Kein Vergeben, Kein Vergessen

Die Proteste in Chile im Jahr 2019 richteten sich gegen verschiedene Faktoren, die die Ungleichheit im Land bestimmen. Gleichzeitig ging es um die Konsequenzen der Kolonialisierung Amerikas, die den Kontinent prägen seit Amerigo Vespucci und Christoph Kolumbus ihn im 15. Jahrhundert betraten und die Ausbeutung zugunsten Europas begann. Vor allem indigene Bewegungen wandelten daher den Slogan „Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre“, der sich auf die Folgen der Diktatur bezog, in „Es sind nicht 30 Pesos, es sind 500 Jahre!“ um. 30 Pesos spielen auf die Fahrpreiserhöhung an, die Initialfunke der Proteste war.

Seit dem Ende der Kolonialherrschaft hat sich in Chile zwar politisch, sozial, wirtschaftlich und ökologisch viel verändert. Dennoch sind die zum Teil jahrzehntelangen Kämpfe gegen die verschiedenen Machtstrukturen miteinander verbunden. Der 50. Jahrestag des Putsches vom 11. September 1973 in Chile verdeutlicht diese Zusammenhänge.

So ist in den Arbeiten von Paula Carmona Araya, Mercvria (Antonia Taulis), Milena Moena Moreno, Anís Estrellada (Ana Carrillo Tureo) und Mariana Soledad ein gewisses Misstrauen gegenüber der Erzählung, dass sich mit dem Ende der Diktatur die Verhältnisse grundlegend geändert haben, spürbar. Die ausgestellten Werke der fünf Künstlerinnen aus Chile sind ein Versuch, sich nicht mit den Symbolen einer Nation zu versöhnen, die auf einem brutalen Erbe aufbaut. Ihr Misstrauen offenbart die Krise eines politischen Projekts, das auf der patriotischen Idee einer monokulturellen Nation beruht. Die Arbeiten setzen sich daher mit Relikten der Diktatur wie auch der Kolonialisierung auseinander.

Einerseits wird hier die Kontinuität der Auseinandersetzungen deutlich, sei es in Form des Umsturzes des Denkmals des spanischen Kolonisators Pedro de Valdivia in Concepción oder der unkenntlich gemachten Machi, einer indigenen Mapuche, auf der 100-Peso-Münze. Andererseits zeigen die Künstlerinnen, wie vielfältig und offen die Forderungen der sozialen Bewegungen in Chile heute sind, indem sie feministische Kämpfe, Altersarmut oder den fehlenden Zugang zu Wasser thematisieren.
Den Symbolen von Gewalt, Unterdrückung und Rassismus stehen die Arbeiten unversöhnlich gegenüber. Gleichzeitig verweisen die Künstlerinnen auf Symbole, die für andere Formen von Gemeinschaft stehen: Die schwarz-weißen Porträtfotografien, die oft zerknittert sind, weil sie die Suche nach den Angehörigen begleiten, symbolisieren die Gemeinschaft der Hinterbliebenen der Gefangenen, die verschwunden worden sind. Ebenso wie rote Nelken, Abbildungen des Sängers Víctor Jara oder Stencils von Seepferdchen stehen diese Symbole für den Widerstand gegen die zivil-militärische Diktatur und ihre bis heute spürbaren Folgen.

Pedro Lemebel, Autor und Künstler, schrieb einst, dass in Chile gerne so getan werde, als sei der September ausschließlich der Monat des Nationalfeiertags und damit von Cueca (traditioneller Tanz), Copete (umgangssprachliches Wort für alkoholische Getränke) und Empanadas (gefüllte Teigtaschen). Dass im September nicht nur der Unabhängigkeit von der spanischen Krone erinnert werden sollte, veranschaulichen die fünf Künstlerinnen der Ausstellung. Die Kämpfe um Erinnerungen und ihre Repräsentationen sind ungebrochen.

Foto: Mariana Soledad, Desligarse de la conquista, 2019

2019 ist in der südchilenischen Stadt Concepción die Statue des Spaniers Pedro de Valdivia von ihrem Sockel gestürzt worden. Die Demonstrierenden trugen die Skulptur des Eroberers auf einen nahe gelegenen Platz, um sie zu Füßen des Lautaro-Denkmals zu platzieren. Lautaro oder Leftraru ist ein Symbol des indigenen Widerstands der Mapuche im 16. Jahrhundert und nahm an der Schlacht von Tucapel teil, in der Valdivia getötet wurde. Die Umkehrung der Machtverhältnisse dieser beiden historischen Figuren ist eine Art, eine andere Geschichte zu erzählen, die die Fotografin Mariana Soledad in ihrer Serie Desligarse de la Conquista (sich von der Eroberung befreien) von 2019 festhält. Der Denkmalsturz, von Manuela Badilla und Carolina Aguilera als „dekoloniale Performance“ bezeichnet, fand am ersten Jahrestag der Ermordung des jungen Mapuche Camilo Catrillanca statt. Im letzten Akt dieser Performance trägt Lautaro das Bild von Catrillanca, eine schwarzgefärbte chilenische Flagge und die Wenüfoye, die Flagge der verschiedenen territorialen Identitäten der Mapuche. Die Ereignisse sind Ausdruck der Entstehung eines neuen Ortes der Erinnerung mit neuen Symbolen.

Foto: Antonia Taulis, Mercvria, 2019

Mercvria (2019-heute) von Antonia Taulis ist eine „Wandzeitung“, die die Pluralität der Forderungen in den Oktober-Demonstrationen von 2019 widerspiegelt. Als visuelle Kommunikation bringt das Projekt aktuelle Forderungen, verschiedene politische Kämpfe und ihre künstlerischen Ausdrucksformen zusammen. Das Format ist inspiriert vom Kunstprojekt Quebrantahuesos von Nicanor Parra, Enrique Lihn und Alejandro Jodorowsky aus den 1950er Jahren in Chile. Der Titel bezieht sich auf die auflagenstarke und älteste spanischsprachige Zeitung des Kontinents El Mercurio. Ihr Herausgeber war ein überzeugter Anhänger des Militärputsches. Noch heute ist die Zeitung bekannt für ihre reißerische und teilweise fehlerhafte Berichterstattung.

Foto: Milena Moena Morena, Especies Acuñadas, 2020

Milena Moena Moreno bearbeitet in ihrer Serie Especies Acuñadas (Geprägte Arten, 2019 & 2020) die nationale 100-Peso-Münze, auf deren Rückseite eine Machi, eine Mapuche, abgebildet ist. Die Alltäglichkeit der Münze und andere symbolische Akte der Sichtbarkeit verschleiern die Geschichte des Genozids und die anhaltende Diskriminierung der indigenen Bevölkerung Chiles. Mit dem unkenntlich gemachten Gesicht der Mapuche-Frau visualisiert die bildende Künstlerin und Goldschmiedin diese Missachtung und die historische Unzufriedenheit der stets wehrhaften Mapuche. Als 2021 ein Verfassungskonvent zusammentrat, dessen erste Präsidentin die Indigene Elisa Loncón wurde, war dies ein erster Schritt der Anerkennung.

Foto: Paula Carmona Araya. PONER EL CUERPO, “Memoria Abierta”, 2022

In ihrer Serie Memoria Abierta (Offene Erinnerung, 2022) verdeckt Paula Carmona Araya ihr Gesicht mit einer weißen Maske und platziert sich an drei bedeutsamen Orten in Santiago de Chile: dem Denkmal für die weiblichen Opfer politischer Repression, der Gedenkstätte Brücke Bulnes und dem Museum für Erinnerung und Menschenrechte. Die Serie steht in Verbindung zu Obraabierta (Offenes Werk, 1978 bis heute) des chilenischen Künstlers Hernán Parada. Während der Diktatur intervenierte er auf vielfältige Weise im öffentlichen Raum. Dafür nutzte er Fotografien seines Bruders Alejandro, der 1974 verschwunden wurde – und der bis heute verschwunden bleibt. Bei einer dieser Interventionen trug der Künstler eine Fotografie von Alejandros Gesicht als Maske vor seinem eigenen Gesicht. Paula, die im Museum der Erinnerung vor den Fotografien anderer verschwundener Gefangener zu sehen ist, unterstreicht die permanente Abwesenheit, die Undarstellbarkeit der Geschichten und die Notwendigkeit einer aktiven Erinnerung.

Foto: Anís Estrellada, AFP, 2019

Anís Estrellada (Ana Carrillo Tureo) nimmt in ihrer Arbeit AFP (2019) die andere Seite der gleichen 100-Peso-Münze, um auf ein aktuelles Thema hinzuweisen: das Rentensystem und die damit verbundene Altersarmut. Diese ist eines der vielen Probleme, die während des Aufstands von 2019 angeprangert wurden. In der Arbeit Violador (2019) überarbeitet Ana das Staatswappen. Das Original aus dem Jahr 1834 umfasst einen Schild mit einem Stern in der Mitte, gekrönt von einem Federbusch, beide in den Nationalfarben. Die Schildhalter sind ein gekrönter Südandenhirsch (Huemul) und ein gekrönter Kondor. Auf dem Spruchband des Sockels befindet sich der Wahlspruch Chiles: „Por la razón o la fuerza“ (Durch Vernunft/Verstand oder Stärke). Huemul und Condor haben in der Version von Ana keine Augen, in Anspielung auf die mehr als 3.700 Verwundeten und 440 Menschen mit verletzten Augen im Jahr 2019. Das Wappen, das sie halten trägt statt des Sterns einen Totenkopf, darunter ist zu lesen „El violador eres tú“ (Der Vergewaltiger bist du), Titel der berühmten Performance des Kollektivs LasTesis. In den Arbeiten Molotov (2019) und Lucha (2020) verweist sie auf die Stärke der feministischen Bewegungen, den damit verbundenen Slogan „Keine Angst“ sowie das Feuer als Symbol des Kampfes.

ZWISCHEN INDIVIDUELLER UND KOLLEKTIVER ERINNERUNG

San Felipe VI, 2005-2018 Konfrontation mit dem Großvater im Kunstwerk © Yoel Díaz Vázquez

Mit welchen Thematiken beschäftigt ihr euch in eurer künstlerischen Arbeit?
María Linares: In meinen Arbeiten beschäftige ich mich hauptsächlich mit Diskriminierung und Rassismus. Die Mittel, die ich verwende, sind verschieden. Ich arbeite gerne im oder mit dem öffentlichen Raum, mit der Öffentlichkeit. Oft arbeite ich auch mit Videos.
Daniela Lehmann Carrasco: Die Hauptthematik meiner Arbeit sind Symbolbilder des Kollektivgedächtnisses. Im Grunde archaische, ikonografische Bilder, die im kollektiven Gedächtnis eingebrannt sind und in Beziehung zu individuellen Erinnerungsbildern stehen. Ich als Autor schaue auf die Welt und entdecke die kollektive Bilderwelt und meine eigene Wahrnehmung.
Ana María Millán: Im Mittelpunkt meiner Arbeit stehen die Beziehungen zwischen Politik, Animation und Video in Bezug auf Propaganda, politische Propaganda, Gewalt und Gender.
Yoel Díaz Vázquez: Die Arbeit, die ich in dieser Ausstellung zeige, ist ein fotografisches Projekt, das ich mit meinem Großvater durchgeführt habe. Darin reflektiere ich die zentralen politischen Widersprüche zwischen verschiedenen Generationen von Kubanern bezüglich ihrer Wahrnehmungen der kubanischen Revolution. Ich wollte verschiedene Perspektiven aufzeigen, in diesem Fall die Generation meines Großvaters und meine als Künstler. Für dieses Projekt habe ich meinen Großvater gefragt, ob ich ihn vor der Kamera bei der Interaktion mit zwei Objekten unterschiedlicher Verwendung und unterschiedlicher Symboliken darstellen könne. Das eine ist ein Diplom, das er für seine damalige gute Arbeit als Gastronom erhielt. Er erhielt überhaupt viele Diplome im Laufe seines Lebens, man könnte sagen, er war ein echter Held der Arbeit. Das andere ist eine Saugglocke fürs Badezimmer, die ich absichtlich ausgewählt habe, um ihn ein wenig zu provozieren, um Gefühle der Introspektion, sogar der Ablehnung hervorzurufen.

 

RENOMBREMOS EL 12 DE OCTUBRE, 2019 Teilnahme im partizipativen Projekt, © María Linares

 

María, deine Arbeit RENOMBREMOS EL 12 DE OCTUBRE (2019), die du in Berlin zeigst, enthält eine Petition und eine Datenbank zur Umbenennung des „Tags der Rasse“. Wie verläuft dein Arbeitsprozess und was ist dafür zentral?
ML: Die Arbeit gehört zu meiner Promotion als Künstlerin, wo ich mich seit Längerem mit Rassismus und dem, was „Rasse“ heißt, auseinandergesetzt habe. Ich bin Kolumbianerin, ich bin dort aufgewachsen und habe dabei tausendmal den sogenannten „Tag der Rasse“ mitgefeiert. Heute sehe ich mich ein bisschen in einem Niemandsland bezüglich der Sprache und so ist es auch mit dem Dasein: Ich bin hier fremd und habe einen fremden Blick, genauso bin ich aber in Kolumbien fremd, wo ich seit 25 Jahren nicht mehr lebe. Ich glaube, wenn ich noch dort wäre, wäre mir das mit dem „Tag der Rasse“ nicht aufgefallen. Dieser Blick entsteht nur durch diese Kontextverschiebung, die dieses im Niemandsland-Sein ermöglicht. Der Vorteil des Künstlerseins ist, dass man Sachen sieht, die man nicht sieht, wenn man tief drin ist.

Der 12. Oktober hat unterschiedliche Namen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Woher kam der Anstoß zur Umbenennung?
ML: Als man sich auf die Fünfhundertjahrfeier der „Entdeckung“ vorbereitete, sagte die mexikanische Kommission: wir sind die Kommission „del Encuentro de dos Mundos“ (Begegnung zweier Welten). In Mexiko heißt der Tag noch immer so. Aber auch das ist nicht gut gegangen, mittlerweile haben Minderheiten ihre Stimme erhoben. Ab den 90er Jahren fand ein Paradigmenwechsel statt, in dem Multikulturalität im Zentrum stand. In Argentinien heißt der Tag heute „Día de las Culturas“. Dort gibt es eine Soziologin, die sagt, es heißt jetzt zwar „Tag der Kulturen“, aber das ist nur eine Maske für dasselbe, ein Weißwaschen. Für jeden Namen, der umgesetzt wurde, gibt es eine Gegenkritik, die die Assimilation entlarvt.
In der Datenbank hat der „Abya Yala Tag“ die meisten Stimmen. Meine These ist, dass das wieder ein ganz anderes Paradigma aufweist, das auf globaler Ebene an Bedeutung gewinnt: Es ist nicht mehr der Mensch im Zentrum. Sprechen wir vom „Tag der Kulturen“, sprechen wir vom „Tag des indigenen Widerstands“, wie in Venezuela, dann sind immer noch Menschen im Zentrum des Diskurses. Abya Yala lässt den Menschen weg, es bezieht sich auf die Geografie, auf die Umgebung, auf die Natur. Da könntest du auch einen Fluss feiern.

 

Círculo, 2021 Verbindet kollektive und individuelle Erinnerungen, Videostill, © Daniela Lehman Carrasco

 

Daniela, in deine Videoarbeiten Le Glück Quantitativ (2010) und Círculo (2021) sind Dokumentarfilme eingeflossen, wie La Batalla de Chile von Patricio Guzmán. Was ist die Idee dahinter?
DLC: Guzmán hat ja alles dokumentiert, was in der Allende-Zeit passiert ist, es gibt aber nur wenig filmische Dokumente aus der Putschzeit. La Batalla de Chile ist eigentlich das einzige Zeugnis dieser Zeit, das ich kenne. Man hat ja wenig privat gefilmt früher und mir war es wichtig, die Gewalt und die Erinnerungen daran zu zeigen. Le Glück Quantitativ zeigt die sozialen Utopien der 60er Jahre – gerechte Verteilung für alle, damit bin ich groß geworden. Die neue Arbeit heißt Círculo, weil ich gesehen habe, dass sich viele Dinge wiederholen, sowohl von der Gewalt, die das Militär gegenüber den Studenten, oder Schülern vielmehr, aufgebracht hat, als aber auch diese ganze utopische Kraft der Menschen, die jetzt dazu geführt hat, dass sie eine neue Verfassung schreiben, was ich ja ganz großartig finde.

Du stellst ganz bewusst nicht nur die beiden Zeiten, sondern auch die beiden Länder in einen Dialog. Basiert das auf einer Außenperspektive oder ist das auch deine Geschichte?
DLC: Also, ich bin Deutsch-Chilenin. Meine Eltern sind nach Deutschland exiliert, wir waren da noch sehr klein und ich bin in Frankfurt aufgewachsen, aber meine deutschen Berliner Großeltern väterlicherseits sind wegen der Nazis nach Chile ausgewandert. Meine Oma ist Jüdin gewesen. Dieses Zurückbesinnen hat etwas damit zu tun, in welchem Kontext ich aufgewachsen bin, in der Frankfurter Soli-Bewegung für die chilenischen Gefangenen. Die chilenische Community, die linke, egal welcher Partei du angehörtest, war sehr eng, hat sehr viel gemeinsam unternommen, hat sich stark orientiert aneinander. Ich bin aber ein bisschen anders aufgewachsen als viele anderen Chilenen, weil ich auch diesen deutschen Part habe. Ich bin mit den „Deutschland im Herbst“-Sachen (deutscher Episodenfilm von 1978 über die RAF-Zeit, Anm. d. Red.) aufgewachsen. Wir waren auf Demos und Kundgebungen, deshalb habe ich das zusammengemischt. Es geht in dieser Arbeit um meine Kindheit und Jugendzeit, ich habe das Trauma darin gesucht.

 

Elevación, 2019 Politik und Animation, Video Still © Ana María Millan

 

Ana María, warum hast du einen kollaborativen Prozess als Grundlage für deine Animation Elevación (2019) gewählt? Wie gehst du bei deiner Arbeit vor?
AMM: Ich habe begonnen, die Themen politische Propaganda, Gewalt und Geschlecht aus dem Studio heraus zu bearbeiten. Ich habe mit Materialen in Bezug auf bestimmte politische Narrative experimentiert. Mit der Zeit habe ich eine partizipative Methodik gefunden: Ich führe Rollenspiele mit Leuten durch, wir lesen einen Text und die Leute kreieren Charaktere, um die historischen Situationen, die in diesem Text genannt werden, zu bewältigen. In diesem Fall geht es um die Frage, wie der Widerstand in Kolumbien entstanden ist. Durch den kollaborativen Prozess suchen wir gemeinsam nach Lösungen. Hier werden diese in Bilder übersetzt, in einem anderen Fall können es spezifische Richtlinien sein, es ist ein pädagogischer Prozess. Außerdem zeige ich dieses Werk gerne hier, weil Deutschland einer der Garanten des Friedensprozesses in Kolumbien ist. So ist es auch ein Hilferuf, dass das Friedensabkommen erfüllt wird.

Wie verhalten sich Realität und Fiktionalität in deiner Arbeit zueinander? Ist das Medium des Videos eine Möglichkeit, sich die Realität anzueignen? Deine Arbeit basiert außerdem auf einem Comic, wie ist die Verbindung?
AMM: Die Fiktion ist eine Möglichkeit durch fiktive Figuren in eine Erzählung und in die Realität einzutreten, um an einen unbewussten Vorgang zu appellieren, der von einem historischen Prozess spricht. Marquetalia. Raices de la Resistencia (Wurzeln des Widerstands) ist ein Comic, der sich auf die erste unabhängige Republik der Bauern in Kolumbien bezieht und zeigt, wie die Gewalt des Staates sie zerstörte. Der Comic ist ein beliebtes Werkzeug, denn er kann pädagogisch verstanden werden und uns zum Reden bringen, zum Aufwerfen von Fragen zum Friedensprozess. Die Gewalt des Staates hört bis heute nicht auf. Es ist, als würde sich die Geschichte immer wieder wiederholen. Kolumbien ist eines der wenigen Länder, das noch keine Agrarreform hatte und dafür gibt es einen großen Kampf. Denn das Problem ist nach wie vor die Abhängigkeit von dem Land, das vier kolumbianischen Familien gehört. Eine Landreform ist dringend notwendig. Kunst hat die Fähigkeit, das Problem anzuprangern, zu kommunizieren, zu verkünden, was dieser Comic tut.

Yoel, du zeigst deine fotografische Arbeit San Felipe (2005-2018). Setzt du dich in deinen Arbeiten mehr mit der Geschichte deiner Familie oder eher mit einer kollektiven Geschichte Kubas auseinander?
YDV: Es ist eine kollektive Geschichte. Ich komme aus einer einfachen Familie, mein Großvater war ein Arbeiter, der auf dem Bau arbeitete, sogar in den Zuckerrohrfeldern, und er folgte, wie viele seiner Generation, dem Líder Fidel. Das ist die große Geschichte Kubas: Fidel Castro war eine Persönlichkeit mit viel Charisma und gewann die Sympathie des kubanischen Volkes. Das Ziel der Revolution war in erster Linie die Errichtung der Demokratie in Kuba, die Wiederherstellung der Verfassung von 1940 und natürlich die Absetzung des Diktators Fulgencio Batista. Und was ist passiert? Mit all diesen Zielen gewann Castro die Sympathie des ganzen Volkes, der kubanischen Mittelschicht und sogar der amerikanischen Mittelschicht, die auch die kubanische Revolution mitfinanzierte.
Mein Großvater hat durch die Revolution keine Art von Verlust erlebt und er spürte, dass die Reden, die Fidel hielt, für ihn waren. Fidels Rede lösten in ihm viele Erwartungen für sein Leben und für das Leben seiner Familie aus. Mit anderen Worten: All der Wohlstand, den Fidel ihm versprochen hat, für Kuba, für das Volk im Allgemeinen, für seine Kinder, für seine Enkelkinder, ist etwas, das wir Enkel jetzt nicht mehr sehen. Und das ist die Enttäuschung, die ich mit diesem Objekt der Saugglocke hervorrufe. Ich konfrontiere meinen Großvater ein wenig mit einem symbolischen politischen Dialog, denn ein normaler Dialog ist unmöglich.

Wie ist es für dich, ein Werk hier in Deutschland auszustellen, das so viel kubanische Geschichte und so viel gesellschaftlichen Kontext enthält? Wie sind die Reaktionen?
YDV: Hier war es schon immer sehr einfach, politische Arbeiten auszustellen. Alle Künstler, die dem Aktivismus nahestehen, haben in Deutschland eine ideale Plattform, um ihre Kunst zu zeigen. Ich habe hier immer ein offenes Publikum vorgefunden, vor allem wegen der Geschichte, die uns verbindet, nämlich die Geschichte der DDR. Das heißt, ein Teil der Deutschen hat diese Erfahrung, die ich in vielen meiner Arbeiten in Bezug auf Kuba erzähle, schon gemacht.
Es ist eine Frage, die ich mir immer gestellt habe: Wann werden wir in unseren nicht-westlichen Ländern das Vergnügen haben, ohne Angst vor Unterdrückung aufzutreten, unsere Ideen, unsere Kunst auszustellen, ohne Angst, verurteilt und eingesperrt zu werden.

WASSERLILIEN FÜR DIE KUNST

„Was wir erben“ von Irma Reyes

Das Umweltchaos unserer Gegenwart ist nicht nur ein Dauerbrenner des öffentlichen Diskurses, es gibt auch Orte, an denen das Problem bereits in Angriff genommen wird. Ein Beispiel dafür ist Taller DeLirio Oficios in Mexiko. Die Papiermanufaktur ist in der indigenen Gemeinde Huecorio im Bundesstaat Michoacán angesiedelt. Der See leidet wie die gesamte traditionell auf Fischfang ausgerichtete Region unter den Auswirkungen von intensiver Landwirtschaft sowie Schadstoffen in Haushalts- und Industrieabwässern.

Die Entdeckung gelang durch einen glücklichen Zufall

Auf dem See selbst hat sich außerdem – und allen erdenklichen Bekämpfungs­maßnahmen zum Trotz – die Wasserlilie Eicchornia Crassipes so stark vermehrt, dass sie weite Teile seiner Oberfläche bedeckt und eine Bedrohung für Flora, Fauna und Anwohner*innen darstellt: Sie verbraucht viel Wasser und beeinträchtigt nicht nur den Transport im Kanu, sondern auch das Wachstum der Fische, da kein Licht mehr von der Wasseroberfläche an den Seegrund dringt. Ausgerechnet diese ursprünglich aus Brasilien stammende Pflanze verwertet DeLirio als Rohstoff, um per Hand Papier für kunstvolle Bücher, Hefte und Drucke zu fertigen.

„Der See braucht deine Hilfe“ von Francisco Robles

Die Entdeckung gelang durch einen glücklichen Zufall. Denn als sich der Maler Esteban Silva und seine Frau Tania Domínguez vor sechzehn Jahren am Lago Pátzcuaro niederließen, waren sie eigentlich auf der Suche nach einem ruhigen Ort, um sich ihrer künstlerischen Arbeit zu widmen. „Eines Tages brachten wir von unserem Spaziergang am See eine Wasserpflanze mit einer seidig schimmernden Blüte mit nach Hause und sie entpuppte sich als eine ausgezeichnete Faser, um Papier herzustellen“, erzählt Tania. Von 2004 bis 2007 ließ sich das Paar im Kulturzentrum Hawahuatta in Seattle in chinesischen Techniken der Papierherstellung ausbilden, nach seiner Rückkehr nach Huecorio rief es eine mobile Experimentierwerkstatt für Kinder ins Leben. Anschließend gründeten die beiden Kunstschaffenden die Ländliche Produktionsgesellschaft DeLirio und stellte Frauen aus der Gemeinde als Mitarbeiterinnen ein. „Zwei von uns kommen aus Huecorio, zwei aus Pareo, und ich bin von der Insel Urandén. Wir sind alle alleinstehende Frauen und tragen die Verantwortung für unsere Familien. Aber hier haben wir eine Arbeitsmöglichkeit, um unsere Kinder zu versorgen“, berichtet Victoria Francisco Ganoa, während aus dem großen Topf vor ihr Dampf von den kochenden Pflanzen aufsteigt, die tags zuvor gesammelt wurden.

Im Grunde schildert Victoria die typische Situation der Region, die wirtschaftlich weitgehend auf Devisen aus den USA angewiesen ist: Männer und junge Erwerbsfähige emigrieren, zurück bleiben vor allem Kinder, Frauen und alte Menschen. Dabei gilt der Pátzcuaro-See mit 55 Kilometern Küste und sieben Inseln als beliebtestes Tourismusziel im Bundesstaat. Kulturell liegt er im Gebiet der Purépecha und ist Zentrum des berühmten mexikanischen Tags der Toten am 2. November. Aber wie vielerorts in Mexiko leiden die Menschen auch hier unter der alltäglichen Korruption und Gewalt, während ihrem Lebensraum Erosion, Verschmutzung und der sinkende Wasserspiegel des Sees zu schaffen machen. Im kontinuierlichen Kampf um eine gesunde Umwelt dienen Papier und Kunst dazu, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die Problematiken von ungebremstem Raubbau am Wasser, der Erde und den Bergen zu lenken. Die bei DeLirio involvierten Frauen und Familien organisieren und koordinieren alle anfallenden Aufgaben von der Ernte der Wasserlilien über die Organisation und Durchführung von Workshops bis hin zu Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit. In den vergangenen zwei Jahren hat DeLirio insgesamt 120 Workshops in den Gemeinden am Ufer des Pátzcuaro und im Landesinneren des Bundesstaats durchgeführt, um das ökologische Bewusstsein der Bevölkerung zu schärfen. Die Menschen unterstützen das Projekt, in dem sie einen Ausweg aus der sozialen und ökologischen Katastrophe sehen. Die finanziellen Ressourcen dagegen sind ein Hindernis. „Wir haben kein Geld, um die Papeterie und Cafeteria an der Ruta Don Vasco fertig zu bauen und damit unseren Produkten und unserem gemeinschaftlichen Arbeitskonzept einen angemessenen Platz zu geben“, beklagt Tania Domínguez.

„Mein Kampf ist frei“ Javier Ornelas Huerta

Daher nahm sich DeLirio 2016 vor, mehr öffentliche Aufmerksamkeit für die Bedrohung des Sees zu gewinnen und lud 32 Künstler*innen zu einem grafischen Experiment ein: Unter dem Titel „El papel del carte“l (Wortspiel im Spanischen, da papel „Papier“ und „Rolle“ bedeutet und der Titel so zugleich auf den Einsatz des Plakats als auch des Papiers als Material hinweist, um Botschaften zu verbreiten; Anm. der Übs.) entstanden 62 Holzschnitte, in denen die Künstler­*innen jeweils eine Botschaft transportieren.

Mit seinen groben und feinen Strichen zeigt beispielsweise „Lo que heredamos“ („Was wir erben“) von Irma Reyes einen niedergeschlagenen und verängstigten Fischer, der als Ausbeute seines Fangs Skelette aus dem Wasser zieht. Auf „Sin palabras“ („Ohne Worte“) von Jonathan Tapia ist ein Mensch zu sehen, dessen Körper von brennenden, müllverseuchten und verwüsteten Landschaften übersät ist, als trüge er sie als innere Last mit sich herum. „Suficiente para todos siempre“ („Für alle immer genug“) von Berenice Barajas wiederum vermittelt einen Hoffnungsschimmer: Um die Wasserlilie in der Mitte tummeln sich kleine Fische, sowie Axolotl, eine Amphibie aus der Familie der Molche. „Mi lucha es libre“ („Mein Kampf ist frei“) ist auf dem Druck von Javier Ornelas Huerta zu lesen. Über den Worten ist der maskierte Volksheld des mexikanischen Ringkampfes Lucha Libre mit einem mystischen Glorienschein abgebildet, umringt von Axolotl. Sein Kampf ist genauso heilig wie jener der 32 Künstler*innen, die weder Ideologien noch Religionen vertreten, welche Kritik und Dialog untersagen wollen. Sie alle richten sich gegen die mächtigen Kapitalistenstiefel, wie sie auf einem weiteren Bild zu sehen sind, und treten ein für die Landschaft um einen paradiesischen See, der kein Fantasieprodukt ist, sondern das, was er einmal war und wieder werden soll.

„Ohne Worte“ von Jonothan Tapia

Von Januar bis März 2017 lockte El papel del cartel über 15.000 Besucher*innen ins Museum für Zeitgenössische Kunst Alfredo Zalce in Morelia, der Hauptstadt des Bundesstaats Michoacán. Anschließend war die Ausstellung im Jesuitischen Kulturzentrum in der Stadt Pátzcuaro am Ufer des gleichnamigen Sees zu sehen. Viele Besucher*innen hätten sich für die Arbeit hinter der Ausstellung interessiert, berichtet Esteban Silva. SPAGO, ein junges Unternehmer*innenteam aus Italien auf der Suche nach nachhaltigen Projekten in Mexiko und Zentralamerika, führte ein Interview mit ihm, das auf dem Internationalen Dokumentarfilmfestival SiciliAmbiente vorgestellt wurde. Im März 2018 wurden die 62 Holzschnitte in der Galerie Division 9 im kalifornischen Riverside ausgestellt, inzwischen erfolgte eine Einladung nach Oakland, in Los Angeles sollen sie ebenfalls gezeigt werden. Der Koordinator der Ausstellung in den USA, Agustín Equihua Ortiz, freut sich, dass in Riverside bereits einige Abzüge verkauft wurden. „Mit dem Geld wird sich die Manufaktur erweitern und ihre Arbeit fortsetzen können. Sie möchte auch Künstlerresidenzen anbieten und außer der Papeterie ein Internetcafé für Jugendliche eröffnen“, erklärt er.

Gewidmet wurde „El papel del cartel“ dem 2016 verstorbenen Mitglied des Nationalen Indigenen Kongresses Federico Ortiz Arias, der sich für die Rechte der Indigenen in Mexiko auf Leben, Land, Wasser, Gesundheit und Bildung einsetzte. Als er die in Papierbögen verwandelten Wasserlilien sah, hatte Federico den doppelsinnigen Ausspruch el papel del cartel geäußert, um die Künstler*innen bei ihrer Arbeit zu motivieren und angesichts der verzweifelten Lage des Landes auf die Aussagekraft der mexikanischen Grafikkunst zu setzen. Tatsächlich knüpft das Projekt an eine lange Tradition an, die mit Künstler*innen wie José Guadalupe Posada schon im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichte. Im 20. Jahrhundert setzten Leopoldo Méndez, Pablo O’Higgins und Luis Arenal Grafiken im Zeichen des Widerstands als Informationsmedium gegen politischen Machtmissbrauch und soziale Ungleichheit ein.

In diesem Sinne ist der wichtigste Erfolg der Papiermanufaktur DeLirio sicherlich die innige Allianz von Handwerker*innen und Künstler*innen, die wegen einer überlebenswichtigen Angelegenheit zusammengefunden haben: zur Rettung des Lago Pátzcuaro sowie der Menschen und Umwelt, die von ihm abhängig sind.

REVOLUTION DER KUNSTGESCHICHTE?

„Wir haben mit euch kommuniziert, ich weiß nicht, ob ihr auch mit uns kommuniziert habt“, lässt Javier Villa, einer der Kuratoren des Museo de Arte Moderno de Buenos Aires (MAMBA) bei einer Pressekonferenz im Museum für Moderne Kunst (MMK) in Frankfurt am Main verlauten und sorgt damit für Gelächter bei den anwesenden Journalist*innen. Damit trifft Villa den Kern eines sich nur langsam lösenden Problems. Künstlerischer und kultureller Austausch zwischen Lateinamerika, Europa und den USA bestand zwar immer, jedoch war dieser meist sehr einseitig.

Genau das sucht nun eine Ausstellung in Frankfurt zu ändern und nimmt sich damit Großes vor. Nicht weniger als die internationale Kunstgeschichtsschreibung soll revolutioniert werden. Mit „A Tale of Two Worlds. Experimentelle Kunst Lateinamerikas der 1940er- bis 80er-Jahre im Dialog mit der Sammlung des MMK“ wird der klassische kunsthistorische Fokus verschoben. Zwei Welten, aber nur eine Geschichte? Der sperrige Untertitel soll ein wenig Klarheit schaffen. Lateinamerikanische und europäische sowie US-amerikanische Kunst werden zusammengebracht und erzählen nun gemeinsam die Geschichte der westlichen Kunst von Deutschland bis Chile.

Francis Bacon, Nude (1960)(Foto: © The Estate of Francis Bacon. All rights reserved / VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Foto/photo: Axel Schneider) 

Luis Felipe Noé, Imagen agónica de Dorrego (1961) Foto: © Private Collection, Gustavo Sosa Pinilla)

Aber, wie wird aus der bis dato einseitigen Kommunikation in dieser Ausstellung ein Austausch? Indem die Kunst in den Vordergrund tritt und Werke verschiedener Länder und Jahrzehnte miteinander kommunizieren dürfen. Das kann beispielsweise so aussehen, dass sich in einer der Schrägen des Museums Francis Bacons Nude (1960) und Luis Felipe Noés Imagen agónica de Dorrego (Bild vom Tode Dorregos) (1961) förmlich anschauen. Zunächst scheinen die Malereien nicht sehr ähnlich, doch beide zeigen deformierte Körper. Die direkte Gegenüberstellung lässt einen unweigerlich nach weiteren Gemeinsamkeiten suchen und bietet auf diesem Wege erste Indizien für einen Dialog.

Die Ausstellung basiert auf einer neuartigen Form der Kooperation zweier Museen. Zwei lateinamerikanische Kurator*innen, Victoria Noorthoorn und Javier Villa des MAMBA, wurden eingeladen, um gemeinsam mit dem Frankfurter Klaus Görner eine Ausstellung zu realisieren, die bis Februar in Frankfurt und ab Juni 2018 in Buenos Aires zu sehen sein wird. Es ist das erste Mal, dass ein deutsches Museum Außenstehende auf diese Weise mitwirken lässt. Das ist besonders außergewöhnlich in Anbetracht von Renommee und Umfang der Sammlung des MMK. Mit etwa 5.000 Werken gilt sie als eine der bedeutsamsten in Deutschland.

 

Wandmalerei Der kolumbianische Künstler Antonio Caro bei der Arbeit (Foto: Hannah Katalin Grimmer)

Der Impuls für die Zusammenarbeit kam von außen, die Kulturstiftung des Bundes forderte mit dem Programm Museum Global deutschlandweit Museen dazu auf, ihre Sammlungen neu zu präsentieren. Jedes beteiligte Museum erhielt 800.000 Euro, das MMK ist das erste Museum, das dies in die Tat umsetzt. Folgen werden noch die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf, die Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin und das Lenbachhaus München.

Dieses Vorhaben ist im musealen Kontext tatsächlich nach wie vor außergewöhnlich. Die Revision des Kanons im extravaganten Bau des Architekten Hans Hollein, erstreckt sich über drei Stockwerke und beinhaltet über 500 Werke. Das Gebäude ist eine Herausforderung für Ausstellungsmacher*innen, überall befinden sich Schrägen und spitzzulaufende Ecken, kein Raum gleicht dem anderen.

Künstler*innen der Moderne und Avantgarde lenken die Erzählung diese Ausstellung. Görner, Noorthoorn und Villa beweisen Feingefühl, indem es ihnen gelingt zu verdeutlichen, dass solche Begriffe des kunsthistorischen Diskurses weder geografisch, noch temporär bestimmbar sind. Während die Sammlung des MMK auf die 1960er und 1970er fokussiert ist, beginnt die Erzählung zu Lateinamerika bereits 1944, mit der ersten Ausstellung zu Konkreter Kunst in Argentinien, und endet mit den 1980er.

Den Auftakt der Schau bildet, mit gleich mehreren Arbeiten, Lucio Fontana. Dieser darf am besten auch als Sinnbild für den gesamten Austausch aufgefasst werden: als Sohn italienischer Eltern in Argentinien geboren (1899-1968), lebte er auf beiden Kontinenten, beeinflusste diese gleichermaßen und verkörpert somit den gewünschten Dialog. Mit seinen Schnittbildern brachte er nicht nur die ehrwürdige Behandlung der Leinwand ins Wanken, er gab auch entscheidende Impulse für das Überwinden der bis dato getrennt betrachteten Kunstgattungen von Malerei und Plastik. Diese Grenzüberschreitung sollte die Kunst des turbulenten Jahrhunderts prägen wie kaum etwas anderes. Ein Einfluss, der beispielsweise in der Minimal Art der 1960er Jahre sichtbar wurde, eine Kunstrichtung, die zentraler Bestandteil der renommierten Sammlung des MMK ist. So finden sich Vertreter*innen dieser Epoche zum überaus fruchtbarem Dialog an mehreren Stellen dieser Ausstellung. Zu sehen sind beispielsweise Fred Sandbecks Untitled (1968) und Charlotte Posenenskes Vierkantrohre, Serie D (1967). Ähnlich minimalistisch muten Arbeiten aus Brasilien, wie von Hélio Oiticica (1937-1980) oder Lygia Clark (1920-1988) an und tatsächlich sind die südamerikanischen Werke in diesen Momenten der Ausstellung eindrücklicher präsentiert. Materialität und Industrialität sind zentrale Komponenten der Minimal Art, aber eben nicht nur, wie Besuchende in einem Raum im zweiten Stock namens „Alchemie und Kolonialisierung“ erfahren dürfen. Gold spielt dort eine zweideutige Rolle, es ist nicht nur Material, sondern auch Symbol von präkolumbischer Erinnerung, vor allem aber von Ausbeutung. Arbeiten von Mathias Goeritz (1915-1990) oder Mira Schlendel (1919-1988), in Europa geborene, lateinamerikanische Künstler*innen, geben also korrekterweise den Ton an, ihre Ästhetik ist ausschlaggebend dafür, dass ein wichtiges Sammlungswerk des MMK, Walter de Marias High Energy Bar (1966), auch einen Platz findet. In dieser Ausstellung gelingt also, was in Deutschland bisher selten ist: es ist die lateinamerikanische Perspektive, die das Ausstellungsnarrativ bestimmt.

Ausstellungsansicht (Foto: Axel Schneider)

Parallelen in formaler und ästhetischer Perspektive tauchen in vielen weiteren Ecken der Ausstellung auf. Sieht man Antonio Caros Colombia-Coca Cola (1977) neben Jasper Johns Targets (1966) hängen, ist ihre Ähnlichkeit auf einmal eklatant. So hört Pop Art auf, eine vorrangig US-amerikanisch geprägte Strömung zu sein. Ähnliches funktioniert mit der Konzeptkunst, die, beispielsweise vertreten durch Ulises Carrión (1941-1989) oder Alberto Greco (1931-1965), zu einem globalen Phänomen wird.

Abgesehen von diesen vorrangig die äußere Form betreffenden Charakteristika, gliedert sich die Ausstellung noch viel deutlicher anhand gesellschaftspolitischer Fragestellungen. Die Militärdiktaturen in Lateinamerika, der Zweite Weltkrieg, Gewalt und Repression, (Post-)kolonialismus, Massenkonsum, indigene Traditionen, Umweltverschmutzung – kein Thema ist zu groß, zu schwierig, zu anstrengend. Es ist eine der bemerkenswerten Leistungen, dass die Kunst auf diese Weise nie als isolierte Sphäre erscheint, sie ist immer Spiegel ihrer Zeit. Lateinamerikakundige Besucher*innen werden dem Narrativ der sehr gut durchdachten Präsentation folgen können, für alle anderen wird mehr Vermittlung als gewöhnlich notwendig sein.
Nach dem Besuch dieser Ausstellung kann man sich der Gewissheit erfreuen, dass Austausch immer stattfand. Illustrativ dafür sind Fotografien, die Nicolás García Uriburus (1937-2016) Interventionen in Venedig, Paris, Buenos Aires, Kassel und New York dokumentieren. Hierbei färbte der argentinische Künstler mithilfe von Fluorescein Flüsse grün ein, um auf Umweltverschmutzungen aufmerksam zu machen. Schaut man an dieser Stelle der Ausstellung zurück, erblickt man ein Werk eines deutschen Umweltaktivisten par excellence: Joseph Beuys monumentale Installation Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch (1958-1985).

Es ist ein sehr ehrgeiziges Ziel, eine solche Sammlung retrospektiv in einen globalen Kontext zu setzen. Die Umsetzung ist nicht immer optimal, an einigen Stellen wünscht man sich, dass die Ursachen für die lange existierende Einseitigkeit deutlicher hervortreten. Ein selbstreflexiver Umgang mit historischen Verantwortlichkeiten wäre dabei nur einer der erstrebenswerten Nebeneffekte. Es bleibt also abzuwarten, ob diese Ausstellung dazu beiträgt, die Kunstgeschichte grundlegend umzugestalten. In jedem Fall ist es allerhöchste Zeit, dass mehr Museen ihrem Beispiel folgen und den Weg bereiten für eine ausgeglichenere Stimmverteilung aller Beteiligten in diesem Dialog. Im MMK wird schließlich keine neue Geschichte erzählt, sondern lediglich eine, die wir hier noch zu selten zu hören bekommen.

 

Die Ausstellung „A Tale of Two Worlds. Experimentelle Kunst Lateinamerikas der 1940er- bis 80er-Jahre im Dialog mit der Sammlung des MMK“ ist bis zum 15. April 2018 zu sehen. // Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main // Domstraße 10, 60311 Frankfurt am Main // www.mmk-frankfurt.de

 

BUNTE VÖGEL AUF DEM TELLER

„Ara! Ara!“ Wer jemals in Südamerika die größten lebenden Papageienvögel in freier Wildbahn sehen – beziehungsweise hören! – durfte, wundert sich nicht, woher die Tiere ihren Namen haben: Es ist der lautmalerische Ausdruck der Töne, die sie von sich geben.
Dies und viel mehr kann man in der Ausstellung „Aras!“, die derzeit im Naturkundemuseum Berlin zu sehen ist, lernen. Anhand vieler ausgestopfter Exemplare, die aus der reichen Samm-lung des Museums stammen, kann man sich die Tierchen genauer ansehen. Keine Sorge: Die meisten Sammlungsstücke sind alt und wurden im 20. Jahrhundert angefertigt. Einige sind sogar noch älter und wurden etwa von Alexander von Humboldt angeschafft. Für die neueren wurden nur Exemplare verwendet, die bereits in Gefangenschaft lebten.

In verschiedenen Vitrinen werden die verschiedenen Ara-Arten vorgestellt und dabei interessante Aspekte ihrer Biologie, ihres Platzes im Ökosystem oder ihrer kulturellen Bedeutung erläutert. Die Ausstellung ist insbesondere, aber nicht nur, für Kinder sehr interessant.
Zuerst geht es im Naturkundemuseum um ihre Biologie: Was macht Aras aus? Wie leben sie? Wovon ernähren sie sich? Einige Aras sind Universalisten, die fast alles fressen und auch in Großstädten überleben können. Andere sind Spezialisten und auf das Vorkommen bestimmter Palmenarten angewiesen. Sie sind durch die Zerstörung ihrer Habitate massiv vom Aussterben bedroht.

Insbesondere in der südamerikanischen Feuchtsavanne Cerrado, leben sehr viele Ara-Arten, wo sie als „Gärtner“ fungieren: Durch die Früchte, die sie fressen, gelangen die Samen vieler Pflanzenarten in ihren Kot, über den sie dann beim Ausscheiden die Weiterverbreitung der Samen befördern. Im Ökosystem Cerrado fällt ihnen so eine sehr bedeutsame Rolle zu.

Doch auch die kulturelle Bedeutung von Aras wird thematisiert.

Doch auch die kulturelle Bedeutung von Aras wird thematisiert. So waren Federn von Aras in vielen indigenen Kulturen beliebte Schmuckstücke und Herrschaftsinsignien, die teilweise über tausende Kilometer gehandelt wurden. Bis heute spielt der Federschmuck etwa bei den Moxos im bolivianischen Tiefland eine wichtige zeremonielle Rolle. Diese traditionelle Nutzung stellt aber – neben anderen Bedrohungen – auch eine Gefahr für den Fortbestand dieser Tiere dar. Die Ausstellung informiert auch darüber, wie im Rahmen von Schutzprojekten Forscher*innen gemeinsam mit Indigenen Alternativen aus Papier und Stoff für diesen Federschmuck gefunden haben, um die Population der frei lebenden Aras zu schonen.

Bunte Papageien waren auch bei den europäischen Kolonisator*innen ein beliebtes Handelsgut. Bis in heutige Zeit wird mit Aras als Haustieren gehandelt. Dies ist zum einen eine massive Bedrohung für die Tiere, denn oft werden die Tiere illegal auf freier Wildbahn gefangen und unter qualvollen Bedingungen geschmuggelt. Andererseits können nur durch Nachzüchtungen die Bestände seltener Arten wie des Spixaras erhalten werden. Die Ausstellung informiert über das Spannungsfeld zwischen Zucht zur Arterhaltung und gefährlicher und letztlich tierquälerischer Haltung von Papageien als Statussymbol.

Je weiter man in dem großen Ausstellungsraum vorgeht, desto häufiger wird man auf die Probleme, denen sich die Ara-Populationen in Südamerika ausgesetzt sehen, hingewiesen: die Zerstörung des Lebensraums der Papageien. Insbesondere im Cerrado und dem amazonischen Regenwald kommen die meisten Ara-Arten vor. Doch diese Ökosysteme sind massiv von der Expansion von Bergbau, Infrastrukturprojekten und industrieller Landwirtschaft bedroht. Immer wieder werden die Besucher*innen in Texten auf verschiedene Fälle hingewiesen, wo die südamerikanische Umwelt zerstört wurde – auch unter Beteiligung deutscher Akteur*innen. So wird in der Ausstellung erwähnt, dass deutsche Rückversicherungsunternehmen sich am Bau des Staudamms Belo Monte beteiligten oder deutsche Erzimporte auch aus der Riesenmine Carajás kommen.

Besonderes Augenmerk widmet die Ausstellung der Expansion der Agrarindustrie, die wohl die größte Bedrohung für Cerrado und Regenwald darstellt. In der Ausstellung sieht man auch ein eigentümliches Gericht: Neben Messer und Gabel sind auf einem Teller Kartoffeln, Rotkohl und – ein Ara – angerichtet. Im Text wird vorgerechnet, wie viel Cerrado oder Regenwald für ein Stück Schweinebraten gerodet werden muss: Deutschland importiert jährlich 5,3 Millionen Tonnen Soja aus Südamerika, vor allem für die Schweinemast.

So macht die Ausstellung deutlich, was wir in Deutschland zum Erhalt der bunten Vögel tun können, und kommt zum Fazit: „Der Verzehr von weniger, dafür aber besserem Fleisch, wie beispielsweise Bio-Fleisch, Wildfleisch und Weidefleisch aus Deutschland schont die Ressourcen. So können wir in Deutschland über ein verändertes Konsumverhalten etwas für den Erhalt des Lebensraums von Ara & Co tun.“ Dazu müsste man aber auch – das bliebe zu ergänzen – die Agrarpolitiken Deutschlands und der Europäischen Union, die industrielle Landwirtschaft mit Subventionen massiv fördern, grundlegend ändern.

Die Leere des unbesetzten Stuhls

Die Familie nutzte ein verlängertes Wochenende für einen Ausflug. Auf der Landstraße São Paulo – Mogi Mirim legten sie einen kurzen Stopp und schossen ein Bild: die Mutter, die Tochter und der Sohn stehen Arm in Arm, gelehnt an die Kühlerhaube, in der Ferne verliert sich die Flucht der Autostraße. 48 Jahre später, im Jahre 2012, die gleiche Landstraße: Arm in Arm stehen Mutter und Tochter vor dem parkenden Wagen, die Flucht der Straße verliert sich immer noch im Hintergrund. Aber der Sohn fehlt. Luiz Almeida Araújo, damals 27 Jahre, wurde im Juni 1971 auf offener Straße verhaftet und gilt seither als verschwunden.
Die Familie Cardoso Rocha traf sich stets zum Familienessen, damals im Belo Horizonte Anfang der 1960er Jahre. Die Rochas waren eine kinderreiche Familie. Und alle gingen oft zusammen ins Restaurant. Zu neunt sind sie 1961 um den Tisch versammelt. 2012 sitzen nur noch acht Familienmitglieder am Tisch. Arnaldo Cardoso Rocha fehlt. 1969 ging Arnaldo für die Stadtguerrilla Nationale Befreiungsaktion ALN in den Untergrund. Er starb 1973 – laut Militärangaben infolge eines Schusswechsels. Aussagen von Zeug_innen zufolge wurde er lebend festgenommen und im Folterzentrum der DOI-CODI in São Paulo ermordet.
Ana Rosa Kucinski Silva lehnt, entspannt sitzend, am Rahmen einer Haustür in Paraty, wohin die Familie aus São Paulo im Jahre 1966 einen Ausflug gemacht hatte. 2012 sitzt niemand im Rahmen der Tür. Ana Rosa hatte sich am 22. April 1974 mit ihrem Ehemann zum Mittagessen im Zentrum São Paulos verabredet (siehe LN 471/472). Dort wurden sie und ihr Mann Wilson Silva verhaftet – und nie wieder gesehen.
Es sind die Bilder des argentinischen Fotografen Gustavo Germano. Und die der Familienangehörigen der Verschwundenen. Gustavo Germano hat dieses Projekt in Brasilien im vergangenen Jahr mit Unterstützung des Menschenrechtssekretariats realisiert, nachdem er zuvor das gleiche Projekt in Argentinien durchgeführt hatte.
Germano dokumentiert die Geschichten der Opfer der brasilianischen Militärdiktatur (1964–1985) dadurch, dass er Fotos aus den Familienalben dreißig, vierzig Jahre später mit den Hinterbliebenen nachstellt. Die Bilder werden durch die Lebensgeschichten der Verschwundenen und ihrer Familienangehörigen hervorragend ergänzt.
In der Gegenüberstellung der alten und neuen Fotografien setzt Germano die Abwesenheit der politischen Verschwundenen und von der Diktatur Ermordeten einfühlsam in Szene. Es ist diese Leere des unbesetzten Stuhls am Familientisch, die nicht vieler Worte der Erklärung bedarf. Selten sprechen Fotografien bereits beim ersten Anblick so für sich.

Iuri Xavier Pereira. 23 Jahre

Geboren am 2. August 1948 in Rio de Janeiro im gleichnamigen Bundesstaat als ältester Sohn von João Baptista und Zilda de Paula Xavier Pereira, beide engagierte Kommunisten und Mitglieder der Brasilianischen Kommunistischen Partei (PCB). Iuris Bruder, Alex de Paula Xavier Pereira, ebenfalls aktives Mitglied der Nationalen Befreiungsaktion ALN, wurde im Januar 1972 umgebracht.
Im Untergrund war Iuri aktiv an den internen Machtkämpfen der PCB beteiligt. Er stand Carlos Marighella bei der Gründung der ALN zur Seite und gehörte seit 1970 zu deren Zentralkommando. Iuri war nicht nur für seinen Kampfgeist bekannt, sondern auch für seine theoretische Kompetenz und sein Engagement im Bereich der Untergrund-Presse.
Am 14. Juni 1972 traf er sich zum Mittagessen mit drei Kampfgefährten in einem Restaurant in São Paulo. Der Besitzer rief die Polizei an und teilte ihr mit, in seinem Lokal säßen gesuchte Terroristen. Schnell war ein Hinterhalt vor Ort aufgebaut. Im Verlauf der Operation kamen Iuri und zwei seiner Gefährten ums Leben. Der dritte konnte verletzt entkommen. Iuri bekam ein Armenbegräbnis auf dem Friedhof Dom Bosco in Perus im Bundesstaat São Paulo. Erst im Jahr 1980 wurde sein Leichnam zusammen mit dem seines Bruders Alex nach Rio de Janeiro überführt. Die Exhumierung in São Paulo wurde von Polizeibeamten überwacht, die mit Maschinengewehren ausgestattet die Überführung der sterblichen Überreste der Brüder nach Rio de Janeiro begleiteten.

Fernando Augusto de Santa Cruz Oliveira. 26 Jahre

Geboren am 20. Februar 1948 in Recife, Bundesstaat Pernambuco, als Sohn von Izita Santos de Santa Cruz Oliveira und Lincoln de Santa Cruz Oliveira. Fernando Augusto war verheiratet mit Ana Lúcia Valença Santa Cruz Oliveira und hatte einen Sohn, Felipe. Er arbeitete als Angestellter der Wasser- und Elektrizitätswerke in São Paulo, wo er mit seiner Frau und seinem damals zweijährigen Sohn lebte. An einem Samstag vor Karneval hielt die Familie sich in Rio de Janeiro auf. Gegen 15:30 Uhr verließ Fernando das Haus, um seinen Freund Eduardo Collier zu treffen. Er gab zu verstehen, dass, sollte er um 18.00 Uhr nicht zurück sein, er verhaftet worden sei. Sein Hinweis bestätigte sich: Er wurde von Agenten des Sonderkommandos Geheimoperationen – Operationszentrum Innere Verteidigung/Rio de Janeiro (DOI-CODI/RJ) am 23. Februar 1974 verhaftet, nur wenige Wochen vor Ende der Regierungszeit von General Garrastazu Médici. Seine Festnahme erfolgte im Rahmen einer Operation der Militärpolizei in verschiedenen Orten des Landes, die 1973 eingeleitet wurde, um die Widerstandskämpfer der Marxistisch-Leninistischen Volksaktion (APML), einer linken Bewegung, die der Katholischen Kirche nahestand, zu liquidieren.

Luiz Almeida Araújo. 27 Jahre

Geboren am 27. August 1943 in Anadia, Bundesstaat Alagoas, als Sohn von Maria José Mendes de Almeida Araújo und João Rodrigues de Araújo. Luiz ging 1957 nach São Paulo, wo er Botengänge erledigte und ein Abendstudium absolvierte. Bereits während des Studienkollegs im Instituto Santa Inês begann er, sich in der Studentenbewegung zu engagieren und unterhielt Verbindungen zur Katholischen Studentenjugend (JEC).1964 wurde er verhaftet und gefoltert. Im selben Jahr reiste er nach Chile und wurde nach seiner Rückkehr erneut verhaftet.
Als politischer Aktivist zeigte er zwischen 1966 und 1968 eine zunehmende Militanz und schloss sich den Dissidenten um Carlos Marighella an, die der Brasilianischen Kommunistischen Partei (PCB) den Rücken zukehrten. Er engagierte sich im Bereich Kunst und Kultur und spielte im Theater Leopoldo Fróes. Da er für eine Aktion der Gruppe Marighella seinen Wagen zur Verfügung gestellt hatte, wurde er aufgegriffen und in der Avenida Angélica im Juni 1971 entführt. Das Todesdatum von Luiz steht nicht genau fest. In einem Bericht der Marine von 1993 gibt es einen Eintrag zu seiner Person: „AUG/71 – ist angeblich tot.“ Als Luiz verschwand, war seine Lebensgefährtin Josephina Vargas Hernandes schwanger. Er starb, ohne seine Tochter Alina kennenzulernen.

Übersetzung: Sarita Brandt und Ursula Kindel

Ausstellung „Ausências“ // Fotografien: Gustavo Germano und die Familienangehörigen der Verschwundenen // Kontakt und Informationen zur Ausstellung bei: www.gustavogermano.com

Die Ausstellung „Ausências Brasil“ wurde produziert durch das Menschenrechtssekretariat der Präsidentschaft Brasiliens mit Unterstützung der brasilianischen Agentur Alice – Agência livre para informação, cidadania e educação.

Im Rahmen des Ehrengastauftritts von Brasilien auf der Frankfurter Buchmesse war die Ausstellung „Ausências Brasil“ vom 7. bis 20. Oktober 2013 im Haus am Dom in Frankfurt zu sehen.

„Ausências“ wird voraussichtlich im Frühjahr 2014 in Berlin und Köln/Bonn im Rahmen der „Nunca-Mais“-Brasilien-Tage gezeigt werden, die an den 50. Jahrestag des Militärputsches in Brasilien erinnern.
Das Programm der „Nunca-Mais“-Brasilien-Tage wird demnächst hier in den LN bekannt gegeben werden.

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