabt, ihr dies mitzuteilen.“ Erst Monate später habe sie erfahren, wo Plagge war: im Folterzentrum DOPS.

Kurz nach Bellentanis Berlinreise wurde der Abschlussbericht des Gutachters, den dieser im Auftrag der Staatsanwaltschaft von São Paulo erstellt hat, publik. Der Bericht des brasilianischen Gutachters Guaracy Mingardi bestätigt die Vorwürfe der Kollaboration VWs mit der Militärdiktatur. Mingardi bestätigt „nicht nur die Kollaboration durch den Informationsaustausch [mit den Repressionsorganen], sondern auch die aktive Repression [seitens VW] der eigenen Mitarbeiter“, vor allem Anfang der 1970er Jahre. Das Gutachten bestätigte zudem die von VW Ende der 1970er Jahre erstellten schwarzen Listen, die an die Repressionsorgane und andere Firmen weitergereicht wurden. Die Aussagen von Bellentani und Plagge über ihren Leidensweg werden von Mingardi durch die Recherchen ebenfalls explizit bestätigt.

Mingardi geht in seinem Gutachten aber noch einen Schritt weiter. Auf Seite 63 schreibt er: „So bleiben keine Zweifel, dass es wirklich Unterstützung seitens Volkswagen für das [Folterzentrum] OBAN und vielleicht selbst für das [später so umbenannte Folterzentrum] DOI-CODI gegeben hat”. Das OBAN wurde 1969 gegründet, 1970 in DOI-CODI umbenannt und dem Heer unterstellt. Dort wurden zwischen 1969 und 1975 66 Menschen ermordet, 39 von denen starben dort unter der Folter, viele wurden dort gefoltert und mindestens 2.000 Menschen dort eingekerkert, meist ohne Prozess. Genaue Zahlen kennt niemand, denn nahezu alle Dokumente wurden vernichtet. Bekannt ist, dass das OBAN in seiner Anfangszeit als Folterzentrum Finanzprobleme hatte und dass die Unternehmerschaft São Paulos Geldspenden von durchschnittlich 100.000 US-Dollar je Jahr sammelte und diese dem OBAN spendete. Dass VW sich, wie andere Firmen auch, an der Sammelaktion für das Folterzentrum beteiligt habe, wird in mehreren diesbezüglichen Untersuchungen behauptet, aber es fehlt noch immer der konkrete Beweis, der die direkte Verbindung zwischen den Firmen im Einzelnen und dem OBAN herstellt. Nun hat der Gutachter im Auftrag der Staatsanwaltschaft die Quellen gesichtet und kommt zu dem Schluss, dass „es keine Zweifel“ gebe, dass VW das Folterzentrum OBAN unterstützt hat. Damit fiele Volkswagen eine Mitschuld für die im OBAN, dem späteren DOI-CODI, Ermordeten und Gefolterten zu. Die Anschuldigung zur Beihilfe zur Folter und zum Mord seitens VW do Brasil erhält dadurch sogar systemischen Charakter.

Anfang Dezember 2017 erklärte VW die Bereitschaft, Entschädigungen mit den ehemaligen VW-Mitarbeiter*innen in Brasilien auszuhandeln. Es bleibt die Frage, ob das reichen wird. Denn das Eingeständnis VWs, mit den Repressionsorganen kollaboriert zu haben, wirft die Frage auf, inwieweit VWs Unterstützung für das Folterzentrum OBAN, die der Gutachterbericht Mingardis als erwiesen ansieht, über die Opfergruppe der über Dutzende VW-Mitarbeiter*innen hinausreicht und zudem all diejenigen miteinschließt, die im OBAN und späteren DOI-CODI gefoltert wurden. Das wären Tausende.

 

ENDLICH AUFARBEITUNG?

Besuche im Knast lohnen sich wohl doch manchmal. Mario Carroza, seines Amtes Richter in der chilenischen Hauptstadt Santiago besuchte am 25. August 2017 das Gefängnis von Cauquenes, etwa 300 Kilometer südlich von seinem Arbeitsplatz. Dort verhörte er die Funktionäre der ehemaligen Sektensiedlung Colonia Dignidad Kurt Schellenkamp (90), Gerd Mücke (87) und Gunter Schafrik (62), die alle drei wegen Sexualdelikten gegen Kinder zu Haftstrafen verurteilt wurden.

Obwohl bereits in den 1960er Jahren einzelne Colonos (Siedler*innen) entkommen konnten, die von den Grausamkeiten in der Siedlung berichteten, hielt sich die Siedlung, die heute Villa Baviera (Bayerisches Dorf) heißt, bis Mitte der 1990er. Möglich war dies unter anderem aufgrund der Verbindungen hochrangiger Sektenmitglieder zu deutschen Politiker*innen und Diplomat*innen und weil die deutsche Botschaft in der Hauptstadt Santiago de Chile sich taub stellte, wenn über die Verbrechen der Colonia berichtet wurde.

Sektenführer Paul Schäfer war im Jahr 2006 in Chile zu 20 Jahren Haft verurteilt worden und starb 2010 im Gefängnis. Und auch wenn mittlerweile einige ehemalige Funktionäre der Sekte in Haft sind, gibt es noch einiges an Aufarbeitung zu tun. Unter anderem sind noch immer Gräber von gewaltsam Verschwundenen der Militärdiktatur unentdeckt. Eben wegen der Suche nach einem dieser Gräber machte sich Carroza auf den Weg zum Gefängnis von Cauquenes, um dann direkt weiter zu fahren, um Hinweisen von Willy Malessa (68), einem ehemaligen Colono nachzugehen. Dieser berichtete von einem Grab, circa zwölf Kilometer vom Eingang der Colonia entfernt. Die Ermittlungen und Ausgrabungen dazu sind noch im Gange, Myrna Troncoso von der Vereinigung der Angehörigen der verhafteten Verschwundenen und politisch Hingerichteten in Talca, mahnt aber trotzdem, die Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben: „Es gibt eine neue Spur, einen neuen Hoffnungsschimmer dafür, dass diese Erde einen oder mehrere unserer geliebten Angehörigen versteckt. „Wir dürfen keine Erwartungen aufbauen, die über das hinausgehen, was die Wissenschaft und das korrekte Handeln von Herrn Mario Carroza uns sagt.“ Man müsse nun vorsichtig und behutsam sein.

Während in Chile also zumindest etwas Hoffnung besteht, dass die sterblichen Überreste einiger der im Auftrag der Militärdiktatur gewaltsam Verschwundenen gefunden werden können, wurden in den letzten Sitzungswochen des Bundestages die Weichen dafür gestellt, dass auch in Deutschland Aufarbeitung stattfinden kann. Nach monatelangem Hin und Her und den üblichen unwürdigen parteipolitischen Spielchen wurde am 29. Juni ein von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Grünen eingebrachter Antrag mit dem Titel „Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad“ einstimmig beschlossen. Auch die Linkspartei, die bei der Antragsausarbeitung ausgeschlossen wurde, unterstützte den Antrag. „Leider konnte die Union auch in diesem Fall nicht über ihren ideologischen Schatten springen“, so der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Jan Korte.

Neben einem Hilfsfond für die Opfer der Sekte, soll eine Begegnungs- und Gedenkstätte eingerichtet, sowie eine deutsch-chilenischen Expertenkommission eingesetzt werden.

Neben einem Hilfsfond für die Opfer der Sekte, soll eine Begegnungs- und Gedenkstätte eingerichtet, sowie eine deutsch-chilenischen Expertenkommission eingesetzt werden. Die Opfer sollen psychosozial betreut und gegebenenfalls finanziell unterstützt werden. Dafür sollen nach dem Willen der Parlamentarier auch Mittel aus dem Vermögen der Sekte herangezogen werden. Bemerkenswert an dem Antrag ist, dass die Opfer der chilenischen Militärdiktatur ausdrücklich erwähnt werden.

Vor allem aber verpflichtet der Antrag die Bundesregierung bis zum 30. Juni 2018 „ein Konzept für Hilfsleistungen zur Beratung vorzulegen und dessen Finanzierung zu prüfen.“ „Durch die konkrete Frist ist sichergestellt, dass Fragen mit finanziellen Konsequenzen nicht nur geprüft, sondern auch umgesetzt werden“, so Christian Flisek (SPD) gegenüber den LN. „Im vorliegenden Antrag wird jede eindeutige Zusage für die Förderung der Aufarbeitungs- und Gedenkarbeit sowie einer Hilfe für die Opfer vermieden“, kritisiert hingegen Jan Korte.

Laut Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile Lateinamerika (FDCL) ist der Antrag ein wichtiges und Hoffnung gebendes Signal. „Zum Feiern ist es aber noch zu früh. Es gab ja schon 2002 einen Bundestagsbeschluss mit dem Titel ‘Hilfe für die Opfer der Colonia Dignidad’, der nicht angemessen umgesetzt wurde“. Stehle erinnert zudem daran, dass auf chilenischer Seite auch noch viel passieren muss, da viele der im Antrag beschlossenen Maßnahmen nur bilateral umgesetzt werden könnten.

Die Entwicklungen in Deutschland werden auch in Chile kritisch begleitet. „Das ist das erste echte Signal dafür, dass die Schäden, die die Sekte von Paul Schäfer angerichtet hat, beglichen werden“, sagte Myrna Troncoso von der Vereinigung der Angehörigen gegenüber den LN.
Tatsächlich scheinen dieses Mal den Ankündigungen und Willensbekundungen des Bundestages Taten zu folgen. Der Regionalbeauftragte für Lateinamerika und Karibik, Botschafter Dieter Lamlé, und der Botschafter der Republik Chile, Patricio Pradel, haben schon am 12. Juli Absprachen über die Einsetzung einer chilenisch-deutschen Kommission unterschrieben. Klar ist bis jetzt, dass diese Kommission die Vergangenheit der Colonia aufarbeiten, deren Vermögen untersuchen, sowie eine Gedenkstätte einrichten soll.

Unklar ist allerdings wer in der Kommission vertreten sein wird. „Wir hoffen, dass zivilgesellschaftliche Organistionen und Experten nicht nur angehört, sondern in die Arbeit der Kommssion von Beginn an mit eingebunden werden. Im besten Fall ist dies der erste Schritt für die Schaffung einer Wahrheitskommission, die zur umfassenden Aufklärung aller Verbrechen der Colonia beitragen kann“, so Jan Stehle. Zum ersten Treffen der Kommission im Oktober in Chile sollen nach jetzigem Stand allerdings nur Regierungsvertreter*innen kommen. Immerhin wird aber schon vor den im November und Januar anstehenden Wahlen die Arbeit aufgenommen. Sollte nämlich der Konservative Sebastian Piñera als Sieger aus den Präsidentschaftswahlen in Chile hervorgehen, dürfte dies die Arbeit der Kommission noch schwerer und langsamer machen, als sie sowieso schon ist.

Erstaunliche Geschwindigkeit aufgenommen hat wiederum das Vollstreckungsersuchen gegen den ehemaligen Sektenarzt Hartmut Hopp, der in Chile wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Dieses lag dem Landgericht Krefeld seit 2015 vor. Es geht dabei um die Frage, ob Hopp die gegen ihn verhängte Haftstrafe in Deutschland verbüßen muss. Das Gericht war wiederholt für seine langsame Vorgehensweise kritisiert worden. Am 14. August erklärte es überraschenderweise das chilenische Urteil für in Deutschland vollstreckbar. Petra Isabel Schlagenhauf, Kooperationsanwältin des European Center for Constitutional and Human Rights sagte dazu in einer Presseerklärung: „Die Entscheidung des Landgerichts Krefeld gegen Hartmut Hopp wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch in der Colonia Dignidad begrüße ich sehr. Sie lässt darauf hoffen, dass in diesem Teilbereich der in der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen die Aussicht für die Opfer besteht, dass Gerechtigkeit geschieht. Sie bestätigt außerdem, dass die Verurteilung von Hartmut Hopp in Chile in einem rechtsstaatlichen Verfahren erfolgt ist.” Die Entscheidung ist allerdings noch nicht rechtskräftig, da Hopp, der unbehelligt in Krefeld lebt, Rechtsmittel eingelegt hat. Zumindest aber ist es nun im Bereich des Möglichen, dass mit ihm ein weiterer Colonia-Funktionär für seine Taten zur Rechenschaft gezogen wird.

BLUTIGE BANANEN

Das investigative Nachrichtenportal VerdadAbierta.com veröffentlichte kürzlich zahlreiche Auszüge aus Gerichtsakten, welche beweisen, dass das Unternehmen Chiquita Brands L.L.C. jahrzehntelang unter anderem paramilitärische Gruppen finanzierte, die zur gleichen Zeit schwe­­re Gewalttaten und Menschrechtsverletzungen begingen. Die Dokumente wurden dem Gericht im Zuge eines Verfahrens von der US-Börsenaufsichtsbehörde zur Verfügung gestellt. Sie zeigen, dass Chiquita seit Ende der 1980er Jahre bis Anfang der 2000er regelmäßig Zahlungen an verschiedene bewaffnete Akteure des kolumbianischen Konflikts leistete. Insgesamt gingen mehrere Millionen Dollar sowohl an linke Guerillagruppen als auch an rechte Paramilitärs und zivile Milizen sowie an Brigaden der kolumbianischen Armee. Die Zahlungen konzentrierten sich auf die Bananenanbauregionen der Bundesstaaten Antioquia und Magdalena. Insbesondere die Zeug*innenaussagen einiger Vorstandsmitglieder und Geschäftsführer*innen des zu den größten Bananenexporteuren der Welt zählenden Unternehmens bieten einen Einblick in die Vorgänge. So beschreiben die befragten Personen die getätigten Zahlungen an bewaffnete Akteure in Kolumbien wiederholt als „ganz normale Ausgaben“, die sich nicht von Zahlungen für Düngemittel oder Insektenvernichtungsmittel unterschieden hätten.

Sieben Jahre lang kämpfte das National Security Archive, eine Forschungs- und Archivierungseinrichtung an der George Washington University in Washington D.C., für die Freigabe der mehr als 9.000 Seiten an Informationen in den Händen der US-amerikanischen Börsenaufsicht. Diese hatte zahlreiche Mitarbeiter*innen von Chiquita Brands International unter Eid aussagen lassen. Die gesammelten Protokolle zeigen das Bild eines routinierten Systems geheimer Transaktionen auf allen Seiten des Konflikts. Und sie zeigen das Kalkül und die Skrupellosigkeit der hinter den Zahlungen stehenden Verantwortlichen.

Robert F. Kistinger war über 27 Jahre lang in leitenden Managementpositionen bei Chiquita tätig und berät das Unternehmen bis heute. In seiner Aussage vor der Börsenaufsicht im Jahr 2000 bestätigte er, seit den 1980er Jahren über die Zahlungen informiert gewesen zu sein. Diese Vorgänge hätten jedoch kaum spürbare Auswirkung­en auf die Gesamtumsätze des Un­ter­neh­mens gehabt: „Wissen Sie, wir hören doch nicht auf, in Kolumbien Geschäfte zu machen, nur, weil wir 25.000 Dollar extra ausgeben müssen“, so Kistinger. Die Kosten wurden von Chiquita demnach als „notwendig, aber zu verschmerzen“ betrachtet und sollten offenbar eine mög­lichst störungsfreie Bananenproduktion im Land ga­rantieren.

Die Manager*innen zeigen sich von der Tatsache, dass dabei kontinuierlich für Verbrechen an der Zvilbevölkerung verantwortliche Gruppen finanziert wurden, wenig beeindruckt.

Die verantwortlichen Manager*innen zeigen sich von der Tatsache, dass dabei kontinuierlich unter anderem terroristische und paramilitärische Gruppen finanziert wurden, die zur gleichen Zeit für Massaker an der Zivilbevölkerung, Auftragsmorde, gewaltsames Verschwindenlassen von Personen, Vergewaltigungen sowie Vertreibungen ganzer Gemeinden verantwortlich waren, wenig beeindruckt. So berichtete Jorge Forton, der ab 1995 für Chiquita in Kolumbien ein standardisiertes Zahlungsmodell einführen sollte, dass das Geld zunächst gewaltsame Übergriffe der bewaffneten Gruppen auf Mitarbeiter*innen von Chiquita verhindern sollte. Er sei sich jedoch auch bewusst gewesen, dass damit Gruppen finanziert wurden, die zu einer Intensivierung des gewalttätigen Konflikts in der Region beigetragen hätten. Das habe seine Chefs in den USA jedoch kaum interessiert, so Forton.

Bereits 2007 wurde Chiquita als erster multinationaler Konzern in den USA dafür verurteilt, einer internationalen terroristischen Organisation Geld gezahlt zu haben. In dem Verfahren ging es um Zahlungen von rund 1,7 Millionen Dollar zwischen 2001 und 2004 an den nationalen Dachverband der rechtsgerichteten ko­lum­bianischen Paramilitärs (AUC). Chiquita wurde in diesem Verfahren zu einer Geldstrafe in Höhe von 25 Millionen Dollar verurteilt. Allerdings wurden bis heute keine Angestellten des Unternehmens zur Verantwortung gezogen. Dies fordert nun ein Zusammenschluss kolumbianischer Nichtregierungsorganisationen (NGOs) vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag. Mindestens 14 ehemalige und aktuelle Mitarbeiter*innen von Chiquita wurden von den NGOs als Personen mit Verantwortung in den beschriebenen Vorgängen identifiziert. Als Begründung für die Anrufung des IStGH führen die Organisationen an, dass der Geltungsbereich der kolumbianischen Justiz für ein solches Verfahren nicht ausreiche, da unter anderem die USA die verantwortlichen Personen nicht ausliefern wollen.

“Chiquita war nicht dazu gezwungen, 15 Jahre lang in Kolumbien zu bleiben und die Akteure des Konflikts zu bezahlen.”

In ihrem Schreiben an den IStGH beschreiben die NGOs, dass es sich bei den Zahlungen schon auf Grund ihrer Regelmäßigkeit und ausgeklügelten Abrechnung nicht um einzelne „Fehler“, sondern um absichtliche Zuwendungen gehandelt habe. Sprecher*innen von Chiquita haben immer wieder argumentiert, die Zahlungen an den AUC hätten auf Grund von Erpressung stattgefunden. Dieser Darstellung wiedersprach jedoch bereits ein US-Richter, der 2007 an dem Verfahren gegen Chiquita teilnahm: „Als multinationales Unternehmen war Chiquita nicht dazu gezwungen, 15 Jahre lang in Kolumbien zu bleiben und gleichzeitig die drei wesentlichen Akteure des Konflikts zu bezahlen, die währenddessen das kolumbianische Volk terrorisierten.“ Auch der damalige stellvertretende Oberstaasanwalt, Michael Chertoff, äußerte in dem Zusammenhang: „Das Unternehmen hatte eine legale Alternative: Kolumbien verlassen.“

Bezüglich der Zahlungen an die Guerillagruppen FARC, ELN und ELP wurden bisher weder in den USA noch in Kolumbien Verfahren eingeleitet. In dem Verfahren um die Zahlungen an den Dachverband der Paramilitärs (AUC) gab Chiquita auch Zahlungen von mehr als 850.000 US-Dollar an die linken Guerillas zu, jedoch nur im Zeitraum von 1989 bis 1997, als diese von den USA noch nicht als terroristische Gruppen deklariert wurden. In diesem Zeitraum wurden, nach Informationen der kolumbianischen Beobachtungsstelle für Erinnerung und Konflikt, in den Bananenanbauregionen 181 Menschen bei 21 Massakern getötet. 15 dieser Massaker werden der FARC zugeschrieben. Nach einem Treffen zwischen Vertreter*innen von Chiquita und dem Anführer des AUC, Carlos Castaño Gil, 1997, wurden die meisten Zahlungen an linke Guerillagruppen eingestellt und von da an vor allem paramilitärische Gruppen und rechtsgerichtete Milizen bezahlt.

Die nun von dem Zusammenschluss kolumbianischer NGOs angestrebte juristische Auf­arbeitung auf internationaler Ebene wird unter dem Stichwort „Ende der Straflosigkeit“ vorangetrieben. Ziel ist es, so die Organisationen in ihrem Schreiben, auch auf nationaler Ebene klare strafrechtliche Verantwortlichkeiten zu bestimmen. Zudem sei das Handeln des Internationalen Strafgerichtshofs entscheidend für die mögliche Verhinderung ähnlicher von multinationalen Konzernen finanzierter Verbrechen, so der Brief.

ES TUT SICH WAS

Wie das Forschungs- und Dolkumentationszentrum Chile Lateinamerika (FDCL) in einer Pressemitteilung festhielt, seien die Entschädigungen bereits im Januar 2013 vom höchsten chilenischen Gericht festgelegt worden. „Die Nachfolgeunternehmen der Colonia haben versucht, die Entschädigungszahlungen zu verhindern, es ist begrüßenswert, dass das nicht funktioniert hat“, so Petra Schlagenhauf, die als Anwältin zum Thema arbeitet.
Mit dem Urteil vom 14. März scheiterte die Strategie der Unternehmen nun aber letztinstanzlich. Nach Angaben des FDCL handelt es sich um die ersten Entschädigungszahlungen an Opfer der Colonia Dignidad überhaupt. „Die Finanz- und Vermögenssituation der ehemaligen Colonia Dignidad wurde niemals umfassend untersucht“, so Jan Stehle vom FDCL. Kurz vor Ende der Diktatur in Chile (1990) übertrug die Siedlung ihre Vermögenswerte auf ein intransparentes Geflecht von geschlossenen Aktiengesellschaften und kam so einer Auflösung zuvor. Ein weiterer Teil des unter anderem durch Waffenhandel und sklavenähnliche Arbeit angehäuften Vermögens wurde im Ausland versteckt und bislang nicht aufgefunden. Trotzdem wurden die Nachfolgeunternehmen nach der Festnahme von Paul Schäfer mehrere Jahre lang sowohl vom deutschen als auch vom chilenischen Staat beraten und unterstützt.

Gleichzeitig gibt es auch in Deutschland Entwicklungen in Bezug auf die Colonia Dignidad. Renate Künast (B90/Grüne) und andere Abgeordnete der Grünen und der Linksfraktion stellten Ende März einen als Namensantrag ohne Fraktionszwang geschriebenen Antrag, der es Abgeordneten ermöglichen soll, „ihrem und seinem Gewissen“ folgen zu können, so die Abgeordnete der Linksfraktion Heike Hänsel gegenüber den LN. Dass der jetzige Antrag Unterstützung aus dem Regierungslager bekommen wird, ist unwahrscheinlich, denn die Regierungskoalition arbeitet nach Bekunden von Matthias Bartke (SPD) an einem eigenen Antrag. Dieser dürfte sich inhaltlich nicht stark von dem der Grünenpolitikerin unterscheiden, gibt es doch nach allseitigem Bekunden einen fraktionsübergreifenden inhaltlichen Konsens. Wie über diese Anträge entschieden wurde und ob und wann der Antrag der Regierungsfraktionen eingebracht werden soll, war bis Redaktionsschluss noch nicht bekannt.
Nach der historischen Rede vom damaligen Außenminister und heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der im April 2016 öffentlich gesagt hatte, der Umgang mit der Colonia Dignidad sei „kein Ruhmesblatt, auch nicht in der Geschichte des Auswärtigen Amtes“, gab es die Hoffnung, dass sich in Bezug auf die Aufarbeitung mehr tue als bisher. Schon 2002 allerdings hatte der Bundestag einen Beschluss formuliert, der bis heute auf Umsetzung wartet.

Hartmut Hopp, ein von einem chilenischen Gericht zu fünf Jahren Haft verurteilter Sektenarzt, lebt unterdessen weiterhin straflos in Krefeld. Er hatte sich 2011 der chilenischen Justiz entzogen und in Krefeld niedergelassen. Die chilenische Justiz hatte bereits Mitte 2014 bei der deutschen Justiz beantragt, das Urteil in einem deutschen Gefängnis zu vollstrecken. Die Entscheidung darüber, ob diesem Antrag stattgegeben wird, liegt dem Landgericht Krefeld seit mehr als einem Jahr zur Entscheidung vor. Getan hat sich, wie so oft, wenn es um die deutsche Aufarbeitung der Colonia geht, noch nichts.

 

STRAFE TROTZ MACRI

Buenos Aires, 20. September 2016. Das Gerichtsgebäude mit seiner bürokratischen Nüchternheit nimmt einen ganzen Häuserblock ein. Gleich hinter ihm beginnt das Hafenviertel. Vom Stadtzentrum ist es durch mehrspurige, vom Schwerlastverkehr beherrschte Avenidas abgeschnitten. Wer das Gebäude betritt, gelangt in ein zentrales Hauptportal, das von hohen Eisengittern umgeben ist. Ob man zu den Kläger*innen oder den Angeklagten gehört, will das Personal wissen, dann erst gibt es die Zutrittserlaubnis. Der Verhandlungssaal liegt im Keller. Er ist fensterlos und in ein schummriges künstliches Licht getaucht. Der allgemeine Publikumsbereich, der durch eine Glaswand vom Innenbereich getrennt ist, ist an diesem Tag prall gefüllt. Unter den vielen Köpfen stechen zwei hervor, bedeckt mit den weißen Tüchern der Madres de la Plaza de Mayo. Darüber befindet sich die Galerie. Dort sitzen – außerhalb des Sichtbereichs aller anderen – die Angehörigen und Sympathisant*innen der Angeklagten.

Fotos: Christian Dürr

Dann betreten die Richter den Saal und ein mehrminütiges Blitzlichtgewitter beginnt. Von den Angeklagten dürfen keine Fotos gemacht werden, was zu einem ablehnenden Raunen im Publikum führt. Die neun älteren Herren, die Minuten später den Saal betreten, sind halb formell, halb leger gekleidet. Das Haar ist bereits schütter. Ihre Namen sind: Gerardo Jorge Arráez, Juan Carlos Mario Chacra, Eduardo Ángel Cruz, Alfredo Omar Feito, Raimundo Oscar Izzi, Carlos Alberto Lorenzatti, Héctor Horacio Marc, Juan Miguel Méndez und Ricardo Valdivia. Im Dienste der staatlichen Repressionsorgane waren sie Schergen der argentinischen Militärdiktatur, die von 1976 bis 1983 rund 30.000 Personen gewaltsam „verschwinden“ ließ. Konkret wird ihnen zur Last gelegt, an Entführungen, Folterungen und Morden in drei geheimen Internierungszentren im Großraum Buenos Aires mit den Namen „Club Atlético“, „Banco“ und „Olimpo“ – kurz: „ABO“ – beteiligt gewesen zu sein.

Die Verlesung der Anklageschrift dauert mehr als zwei Stunden. 352 Einzelfälle müssen in den kommenden Monaten verhandelt werden. In allen lautet die Anklage auf illegale Freiheitsberaubung und Folter, in einigen wenigen auch auf Mord. Die Militärs wollten möglichst keine konkreten Spuren ihrer Verbrechen hinterlassen, auch nicht in Form der Körper der Ermordeten. Eine der Methoden sich ihrer zu entledigen war, die Gefangenen noch lebend aus Flugzeugen über dem Rio de la Plata abzuwerfen. Doch der Fluss hatte oft seinen eigenen Willen und spülte die Toten wieder zurück ans Ufer. Die Behördenermittlungen führten im Fall solcher Leichenfunde nie zu einem Ergebnis, waren die Behörden selbst doch für das Verbrechen mitverantwortlich. Die Körper wurden als NN –„Identität unbekannt“– in den nächstgelegenen Friedhöfen bestattet. So vergingen Jahre und Jahrzehnte. Erst mittels der modernen forensischen Methoden der Argentinischen Arbeitsgruppe für forensische Antropologie (EAAF), einer Vereinigung von Gerichtsmediziner*innen im Dienste der Menschenrechte, konnten in den letzten zwei Jahrzehnten eine beträchtliche Zahl unbekannter Opfer identifiziert und ihre Angehörigen verständigt werden. Auch im Fall des Olimpo leistete die EAAF entscheidende Aufklärungsarbeit. Im Jahr 2007 wurden zehn als NN begrabene Leichen als die sterblichen Überreste einer Gruppe von Gefangenen identifiziert, die am 6. Dezember 1978 auf einen „Todesflug“ geschickt worden war. Heute kann daher in diesen Fällen wegen Mordes angeklagt werden.

Der erste Verhandlungstag wird für beendet erklärt. Die Angeklagten im Saal erheben sich von ihren Stühlen und strecken ihre Beine durch. Die Zuseher*innen hinter der Glasscheibe machen dasselbe. Dann beginnen einige von ihnen zu singen und spontan stimmen alle anderen mit in den Chor ein: „Cómo a los nazis les va a pasar: a donde vayan los iremos a buscar“ („Wie den Nazis wird es ihnen ergehen: Wo immer sie sich auch verkriechen, wir werden sie uns holen“). Die Angeklagten tun so, als würden sie davon keine Notiz nehmen.

Im Publikum befindet sich auch Isabel Fernández Blanco. Isabel war Gefangene in den Folterlagern Banco und Olimpo. Es wird zumindest noch ein Jahr dauern, bis sie als eine der letzten Zeug*innen im Prozess aussagen wird. Bis dahin wird sie sich mental intensiv darauf vorbereiten. Wenn Überlebende im Gerichtssaal ihren Folterern gegenübersitzen, öffnet sich die Vergangenheit in ihnen oft wie ein Strudel, der sie zurück in die Opferrolle kippen lässt. Isabel dagegen will, so wie in den Prozessen davor, Fassung bewahren und so viele Informationen wie möglich liefern, die zur Verurteilung führen. Sie hat viele Erinnerungen, etwa an ihren ersten Folterer im Internierungszentrum Banco, Julio Héctor Simón, alias „Turco Julián“: „Eines Tages holte er mich aus meiner Zelle und brachte mich in ein kleines Zimmer. Dort brachte er mich mit seinen Schlägen halb um. Aber irgendwann kommt der Moment, an dem du aufhörst, Schmerzen zu empfinden. Er konnte mich weiter schlagen, aber mein Körper war von den vielen Schlägen wie betäubt. Ich konnte nicht mehr vom Boden aufstehen, und da begann ich zu heulen. Ich erinnere mich noch, was er mir sagte: ‚Was für ein Glück du hast, dass du heulen kannst.‘ Dann half er mir auf die Beine, setzte mich in einen Stuhl und bot mir eine Zigarette an.“

„Turco Julián“, war einer der berüchtigtsten Folternden im Komplex ABO. Dennoch konnte er nach dem Ende der Diktatur jahrelang frei herumlaufen. In den 1990er-Jahren absolvierte er Auftritte in Fernsehshows, in denen er sich öffentlich seiner Taten brüstete. Die Schergen der Diktatur waren lange Zeit vor jeglicher rechtlicher Verfolgung sicher – und das obwohl die erste Phase der Aufarbeitung mit der Einsetzung einer „Nationalen Kommission über das Verschwindenlassen von Personen“ (COANDEP) im Jahr 1983 und dem Prozess gegen die Mitglieder der Militärjuntas im Jahr 1985 vielversprechend begann. Unter dem demokratischen Präsidenten Alfonsín wurden 1986 und 1987 zwei Gesetze verabschiedet, die die weitere Strafverfolgung praktisch zum Erliegen brachten: das erste setzte für das Einbringen von Anzeigen wegen Menschenrechtsverletzungen ein zeitliches Ultimatum; das andere machte Gehorsamspflicht gegenüber Vorgesetzten geltend und gewährte damit den tatsächlichen Folterern, die oft niedrigeren militärischen Rängen entstammten, praktisch Straffreiheit. Alfonsíns Nachfolger Carlos Menem erließ Amnestiegesetze, mit welchen die bis dahin Verurteilten wieder auf freien Fuß gelangten. Doch im Jahr 2003, zwei Jahre nach dem argentinischen Volksaufstand, wurden diese Gesetze vom Kongress für ungültig erklärt. Dies öffnete den Weg für neue Verfahren, und es war just Julio Héctor Simón alias „Turco Julián“, der als erster verurteilt wurde: im Jahr 2006 zu 25 Jahren Haft, im Jahr 2010 wegen weiterer Delikte schließlich zu lebenslang.

“Hier lebt ein Massenmörder”: Escrache gegen Alfredo Omar Feito

 Der Soziologe Daniel Feierstein analysierte für ein 2015 erschienenes Buch sämtliche seit 2006 geführten Diktatur-Prozesse. Bis Jahresende 2013 ergingen demnach 110 Urteile zu mehr als 3.000 individuellen Fällen. Von etwa 600 Angeklagten wurden mehr als 550 verurteilt – eine Bilanz die weltweit ihresgleichen sucht, wenn es um die juristische Verfolgung staatlicher Verbrechen geht. Die Prozesse waren unter den Regierungen von Néstor Kirchner (2003-2007) und Cristina Fernández de Kirchner (2007-2015) als staatspolitische Priorität vorangetrieben worden. Mit dem Regierungswechsel und dem Amtsantritt des konservativen Staatspräsidenten Mauricio Macri Ende 2015 hegten viele die Befürchtung, dass die Verfahren zum Stillstand kommen würden. Doch zeigt sich, dass diese mittlerweile eine soziale Dynamik erreicht haben, die auch die gegenläufigen politischen Interessen der neuen Regierung nicht mehr zu stoppen vermögen. Unter dem Präsidenten Macri wurden Budgets und Personal gekürzt, weswegen sich die staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen verzögern und die dringend notwendige psychologische Betreuung der Zeug*innen immer dürftiger wird. Doch auch wenn die Umstände, unter denen sie stattfinden, prekärer werden, die Prozesse selbst gehen weiter. Die von Feierstein erhobenen Zahlen werden in Zukunft weiter nach oben korrigiert werden müssen.

Seit Macris Amtsantritt häufen sich außerdem Fälle, in denen Militärs Hausarrest gewährt wird. Anstatt wie jede*r gewöhnliche Verbrecher*in die Haft in einem öffentlichen Gefängnis abzusitzen, können sie es sich zu Hause, umgeben von Familie und Dienstpersonal, gemütlich machen. Dieses Privileg wurde auch einem Angeklagten des aktuellen Verfahrens um den Komplex ABO zuteil: Alfredo Omar Feito, in einem früheren Prozess bereits rechtskräftig zu 28 Jahren Haft verurteilt. Die Organisation H.I.J.O.S., gegründet von Nachkommen von während der Militärdiktatur „verschwundenen“ Personen, hat daher zu einem sogenannten Escrache gegen Feito aufgerufen. Der Escrache ist eine während der Epoche der Straffreiheit in den Neunzigern entstandene Form des sozialen Protests, der in einer Mischung aus Volksfest und politischer Demonstration nach wie vor in Freiheit lebende Täter*innen öffentlich outet und die gesellschaftliche Sanktion durchsetzt, wo die staatliche Sanktion versagt. Treffpunkt ist das ehemalige Folterlager Olimpo, vormals Feitos „Dienststelle“. Die physischen Überreste des Olimpo sind heute ein Ort der Erinnerung, aber auch des Community Building im Zeichen der Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart. In dem angeschlossenen Seminarzentrum finden etwa Workshops statt, die sich mit der ökonomischen und politischen Geschichte und Gegenwart Argentiniens befassen. Am 14. Dezember spätnachmittags dominieren Plakate mit den Gesichtern der „Verschwundenen“ das Gelände.

Die Verlesung der Anklageschrift dauerte mehr als zwei Stunden.

Dazu wehen die Fahnen von politischen Organisationen und Menschenrechtsgruppen. Eine Murga – die für die Region des Rio de La Plata typische Form der karnevalesken Musik- und Tanzensembles – lässt ihre Trommeln und Trompeten ertönen. Der Demonstrationszug bewegt sich vorbei an neugierigen bis gleichgültigen Anrainer*innen durch ein Mittelschichtsviertel am südwestlichen Rand von Buenos Aires. Julián Athos ist Fotograf und Mitglied von H.I.J.O.S. Er hält diesen historischen Moment mit seiner Kamera fest. Der letzte Escrache, an den er sich erinnern kann, fand im Jahr 2006 gegen niemand geringeren als den Ex-General Jorge Rafael Videla statt. Durch die Wiederaufnahme der Prozesse wurde diese Form des Protests in den folgenden Jahren obsolet. Doch nun sei die Zeit reif, sie wieder aufleben zu lassen. Nach etwa einer Stunde erreicht der Zug eine größere Straßenkreuzung und kommt zu einem Halt. Ordner versuchen Struktur in das Chaos zu bringen. Die Menge singt im Rhythmus der Murga das unvermeidliche „Como a los nazis les va a pasar…“. Eine Gruppe junger Leute malt quer über die Fahrbahn mit gelber Farbe und in breiten Lettern die Worte: „Acá vive un genocida“ („Hier wohnt ein Völkermörder“). Der dazugehörige Pfeil zeigt auf ein unscheinbares, graues, zweistöckiges Haus. Es sieht aus, als sei es lange verlassen. Sämtliche Rollläden sind heruntergelassen, und nicht ein Lichtschimmer ist zu sehen. Hier wohnt Alfredo Omar Feito. Doch heute hat er es vorgezogen, sich an einen anderen Ort zu begeben. Zum Abschluss der Veranstaltung gibt es Reden. Sie erinnern an Feitos Rolle während der Diktatur. Sie betonen die Bedeutung der Gerichtsprozesse. Sie kritisieren die aktuelle Regierung für ihren Unwillen, diese konsequent weiterzuführen. Und sie prangern die sich zuletzt mehrenden Vorfälle von Polizeigewalt und Einschüchterungsversuchen gegenüber Regierungs­gegner*innen an.

Neue Prozesse werden folgen, wenn im Prozess ABO ein Urteil gefällt worden sein wird. Etwa gegen die ökonomischen Profiteure der Diktatur: Leute wie den Unternehmer Carlos Pedro Blaquier, der seine eigene Belegschaft verfolgen und auf seinem Firmengelände ein Folterzentrum errichten ließ. Die Justiz unter Macri sträubt sich, dieses Kapitel der gerichtlichen Aufarbeitung anzugehen. Doch die Gesellschaft verlangt danach. Und so lange dem nicht entsprochen wird, wird es in Zukunft noch den einen oder anderen Escrache mehr geben.

KEIN GRUND ZUM FEIERN

„Opfer des Bürgerkrieges fordern dazu auf, das Friedensabkommen zu befolgen“, heißt es in den großen Zeitungen Guatemalas. Eine eher kurze Nachricht, die überall identisch zu sein scheint und schnell wieder aus der Medienlandschaft verschwindet. Der Hintergrund: Opferverbände und Vertreter*innen staatlicher Institutionen  haben sich am 16. November getroffen, um einen Bericht über den Fortschritt der Friedensvereinbarungen zu präsentieren. Am 29. Dezember 2016 wird in Guatemala das 20. Jubiläum des Friedensschlusses gefeiert. Der Bürgerkrieg zwischen der Regierung und dem National-Revolutionären Verband Guatemalas (URNG) wurde im Jahr 1996 nach 36 Jahren offiziell beendet.
Opferverbände, darunter die Nationale Opfer-Bewegung Q’anil Tinamit, erinnerten die Regierung nun daran, sich an die Beschlüsse des Friedensabkommen zu halten. Sie blickten zum einen auf das Geschehene zurück und weisen zum anderen auf neue Probleme hin, etwa die Zwangsumsiedlung von indigenen Gemeinden zugunsten von neuen Bergbau- und Wasserkraftwerken im Landesinneren.
Die spärliche Berichterstattung und die geringe öffentliche Aufmerksamkeit des Jubiläums  sind symptomatisch für den guate-*maltekischen Umgang mit dem Bürgerkrieg. Der Völkermord an den Maya-Indigenen, vor allem den Ixiles, aus der Region des Quiché Anfang der 1980er Jahre wird dabei besonders kontrovers diskutiert, wenn überhaupt. Denn sowohl auf Regierungsebene als auch inneralb der Gesellschaft bleibt dieser ein Tabu. Als Voraussetzung für eine sinnvolle Aufarbeitung verlangt der Bericht daher, dass die Regierung  die Dokumentation der Kommission zur Geschichtsaufklärung (CEH) anerkennt, und somit auch den Völkermord als solchen.
Generell wurden symbolische wie auch praktische Vereinbarungen bis jetzt nur teilweise oder auch gar nicht umgesetzt – deshalb macht der Bericht konkrete Vorschläge. So erinnert er unter anderem an den Nationalen Tag der Bürgerkriegsopfer, den es zwar offiziell gibt, der jedoch fast nirgendwo gefeiert wird. Außerdem wird angemahnt, dass im nationalen Schulprogramm kein Platz für die Berichte des CEH eingeräumt wird. Ohne Geschichtsaufklärung könnten Verbrechen wiederholt werden, warnen die Opferverbände.
Darüber hinaus solle sich das Militär offiziell entschuldigen und die Verantwortlichen des Völkermords sollen juristisch verfolgt werden, so die Forderung. Dem gegenüber steht die Praxis der letzten Jahre, in denen das Militär immer häufiger im Inneren eingesetzt wurde und ein höheres Budget bekam. Die Opfer des Bürgerkriegs betrachten das als eine Bedrohung, da die Massaker an den Ixiles eben von Soldaten unter der Diktatur des General Efraín Ríos Montt verübt wurden.
Heute wird das  Militär als Schutzmacht für privatwirtschaftliche Großprojekte im Landesinneren eingesetzt, wo es gleichzeitig als Kontrollinstanz über die Einwohner*innen agiert. Für die Betroffenen ist der Zugang zu öffentlichen Rechtsinstitutionen wiederum oft schwer, sowohl wegen der langen Wege als auch wegen der Sprachbarrieren, denn es gibt nach wie vor wenige Übersetzer*innen der Maya-Sprachen. Kurzum: Während das Militär immer präsenter wird, bleibt der Anspruch auf Recht für die Landbevölkerung fern, wie zu Kriegszeiten. In diesem Sinne haben sich die Handlungsmöglichkeiten von Indigenen in den letzten Jahren sogar verschlechtert. Dass die Partei von Präsident Jimmy Morales von Militärveteranen gegründet wurde, macht die Zukunftsperspektive nicht gerade hoffnungsvoller.
Die klare Forderung der Opferverbände lautet, weniger Geld ins Militär zu investieren und stattdessen das Nationale Entschädigungsprogramm (PNR) zu stärken. Das PNR entstand ebenfalls aus den Friedensvereinbarungen und soll die Opfer entschädigen. Dies geschieht bisher nur in geringem Maße.
Eine weitere Aufgabe dieses Programms besteht in der Exhumierung von Personen, die entweder bei den Massakern ermordet und dann in Massengräbern verscharrt wurden, oder die als politische Gegner*innen von der Regierung „verschwunden gelassen“ wurden. Ziel ist es, die Ermordeten ihren Familien zu übergeben und offiziell zu beerdigen. Die Familien warten zum Teil schon 35 Jahre auf eine würdevolle Beerdigung ihrer Angehörigen. Nur so kann ein Prozess der individuellen und gesellschaftlichen Versöhnung beginnen. An dieser Stelle haben vor allem internationale Organisationen finanzielle Unterstützung bereitgestellt, nicht aber das dafür geschaffene Programm.
Auch wenn der Bericht über die Umsetzung des Friedensabkommens eine negative Bilanz zieht, gab es in den letzten Jahren Gegenbeispiele, die den Weg weisen, wie eine Aufarbeitung des Krieges aussehen könnte. Das Gerichtsurteil im Frühjahr 2016 etwa, in dem es um die Vergewaltigung von Frauen aus dem ehemaligen Militärposten Sepur Zarco durch Soldaten geht, fiel für die Opferverbände positiv aus (siehe LN 502). An diesem Beispiel wird deutlich, wie Rassismus und Sexismus im Krieg miteinander einhergehen, und dass das PNR unbedingt gezielte Programme für Frauen schaffen muss. Für Q’anil Tinamit und die Opfer-Bewegungen ist dieser Punkt besonders wichtig, angesichts der doppelten Diskriminierung, die indigene Frauen in öffentlichen Institutionen, inklusive im PNR, erleben.
Laut den Aktivist*innen müsse das Programm ernsthaftere Arbeit leisten und bräuchte dafür auch das vereinbarte Geld: 300 Millionen Quetzales im Jahr. Stattdessen wurden für das Jahr 2016 nur 25 Millionen zur Verfügung gestellt, wovon 60 Prozent für bürokratische Verfahren gebraucht werden. Darüber hinaus verlangen Frauen- und indigene Gruppen die Einrichtung einer Plattform auf Regierungsebene, um die öffentliche Politik des Friedens selbst mitbestimmen zu können. Der Bericht vom 16. November zeigt deutlich, dass die Aufarbeitung des Bürgerkrieges, der mehr als 200.000 Tote, 45.000  Verschwundene und 100.000 Vertriebene hinterlassen hat, lange noch nicht vorbei ist.

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