Im Jahr der Halbzeitwahlen fährt die argentinische Regierung zunehmend schwerere Geschütze gegen jeglichen Widerstand auf. Die direkte Repression, wenn auch die sichtbarste und gewaltvollste, ist aber nur eine von vielen Maßnahmen, durch die die autoritäre Fratze des von Präsident Javier Milei propagierten „Anarchokapitalismus“ immer offener zu Tage tritt. Flankiert wird sie von Hetze, die der Delegitimierung und Feindmarkierung der Opposition dient. LN berichtet über die aktuellen Repressionen und ihre Hintergründe.
In den kommenden Monaten geht es in Argentinien um nicht weniger als die Frage, ob Präsident Javier Milei sein ultrarechtes Projekt vertiefen kann oder ob er damit scheitert. Ende Oktober wird gewählt: Je die Hälfte der Sitze in Senat und Abgeordnetenhaus müssen neu bestimmt werden. Derzeit verfügt Mileis libertäre Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran, LLA) in keiner der Parlamentskammern auch nur annähernd über eine eigene Mehrheit, was die Regierungsfähigkeit des Präsidenten beschränkt. Um das zu ändern, setzt die Regierung derzeit alles auf eine Karte. Sollte sie damit Erfolg haben, hat sie für den Umbau der argentinischen Gesellschaft nahezu freie Hand.
Gewaltvollste Repression gegen Sozialproteste seit 2001
Das Problem, mit dem sich Milei konfrontiert sieht: Bis zum Wahltermin am 25. Oktober kann noch viel passieren. Und gerade die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass ein Erfolg bei den Wahlen kein Selbstläufer ist. Im Gegenteil hat der Widerstand gegen den brutalen Kürzungskurs und die wiederholten Angriffe auf erkämpfte Rechte zuletzt zugenommen. Das zeigen die breiten Mobilisierungen gegen queer- und frauenfeindliche Aussagen von Milei im Februar, die Massensolidarisierung mit den Protesten von Rentner*innen, die Großdemonstrationen zum Jahrestag des Militärputsches am 24. März und die Ankündigung eines Generalstreiks des Gewerkschaftsverbandes CGT für den 10. April (nach LN-Redaktionsschluss). Besonders der Protest von Rentner*innen Mitte März in Buenos Aires hatte es in sich. In der Nähe des Kongressgebäudes im Zentrum der Hauptstadt versammelten sich am 12. März Zehntausende Menschen. Neben Rentner*innen hatten zuvor auch linke Organisationen und Fußballfans der barras bravas (Fußball-Ultragruppen, Anm. d. Red.) zu der Demonstration aufgerufen. Einsatzkräfte der Polizei griffen die Protestierenden an, es folgten Straßenschlachten und Barrikadenbau. Das Netzwerk Comisión Provincial por la Memoria (Provinzkommission für das Gedenken) sprach im Anschluss von der „gewaltvollsten Repression gegen Sozialproteste seit 2001“. Damals hatte ein regelrechter Aufstand unter dem Motto „Qué se vayan todos“ (Sie sollen alle abhauen) mehrere Regierungen aus dem Amt gefegt. Der Saldo der aktuellen Repression: hunderte Verletzte und Festgenommene. Besonders schwer traf es den freien Fotografen Pablo Grillo, der von einer Tränengaskartusche am Kopf lebensgefährlich verletzt wurde. Seit Jahren schon demonstrieren Rentner*innen jeden Mittwoch vor dem Kongressgebäude, zuletzt nahmen die Proteste gegen den Kürzungskurs der Milei-Regierung an Fahrt auf. Auch wenn es bereits zuvor zu ausufernder Gewalt durch Einsatzkräfte gekommen war, erreichte die Repression nun eine neue Stufe. Das liegt auch daran, dass die Regierung versucht, durch ihren harten Umgang mit Kritiker*innen der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen und wieder selbst das Heft in die Hand zu bekommen.
Dass sich Milei und Co. in der Defensive befinden, zeigen auch aktuelle Meinungsumfragen, die erstmals eine mehrheitliche Ablehnung der Regierung registrieren. Laut dem Zuban-Institut sahen Ende März 58,5 Prozent der Befragten Milei negativ, 58,4 Prozent lehnten ihn ab. Besonders die Aussage, dass die Anzahl derjenigen, die ein negatives Bild haben, langsam aber sicher steige „ohne ein Limit zu kennen“, dürfte in der Regierung für Kopfzerbrechen sorgen.
Die argentinische Regierung sieht Proteste wie die der Rentner*innen mittlerweile als offene Bedrohung. Deutlich wird das an Aussagen wie der von Patricia Bullrich, Ministerin für Innere Sicherheit, die den Demonstrierenden einen „versuchten Staatsstreich“ vorwarf. Rückendeckung dafür bekam sie von Milei, der seiner Ministerin „für ihre großartige Arbeit“ dankte und behauptete, Bullrich verteidige die Werte der Republik. Den Demonstrierenden, die er als „Hurensöhne“ beschimpfte, drohte er, sie ins Gefängnis zu stecken. Es wäre fatal, Aussagen wie diese als absurd beiseite zu schieben. Sie dienen dazu, die Repression im Nachhinein zu rechtfertigen und den Weg für die zukünftige zu ebnen. Darum geht es der Regierung auch, wenn sie die während der Militärdiktatur (1976-1983) begangenen Verbrechen verklärt. Am 24. März jährte sich der Putsch der Streitkräfte zum 49. Mal. Im ganzen Land gingen Hunderttausende unter dem Motto „Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit“ auf die Straße – wobei nicht nur der Vergangenheit gedacht, sondern auch die gegenwärtigen Angriffe auf Andersdenkende thematisiert wurden.
Der Revisionismus bereitet neue Verbrechen in der Zukunft vor
Das Präsidentenamt nahm den Jahrestag, wie schon im vergangenen Jahr, zum Anlass, um die Geschichte reaktionär umzudeuten. Über die offiziellen Kanäle in den sozialen Medien wurde ein fast 20-minütiges Video verbreitet, in dem der ultrarechte Vordenker und Vorsitzende der Faro-Stiftung, Agustín Laje, die brutale Repression der Diktatur rechtfertigt. Implizit wird sie als Reaktion auf den bewaffneten Kampf linksrevolutionärer Gruppen in den 1970er Jahren gerechtfertigt. Laje dazu im Video: „Es ist nicht richtig, die Opfer zu verleugnen, wenn sie von der einen Seite kommen, und sie aufzubauschen, wenn sie von der anderen Seite kommen.“ Auch die Zahl von 30.000 Opfern der Diktatur wird von der Milei-Regierung als „übertrieben“ angezweifelt. Ziel des Kurses ist nicht nur eine Umdeutung der Diktatur und ein Reinwaschen der Verbrechen. Vielmehr bereitet der Revisionismus neue Verbrechen in der Zukunft vor: Wenn der Putsch als „notwendige Antwort“ auf das im Argentinien der 70er Jahre herrschende „Chaos“ verstanden wird, das als „Bürgerkrieg“ gelabelt wird, bedeutet das für heute, dass Gegner*innen der Regierung ebenfalls als Feind*innen markiert werden, die es zu bekämpfen gilt. Wenn Bullrich den Demonstrierenden einen „versuchten Staatsstreich“ vorwirft, bereitet sie mindestens deren Kriminalisierung vor.
Doch es ist unwahrscheinlich, dass der Widerstand gegen die Milei-Regierung in den kommenden Monaten nachlassen wird. Im Gegenteil: Zentraler Streitpunkt dürfte das geplante Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) werden – ein ohnehin sensibles Thema in einem Land, das sich in seiner Geschichte bereits 22 Mal bei dem Fonds verschuldet hat. Ende März kündigte Wirtschaftsminister Luis Caputo an, die Neuverschuldung werde bei 20 Milliarden US-Dollar liegen. Zuvor hatte Milei auf undemokratische Weise ein Dekret zur Vorabgenehmigung eines Kreditabkommens erlassen.
Der IWF verlangt im Gegenzug für einen Kredit, dass die Regierung die Kapitalverkehrskontrollen lockert und die staatliche Festlegung des Wechselkurses zwischen Peso und Dollar aufgibt. Besonders letzteres fürchten Milei und Co., da sie auch dank der starken Landeswährung die Inflationsrate drücken konnten – heute der größte Trumpf der Regierung. Eine Abwertung des derzeit völlig überbewerteten Peso würde die Inflation wieder in die Höhe treiben. Die Folgen für Milei und seine LLA-Partei bei den Wahlen im Oktober dürften dramatisch ausfallen.