ZUM ZWEITEN MAL GEFLOHEN, ZUM ZWEITEN MAL GEFASST

In Chile gesucht, von der argentinischen Polizei gefasst Der Ex-Offizier Walther Klug (Foto: Policía Federal Argentina

Nach dem Putsch unter General Pinochet 1973 hatte Klug in den Pferdeställen des 3. Infanterieregiments von Los Ángeles im Süden Chiles ein Folterlager eingerichtet. Hunderte Gefangene wurden dort misshandelt, viele von ihnen ermordet. Überlebende Gefangene beschreiben den damals 23-jährigen Oberleutnant als besonders brutal und sadistisch. Die chilenische Menschenrechtsanwältin Patricia Parra, die Familienangehörige von Opfern gegen Klug vertritt, bezeichnet ihn als einen der Hauptverantwortlichen für Folter und Mord in diesem Militärstützpunkt.

Trotz der von ihm begangenen Verbrechen konnte Klug seine Karriere auch nach dem Ende der Diktatur 1990 fortsetzen und stieg bis zum Oberst auf. Erst im Oktober 2014, kurz nach seiner Pensionierung, verurteilte der Oberste Gerichtshof Chiles ihn im sogenannten Fall Endesa rechtskräftig zu einer Haftstrafe von zehn Jahren. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass Klug 1973 am Mord von sieben und dem Verschwindenlassen von 14 weiteren Arbeitern beteiligt war, die in den Wasserkraftwerken El Toro und El Abanico der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft Endesa in der Nähe der Stadt Los Ángeles tätig waren.

Schon bald nach seiner Verurteilung entzog sich Klug der chilenischen Justiz und seiner Haftstrafe, indem er sich nach Deutschland absetzte. Möglich machte das ein deutscher Reisepass, den Klug, dessen Großvater aus Deutschland stammte, im November 2014 in der deutschen Botschaft in Santiago de Chile erhielt. Auf die Frage, ob die Botschaft die Ausgabe des Reisepasses an Klug hätte verweigern können, heißt es aus dem Auswärtigen Amt, die Auslandsvertretungen prüften, „ob der Antragsteller im deutschen Fahndungsbuch gelistet ist“, da nur das einen Hinderungsgrund für die Ausstellung oder Ausgabe eines Passes darstellen könne. Mit Fahndungslisten der Gastländer finde hingegen kein Abgleich statt.

2014 in Deutschland angekommen, lebte Klug bis 2019 unbehelligt in der beschaulichen Kleinstadt Vallendar am Rhein, wie seine damalige Vermieterin bestätigte, und pflegte auch Kontakt zur dort ansässigen katholischen Schönstattbewegung.

In Artikel 16 Absatz 2 des Grundgesetzes ist festgeschrieben, dass deutsche Staatsangehörige nicht an Staaten außerhalb der EU ausgeliefert werden. So fand der Doppelstaatler Klug in Deutschland ein sicheres Rückzugsgebiet und ist dabei kein Einzelfall. Als weitere prominente Fälle sind der Arzt der Colonia Dignidad, Hartmut Hopp (siehe LN 533), und der deutsch-argentinische Folterer Luis Esteban Kyburg (siehe LN 557) bekannt.

In den Jahren von 2014 bis 2019 wurden gegen Klug auch keine eigenständigen strafrechtlichen Ermittlungen seitens der deutschen Justiz eingeleitet. Die Staatsanwaltschaft Koblenz hatte im März 2016 zwar die Aufnahme von Ermittlungen gegen Klug geprüft – diese aber verworfen. Laut Oberstaatsanwalt Rolf Wissen habe damals nur ein Interpol-Festnahmeersuchen für Klug im Zusammenhang mit einem anderen laufenden Gerichtsverfahren vorgelegen. Dabei ging es um den Fall des verschwundenen Studentenführers Luis Cornejo, und es habe geheißen, „dass der Gesuchte 1973 in Chile ein Lager geleitet haben soll, in das eine Person verbracht worden sei, die danach nicht wieder aufgetaucht sei“. Diese Tatvorwürfe seien nach deutschem Recht aber verjährt; nur ein Mordvorwurf wäre es nicht. Dafür habe es jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte gegeben, so der Oberstaatsanwalt, „da nicht klar ist, ob, wo, wie und durch wen die in Chile verschwundene Person umgebracht worden ist“.

So wurde der über Interpol gesuchte Ex-Offizier erst 2019 bei einer Reise nach Italien verhaftet und 2020 nach Chile ausgeliefert. Diese Auslieferung galt zunächst allerdings nicht für die rechtskräftige Verurteilung zu zehn Jahren Haft im Fall Endesa, sondern nur für das noch laufende Gerichtsverfahren wegen des verschwundenen Studenten Luis Cornejo. Deswegen kam Klug dann in Chile für ein Jahr in Untersuchungshaft, wurde zwischenzeitlich aber mit Meldeauflagen und einem Ausreiseverbot auf freien Fuß gesetzt.

Als „grob fahrlässig“ bezeichnet das der Menschenrechtsanwalt Francisco Bustos, denn spätestens seit Klugs Flucht nach Deutschland 2014 sei klar gewesen, dass Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr in seinem Fall dringend geboten sei. „Das war wie die Chronik eines angekündigten Todes, es war abzusehen, dass er wieder fliehen wollte“, erklärt Anwältin Patricia Parra, „wir haben ein Problem fehlender Koordination. Richter und verschiedene Instanzen kommunizieren nicht ausreichend“.

Sie kritisiert, dass Chile über Jahre keinen internationalen Haftbefehl wegen Klugs rechtskräftiger Verurteilung zu zehn Jahren Haft im Fall Endesa erwirkt hatte. Da die Antwort Italiens auf das zweite Auslieferungsverfahren für diesen Fall noch ausstand, musste Klug diese Haftstrafe in Chile immer noch nicht antreten. Das änderte sich am 26. Mai 2021, als Italiens Oberster Gerichtshof schließlich Klugs Auslieferung an Chile auch für den Fall der ermordeten Arbeiter grundsätzlich zustimmte und die chilenischen Behörden darüber informierte.

Wie einer inzwischen auf Twitter veröffentlichten Recherche des Journalisten Luis Narváez zu entnehmen ist, ließen das chilenische Außenministerium und der Oberste Gerichtshof kostbare Zeit verstreichen. Klug wurde weder inhaftiert noch wurden sonstige Maßnahmen ergriffen, die seine erneute Flucht verhindert hätten.

Klugs Verteidiger hatten ihren Mandanten vermutlich viel schneller über den italienischen Auslieferungsbeschluss informiert. Jedenfalls floh der agile 70-Jährige schon Ende Mai aus Chile über die grüne Grenze Richtung Argentinien. Der immer gut gekleidete, mit deutschem Pass reisende Klug, der als pensionierter Offizier eine staatliche Pension von monatlich rund 1.500 Euro plus Zulagen erhält, versuchte, den Wettlauf mit der Zeit zu gewinnen. Nach Informationen von Página 12 soll er bereits am 1. Juni versucht haben, über den Flughafen von Buenos Aires nach Madrid und weiter nach Deutschland zu fliegen, das ihm ja bereits von 2014 bis 2019 ein sicheres Rückzugsgebiet geboten hatte.

Dass der Ex-Offizier bei der Flucht aus Chile keinen offiziellen Grenzübergang passiert und somit keine Einreisebestätigung nach Argentinien erhalten hatte, wurde ihm dabei zum Verhängnis. Bei einer Kontrolle am Flughafen-Check-In Richtung Europa stoppten argentinische Migrationsbeamte Klug wegen fehlender Einreisedokumentation und wegen eines alten Interpolvermerks. Sie konnten ihn nicht verhaften, aber seitdem hatten argentinische Polizeieinheiten ihn auf dem Radar, konnten seine Unterkunft identifizieren und ihn beobachten.

In Chile schlugen die Menschenrechtsorganisationen rund um den Gedenkort des früheren Folterzentrums Londres38 Alarm. Sie informierten ab dem 8. Juni via Twitter über Klugs Flucht. Anwält*innen und Medienvertreter*innen schlossen sich an, es kam zu einer breiten Mobi-*lisierung über Social Media. „Da musste sich auch die chilenische Justiz bewegen“, erklärt die Rechtsanwältin der Nebenklage Patricia Parra. Am 9. Juni erwirkte die zuständige Richterin Paola Plaza einen internationalen Haftbefehl, der über Interpol verbreitet wurde.

Mit diesem wurde Klug am 12. Juni schließlich auch in Buenos Aires festgenommen und nach einer Verzögerung durch eine Infektion mit SARS-CoV-2 am 28. Juni nach Chile überstellt. Dort befindet er sich momentan in der Kaserne des Heeresregiments „Chacabuco“ nahe Concepción in Südchile. Er habe erneut den Status eines Untersuchungshäftlings im Verfahren um den verschwundenen Studenten Luis Cornejo und genieße als Ex-Offizier in der Kaserne privilegierte Haftbedingungen, erklärt Opferanwältin Parra sarkastisch. Da die schriftliche Begründung Italiens für den Auslieferungsbeschluss der chilensichen Justiz bisher nicht vorliege, könne die zehnjährige Strafe im Fall Endesa immer noch nicht gegen Klug vollstreckt werden, so Parra weiter. Dass er darum nochmals herumkommt, scheint dennoch ausgeschlossen.

Schon 2005 hatte die argentinische Polizei den flüchtigen Anführer der Colonia Dignidad, Paul Schäfer, festgenommen. Mit Klugs Verhaftung ist es nun wieder die argentinische Polizei, die für den chilenischen – und in gewisser Weise auch für den deutschen – Justiz- und Polizeiapparat die Kohlen aus dem Feuer holt.

Deutschland als sicheres Rückzugs-gebiet für Diktaturverbrecher

So drängt die Interamerikanische Menschenrechtskommission auch Chile zu stärkerem Einsatz gegen die Straflosigkeit und forderte es jüngst auf, in Fällen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit keinen Straferlass zu gewähren.

Von Deutschland fordert der UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen die Einführung eines eigenen Straftatbestandes für das Ver-*schwindenlassen von Menschen. Laut einer 2010 in Kraft getretenen Konvention stellt die systematische Praxis des Verschwindenlassens ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. „Deutsch-*land hat als Vertragspartei der Konvention die zentrale Verpflichtung, einen eigenen Straftatbestand einzuführen“, sagt Barbara Lochbihler. Die frühere Grünen-Europapolitikerin ist seit 2019 Mitglied im UN-Ausschuss.

Im Juni 2020 legte die Bundesregierung den UN einen Bericht über die Fortschritte auf diesem Gebiet vor. Demnach vertritt das Justizministerium allerdings die Auffassung, „dass die bestehenden deutschen Straftatbestände und sonstigen Gesetze ausreichen, um Fälle von Verschwindenlassen angemessen aufzuklären und zu ahnden“.

Barbara Lochbihler bezeichnet das als „das falsche rechtspolitische Signal“. Sie kritisiert, das würde die Glaubwürdigkeit Deutschlands beschädigen. Denn die deutsche Regierung sei „sich schon bewusst, da sie ja sehr aktiv ist in internationalen Menschenrechtsgremien, dass es wichtig ist, dass man eine Konvention auch umsetzt, wenn man sie ratifiziert. Das hat auch eine Vorbildwirkung für andere Staaten, von denen man ja auch fordert, dass sie sie ordentlich umsetzen.“

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