100 Tage Weichenstellen für den Autoritarismus

Widerstand gegen den Staatsumbau Proteste gegen die Auflösung von Ministerien halten an (Foto: Karol Jaramillo Ayala)

Ecuador befindet sich in multiplen Krisen. Einerseits leidet das Land unter einer langanhaltenden Wirtschaftskrise, gleichzeitig wächst die Macht krimineller Organisationen. Mittlerweile führt Ecuador die Liste der höchsten Mordrate pro Kopf in Lateinamerika; 2025 könnte das blutigste Jahr in der Geschichte des Landes werden. Auch der Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung, Alberto Acosta, sieht die Lage düster: „Derzeit ist die ecuadorianische Gesellschaft von Angst und Gewalt durchzogen. Das organisierte Verbrechen, der Rohstoffabbau, die Armut, die Politik, die weiterhin die öffentlichen Investitionen reduziert, sind gewalttätig und erzeugen Gewalt, all das schafft Angst. In diesem Szenario wird (von der Regierung, Anm. der Redaktion) alles unter dem Vorwand getan, die Bekämpfung der organisierten Kriminalität zu gewährleisten. Um Sicherheit zu erreichen, werden also Freiheiten, soziale Gerechtigkeit und ökologische Gerechtigkeit geopfert.“

Noboa nutzt die Angst der Menschen angesichts dieser Situation für seine Zwecke. In seiner Rede zur zweiten Amtseinführung am 24. Mai stellte er klar: Es gehe ihm nicht mehr darum, „anzukommen“, sondern darum, „zu verändern“. Die erste Regierungszeit nutzte der Präsident, um einen Plan für die zweite zu machen. Nach seiner Wiederwahl hat Noboa das Parlament unter seiner Kontrolle. Im Zentrum seiner Politik steht die Verzahnung von Neoliberalisierung und Militarisierung. Dadurch verwandelt sich der Politiker laut Acosta in einen „Mi-kele“ – aus wirtschaftlicher Hinsicht ein ultrakapitalistischer Javier Milei, in politischer Hinsicht repressiv wie Nayib Bukele: „Dieser Mikele treibt bereits eine Reihe von Maßnahmen voran, um das Verfassungsgericht und die Verfassung selbst so weit wie möglich zu schwächen.“

Ein autoritäres Projekt


Noboas Plan begann in seiner zweiten Regierungswoche mit dem Gesetz der Nationalen Solidarität. Es gibt dem Präsidenten die Befugnis, per Exekutivdekret den seit Januar 2024 geltenden „internen bewaffneten Konflikt“ ohne Enddatum fortbestehen zu lassen, obwohl das Verfassungsgericht diesen eigentlich seit April dieses Jahres rechtlich nicht mehr anerkennt. Das Gesetz erlaubt Sicherheitskräften außerdem, tödliche Gewalt in Situationen anzuwenden, in denen dies nach internationalem Menschenrecht und ecuadorianischem Recht ansonsten verboten wäre.

Nur drei Tage später, am 10. Juni, folgte das Geheimdienstgesetz. Dies etabliert ein Nationales Geheimdienstsystem, das sich aus Militär-, Polizei-, Finanz-, Steuer-, Zoll-, Strafvollzugs- und Präsidialschutzbehörden zusammensetzt. Es enthält riskante Bestimmungen, die das Recht auf personenbezogene Daten und das Recht auf Privatsphäre verletzen. So sind beispielsweise staatliche Stellen, öffentliche und private Einrichtungen, Unternehmen und Einzelpersonen ausnahmslos verpflichtet, Informationen zur Verfügung zu stellen, ohne dass ein Gerichtsbeschluss erforderlich ist. Darüber hinaus erlaubt das Gesetz dem Nationalen Nachrichtendienst, unter dem vagen Vorwand der „nationalen Sicherheit“ Kommunikation abzuhören. Der Aktivist Esteban Barriga vom Kollektiv Quito sin Minería (Quito ohne Bergbau) ist besorgt: „Obwohl viel über Sicherheit geredet wird, ist das nicht der Fall. Es handelt sich bei dem Fokus auf Sicherheit um einen Kontroll- und Spionagemechanismus. Man hat also nicht nur Angst vor organisierter Gewalt, sondern auch davor, was einem selbst passieren könnte, davor, dass die Polizei und das Militär einen ausspioniert.“

Jede Woche ein neues Gesetz

Nur zehn Tage später wird im Parlament die Reformierung des Demokratiegesetzes mit den Stimmen der Partei Revolución Cuidadana (RC) des ehemaligen Präsidenten Rafael Correa beschlossen. Dieses besagt, dass Parteien mit weniger als 5 Prozent Stimmanteil aufgelöst werden müssen. Zudem wird die Sitzverteilung der Abgeordneten zugunsten der größten Parteien, aktuell Noboas Partei Acción Democrática Nacional (ADN) und RC, geändert. Acosta sieht diese Änderung kritisch: „Wenn man die Anzahl der Parteien verringert und ihnen die staatliche Finanzierung entzieht, werden nur diese großen politischen Parteien im Parlament vertreten sein. In einem so vielfältigen Land wie Ecuador ist das ein schwerer Schlag gegen die Demokratie.“

Mit dem Gesetz zur öffentlichen Integrität folgt Ende Juli Noboas bisher größte Maßnahme zum Staatsumbau: 5000 Beamt*innen sollen entlassen werden, acht Ministerien fusioniert. Unter anderem wird das Umweltministerium in das Ministerium für Energie und Bergbau eingegliedert und zum neuen Ministerium für Umwelt und Energie erklärt. Esteban Barriga ist alarmiert: „Wir lehnen eine solche Fusion natürlich ab, denn dadurch würden dieselben Leute, die kontrollieren und regulieren, auch die Rohstoffe ausbeuten, was weder legitim noch sinnvoll ist. Es gäbe kein echtes Kontrollinstrument mehr. Wir haben dem neuen Ministerium deshalb ein offizielles Dokument vorgelegt, in dem wir fordern, dass die Autonomie des Umweltministeriums erhalten bleibt.“

Auflösung von Institutionen Das Ministerium für Menschenrechte wird vom Innenministerium absorbiert (Foto: Karol Jaramillo Ayala)

Künstler*innen, Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen, Indi­gene Vereinigungen, Gewerkschaften, Feminist*innen und Jugendliche rufen zu Protesten auf. Denn auch das Ministerium für Menschenrechte und das Ministerium für Frauen werden vom Innenministerium absorbiert. Karol Jaramillo, Kommunikationswissenschaftlerin mit Schwerpunkt Menschenrechte und Klimagerechtigkeit, war bei den Protesten dabei. Sie warnt: „Durch die Fusion wird die Macht in einer Institution konzentriert, die historisch für Sicherheit und Kontrolle zuständig ist. Wenn Rechte aus einer Logik der öffentlichen Ordnung heraus verwaltet werden, laufen wir Gefahr, dass Repression Vorrang vor Schutz hat. In einem Land wie dem unseren, in dem soziale Proteste die legitimste Form der Verteidigung des Lebens und des Territoriums waren, ist dies ein enormes Warnsignal.“
Tatsächlich folgte nur wenige Tage später der Gesetzesentwurf zur Kontrolle irregulärer Kapitalflüsse. Es sieht neue und komplexere Kontrollen für Stiftungen, Unternehmen, NGOs und gemeinnützige Einrichtungen vor – wieder vor dem Hintergrund, Geldwäsche, Korruption oder Steuerhinterziehung durch organisierte Kriminalität zu unterbinden. In der Praxis zwingt das Gesetz jedoch 71.000 NGOs und zivilgesellschaftliche Organisationen, sich neu zu registrieren und ihre Finanzierungsquellen dem Innenministerium offenzulegen. Das Gesetz fördert somit neue Formen der Überwachung, Kontrolle und Sanktionen gegenüber der ecuadorianischen Zivilgesellschaft.

Das Verfassungsgericht als Feindbild


Zwei Wochen nach der Erlassung des Gesetzes reagiert das Verfassungsgericht. Denn, wie Acosta erklärt, sind die Gesetze in Teilen verfassungswidrig: „Man greift auf den Mechanismus der Gesetze zur wirtschaftlichen Dringlichkeit zurück. Eine Regierung kann wirtschaftliche Notstandsgesetze vorschlagen, die innerhalb von 30 Tagen im Parlament behandelt werden müssen. Aber Noboa hat die Mehrheit im Parlament und sie verabschieden die Gesetze sehr schnell. Das führt zu schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Problemen, weil ein Gesetz nur einen Sachverhalt behandeln kann. Und wenn es sich um ein Gesetz zur wirtschaftlichen Dringlichkeit handelt, sollte es dringende wirtschaftliche Themen behandeln, oder? Aber kein Gesetz erfüllt diese Voraussetzung. Alle Gesetze behandeln eine Vielzahl von Themen.“ Deshalb setzt das Verfassungsgericht 28 Artikel der oben genannten Gesetze zur Überprüfung vorerst aus. Die Reaktion von Noboa folgt prompt: Er brandmarkt das Verfassungsgericht als einen „Feind des Volkes“ und organisiert einen Protestmarsch durch Quito. Auf einem großen Plakat sind die Gesichter der Richterinnen zu sehen, darunter steht: „Das sind sie, die Richter, die uns den Frieden rauben – sie haben gegen die Gesetze unterschrieben, die uns beschützten.“ Der ehemalige Verfassungsrichter Ramiro Ávila erklärt in einem Interview: „Die Tatsache, dass der Gerichtshof Bestimmungen aus drei Gesetzen außer Kraft gesetzt hat, zeugt von seiner Unabhängigkeit. Aber die Angriffe gegen ihn, mit Plakaten, auf denen die Oberkörper der Richter zu sehen sind und die sie mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung bringen, machen Angst. Das ist keine Kleinigkeit.“ Auf Videos des Protestmarsches, die später in den sozialen Medien kursieren, sind auch Menschen mit einem Hakenkreuz auf dem Arm und den Hitlergruß zeigend zu sehen. Die Aktivistin Pacari Pontón beschreibt die Versammlung folgendermaßen: „Es war eine ziemlich starke Mobilisierung mit vielen bezahlten Menschen und öffentlichen Angestellten, die bedroht worden waren, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren würden, wenn sie nicht an dem Marsch teilnehmen. Aber auch Menschen, die davon überzeugt waren, dass eine harte Hand nötig ist, die die gleiche Politik wie von Bukele, Milei und Trump unterstützen.“

Zwischen Angst und Widerstand

Die direkten Konsequenzen dieser Politik zeigen sich eine Woche später. Vier Polizisten sollen einen tödlichen Anschlag auf, Leonidas Iza, ehemaliger Präsident der CONAIE und Präsidentschaftskandidat der diesjährigen Wahlen (siehe LN 612), geplant haben, indem sie einen Taxifahrer angewiesen haben, Iza zu überfahren. Die Indigene Bewegung Cotopaxi verurteilt diesen versuchten Anschlag in einer Erklärung scharf: „Dieses Verbrechen ist kein Einzelfall, sondern die Fortsetzung einer systematischen Politik der Verfolgung, der Schikanen, der Morddrohungen und der Diskreditierung unserer Organisationsstrukturen und derjenigen von uns, die ihre Stimme gegen eine Regierung erheben, die den wirtschaftlichen Eliten hörig ist.“ Einen Tag später, am 20. August, jähren sich die Volksentscheide zum Yasuni und Chocó Andino zum zweiten Mal. 2023 hatten die Ecuadorianerinnen in einem historischen Akt der direkten Demokratie das Ende der Erdölförderung im Nationalpark Yasuní gewählt. Gleichzeitig hatte die Bevölkerung Quitos gegen die Ausweitung von Bergbaukonzessionen im Chocó Andino, Quitos subtropischen Wäldern, gestimmt. Keine der beiden Volksentscheide wurde bis jetzt umgesetzt. Esteban Barriga hat die Proteste zum Jahrestag organisiert. „Wir fordern, dass der Wille des Volkes respektiert wird, dass die Verfassung eingehalten wird, dass dieses vor zwei Jahren beschlossene Verfassungsrecht nicht länger verletzt wird. Es ist sehr wichtig, dass die Verfassung eingehalten wird. Wenn die Verfassung nicht eingehalten wird, verliert der Staat als Staat seinen Sinn.“
Ecuador steht somit nach 100 Tagen von Noboas zweiter Amtszeit an einem kritischen Punkt. Obwohl es erste Proteste gibt, sind diese kaum vergleichbar mit den Massendemonstrationen 2019 oder 2022. Alberto Acosta erklärt die aktuelle Unsicherheit so: „Es gibt ein soziales Gefüge, das zwar Kapazitäten hat, aber geschwächt ist, unorganisiert, voller Angst und Angst ist ein Werkzeug, das lähmt. Dieses soziale Gefüge kann sich wieder zusammensetzen. Denn entweder wir kommen zusammen oder wir gehen unter.“ Auch Karol Jaramillo ist mit Blick auf die Zukunft von Ecuador beunruhigt: „Es geht nicht nur um Ministerien oder Dekrete: Es geht um ein politisches Projekt. Wir müssen ein Auge darauf haben, was hier geschieht. Denn hier geht es nicht um Formalitäten, hier geht es um Leben.“


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Auf den Windungen des Weges

Portrait von Dora Maria Tellez
Dora María Tellez Freiheitskämpferin im Exil (Foto: privat)

Wir haben unseren freien Tag so gestaltet, dass wir uns in einer beliebigen Stadt der Vereinigten Staaten gemeinsam um einen Tisch versammeln. Der gallopinto (nicaraguanisches Nationalgericht aus Reis und Bohnen), tortillas, gebratene, reife Kochbananen, getrockneter Käse und der chilero criollo (scharfe Soße) stehen bereit und warten darauf, dass wir unsere Plätze einnehmen. Der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee erfüllt das Haus, das erst vor wenigen Wochen als kollektives Zuhause für eine Gruppe von Nicaraguaner*innen eingeweiht wurde, deren Gemein­samkeit ihr Fremdheitsgefühl ist, der Ort, zu dem wir jetzt gehören. Die meisten kamen auf der Suche nach Möglichkeiten, um ohne Ängste zu leben. Im Gegensatz zu Dutzenden von Nicaraguaner*innen, darunter auch Kinder, entkamen sie alle dem Ertrinken in den Fluten des Rio Bravo, dem Durst in der Wüste, dem Ersticken im versteckten Abteil eines Lastwagens oder der Entführung und Ermordung durch das organisierte Verbrechen, das aus der Tragödie eine Industrie gemacht hat. Die Mädchen haben es geschafft, den üblichen Vergewaltigungen zu entkommen. Alle sind Überlebende.


Socorro reiste dank des Parole-Programms ein, einer befristeten Aufenthaltserlaubnis, die Einwanderer berechtigt, zwei Jahre lang in den Vereinigten Staaten zu bleiben und zu arbeiten und seit 2023 für Staatsbürger*innen von Venezuela, Kuba, Haiti und Nicaragua gilt. Ana Margarita und ich kamen am 9. Februar 2023 in Washington an, nachdem wir zwanzig Monate lang als politische Gefangene vor Gericht standen und zu acht und zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden waren. Am frühen Morgen dieses Tages wurden wir überraschend aus dem Gefängnis geholt und in die Vereinigten Staaten verbannt, zusammen mit 220 anderen politischen Gefangenen, die die Biden-Regierung bereit war aufzunehmen (siehe LN 585). Stunden später entzog uns die Ortega-Regierung rechtswidrig die Staatsbürgerschaft, beschlagnahmte unser Eigentum und unsere Renten, annullierte akademische Grade und erklärte anschließend unseren zivilrechtlichen Tod, indem sie uns aus dem Standesregister löschte, als ob wir nie existiert hätten. Wir sind gerührt über die Hände, die uns in unschätzbarer Solidarität gereicht wurden, wir sprechen von unserer Dankbarkeit gegenüber jenen, die uns mit Kleidung und Arbeit versorgt haben, die uns in ihren Häusern aufgenommen und uns in dieser Phase unseres Lebens geholfen haben. Wir kehren zurück nach Nicaragua, an den Ort, den wir nur widerwillig verlassen haben, der in unserer Erinnerung, in den Wendungen und Kadenzen unserer Sprache, in unseren Gefühlen und unserer Haut überlebt. Wir sind hier mit der Identität, die wir in uns tragen, und der Trauer um das verlorene, entfremdete, uns entrissene Land.

Gewaltvolle Repressionen und Vertreibung unzähliger Nicaraguaner*innen


Es war keine Naturkatastrophe, kein Erdbeben oder Hurrikan, der uns von Nicaragua in die Welt katapultierte: In den letzten sechs Jahren hat das Monitoring Azul y Blanco, das repressive Aktivitäten erfasst, rund 4.650 willkürliche Inhaftierungen dokumentiert. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) bestätigte die Inhaftierung von mindestens 2.090 Personen aus politischen Gründen. Im November 2024 waren mehr als 60 Personen als politische Gefangene in Haft und eine unbekannte Zahl ehemaliger Staatsbediensteter inhaftiert, die geheimen Prozessen unterzogen wurden. Nicaraguanische Menschenrechtsorganisationen haben Berichte über physische und psychische Folter von Gefangenen gesammelt, darunter sexuelle Gewalt, erniedrigende Behandlung, Einzelhaft, Isolations­haft, mangelhafte Haftbedingungen, Verweige­rung des Zugangs zu medizinischer Versorgung und absolute Schutzlosigkeit.


Die Regierung Ortega-Murillo hat rund 36 Universitäten und private Bildungseinrichtungen geschlossen und deren Vermögen beschlagnahmt. Die Studentenführer*innen der Proteste von 2018 (siehe Dossier 19) wurden von den öffentlichen Universitäten verwiesen und ihre akademischen Register gelöscht. Etwa 60.000 Studierende haben seit 2018 die Hörsäle der Universitäten verlassen, und viele von ihnen sind Teil der Migration. Soziale Bewegungen, zivilgesellschaftliche Organisationen und politische Parteien wurden beschuldigt als Plattform für ausländische Interessen, Terrorismus und Geldwäsche zu dienen. Mehr als 5.500 dieser organisierten gesellschaftlichen Ausdrucksformen wurden beseitigt: darunter gewerkschaftliche, feministische, Bauern-, Religions-, Menschenrechts-, Indigenen-, Kulturförderorganisationen, um nur einige zu nennen. Journalist*innen wurden inhaftiert und verfolgt, 275 mussten ins Exil gehen. Das Land wird durch ständige polizeiliche Überwachung und Schikanen in den Medien und den sozialen Netzwerken zum Schweigen gebracht. Die katholische und die evangelische Kirche sind Drohungen, Schikanen und Verfolgungen ausgesetzt. Priester, Ordensmänner und -frauen, Pfarrer und Laien, die mit ihnen zusammenarbeiten. Rund 392 religiöse Organisationen haben ihren Rechtsstatus verloren; fünf Bischöfe wurden verbannt, 27 Priester und Seminaristen inhaftiert.


Es sind nicht die organisierte Kriminalität oder die Armut, die seit 2019 rund 811.127 Menschen aus Nicaragua vertrieben hat − das sind 13 Prozent der Gesamtbevölkerung. Das Gefühl des Verlustes der Gegenwart und der Bedrohung der Zukunft, der Verwundbarkeit und der Ohnmacht hat Tausende von Nicaraguaner*innen in die Emigration getrieben. Etwa 497.216 Menschen sind in die Vereinigten Staaten gegangen und etwa 221.171 nach Costa Rica, aber auch nach Spanien, Panama und Mexiko. In den Vereinigten Staaten sind zahlreiche nicaraguanische Migrant*innen verunsichert und warten auf die Entscheidungen der Trump-Regierung: Manuel Orozco, Forscher für Migrationsfragen beim Interamerikanischen Dialog zu Migrationsfragen, schätzt, dass etwa 15.000 der insgesamt 112.000 Personen kurzfristig von Abschiebung bedroht sind (Stand Februar 2025, Anm.d.Red.). Ihre Situation wird sich negativ auf die Hilfe für Familien im Land auswirken. Die Überweisungen, die jeder nicaraguanische Migrantin regelmäßig an seine Familie sendet, sind eine wesentliche Quelle für deren Lebensunterhalt und stellen die wichtigsten Deviseneinnahmen des Landes dar; Nach Angaben der Zentralbank von Nicaragua im Jahr 2023 29 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.


Derzeit hat die Diktatur eine neue Stufe erreicht: Im November 2024 hat die vom Regime kontrollierte Nationalversammlung ein von Daniel Ortega vorgeschlagenes Gesetz für eine Verfassungsreform angenommen, das die Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit, das politische und institutionelle System sowie die Rechte und Freiheiten der Bürger zerstört. Der daraus resultierende neue Text verwässert die republikanische Verfassung zugunsten eines Sonderstatuts, um der illegitimen, autokratischen und autoritären Macht der Familie Ortega-Murillo ein rechtsstaatliches Gewand zu verleihen.

Ortega-Murillo Regime zerstört jede Rechtsstaatlichkeit


Der Staat hört auf, ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat zu sein, um als „revolutionär“ definiert zu werden − eine vage Identität, die das Diktaturmodell untermauern soll. Als Kern des politischen Systems wird festgelegt, dass „das Volk die Staatsgewalt durch die Präsidentschaft ausübt“, wodurch die totale Machtkonzentration in der Exekutive verankert wird sowie die Unabhängigkeit der Justiz und des Wahlsystems, die Autonomie der Gemeinden und der Regionalregierungen der Karibikküste aufgehoben, die zu bloßen Instrumenten der Zentralgewalt degradiert werden. Daniel Ortega und seine Frau Rosario Murillo werden „Co-Präsidenten“, verlängern ihre Amtszeit von fünf auf sechs Jahre und maßen sich die Befugnis zur Ernennung ihrer Vizepräsident*innen an. Armee und Polizei, bereits an das repressive Modell angepasst, sind formal-rechtlich keine überparteilichen Institutionen mehr, und eine Gesetzesreform wird es den Chefs beider Institutionen erlauben, auf unbestimmte Zeit im Amt zu bleiben, vorbehaltlich des Willens der Co-Präsident*innen. Der daraus resultierende Text beschneidet ganz oder teilweise die individuellen Freiheiten: das Recht auf Organisation und Mobilisierung, auf Meinungsfreiheit, Arbeitnehmerrechte und politischen Pluralismus. Das Diskriminierungsverbot in jeglicher Form aus Gründen der Geburt, der Nationalität, der politischen Überzeugung, der Ethnie, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der Weltanschauung, der Herkunft, der wirtschaftlichen Stellung oder des sozialen Status wurde gestrichen. Das Recht der Indigenen Völker und ethnischen Gemeinschaften der Karibikküste auf Selbstverwaltung und Verwaltung ihrer Territorien und Ressourcen stark eingeschränkt. Die Religionsfreiheit ist an die Bedingung geknüpft, dass alle Verbindungen zwischen den Kirchen und ihren ausländischen Partnern beseitigt werden.


Auf die Verantwortung des Staates für die Menschenwürde als Grundprinzip der nicaraguanischen Nation, das Folterverbot und das Bekenntnis des Staates zu den internationalen Menschenrechtskonventionen, die Verfassungsrang hatten, wurde verzichtet. Individuelle Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren wurden verstümmelt und geben der Polizei die volle Befugnis jede Wohnung ohne Durchsuchungsbefehl zu durchsuchen, jede Person festzunehmen, zu inhaftieren und unter Bedingungen des Verschwindenlassens zu halten, wodurch das Rechtsmittel des Habeas Corpus (Schutz vor staatlicher Willkür) nutzlos wird.


Unsere Gespräche nach dem Essen überwältigen uns mit Nostalgie und Sehnsucht nach der fernen Familie, nach dem Land, aus dem wir vertrieben wurden, nach dem Ort, an den wir zurückkehren werden, im Bewusstsein, dass das, was wir zurückgelassen haben, nicht mehr existiert. Unsere Freundschaften haben sich in alle Welt verstreut, unsere Nachbarn und Nachbarinnen sind umgezogen, Mütter und Väter sind gestorben, ohne dass wir uns von ihnen verabschieden konnten, Töchter und Söhne wachsen auf, ohne dass wir ihren Alltag miterleben. Aber wir werden kommen, kommen, um diejenigen die im Land sind, wiederzuerkennen und zu umarmen; um die zerstörten Mauern wieder aufzurichten, um am Bau eines neuen Hauses mitzuwirken, in dem wir in Frieden und Toleranz leben, mit einem Koffer voller Erfahrungen, Wünschen und Projekten, die die Trauer lindern und die Hoffnung auf Rückkehr nähren.


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Knüppel für den Wahlerfolg

Im Jahr der Halbzeitwahlen fährt die argentinische Regierung zunehmend schwerere Geschütze gegen jeglichen Widerstand auf. Die direkte Repression, wenn auch die sichtbarste und gewaltvollste, ist aber nur eine von vielen Maßnahmen, durch die die autoritäre Fratze des von Präsident Javier Milei propagierten „Anarchokapitalismus“ immer offener zu Tage tritt. Flankiert wird sie von Hetze, die der Delegitimierung und Feindmarkierung der Opposition dient. LN berichtet über die aktuellen Repressionen und ihre Hintergründe.

In den kommenden Monaten geht es in Argentinien um nicht weniger als die Frage, ob Präsident Javier Milei sein ultrarechtes Projekt vertiefen kann oder ob er damit scheitert. Ende Oktober wird gewählt: Je die Hälfte der Sitze in Senat und Abgeordnetenhaus müssen neu bestimmt werden. Derzeit verfügt Mileis libertäre Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran, LLA) in keiner der Parlamentskammern auch nur annähernd über eine eigene Mehrheit, was die Regierungsfähigkeit des Präsidenten beschränkt. Um das zu ändern, setzt die Regierung derzeit alles auf eine Karte. Sollte sie damit Erfolg haben, hat sie für den Umbau der argentinischen Gesellschaft nahezu freie Hand.

Gewaltvollste Repression gegen Sozialproteste seit 2001


Das Problem, mit dem sich Milei konfrontiert sieht: Bis zum Wahltermin am 25. Oktober kann noch viel passieren. Und gerade die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass ein Erfolg bei den Wahlen kein Selbstläufer ist. Im Gegenteil hat der Widerstand gegen den brutalen Kürzungskurs und die wiederholten Angriffe auf erkämpfte Rechte zuletzt zugenommen. Das zeigen die breiten Mobilisierungen gegen queer- und frauenfeindliche Aussagen von Milei im Februar, die Massensolidarisierung mit den Protesten von Rentner*innen, die Großdemonstrationen zum Jahrestag des Militärputsches am 24. März und die Ankündigung eines Generalstreiks des Gewerkschaftsverbandes CGT für den 10. April (nach LN-Redaktionsschluss). Besonders der Protest von Rentner*innen Mitte März in Buenos Aires hatte es in sich. In der Nähe des Kongressgebäudes im Zentrum der Hauptstadt versammelten sich am 12. März Zehntausende Menschen. Neben Rentner*innen hatten zuvor auch linke Organisationen und Fußballfans der barras bravas (Fußball-Ultragruppen, Anm. d. Red.) zu der Demonstration aufgerufen. Einsatzkräfte der Polizei griffen die Protestierenden an, es folgten Straßenschlachten und Barrikadenbau. Das Netzwerk Comisión Provincial por la Memoria (Provinzkommission für das Gedenken) sprach im Anschluss von der „gewaltvollsten Repression gegen Sozialproteste seit 2001“. Damals hatte ein regelrechter Aufstand unter dem Motto „Qué se vayan todos“ (Sie sollen alle abhauen) mehrere Regierungen aus dem Amt gefegt. Der Saldo der aktuellen Repression: hunderte Verletzte und Festgenommene. Besonders schwer traf es den freien Fotografen Pablo Grillo, der von einer Tränengaskartusche am Kopf lebensgefährlich verletzt wurde. Seit Jahren schon demonstrieren Rentner*innen jeden Mittwoch vor dem Kongressgebäude, zuletzt nahmen die Proteste gegen den Kürzungskurs der Milei-Regierung an Fahrt auf. Auch wenn es bereits zuvor zu ausufernder Gewalt durch Einsatzkräfte gekommen war, erreichte die Repression nun eine neue Stufe. Das liegt auch daran, dass die Regierung versucht, durch ihren harten Umgang mit Kritiker*innen der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen und wieder selbst das Heft in die Hand zu bekommen.

Dass sich Milei und Co. in der Defensive befinden, zeigen auch aktuelle Meinungsumfragen, die erstmals eine mehrheitliche Ablehnung der Regierung registrieren. Laut dem Zuban-Institut sahen Ende März 58,5 Prozent der Befragten Milei negativ, 58,4 Prozent lehnten ihn ab. Besonders die Aussage, dass die Anzahl derjenigen, die ein negatives Bild haben, langsam aber sicher steige „ohne ein Limit zu kennen“, dürfte in der Regierung für Kopfzerbrechen sorgen.

Die argentinische Regierung sieht Proteste wie die der Rentner*innen mittlerweile als offene Bedrohung. Deutlich wird das an Aussagen wie der von Patricia Bullrich, Ministerin für Innere Sicherheit, die den Demonstrierenden einen „versuchten Staatsstreich“ vorwarf. Rückendeckung dafür bekam sie von Milei, der seiner Ministerin „für ihre großartige Arbeit“ dankte und behauptete, Bullrich verteidige die Werte der Republik. Den Demonstrierenden, die er als „Hurensöhne“ beschimpfte, drohte er, sie ins Gefängnis zu stecken. Es wäre fatal, Aussagen wie diese als absurd beiseite zu schieben. Sie dienen dazu, die Repression im Nachhinein zu rechtfertigen und den Weg für die zukünftige zu ebnen. Darum geht es der Regierung auch, wenn sie die während der Militärdiktatur (1976-1983) begangenen Verbrechen verklärt. Am 24. März jährte sich der Putsch der Streitkräfte zum 49. Mal. Im ganzen Land gingen Hunderttausende unter dem Motto „Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit“ auf die Straße – wobei nicht nur der Vergangenheit gedacht, sondern auch die gegenwärtigen Angriffe auf Andersdenkende thematisiert wurden.

Der Revisionismus bereitet neue Verbrechen in der Zukunft vor

Das Präsidentenamt nahm den Jahrestag, wie schon im vergangenen Jahr, zum Anlass, um die Geschichte reaktionär umzudeuten. Über die offiziellen Kanäle in den sozialen Medien wurde ein fast 20-minütiges Video verbreitet, in dem der ultrarechte Vordenker und Vorsitzende der Faro-Stiftung, Agustín Laje, die brutale Repression der Diktatur rechtfertigt. Implizit wird sie als Reaktion auf den bewaffneten Kampf linksrevolutionärer Gruppen in den 1970er Jahren gerechtfertigt. Laje dazu im Video: „Es ist nicht richtig, die Opfer zu verleugnen, wenn sie von der einen Seite kommen, und sie aufzubauschen, wenn sie von der anderen Seite kommen.“ Auch die Zahl von 30.000 Opfern der Diktatur wird von der Milei-Regierung als „übertrieben“ angezweifelt. Ziel des Kurses ist nicht nur eine Umdeutung der Diktatur und ein Reinwaschen der Verbrechen. Vielmehr bereitet der Revisionismus neue Verbrechen in der Zukunft vor: Wenn der Putsch als „notwendige Antwort“ auf das im Argentinien der 70er Jahre herrschende „Chaos“ verstanden wird, das als „Bürgerkrieg“ gelabelt wird, bedeutet das für heute, dass Gegner*innen der Regierung ebenfalls als Feind*innen markiert werden, die es zu bekämpfen gilt. Wenn Bullrich den Demonstrierenden einen „versuchten Staatsstreich“ vorwirft, bereitet sie mindestens deren Kriminalisierung vor.

Doch es ist unwahrscheinlich, dass der Widerstand gegen die Milei-Regierung in den kommenden Monaten nachlassen wird. Im Gegenteil: Zentraler Streitpunkt dürfte das geplante Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) werden – ein ohnehin sensibles Thema in einem Land, das sich in seiner Geschichte bereits 22 Mal bei dem Fonds verschuldet hat. Ende März kündigte Wirtschaftsminister Luis Caputo an, die Neuverschuldung werde bei 20 Milliarden US-Dollar liegen. Zuvor hatte Milei auf undemokratische Weise ein Dekret zur Vorabgenehmigung eines Kreditabkommens erlassen.

Der IWF verlangt im Gegenzug für einen Kredit, dass die Regierung die Kapitalverkehrskontrollen lockert und die staatliche Festlegung des Wechselkurses zwischen Peso und Dollar aufgibt. Besonders letzteres fürchten Milei und Co., da sie auch dank der starken Landeswährung die Inflationsrate drücken konnten – heute der größte Trumpf der Regierung. Eine Abwertung des derzeit völlig überbewerteten Peso würde die Inflation wieder in die Höhe treiben. Die Folgen für Milei und seine LLA-Partei bei den Wahlen im Oktober dürften dramatisch ausfallen.


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// Organisieren gegen den Notstand!

Seit weniger als zwei Monaten ist Javier Milei Präsident Argentiniens, doch seine Regierungspraxis setzt die argentinische Demokratie bereits jetzt enorm unter Druck. Die autoritären Maßnahmen, die er in seinem Regierungsprogramm angekündigt hat, setzt er über den nationalen Notstand um. Sein marktradikales Umstrukturierungsprogramm hat bereits begonnen (mehr dazu bald online und im neuen Heft). Die vergrößerte Freiheit des Kapitals beschränkt zunehmend die Freiheit derer, die nicht über großes Kapital verfügen. Die argentinische Linke sieht sich vom Wahlergebnis schwer geschlagen, sie konnte keine glaubwürdigen Alternativen bieten. Einige linke Organisationen wie der trotzkistische FIT-U (Frente de Izquierda – Unidad) und große Gewerkschaften hatten bei der Stichwahl dazu aufgerufen, ungültig zu wählen. Nun sind sie mit einer Regierung konfrontiert, die die Errungenschaften jahrzehntelanger Kämpfe sozialer Bewegungen innerhalb kürzester Zeit zunichte machen könnte.

Mileis Vorgehen ist vergleichbar mit der Strategie Nayib Bukeles in El Salvador, der im März 2022 einen bis heute anhaltenden Ausnahmezustand erklärte. Beide Staatschefs nutzen ihre durch hohe Zustimmung bei den Wahlen legitimierte Macht, um die Institutionen auszuhöhlen und schrittweise die Rechtsstaatlichkeit aufzulösen. Am 4. Februar wird Bukele voraussichtlich wiedergewählt – obwohl die Verfassung eine zweite Amtszeit in Folge nicht vorsieht. Auch in El Salvador rufen nun einige kritische Stimmen aus der linken Opposition dazu auf, ungültig zu wählen, um so auf die Illegalität der Wiederwahl hinzuweisen. Dies könnte aber auch den Eindruck verstärken, dass die oppositionellen Kräfte keine Unterstützung genießen und Bukele in die Karten spielen.

Die Strategie Linker vor den Wahlen in Argentinien und El Salvador scheint nicht aufgegangen zu sein. In Deutschland hingegen, wo dieses Jahr Landtagswahlen stattfinden, gibt es noch nicht einmal eine erkennbare gemeinsame Strategie. Nach der Aufdeckung des Treffens in Potsdam, bei dem Faschist*innen Massenabschiebungen planten, sind Hunderttausende gegen Rechts auf die Straße gegangen – ein wichtiges Zeichen. Ob Abgrenzungsmaßnahmen wie Gegendemonstrationen jedoch einen signifikanten Einfluss darauf haben, wo andere ihr Kreuzchen setzen, ist zweifelhaft. Mehr als verzweifelte Forderungen, der faschistischen Katastrophe in den Landtagen über ein Parteiverbot zuvorzukommen, fällt vielen Linken in Deutschland aktuell nicht ein. Von den Regierungsparteien heben sie sich damit zudem kaum ab.

Dabei ist gerade die gescheiterte Sozialpolitik neoliberaler Parteien der Katalysator für autoritäre, ultraliberale oder faschistische Kräfte. Ihr Diskurs liegt dabei zudem oft weniger weit voneinander entfernt, als sie zugeben möchten. Wenn zum Beispiel Olaf Scholz jetzt öffentlichkeitswirksam verlauten lässt „Wir schützen alle – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder wie unbequem jemand für Fanatiker mit Assimilationsfantasien ist“, hat er offenbar seine Forderung von Oktober, „in großem Stil abzuschieben“, schon wieder vergessen.

Das zeigt einmal mehr: Linke können sich Strategielosigkeit inbesondere in Zeiten von sozialen Krisen und Rechtsruck nicht leisten. Sie sind die einzige Kraft, die reale Alternativen anbieten könnte. In Deutschland ist von der Linken im Vergleich zu Argentinien jedoch noch zu wenig zu sehen. Was nachhaltige Organisierung der breiten Gesellschaft und die konsequente und öffentlichkeitswirksame Thematisierung der sozialen Frage in der Linken angeht, lässt sich von Argentinien viel lernen. Um Ideen zu entwickeln, wie das in Deutschland gelingen kann, kommt es jetzt auf uns alle an!


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PROGRESSIVE REGIERUNGEN IN LATEINAMERIKA

Progressiv oder nicht? Politische Orientierung der Regierungen in einzelnen Ländern (Brasilien – Stichwahl am 30.10.2022, Kolumbien seit Juni 2022, Chile seit März 2022, Honduras seit Januar 2022, Peru seit 2021, Belize, Bolivien, Guyana & Surinam seit 2020, Argentinien seit 2019, Mexiko seit 2018, Trinidad & Tobago seit 2015, Nicaragua seit 2006, Venezuela seit 1999, Kuba seit 1959) (Grafik: Martin Schäfer)

Der Übersichtlichkeit halber sind die Regierungen Lateinamerikas hier in nur zwei Kategorien politischer Ausrichtung eingeteilt, links- bzw. rechtsgerichtet, dies ist jedoch vereinfachend.

Ob eine Regierung links- oder rechtsgerichtet ist, kann sowohl an ihrer Selbstzuschreibung wie auch anhand von externen Kriterien festgemacht werden. Da beispielweise ein autoritäter Staat wie Nicaragua, der die Menschenrechte missachtet, in der Wahrnehmung der Dossier-Redaktion nicht links wäre, aber auch nicht allein deswegen rechts, folgt die Darstellung im Wesentlichen der Selbstzuschreibung. Die Etiketten „linksgerichtet“ und „rechtsgerichtet“ sind hier also losgelöst von der An- oder Abwesenheit autoritärer Tendenzen zu verstehen.

Freie Wahlen oder nicht? Werte des Electoral Democracy Indexes für einzelne Länder (Grafik: Martin Schäfer)

Da eine Darstellung, die diesen Aspekt vernachlässigt, jedoch unvollständig scheint, ist der Grad autoritärer Tendenz separat in einer zweiten Karte veranschaulicht. Hierfür wurde der Electoral Democracy Index herangezogen, der vom V-Dem Institut der Universität Göteborg (https://www.v-dem.net/) entwickelt wurde. Er bildet auf Basis von Expert*innenmeinungen aus dem Jahr 2021 ab, inwieweit in einzelnen Ländern freie und faire Wahlen, individuelle Freiheitsrechte (z.B. Meinungs- und Versammlungsfreiheit) sowie alternative Informationsquellen gewährleistet sind. Ein hoher Wert des Indexes bedeutet beispielsweise sehr freie Wahlen.

Laut Index sind freie Wahlen in Lateinamerika am besten in Costa Rica, Uruguay, Chile und Argentinien gewährleistet. Die größten Defizite bestehen dagegen in Kuba, Venezuela und Nicaragua. Für die abhängigen Gebiete Französisch-Guayana, Malwinen/Falklandinseln und Puerto Rico wurde jeweils der Wert des zugehörigen Staates verwendet. Für Belize gibt es in den Daten keinen Wert des Index.

Die Kriterien des Index beinhalten ein relativ eng gefasstes Demokratieverständnis und stellen daher nur eine mögliche Sichtweise dar. Weitere demokratierelevante Aspekte wie etwa soziale Ungleichheit werden in diesem Index nicht berücksichtigt.

Aufgrund der zeitlichen Verzögerung bei der Erhebung der Daten schlägt sich eine Abnahme autoritärer Tendenzen nach einer Wahl nicht unbedingt sofort in den veranschaulichten Zahlen wieder.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.


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“DER PRÄSIDENT STREBT DIE TOTALE KONTROLLE AN”

Der amtierende Präsident Juan Orlando Hernández gilt trotz zahlreicher Skandale mit seiner Nationalen Partei als Favorit bei den bevorstehenden Wahlen im November. Wie kommt das?
Zunächst ist die Möglichkeit zur Wiederwahl des Präsidenten komplett illegal. Es ist eine Paradoxie, denn Manuel Zelaya wurde 2009 ja abgesetzt, weil er den Artikel der Verfassung ändern wollte, der die Wiederwahl verbietet. Obwohl Juan Orlando Hernández als Kandidat zugelassen ist, ist er sehr unbeliebt. Aber er hat den gesamten Staatsapparat für seine Kampagne zur Verfügung, und nutzt Hilfsprogramme für sich aus. Wer zum Beispiel mit einem emissionsarmen Herd unterstützt werden will, muss die persönlichen Daten von zehn Personen liefern, die für die Nationale Partei stimmen wollen.

Im Jahr 2015 erschütterte ein massiver Korruptionsskandal die honduranische Regierung. Warum hat sie diesen weitgehend unbeschadet überstanden?
Weil sie den Justizsektor kontrolliert. Die Staatsanwaltschaft, die der Nationalen Partei zu Diensten ist, wird gegen kein Parteimitglied ermitteln oder es anklagen. Das führt zu hoher Straflosigkeit, sowohl in Bezug auf die Korruption als auch auf Menschenrechtsverletzungen. Die Staatsanwälte verfolgen nur die Delikte, die sie verfolgen wollen.

Im Zuge des Korruptionsskandals und der darauf folgenden Massenproteste wurde die Mission zur Unterstützung der Korruptionsbekämpfung (MACCIH) eingesetzt. Kann diese bereits Erfolge vorweisen?
Prinzipiell ist die MACCIH dadurch eingeschränkt, dass sie von der Organisation Amerikanischer Staaten abhängt. Die Mission hat nicht die Aufgabe, selbst zu ermitteln. Sie begleitet und berät nur die honduranischen Staatsanwälte. Ihr Mandat bezieht sich auf Korruptionsfälle, nicht auf Menschenrechtsverletzungen. Wir unterstützen sie als Zivilgesellschaft. Aber bis heute haben wir keine besonderen Resultate gesehen.

Derzeit befindet sich ein neues Strafgesetzbuch im Abstimmungsprozess. Sind bereits Teile in Kraft getreten?
Leider wurde bereits der Teil verabschiedet, der die Abtreibung erneut komplett unter Strafe stellt. Die feministischen und Frauenorganisationen hatten die Straffreiheit in drei Fällen gefordert: nach einer Vergewaltigung, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist und wenn der Fötus nach der Geburt nicht lebensfähig ist. Es waren Minimalforderungen, aber auch diese sind am Einfluss der Kirchen gescheitert.

Inwiefern könnte das Gesetzesprojekt auch der Kriminalisierung sozialer Bewegungen dienen, wie von Seiten der Zivilgesellschaft kritisiert wird?
Es ist ein antidemokratisches Strafgesetzbuch, das soziale Proteste, wie zum Beispiel die Meinungsfreiheit, unter Strafe stellt. Es gibt Rückschritte bei Delikten wie Diffamierung, Verleumdung und Beleidigung. Wenn eines dieser Delikte gegen einen staatlichen Funktionär begangen wird, dann wird dies von Amts wegen verfolgt. Statt dass sich Funktionäre der öffentlichen Kritik stellen, wird versucht, diese Kritik mundtot zu machen. Außerdem soll die „widerrechtliche Aneignung“ erneut hart bestraft werden, und dieser Straftatbestand wird beispiels-weise gegen Kleinbauern eingesetzt, die für ihre Landrechte kämpfen.

Es wird auch der Begriff des Terrorismus verwendet…
Es gibt ein Delikt, das Anstiftung zum Terrorismus heißt. Strafbar macht sich, wer die Bevölkerung mit irgendeiner Art von Aktion in Angst versetzt. Das kann beispielsweise perfekt auf einige Protestformen der sozialen und oppositionellen Bewegungen angewandt werden. Die Bevölkerung zu ängstigen, ist eine ausgesprochen subjektive Formulierung. Daher ist dieser Straftatbestand ziemlich besorgniserregend.
Wir bedauern besonders, dass dieses Strafgesetzbuch von der spanischen Entwicklungszusammenarbeit unterstützt wurde. In der Vergangenheit hat sie Gesetzesänderungen in Honduras begünstigt, die nicht schlecht waren, wie etwa die Strafprozessordnung aus dem Jahr 2000. Aber im jetzigen Fall hätten die Spanier zuhören müssen statt den Gesetzesentwurf gegen den Willen der Zivilgesellschaft durchzudrücken.

Ist das Gesetzesprojekt Teil einer autoritären Tendenz der Regierung Juan Orlando Hernández?
Absolut. Es gibt bereits einige Merkmale einer Diktatur, vor allem, wenn es ihm gelingt, wiedergewählt zu werden. Der Präsident steht nicht alleine da, er gehört zu einer starken Gruppe der Oligarchie und wird auch von den USA unterstützt.
Er ist dabei, sein Projekt der totalen Kontrolle umzusetzen. Es beginnt mit dem Nationalen Rat für Sicherheit und Verteidigung, der durch die Präsidenten der drei Staatsgewalten gebildet wird, alle wichtigen Entscheidungen trifft und vom Staatspräsidenten geleitet wird. Damit einher geht die Schaffung der Militärpolizei für die Öffentliche Ordnung, die so etwas wie der bewaffnete Arm des Präsidenten ist. Die Gesellschaft wird immer weiter militarisiert und die Militärpolizei als Lösung für alle Probleme angepriesen. Bei Problemen in Krankenhäusern, in Schulen oder in der Universität wird das Militär geschickt.
Die Kontrolle setzt sich im Justizapparat fort. Der Generalstaatsanwalt wurde vom Präsidenten ernannt, ebenso der Oberste Gerichtshof. Dessen Präsident wurde als Vorsitzender der honduranischen Delegation zum Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen nach Genf geschickt, um die honduranischen Fortschritte in Bezug auf die Menschenrechte zu verteidigen. Das ist vollkommen unangemessen, da er als Richter unparteiisch bleiben sollte und im gegebenen Moment über Menschenrechtsverletzungen durch die Exekutive urteilen muss.

Welche Chancen hat das Bündnis der Oppositionsparteien bei den bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen?
Dass sich die Oppositionspartei LIBRE (Partei Freiheit und Neugründung) und die Antikorruptionspartei PAC zu einem Bündnis zusammengeschlossen haben, stimmt mich optimistisch, dass dieser Mann mit seinen Verbindungen zur Oligarchie entmachtet werden kann. Dieser Teil der Oligarchie arbeitet mit transnationalen Unternehmen zusammen, die das Land ausplündern. Wenn er gewinnt, gibt es daher nur noch mehr Plünderung der Natur, mehr Angriffe auf und Morde an Umweltschützern, Menschenrechtsverteidigern und Oppositionellen. Aber ich glaube, die Opposition wird mindestens ihre Sitze im Parlament halten können, so dass die Parteien der Oligarchie keine Zweidrittelmehrheit erreichen und damit das Parlament nicht komplett kontrollieren können.


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