Seit November 2023 regiert Daniel Noboa als jüngster Präsident der Geschichte das von Kartellen, Korruption und Auswanderung geprägte Ecuador. Wie lautet Ihre Zwischenbilanz wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen im Februar 2025?
Die Regierung von Daniel Noboa ist eine Übergangsregierung. Sie hat ein Mandat für nur 14 Monate und Daniel Noboa will dieses erste Mandat für eine ganze Legislaturperiode nutzen. Das war und ist alles andere als einfach, denn die Konflikte im Land, in den Gefängnissen, mit den Kartellen sind komplex. Die zentrale Herausforderung ist es, Ecuador sicherer zu machen. Das trauen ihm viele Menschen in Ecuador zu, wie die Umfrageergebnisse belegen. Nach seiner Vereidigung kam er auf etwas mehr als 80 Prozent Zustimmung, derzeit sind es etwa 32 Prozent mit leicht steigender Tendenz. Der Wahlkampf hat gerade erst begonnen.
Im Januar gab es noch massive Aufstände in sieben Haftanstalten, konnte Noboa die Situation verbessern?
Die Sicherheitskräfte haben es geschafft die Verbindungen nach draußen zu unterbinden oder zumindest einzuschränken. Die Gefängnisse sind derzeit nicht mehr die Drehscheibe der Gewalt. Es werden nicht mehr oder deutlich weniger Straftaten geplant, die dann draußen durchgeführt werden. Das ist ein Fortschritt und unter anderem der Beschlagnahme von Telefonen, Routern und Laptops zu verdanken. Dies wurde ermöglicht durch die vollständige Übernahme der Kontrolle der staatlichen Akteure in den Haftanstalten. Vorher kontrollierten die Kartelle de facto komplette Haftanstalten.
Die Regierung agiert nach wie vor unter den Bedingungen des Ausnahmezustands, ist das immer noch nötig?
Die Verhängung von Ausnahmezuständen gehörte zur Regierung von Guillermo Lasso (2021− 2023), der in 28 Monaten 18-mal den Ausnahmezustand verhängte, während Noboa in den ersten acht Monaten sechsmal den Ausnahmezustand verhängte. Die Regierung Noboa hat den Kartellen offen den Krieg erklärt, 22 Organisationen als terroristisch definiert und setzt die Armee ein. All das geht weit über das hinaus, was Guillermo Lasso verfügte. Er hatte nur die Verbrechen der Kartelle als terroristisch erklärt, nicht aber deren Organisationen und Strukturen. Das ist ein qualitativer Unterschied! Positiv ist auch, dass die Zahl der Morde langsam sinkt. Zwischen 2017 und 2023 gab es eine zunehmende Tendenz. Das hat sich in den letzten Monaten geändert. Die Zahl der Morde steigt nicht mehr und es gibt einen leicht abnehmenden Trend von etwa 16 Prozent.
Unter Daniel Noboa gibt es die ersten Ermittlungen gegen Richter und Staatsanwälte. Ein positiver Schritt?
Die ersten Ermittlungsverfahren gegen Justizangestellte sind ein positiver Schritt. Der Drogenschmuggel hat die Gesellschaft unterwandert. Die Kartelle bieten vor allem Jugendlichen Jobs und das ist ein nicht zu unterschätzender Faktor, denn fehlende Perspektiven für Jugendliche sind ein zentrales Problem. Die Narcobanden sind in fast jedem gesellschaftlichen Sektor zu finden – auch in der Justiz, im Parlament und in den Institutionen.
Derzeit wird ein neues Hochsicherheitsgefängnis in Santa Helena gebaut. Hat auch das Signalcharakter?
Ja und nein, denn im Januar war von zwei Gefängnissen die Rede, die gebaut werden sollten. Insgesamt gibt es zu wenig Plätze in den Haftanstalten, denn die Festnahmequote ist gestiegen. Ich gehe derzeit von 36.000 Häftlingen aus. Angesichts dieser Zahlen ist das neue Gefängnis zu klein. Dennoch erweitert es die Optionen für die Regierung, um die Capos der Banden und andere Straftäter unterzubringen.
In dem Referendum vom 21. April wurden die Themen Sicherheit und Wirtschaft abgefragt (siehe LN 599). Beurteilen Sie das Ergebnis als Erfolg für die Regierung Noboas?
Ja, aber ein relativer. Für alle neun Fragen zur Sicherheit im Land hat die Regierung ein positives Votum erhalten, aber für die beiden darüber hinaus gehenden Fragen zu Reformen des Arbeitsmarktes und des Finanzsektors erhielt sie eine Abfuhr. Eine weitere Liberalisierung des Arbeitsmarktes wird es nicht geben.
Es gibt Stimmen, die davor warnen, dass Ecuador in eine Situation wie Mexiko kommen könnte, wo die Kartelle trotz der Kriegserklärung der Politik 2006 an Stärke gewonnen haben. Halten Sie das für realistisch?
Nein, weder der Vergleich mit Mexiko, noch mit Kolumbien ist weiterführend. Kolumbien ist der wichtigste Kokain-Produzent, Ecuador baut kein Koka an. Mexiko grenzt direkt an die USA, weshalb der Schmuggel von Drogen ein immenser Faktor ist. Die Vergleiche hinken aus meiner Perspektive. Allerdings bin ich der Meinung, dass wir eine gemeinsame Drogenpolitik in Lateinamerika brauchen, um uns dieser immensen Herausforderung durch die Kartelle zu stellen. Wir brauchen mehr lateinamerikanische Integration!
Die Mengen des beschlagnahmten Kokains aus Ecuador und aus Kolumbien nehmen europaweit zu. Woran liegt das?
Der Markt hat sich stark verändert. Noch vor wenigen Jahren waren die USA der wichtigste Abnehmer für Kokain. Das hat sich gewandelt: Kokain wird weltweit versucht auf den Markt zu bringen. Europa ist dabei ein wichtiger Absatzmarkt, aber auch die osteuropäischen Länder geraten stärker in den Fokus der exportierenden Banden aus Kolumbien, Peru und Ecuador. Sie versuchen neue Märkte zu erschließen beziehungsweise alte zu erweitern, da es ein Überangebot an Kokain gibt. Das hat in Kolumbien zum Preisverfall für die pasta básica („Basispaste“) beigetragen, aber auch dazu, dass Kokain in Ecuador, in Kolumbien und anderswo angeboten wird. Der Konsum von Kokain ist in Lateinamerika deutlich gestiegen. Brasilien ist heute zweitwichtigster Absatzmarkt für Kokain weltweit und zudem wichtiges Transitland. Von dort geht die Ware weiter nach Afrika, Asien und Europa.
Welche Rolle spielt Ecuador als Drehscheibe?
Eine bedeutende: Rund 850 Tonnen Kokain werden im Jahr über Ecuador vertrieben. Die Menge ist gestiegen, zugleich aber auch die Quote der Beschlagnahmungen, die bei 211 Tonnen im letzten Jahr lag. In diesem Jahr schätze ich werden Polizei und Armee mindestens 280 Tonnen beschlagnahmen.