Ayotzinapa schmerzt

„Die Regierung sagt zuerst, dass sie in den Massengräbern sind, dann, dass sie zerstückelt wurden, und jetzt, dass sie zu nicht identifizierbarer Asche verbrannt wurden. Sie haben unsere Söhne schon oft getötet und sie werden sie wieder töten.” So kommentierten die Eltern der gewaltsam verschwundenen 43 Studenten die vorherige Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft. Die Angehörigen hatten sich in der pädagogischen Hochschule „Escuela Normal Rural Raúl Isidro Burgos“ von Ayotzinapa versammelt, um ihrer Verzweiflung Ausdruck zu geben. Es sind genau fünf Wochen nach den Ereignissen in Iguala vergangen, bei denen 6 Personen getötet wurden und 43 gewaltsam verschwunden sind.
Stunden zuvor hatte Staatsanwalt Murillo Karam in Mexiko-Stadt die neuen Indizien im Fall der Presse vorgestellt, mit Fotografien des rekonstruierten Tatorts und Aussagen von drei geständigen Tätern. Demnach hatten Polizisten von Iguala am 26. September eine unbestimmte Anzahl von jungen Menschen verschleppt und bei der Müllhalde des Nachbarbezirks Cocula der lokalen Mafiagruppe Guerreros Unidos übergeben. Die noch lebenden Personen wurden dort getötet und alle Körper mit großem Aufwand auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Karam betonte, dies seien nur Indizien für einen Massenmord, der wissenschaftliche Beweis, dass die Studenten getötet würden, fehle jedoch, da die in einem Fluss gefundenen Reste so stark verbrannt seien, dass eine Identifizierung der DNA-Spuren schwer möglich sei. Mit Hilfe der auf solche Verfahren spezialisierten Medizinischen Universität in Innsbruck solle dies versucht werden, Resultate würden frühestens in drei Monaten erwartet, so Karam.
Kurz vor Karams Pressekonferenz setzte die Staatsanwaltschaft die Angehörigen über die Ermittlungen in Kenntnis. Diese versuchten, ihn von der Veröffentlichung der Indizien abzuhalten: Da keine stichhaltigen Beweise vorliegen, müsse sich die Suche auf das unversehrte Auffinden ihrer Kinder konzentrieren. Felipe de la Cruz, Lehrer aus Acapulco und Vater von einem der Verschwundenen, verurteilt den Bericht des Staatsanwalts: „Dies ist eine Form, uns Angehörige weiter auf brutale Weise zu foltern. Wir sagen ihm, dass wir diese Erklärungen auf keinen Fall akzeptieren, denn er selber gab zu, dass er keine Gewissheit habe”.
Die Angehörigen der 43 verschwundenen Studenten sind seit fünf Wochen einem Wechselbad von Hoffnung, Verzweiflung und Erschöpfung ausgesetzt. Sie kritisieren zudem Präsident Enrique Peña Nieto scharf. Dieser traf sich erst am 29. Oktober, über einen Monat nach der Horrornacht von Iguala, mit Angehörigen und Überlebenden. Eine Übereinkunft mit 10 Punkten sollte die als mangelhaft kritisierte Arbeit der Bundesregierung im Fall korrigieren, der Präsident unterzeichnete sie nach anfänglichem Zögern. Zehn Tage später sehen die Angehörigen keinen einzigen Punkt dieses Abkommens als erfüllt. So versprach die Regierung sowohl gegenüber den Angehörigen wie auch in Washington, dass sie eine technische Unterstützung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission im Falle zulassen werde. Doch neuerdings schiebt sie juristische Argumente vor, um eine solche internationale Zusammenarbeit zu verhindern.
Die Familienangehörigen sind mit ihrer Kritik am zuständigen Staatsanwalt Karam nicht alleine. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International betont, Karam habe vergessen zu erwähnen, dass der Staat Komplize dieser Verbrechen sei. Mexikanische Organisationen kritisieren, dass auf der Pressekonferenz zwar viele gruselige Details der Tat präsentiert wurden, man aber wenig über die politischen Hintergründe erfuhr. „Dieser Bericht hat den politischen Zweck, die Unzufriedenheit im Land zu reduzieren. Und die Versuche, die tiefergreifenden Ursachen der Tragödie vom 26. und 27. September sichtbar zu machen, sollen unterbunden werden”, erklärt Vidulfo Rosales, Anwalt des Menschenrechtszentrums Tlachinollan.
Doch die Komplizenschaft des Staates steht für viele in Mexiko außer Frage. Die Proteste auf den Straßen des Landes haben nach dem Auftritt von Karam an Heftigkeit zugenommen. Meist verlaufen sie friedlich, in einer Atmosphäre zwischen Trauer und Überdrüssigkeit. Einige Proteste, insbesondere in Guerrero und Mexiko-Stadt, sind militanter, so brannten in Guerreros Hauptstadt Chilpancingo mehrmals Regierungsgebäude.
Insbesondere in Guerrero ist die Lage angespannt. Der von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) gestellte Gouverneur Angel Aguirre Rivero musste seinen Rücktritt einreichen. Der Bürgermeister von Iguala, José Luis Abarca Velázquez (ebenfalls PRD), ist sogar geflohen, wurde aber nach vier Wochen von der Polizei gefasst. Er sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis, allerdings aufgrund eines Haftbefehls wegen der Morde an drei Aktivisten im Jahr 2013 (siehe LN 485).
Diese Straflosigkeit in Guerrero ermöglichte erst das Massaker vom September. Abarcas Ehefrau, María de los Ángeles Pineda Villa, steht unter „arraigo“, einer verlängerten Untersuchungshaft, wurde aber noch keines Delikts angeklagt. Die Brüder der Bürgermeistergattin führen die „Guerreros Unidos“ an, einem Ableger des sogenannten Beltran-Leyva-Kartells, das seit Jahren die Behörden der Region schmiert. Spätestens seit 2008 ist dies durch die Recherchen des Journalist José Reveles öffentlich bekannt.
Während sich die Regierung Peña Nieto in Schadensbegrenzung versucht und baldmöglichst einen Schlussstrich ziehen will, fordern Gesellschaft und oppositionelle Parlamentarier_innen weitergehende Untersuchungen.
Die für den Fall Iguala zuständige parlamentarische Untersuchungskommission hielt fest, dass es sich im Fall der 43 um „gewaltsames Verschwindenlassen” handelt, also um ein Verbrechen gegen die Menschheit. Die Vertreter_innen der Regierungspartei in der Kommission stimmten gegen diese Formulierung, konnten sich aber nicht durchsetzen. Der Abgeordnete Ricardo Mejía Berdeja, Vizekoordinator der Partei Movimiento Ciudadano, informierte die Presse darüber, dass sich die Untersuchungskommission vor allem „mit der Untätigkeit des 27. Bataillons” beschäftigen will. Die Rolle des in Iguala stationierten Militärs zur Tatzeit ist ungeklärt. Die Version der Behörden lautet, dass die in Aufklärung und Undercover-Aktionen spezialisierten Einheiten in der Stadt von nichts gewusst hätten und von der lokalen Regierung betrogen worden zu sein.
Augenzeugen berichten dagegen von einer Militärsperre außerhalb Igualas in den Stunden der Polizeiaktion. Überlebenden Studenten sagten aus, sie seien von Soldaten angehalten und fotografiert worden. Die Soldaten hätten sie daran gehindert, Telefongespräche zu führen und den Verletzten Hilfe verweigert. Der Student Omar García beschrieb es in den Medien so: „Die Armee kam nach wenigen Minuten, die Soldaten nahmen uns die Handys weg und sagten: ‘Ihr wolltet euch mit Männern anlegen? Na dann haltet jetzt die Luft an, ihr habt die Konfrontation gesucht.’ Wir baten die Soldaten, unseren compañero Édgar Andrés Vargas, der einen Schuss ins Gesicht erlitten hatte, zu helfen, aber sie sagten, dass wir das Maul halten sollen und haben keine Ambulanz angerufen”. Der Schwerverletzte kam mit zwei Stunden Verspätung in ärztliche Behandlung. Den Ärzten zufolge war Édgar Andrés Vargas wegen der Blutungen kurz davor, zu ersticken. Nur ein Luftröhrenschnitt rettete ihm das Leben.
In Guerrero wird derzeit das politische Klima mit jedem Tag gefährlicher. Die Verhaftungen angeblicher Mafiamitglieder, die Besetzung von Regierungssitzen in 27 Bezirken, darunter Acapulco und Chilpancingo, sowie die täglichen Demonstrationen beherrschen die Medien. Zugleich ist festzuhalten, dass die bestehenden Machtstrukturen von Politik und Mafia in Guerrero in keiner Weise erschüttert sind. Wie weit diese gehen, zeigten die Ereignisse im Dezember 2011 als bundesstaatliche und föderale Polizeieinheiten eine Demonstration von Student_innen beschossen (Siehe LN 485), wobei zwei Studenten starben. Zum Einsatz kamen unter anderem G-36-Gewehren aus deutscher Produktion.
Einige Schützen, die verdächtigt wurden, die tödlichen Schüsse abgegeben zu haben, kamen in Untersuchungshaft. Noch aus dem Gefängnis bedrohten sie über ihre Mafiaverbindungen den Anwalt Vidulfo Rosales mit dem Tod. Dieser musste darauf mehrere Monate ins Exil. Der damalige Gouverneur Aguirre meinte in einer Sitzung, an der Menschenrechtsorganisationen teilnahmen, dass er nun einmal „unter uns” Klartext rede: Zwei konkurrierenden Mafiagruppen stritten sich um die Vormachtstellung innerhalb des Polizeiapparates, was der tatsächliche Auslöser der Gewalt in der Region sei. Die Prozesse gegen die „Polizisten” verliefen im Sand, einer der Kommandanten der Aktion wurde inzwischen befördert. Diese Straflosigkeit der Verbrechen ist der Hauptgrund für das Massaker. Auf die Frage der US-Presse, warum die Polizisten die Studenten erschießen, antwortet der Analyst Luis Hernández Navarro lapidar: “Weil sie es können”. Die Polizisten seien überzeugt, dass sie für ihre Taten nicht zu Rechenschaft gezogen würden.
Der ehemalige Rektor der Universität Guerreros, Rogelio Ortega Martínez, hat als neuer Gouverneur von Guerrero auf der ganzen Linie einen Fehlstart hingelegt. Politisch links, aber gleichzeitig Busenfreund seines Vorgängers Aguirre, ist seine Ernennung als Interimsgouverneur bis zu den Wahlen im nächsten Jahr nicht nur bei den Angehörigen auf Ablehnung gestoßen. Angesichts der anhaltenden Proteste – am 8. November brannten Lieferwagen vor dem Regierungsgebäude in Chilpancingo – forderte der Gouverneur die Lehrergewerkschaft Ceteg und das Menschenrechtszentrum Tlachinollan dazu auf, sich ultimativ von diesen Protesten zu distanzieren. Sollten sie das nicht tun, so der Gouverneur, seien sie für die Gewalt auf den Demonstrationen verantwortlich. Auf diese Weise kriminalisiert er die Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen.
In der Hochschule in Ayotzinapa und in den 16 weiteren Landlehrer-Ausbildungsstätten im Land herrscht unterdessen weiter Ausnahmezustand. An eine Wiederaufnahme des Unterrichts ist nicht zu denken. Zahlreiche Vertreter_innen von sozialen Bewegungen koordinieren sich mit den Studierenden, gründen die „Populäre Versammlung Mexikos” und künden an, dass die Protestbewegung erst am Anfang stehe. Aber auch gegen sie nehmen die Drohungen zu. So überfielen am 5. November zwei Bewaffnete einen Studenten von Ayotzinapa in der nahegelegenen Stadt Tixtla. „Hört auf mit eurem Protest, oder es ist euer verficktes Ende“, drohten die Männer, legten ihm einen Pistolenlauf an die Schläfe und schlugen ihn ins Gesicht. Die Kriminalisierung der Proteste in Mexiko ist weiterhin an der Tagesordnung.

Massengrab Mexiko

Tiefe Trauer und Fassungslosigkeit herrscht Anfang Oktober an der Hochschule für männliche Lehramtsstudenten „Raúl Isidro Burgos“ in der Gemeinde Ayotzinapa, gelegen im südwestmexikanischen Bundesstaat Guerrero. Bereits in der Nacht des 26. Septembers wurden in der nahe gelegenen Stadt Iguala drei Mitstudenten ermordet, weitere 43 Kommilitonen sind seit dieser Nacht nach ihrer Festnahme durch die Polizei verschwunden. „Die Hoffnung, die Verschleppten lebend und gesund zu finden, schwindet stündlich”, äußerte Raymundo Díaz kurz nach deren Verschwinden. Der Arzt und Aktivist des Kollektivs gegen Folter und Straflosigkeit (CCTI) betreut Überlebende und Angehörige nach der Horrornacht.
Sein Verdacht scheint sich inzwischen bestätigt zu haben. Am 2. Oktober wurden in den Hügeln außerhalb Igualas sechs Massengräber gefunden. Darin wurden 28 Körper, zwei davon weiblich, entdeckt. Laut dem Staatsanwalt von Guerrero, Iñaki Blanco Cabrera, sind viele Leichen zerstückelt oder weisen Brandspuren auf. Dies deute darauf hin, dass sie mit einem Brandbeschleuniger übergossen und entzündet worden seien. Ob die Leichen zu den 43 verschleppten Studenten gehören, wollte Blanco Cabrera nicht sagen: „Wir müssen auf die Ergebnisse der Sachverständigen und der Gerichtsmediziner warten“. Allerdings liegt die Vermutung nahe. Denn der Staatsanwalt berichtete ebenfalls, dass der Hinweis auf die Gräber von inzwischen festgenommenen Polizisten gekommen sei. Ebenso haben mittlerweile verhaftete Mitglieder der lokalen Drogenbande namens Guerreros Unidos zugegeben, dass die Polizei zumindest 17 der verschleppten Studenten ihnen übergeben habe und sie diese in der Nähe der Gräber getötet hätten. Bei Guerreros Unidos soll es sich um eine Splittergruppe des einst mächtigen Beltrán-Leyva-Kartells handeln. Laut der verhafteten Polizisten hätte der Polizeichef von Iguala, Felipe Flores Velázquez, gemeinsam mit dem Bandenboss die Verschleppung und Ermordung angeordnet.
Der Auslöser der Polizeigewalt gegen die Studenten war die Beschlagnahmung von Bussen, mit denen diese von Iguala zurück in ihre Schule fahren wollten – eine durchaus übliche Praxis der Studierendenbewegung in Mexiko. Die vermissten Studenten, alle zwischen 18 und 23 Jahre alt, hatten in Iguala Geld gesammelt, um an der jährlichen Gedenkdemonstration anlässlich des Militärmassakers an Studierenden vom 2. Oktober 1968 in Mexiko-Stadt teilnehmen zu können. Gleichzeitig fand im Regierungsgebäude eine Feier des Sozialamtes statt, dessen Vorsitzende in Mexiko jeweils die Gattin des Stadtpräsidenten ist. Als die Studenten zwei Parallelstraßen vom Regierungsgebäude entfernt das Stadtzentrum passieren wollten, trafen sie auf eine sichernde Polizeieinheit. Diese verfolgte die Busse stadtauswärts und stellte sie am nördlichen Umfahrungsring. David García López, Sprecher des Studentenkomitees, schildert den Vorfall folgendermaßen: „Die Polizisten versperren uns den Weg. Die Genossen haben Videoaufnahmen davon, dass sowohl lokale als auch Bundespolizisten anwesend waren. Plötzlich beginnen die Polizisten auf die drei Busse zu schießen, einer unserer Genossen wurde getroffen”. Aldo Gutiérrez Solano wurde durch einen Kopfschuss schwer verletzt; er liegt mit gravierenden Gehirnschäden seither im Koma und wird laut Presseberichten künstlich am Leben erhalten.
Dieser bewaffnete Überfall war erst der Auftakt einer langen Nacht des Terrors. In den folgenden Stunden wurde außerhalb von Iguala ein Taxi unter Beschuss genommen, dabei starb eine Passagierin und zwei Gewerkschafter wurden verletzt. Außerdem eröffnete ein Kommando das Feuer auf den Bus eines Fußballteams; der Trainer und ein 15-jähriger Spieler wurden getötet. Vermutlich verwechselten die Angreifer den Bus mit dem der Studenten. Kurz nach Mitternacht gaben Studierende zusammen mit Lehrergewerkschaftern am Ort des ersten Angriffes eine improvisierte Pressekonferenz. Plötzlich fielen Schüsse, alle versuchten zu fliehen, zwei Studenten blieben auf den Straßen Igualas tot liegen, 43 Studenten wurden von der Polizei mitgenommen. Augenzeug_innen berichten, dass die Polizei bei den verschiedenen Angriffen gemeinsam mit Mitgliedern von Guerreros Unidos operiert habe. Ebenso stellten die Ermittler_innen Videoaufnahmen sicher, die zeigen, wie mindestens 15 bis 25 Studenten von Polizisten und bewaffneten Personen in Zivil mit Patrouillenfahrzeugen verschleppt wurden.
Am Morgen des 27. September, viele Stunden nach den Ereignissen, übernahm das mexikanische Militär kurzzeitig „die Kontrolle“ über die 130.000 Einwohner_innen zählende Stadt Iguala, die 120 Kilometer südwestlich von Mexiko-Stadt liegt. 22 Polizisten der lokalen Bezirkspolizei wurden festgenommen. Keine schwierige Operation, zwei Batallione waren bereits in Iguala stationiert: das 27. Infanteriebattallion und auch das 3. Batallion der „Spezialkräfte” des Heeres. Diese Spezialkräfte wurden vor und während des „Krieges gegen die Drogenmafia” aufgebaut und sollen, im Gegensatz zum Gros der mexikanischen Fußtruppen, auch über Mittel der geheimdienstlichen Aufklärung verfügen. Das Militär fand an diesem Samstagmorgen die Leiche des bestialisch gefolterten Studenten Julio César Mondragón. Der 22-jährige Familienvater war nach dem Angriff auf die mitternächtliche Pressekonferenz in Panik davongerannt. Der Leiche von Julio César fehlten Kopfhaut und Augen, eine Foltermethode, die auf die Beteiligung des Drogenkartells hinweist. Die vorläufige Bilanz dieser Nacht: sechs Tote, zwei lebensgefährlich Verletzte, zwei Dutzend weitere Verletzte und 43 gewaltsam Verschwundene.
In den ersten Tagen nach dem Massaker waren die Reaktionen von Mainstreammedien und Politik abwartend. Der regierungsnahe Fernsehsender Televisa berichtete über die Ereignisse nur kurz. Ernsthaft gesucht wurden die vermissten Studenten nicht, trotz der verzweifelten Aufforderung der Angehörigen und Mitstudenten. Das mediale Augenmerk richtete sich vornehmlich auf den Bürgermeister von Iguala, José Luis Abarca Velázquez von der gemäßigt linken Partei der Demokratischen Revolution (PRD). Dieser wies erst alle Verantwortung von sich – um dann vier Tage nach dem Massaker, als der öffentliche Druck immer größer wurde, spurlos zu verschwinden. Ebenso untergetaucht ist der Sicherheitschef von Iguala, Felipe Flores Velázquez. Beiden werden seit Längerem Verbindungen zu Drogenkartellen nachgesagt; in Guerrero sind Verbindungen zwischen Politiker_innen und Kartellen parteiübergreifend fast schon üblich.
Aufgrund der tagelangen Untätigkeit der Behörden, die Suche nach den 43 vermissten Studenten seriös anzugehen, sah sich die soziale Bewegung Guerreros zu einer Großmobilisierung gezwungen. Lehrergewerkschafter_innen, Studierende, Menschenrechtsorganisationen und Familienangehörige besetzten am 2. Oktober sechs Stunden lang die „Autobahn zur Sonne“. Diese Straße, die an Iguala und der Landeshauptstadt Chilpancingo vorbeiführt, ist die wichtigste Verbindung zwischen Mexiko-Stadt und Acapulco, dem beliebten Erholungsziel der Hauptstädter_innen. Erst diese Blockade brachte das mexikanische Innenministerium dazu, sich tags darauf mit Angehörigen der Verschwundenen zu treffen. Ein untergeordneter Beamter hörte sich die Klagen an, der Innenminister, Miguel Ángel Osorio Chong, versprach schriftlich „eine wirkliche Suche” der Vermissten mit Hilfe der Bundespolizei.
Am selben Abend wurden die Massengräber entdeckt. Die Weltpresse war entsetzt, berichtete über die grausigen Funde und über die verzweifelten Angehörigen, die den Behörden weder glauben wollen noch trauen können. Auf Druck der Angehörigen flog ein argentinisches Forensikteam ein. Präsident Enrique Peña Nieto sah sich erst zehn Tage nach dem Massaker zu einer Stellungnahme genötigt. In einer Fernsehansprache versprach er die rückstandslose Aufklärung des Falls, es werde „nicht der kleinste Türspalt für die Straflosigkeit” offen bleiben. Gleichentags übernahm die neue, seit August 2014 aktive Eliteeinheit „Nationale Gendarmerie” die Kontrolle über Iguala, die bis heute anhält.
„Straflosigkeit” ist ein gutes Stichwort, um der Frage nach der Ursache des Massakers nachzugehen, die inzwischen ganz Mexiko beschäftigt. Der Bundesstaat Guerrero ist seit Jahren ein Kristallisationspunkt sozialer Unruhe, rücksichtsloser Aufstandsbekämpfung und Bandengewalt. Die Mordrate im gewalttätigsten Bundesstaat Mexikos liegt bei 63 pro 100.000 Einwohner_innen und Iguala ist eine „Schlüsselstadt” für die Kartelle, wie der Journalist Luis Hernández Navarro von der Tageszeitung Jornada erklärt: „Umgeben von neun Bergen der Nordregion Guerreros, ist Iguala das Einfallstor zur Region Tierra Caliente, wo die Kartelle synthetische Drogen produzieren und Marihuana anbauen”. Die Verflechtung von Mafia und Politik und die damit einhergehende Straflosigkeit ist in Iguala nahezu vollständig.
Dafür gibt es in der jüngeren Vergangenheit drei Beispiele: 2010 verhaftet das Militär in Iguala sechs Jugendliche wegen eines Bagatelldelikts; diese verschwinden spurlos, die Familienangehörigen erreichen trotz vieler Behördengängen gar nichts, die Tat bleibt ungesühnt. Im Frühling 2013 geht der inzwischen verschwundene Bürgermeister Abarca Velázquez auf seine Art gegen parteiinterne Kritiker vor: Sechs führende Mitglieder der sozialen Organisation Unidad Popular werden nach öffentlichen Protesten gegen die Korruption in Iguala entführt, drei von ihnen hingerichtet. Der altgediente Linke Arturo Hernández Cardona war das bekannteste Opfer, er soll vom Bürgermeister persönlich erschossen worden sein. Der Augenzeugenbericht ist notariell beglaubigt, bei der Bundesstaatsanwaltschaft eingereicht und wurde vor einem Jahr auch in der Lokalpresse veröffentlicht – dennoch bleibt die Tat straflos. Im Dezember 2012 erschießen Polizisten bei einer Demonstration in Chilpancingo zwei Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa. Der Mord bleibt straffrei, ein Einsatzleiter wurde inzwischen sogar befördert. Im Einsatz waren dabei unter anderem die G-36-Gewehre der deutschen Waffenschmiede Heckler & Koch, die illegal in den Bundesstaat geliefert wurden (siehe LN 477).
Bei genauer Betrachtung wird klar, allein mit der in Agenturmeldungen verbreiteten These der Brutalität des Drogenkriegs ist das jetzige Massaker von Iguala und die Situation in Guerrero nicht zu erklären. „Hier gibt es eine staatliche Politik, Anführer der sozialen Bewegungen zu ermorden und die Proteste zu kriminalisieren, um die soziale Unruhe im Zaum zu halten”, meint Abel Barrera, Direktor des Menschenrechtszentrums Tlachinollan. Das CCTI beschreibt die konkreten Auswirkungen dieser Politik: „Die Gesellschaft Guerreros ist gelähmt, paralysiert durch die Angst und den Terror, außer einiger weniger Sektoren mit langer kämpferischer Tradition, wie die Studenten und die Lehrer.” Hinzu kommt, dass genau diese gewerkschaftlich gut organisierten Sektoren durch die Massenmedien seit Jahren kriminalisiert werden. Einmal sind sie „arbeitsscheue Elemente”, ein anderes Mal „vermummte Vandalen”, oder die 17 im Land verteilten Landlehrerhochschulen werden gar pauschal als „Brutstätte von Guerilleros” bezeichnet. Hernández Navarro, einst selbst Lehrergewerkschafter, erinnert: „Schon vor dem 26. September wurden die Studenten der Landlehrerschulen dämonisiert. Über sie wurden haufenweise Verleumdungen verbreitet, ohne diese zu beweisen. Dafür sind die Unternehmer verantwortlich, angeführt von Claudio X. González und dessen Verein Mexicanos Primero, aber auch das Bildungsministerium und Politiker_innen aller Parteien”.
Seit dem Widerstand der radikalen Teile der Lehrer_innen und Pädagogikstudierenden gegen die Bildungsreform der Regierung Peña Nieto (siehe LN 469) hat diese Kampagne noch an Aggressivität zugenommen. Die Schüler des Internats in Ayotzinapa gehören zu den sichtbarsten Vertretern dieser Opposition: 1936 unter Präsident Cárdenas als streng sozialistische Ausbildungsstätten gegründet, halten sie das Ideal einer kostenlosen Ausbildung hoch und ermöglichen so mittellosen, meist indigenen Bauernsöhnen das Erlernen des Lehrerberufs für die Grundstufe.
Kriminalisierung der sozialen Bewegung, Kartellgewalt und Straflosigkeit, dieses Gemisch hat in Iguala zur Tragödie geführt. Aufgrund seiner Dimensionen, die eine sonst übliche Vertuschung unmöglich machen, erscheint das Massaker als ein „Betriebsunfall” im Krieg niederer Intensität der Regierung gegen soziale Bewegungen zu sein, ähnlich wie das Massaker von Acteal in Chiapas 1997. Wie in Acteal waren auch in Iguala Bundespolizei und Militär in Hörweite stationiert, unternahmen aber nichts, als Paramilitärs gegen ihre „Feinde” vorgingen. Damals wurden auf Druck der Öffentlichkeit einige Täter gefasst und für einige Jahre weggesperrt, sowie der Innenminister, Emilio Chuayffet, entlassen. Heute sind alle Täter, darunter auch geständige Mörder, wieder auf freiem Fuß, aufgrund von Verfahrensfehlern. Und Emilio Chuayffet ist inzwischen Erziehungsminister im Kabinett von Peña Nieto. Der Kreis schließt sich.
Aber vielleicht ist 2014 doch anders als 1997. „Wir werden keine weiteren Gräueltaten unter der Schirmherrschaft der Regierung und keine Straflosigkeit mehr zulassen”, warnt Tlachinollan in einem Appell an die Bevölkerung Guerreros. Das Menschenrechtszentrum ruft dazu auf, gemeinsam „die Grundfesten einer Macht auszuhebeln, die nur sich selber dient”. Es gilt dafür zu kämpfen, dass das Massaker von Iguala eben nicht den von den Tätern beabsichtigten demobilisierenden Schockeffekt erzielt. Sondern dass die sozialen Bewegungen Mexikos Auftrieb erhalten durch die Welle von Solidarität, die die Studenten von Ayotzinapa und ihre Familien in diesen Tage erfahren. So demonstrierten viele Menschen am 8. Oktober nicht nur in 64 Städten Mexikos gegen die Komplizenschaft der Regierung, sondern auch vor mexikanischen Vertretungen in Südamerika, Europa, Kanada und den USA.

Todsichere Geschäfte

Hätte er doch auf sie gehört. „Pass auf, mit denen ist nicht zu scherzen“, hatte María Amadea de Jesús ihren Sohn gewarnt. Aber Gabriel ließ sich nicht aufhalten. Nun bleiben seiner Mutter nur noch die Bilder an der Wohnzimmerwand: Gabriel als Kind mit einem Fohlen, Gabriel mit dem ersten Flaum im jugendlichen Gesicht. Und es bleibt ihr dieses Foto, das ein Nachrichtenmagazin auf der Titelseite veröffentlichte. Es zeigt einen jungen Mann, der leblos auf der Straße liegt. Das Gesicht auf dem Asphalt, den Kopf in einer Blutlache. „Er war unschuldig“, sagt die 58-jährige verzweifelt und blättert von einer Heftseite zur nächsten. Bis sie zwei Abbildungen von Polizisten findet, die mit Gewehren auf Demonstrierende zielen. Dann bricht sie in Tränen aus. „Die haben ihn umgebracht.“ Noch immer fällt es Amadea de Jesús schwer, über diesen Tag zu sprechen.
Der 12. Dezember 2011: Aus der mexikanischen Kleinstadt Tixtla machen sich mehrere hundert Studierende auf den Weg zu einer Protestaktion, unter ihnen auch Gabriel Echeverría de Jesús. Die jungen Männer studieren an der Pädagogischen Hochschule Ayotzinapa, viele von ihnen stammen aus armen Familien. Später sollen sie einmal den Kindern der Region lesen, schreiben und rechnen beibringen. Schon lange gilt das Internat als rebellisch, von den Hauswänden prangen Marx, Lenin und Subcomandante Marcos, der Sprecher der indigenen Zapatist_innen. Immer wieder legen sich die Studierenden mit den Mächtigen an, unterstützen indigene Gemeinden hier im Bundesstaat Guerrero in ihrem Kampf um Selbstbestimmung oder kritisieren Angriffe der Polizei auf Kleinbäuerinnen und -bauern.
An diesem Tag mobilisieren sie für ihre eigenen Rechte: Seit Monaten fällt in Ayotzinapa der Unterricht aus, es scheint, als wolle man die Universität langsam abwickeln. Deshalb fordern die angehenden Lehrer_innen schon lange ein Gespräch mit dem Gouverneur, doch der vertröstet sie nur. Also fahren die Studierenden in die nahe gelegene Landeshauptstadt Chilpancingo. Dort wollen sie die Autobahn blockieren, die von Mexiko-Stadt an die pazifischen Strände um Acapulco führt. Kaum angekommen, rücken aber auch schon Polizist_innen an. Geschützt mit Helmen und Kampfanzügen springen sie von den Transportern. Eine Tankstelle geht in Flammen auf. Steine fliegen. Tränengas vernebelt die Luft. Schüsse fallen. Plötzlich liegen Gabriel Echeverría de Jesús und Jorge Alexis Herrera tot auf der Straße. „Das war kein Unfall“, ist sich deren Kommilitone Ali Pérez Bravo sicher. „Sie wollten jemanden von uns töten, sonst hätten sie nicht auf den Kopf gezielt.“
Auch der Fotojournalist Eric Chavelas hat den Polizeieinsatz miterlebt. Jetzt sitzt er vor seinem Bildschirm und scrollt von einer Aufnahme zur nächsten. „Hier“, sagt er, „das sind die deutschen Waffen.“ Gleich mehrere seiner Fotos beweisen: Polizeibeamt_innen verschiedener Einheiten trugen an diesem Tag Gewehre vom Typ G36 der deutschen Rüstungsschmiede Heckler & Koch – Waffen, die nie in diese Region hätten gelangen dürfen. Denn als die Firma eine Genehmigung für den Export nach Mexiko beantragt hatte, stellten die Ausfuhrbehörden eine Bedingung: Die Gewehre dürfen nicht in die Bundesstaaten Guerrero, Jalisco, Chihuahua und Chiapas geliefert werden. Dass die G36 dennoch gegen die Studierenden zum Einsatz gekommen sind, belegen auch Polizeiakten. Dort sei von zwölf dieser Sturmgewehre die Rede, bestätigt Anwalt Vidulfo Rosales, der María Amadea de Jesús vertritt. Zudem wurden in der Nähe von Echeverrías Leiche Patronenhülsen des Kalibers 5,56 x 45 Millimeter gefunden – das passende Kaliber für das G36.
In Guerrero gibt sich niemand Mühe zu vertuschen, dass die Sturmgewehre im Umlauf sind. „Diese Waffen sieht man in Chilpancingo an jeder Ecke“, sagt Verteidiger Rosales. Selbst die autonome, indigen geprägte Gemeindepolizei in Tixtla besitzt sie. Allerdings eher unfreiwillig, wie deren Anführer Gonzalo Molina erklärt. Bürger_innen haben die Miliz vor eineinhalb Jahren gegründet, um sich angesichts einer tatenlosen Regierung selbst vor der zunehmenden Kriminalität zu schützen. Weil einige Mitstreiter_innen verhaftet wurden, besetzten die Milizen für ein paar Stunden das Rathaus der Kleinstadt. Plötzlich zielten die offiziellen Polizeibeamt_innen mit den Gewehren auf sie. „Da mussten wir ihnen doch ihre Waffen abnehmen“, meint Molina. Allerdings werde man sie nicht benutzen. „Wenn unsere Gefangenen freigelassen werden, geben wir sie zurück.“ Der örtliche Sicherheitsbeauftragte Ruben Reyes Cepeda erklärt der Presse freimütig: „Wir besitzen elf G36-Gewehre in verschiedenen Ausführungen.“ Polizist_innen, die später in Tixtla patrouillieren, tragen ebenfalls die Waffen aus dem schwäbischen Oberndorf, Firmensitz von Heckler & Koch.
Abel Barrera vom regionalen Menschenrechtszentrum Tlachinollan bereitet das große Sorgen. „Besonders beunruhigend ist es, dass lokale Polizist_innen diese gefährlichen Gewehre tragen“, sagt er. Die Beamt_innen hätten keine Ausbildung und vor allem keinen Respekt vor den Menschenrechten. „Sie gehen zügellos gegen eine verarmte Bevölkerung vor, die, wie die Studenten von Ayotzinapa, meist nur ihr Recht einfordert.“ Den Behörden traut hier niemand. Häufig stecken korrupte Beamt_innen, lokale Politik, wirtschaftliche Eliten und Kriminelle unter einer Decke. „Die meisten Bürgermeister und Polizisten in Guerrero arbeiten mit der Mafia zusammen,“ erklärt ein hoher Vertreter der Landesregierung, der seinen Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen will. Fühlen sich diese Kreise in ihrer Macht bedroht, gehen sie mit äußerster Gewalt gegen ihre Gegner_innen vor. Die Opfer sind oft Indigene, Bäuerinnen und Bauern, die sich gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen wehren.
Wie aber gelangten die Sturmgewehre nach Guerrero? Heckler & Koch habe sich immer an Recht und Gesetz gehalten, lautete die Standardantwort aus Oberndorf. Für mehr Aufklärung könnte deren ehemaliger Mitarbeiter Markus Bantle sorgen. Seit 25 Jahren lebt er in Mexiko. Bald könnte ihn seine Vergangenheit einholen. Nachdem Heckler & Koch nicht mehr leugnen konnte, dass der Waffendeal illegal verlaufen war, machte die Firmenleitung zwei Mitarbeiter für die Lieferung verantwortlich und kündigte ihnen. Die aber klagten gegen ihre Entlassung und bekamen Recht.
Bei der Verhandlung vor dem Amtsgericht Villingen/Schwenningen im Dezember wurde deutlich, dass die Geschäftsführung genau über die Ausfuhr Bescheid wusste. Zudem brachte der Prozess ans Licht, dass ein Handelsvertreter, also Markus Bantle, offenbar Papiere geschönt hatte, um die Lieferung in die „verbotenen Bundesstaaten“ zu verschleiern. Nun sei es nur noch eine Frage der Zeit, so vermuten Rüstungsgegner_innen, dass sich die Schwarzwälder Rüstungsschmiede aufgrund der widerrechtlichen Exporte und wegen des Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontroll- und das Außenwirtschaftsgesetz vor Gericht verantworten muss.
Wer Gabriel Echeverría getötet hat, wird dagegen wahrscheinlich nie juristisch geklärt. Und auch die Frage, ob der Student durch die deutschen Gewehre starb, wird nicht beantwortet. Seit über zwei Jahren setzt sich Amadea de Jesús für die Aufklärung des Todes ihres Sohnes ein. Doch verdächtige Polizisten, die nach dem Einsatz festgenommen wurden, sind längst wieder auf freiem Fuß.

Infokasten

Heckler & Koch muss sich vor Gericht verantworten
Der Freiburger Friedensaktivist Jürgen Grässlin machte den Anfang: Er zeigte Heckler & Koch 2010 an. H&K soll zwischen 2003 und 2007 illegal Sturmgewehre nach Mexiko geliefert haben. Zwar hatten deutsche Behörden die Ausfuhr der Waffen vom Typ G36 genehmigt, allerdings unter einem Vorbehalt: Die Gewehre dürfen nicht in die Bundesstaaten Guerrero, Jalisco, Chihuahua und Chiapas gelangen. Eine Liste des mexikanischen Verteidigungsministeriums bestätigt jedoch, dass etwa die Hälfte der Gewehre genau in diese Regionen geliefert wurde. Recherchen werfen nun neue Fragen auf: Hat das schwäbische Unternehmen weitaus mehr G36 geliefert, als vom Bundesausfuhramt genehmigt wurden? Politikwissenschaftler Carlos Pérez Ricart von der Berliner Gruppe México via Berlín hat die Zahlen verglichen. Demnach hat das Verteidigungsministerium, der offizielle Käufer, zunächst angegeben, 10.082 der Waffen erhalten zu haben, um die Ziffer dann auf 9.652 zu reduzieren. Laut Rüstungsexportberichten der Bundesregierung wurde lediglich die Ausfuhr von 8.769 G36 genehmigt, in der Antwort auf eine Anfrage der Linken ist sogar nur von 8.065 die Rede. Wie sind diese Diskrepanzen zu erklären? Um das zu klären, hat Grässlin eine erweiterte Strafanzeige an die Staatsanwaltschaft gestellt. Zudem verdichtet sich der Verdacht, dass in Mexiko widerrechtlich G36-Kopien hergestellt werden. In der Stadt Querétaro wird ein auffällig ähnliches Gewehr produziert: das FX05. Nur: H&K will von einer Lizenzproduktion nichts wissen und im Rüstungsexportbericht taucht keine Genehmigung auf. Die mexikanische Regierung habe aber in den Jahren 2003 und 2004 mit H&K über einen solchen Lizenzvertrag verhandelt, erklärt Pérez Ricart. Laut Finanzministerium seien dafür über vier Jahre lang insgesamt 22,8 Millionen Pesos (1,2 Millionen Euro) an H&K überwiesen worden. Das G36 wurde dann zwar nie gebaut, jetzt aber produziert eine Fabrik das FX05. Werden die Waffen ohne Lizenz, aber mit Beteiligung von H&K hergestellt? Grässlin schließt das nicht aus: „Eine Hightechwaffe vom Typ G36 kann nicht von irgendeiner Firma weltweit nachgebaut werden, dazu brauchen sie das Know-how von hoch qualifizierten Technikern von H&K.“

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