Zu viel des Schlimmen

„Für eure Tränen müsst ihr hier bezahlen!“ Schon bei der Einführung in ihre neue Heimat wird den Neulingen in der mexikanischen Militärakademie Colegio Militar klargemacht, welcher Wind hier weht. Potros nennt sie der verschlagene Ausbildungsoffizier Eugenio Sierra, der kaum älter als sie selbst ist. Potro, das heißt auf Spanisch sowohl „Fohlen“ als auch „Qual“. Ein symbolischerer Name für die Erstsemester in David Zonanas Film Heroico ist schwer vorstellbar.


© Teorema

Denn Luis, der 18-jährige Protagonist in der bienenstockähnlichen Parallelwelt der Soldat*innenausbildung, lernt schon bald, worauf es hier ankommt: Stillstehen, trainieren, Klappe halten. Egal wie sehr einer der Kadetten mal wieder erniedrigt wird und wie nahe er ihm selbst steht. Sein Freund Ratón („Maus“) verinnerlicht das alles sehr schnell. Der sensible Luis kommt dagegen durch die fortdauernden Schikanen und Ungerechtigkeiten schon bald in Gewissenskonflikte. Zumal sich herausstellt, dass die hehren Ideale von Hilfe für die Bevölkerung, Ehre und Gerechtigkeit oft nicht mehr sind als verlogene Lippenbekenntnisse. Regisseur David Zonana hat in seiner noch jungen filmischen Karriere schon einiges erreicht. Als Produzent war er unter anderem im Jahr 2015 an dem Oscar-nominierten Spielfilm 600 Miles und an Michel Francos Chronic beteiligt, der beim Festival in Cannes den Preis für die beste Regie gewann. Auch sein eigenes Spielfilmdebüt Mano de obra (Workforce) gewann nationale und internationale Preise. Diese Qualität merkt man auch Heroico durchaus an, denn die Aufnahmen vor der architektonisch und landschaftlich reizvollen Kulisse der Militärakademie sehen kraftvoll und    beeindruckend aus. Beim Drehbuch von Heroico hat Zonana allerdings etwas zu dick aufgetragen.  Kein Bild ist zu plakativ, kein Klischee zu abgegriffen, um nicht gnadenlos ausgeschlachtet zu werden. Dazu kommt, dass die schauspielerischen Leistungen der Hauptdarsteller*innen leider nicht genügen, um ihren Charakteren ausreichend Tiefe zu geben. Vor allem Santiago Sandoval Carbajal bleibt als Luis zu blass, um wirkliche Emotionen beim Zusehen aufkommen zu lassen. Aber auch Fernando Cuautles Spiel als Eugenio Sierra wirkt zu kumpelhaft, um ihm den Fiesling wirklich abzukaufen. Darüber hinaus wird über die Motive der meist unmoralisch handelnden Personen bis auf die familiären und finanziellen Zwänge der Kadetten nichts bekannt. Dadurch bleiben die Figuren in Heroico hölzern und auch die Geschichte läuft vorhersehbar und ohne große Überraschungen ihrem Ende entgegen. Was ein mexikanisches Full Metal Jacket hätte werden können, verliert sich deshalb leider in Plattitüden, die so oder so ähnlich schon oft zu sehen waren: Die Welt ist schlecht und die Militärs sind es ganz besonders. Schade, denn mit etwas mehr Zwischentönen und Differenziertheit hätte der Film seine bestimmt gut gemeinte Message deutlich wirkungsvoller transportieren können.

LN-Bewertung: 2/5 Lamas

Triggerwarnung: Explizite Darstellung psychischer und physischer Gewalt

Etwas Altes, Etwas Neues, Etwas Geliehenes, Etwas Blaues

© Jacob Sauermilch

„Ja es fühlt sich komisch an, aber wichtig ist, wie es aussieht!“, mit dieser Idee vom Leben sehen sich der deutsche Fred (David Bruning) und die argentinische Luisa (Rai Todoroff), die eine harmonische und gleichberechtige Beziehung führen, auf einmal konfrontiert, als ihre Eltern zur Hochzeit anreisen. Der mittellange Film El secuestro de la novia der deutsch-argentinischen Regisseurin Sophia Mocorrea, der Teil der Sektion Perspektive Deutsches Kino ist, zeigt in vier Kapiteln mit Witz und Ironie die Gelähmtheit, welche durch die Erwartungen anderer ausgelöst wird. Die Kapitel sind nach den Hochzeitstraditionen Algo Viejo (Was Altes), Algo Nuevo (Was Neues), Algo Prestado (Was Geliehenes) und Algo Azul (Was Blaues) benannt, wodurch auf die konventionellen Denkmuster angespielt wird. Nahaufnahmen und lange Szenen der Zweisamkeit von Fred und Luisa zeigen die eigentliche Nähe und Vertrautheit der beiden. Das langsame Eindringen der Eltern in ihre Beziehung wird gleich zum Anfang am Berliner Flughafen angedeutet, wo auf Grund der Tatsache, dass ungefragt das Brautkleid und sämtlicher Hochzeitskram mitgebracht wurden, kein Platz mehr im Auto für Fred ist.

Das Aufeinandertreffen der Eltern in der deutschen Vorstadt wird durch den Fokus auf den Gartenzaun unterstrichen und dem „doch so schönen, geerbten Haus“, in das Luisa und Fred einziehen sollen. Denn darin sind die Elternteile sich einig: „Wenn erstmal die Kinder kommen, braucht ihr Platz“. Die Absurdität der Erwartungen der anderen an sie wird durch sprachliche Mittel unterstützt und durch mehrere Szenen dargestellt. Das von Luisa ausgesuchte Brautkleid wird durch das mitgebrachte ersetzt und zeigt auf charmante Art und Weise, wie ihre Familie ihre eigenen Vorstellungen von einer schönen Braut hat. Auch Fred wird nicht gehört und von den Vorstellungen der Schwiegereltern überhäuft, so dass sich Fred und Luisa auf ihrer eigenen Hochzeit gemeinsam im Klo verstecken müssen, um sich Champagner trinkend über den Wahnsinn ihrer Eltern auszutauschen.

© Jacob Sauermilch

Die beiden lassen durch die Kapitel hinweg vieles über sich ergehen, doch kippt die Stimmung im letzten Kapitel bei der Brautentführung, da Fred abgefüllt wird und Luisa unangenehme Fragen auf der Wache über sich ergehen lassen muss. Die Distanz, die sich zwischen Ihnen aufgebaut hat, endet im Morgengrauen auf einem Feld, wo sie sich durch Handschellen verbunden im Hochzeitsoutfit wiederfinden. Durch die langen Nahaufnahmen der Blicke und Gesichter, gibt der Film den Zuschauer*innen Zeit, die Gefühle nachzuempfinden und die Gelähmtheit zu fühlen, in der sich die beiden wiederfinden.

Der Film zeichnet sich durch die authentische schauspielerische Leistung der beiden Hauptdarsteller*innen aus, mit denen man sich automatisch identifiziert. Die Monologe der Eltern spiegeln uns allen bekannte Aussagen wider und gewinnen dadurch an Witz, dass sie unverfälscht mit einer Beiläufigkeit wiedergegeben werden.

Mit diesem Abschlussfilm ihres Studiums an der Filmuniversität Babelsberg präsentiert Sophia Mocorrea ein Narrativ, welches berührt und zeigt mit Originalität die Absurdität von Konventionen auf, mit denen wir uns doch alle immer wieder konfrontiert sehen.

LN-Bewertung: 5/5 Lamas

Tarantino in Queer

Brasilien 1973: Die Zeiten waren alles andere als fröhlich. Die Militärdiktatur des Präsidenten Emílio Gastarrazu Medici unterdrückte, folterte und ermordete brutal die meist gewaltlose Opposition des Landes und auch die Wirtschaft geriet zunehmend in Schieflage. Überraschenderweise entstand in diesem Jahr in Brasilien aber auch A Rainha Diaba (Übersetzt etwa: Die teuflische Königin), ein hochunterhaltsamer queerer Gangsterfilm, der Maßstäbe setzen sollte und es nun, genau ein halbes Jahrhundert später, digitalisiert ins Klassikerprogramm der Berlinale geschafft hat. Regisseur Antonio Carlos da Fontoura orientierte sich bei der Besetzung der Hauptfigur im Film lose am Leben von João Francisco dos Santos, einem bekannten Kriminellen aus Rio de Janeiro, dessen Leben später auch in Madame Satã (2002) noch einmal verfilmt werden sollte. Bei da Fontoura wird dos Santos zur teuflischen Drag-Queen Rainha Diaba (gespielt von Superstar Milton Gonçalves). Diese kontrolliert von ihrer Wohnung in einem Hinterhof den Drogenhandel im Ausgehviertel Lapa und den umgehenden Favelas. Großartig schon der erste Auftritt der „Königin“ (Rainha, wie sie von ihren Untergebenen ehrfurchtsvoll genannt wird): Ihre Handlanger*innen müssen zum Rapport in ihrem Schlafzimmer antreten, wo ihr Lover ihr währenddessen die Fußnägel lackiert. Die vordergründige Freundlichkeit und der tuckige Akzent der Gangsterbossin sind jedoch nicht nur in dieser Szene trügerisch, denn Fehlverhalten bestraft die Rainha grausam und gnadenlos.

A Rainha Diaba bringt brasilianischen Gangster-Trash aus den Siebzigern zurück auf die Leinwand© José Medeiros

Der Plot des Films entwickelt sich rasch rund um Bereto (Stepan Nercessian), einen gutaussehenden Taugenichts, der seine Freundin schlägt und hofft, durch eine kriminelle Karriere ans schnelle Geld zu kommen. Die Rainha hat ihn zum Opfer auserkoren, da einer ihrer Lieblings-Untergebenen einen Drogendeal vermasselt hat. Nun muss sie der Polizei einen Sündenbock präsentieren, um weiter in Ruhe arbeiten zu können. Ihre rechte Hand Zeca Catitu (herrlich schmierig: Nelson Xavier) wirbt Bereto an, der Raubüberfälle mit der Clique begehen und für diese später ans Messer geliefert werden soll. Zunächst scheint auch alles nach Plan zu laufen. Doch Bereto gibt nicht klein bei und so nehmen die Dinge bald einen Lauf, der die Geschäftsgrundlage der Rainha in Gefahr bringt.

A Rainha Diaba ist bestes Kino-Entertainment im Stile der Gangsterfilme von Quentin Tarantino. Unmöglich, keine Vergleiche mit dessen (weit später gedrehten) Klassikern wie Pulp Fiction oder Reservoir Dogs zu ziehen, in denen teils exzessive Gewaltszenen sich mit geschliffenen Dialogen abwechseln – ohne dabei allzu große Empathie mit den Beteiligten aufkommen zu lassen, wenn sie das Zeitliche segnen. Die bunte Freakshow des großteils offen oder latent queeren Gangster*innen-Ensembles gibt A Rainha Diaba dabei aber eine unverwechselbare Note. Bemerkenswert – vor allem für die Zeit der Entstehung – ist die Natürlichkeit, mit der Drag und Homosexualität in ein machistisch dominiertes Genre implantiert wurden, ohne dass es der Treue zu stilistischen Konventionen Abbruch getan hätte.

© José Medeiros

Als klassisches Popcorn-Movie konzipiert, sollte man A Rainha Diaba allerdings auf keinen Fall zu ernst nehmen. Für reichlich Trash-Faktor und unfreiwillige Komik sorgen unter anderem die lächerlich schlecht choreografierten Kampfszenen und das offensichtlich falsche Kunstblut, das in Strömen fließt. Auch der Ton ist trotz digitalisierter Aufbereitung manchmal undeutlich und die Dialoge deshalb schwer zu verstehen. Das machen die durchdachte und überraschende Handlung, stimmige Charaktere, tolle Schauspieler*innen und die gelungene Inszenierung vor der traumhaft schönen Kulisse Rio de Janeiros aber mehr als wett. Wer im oftmals etwas verkopften und bedeutungsschwangeren Programm der Berlinale nach einer spaß- und actionlastigen Abwechslung sucht, dürfte deshalb an A Rainha Diaba auch 50 Jahre nach Erstveröffentlichung des Films noch große Freude haben.

Triggerwarnung: Explizite Gewaltdarstellungen

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

KLEIN, ABER DIVERS

Tótem Der Film der mexikanischen Regisseurin Lila Avilés geht als einziger Kandidat aus Lateinamerika im Berlinale-Wettbewerb an den Start (Foto: Limerencia)

Die Lateinamerika Nachrichten werden wie auch in den Vorjahren zahlreiche lateinamerikanische Filme auf der Berlinale rezensieren. Die Rezensionen erscheinen in den kommenden Wochen auf unserer Homepage!

Normalität ist vermutlich eines der Dinge, nach dem sich die Veranstalter*innen der Berlinale und mit ihnen viele Filmemacher*innen rund um den Globus in den vergangenen drei Jahren am meisten gesehnt haben. Die Pandemie hat ihren größten Schrecken mittlerweile verloren, Spuren hinterlassen haben die vergangenen Jahre aber dennoch. Die Auswirkungen (vor allem finanzieller Art) behinderten spürbar den Output der cineastischen Produktion. Vielleicht mag das ein Grund sein, warum es dieses Jahr aus Lateinamerika einige Filme weniger in das Programm der Berlinale geschafft haben. Etwas schade ist, dass im Wettbewerb nur der mexikanische Beitrag Tótem laufen wird. Regisseurin Lila Avilés erzählt darin aus der Perspektive eines Mädchens, wie eine Überraschungsfeier für ihren Vater aus dem Ruder läuft und die Brüche innerhalb der Familie offenlegt.

In der avantgardistischen Sektion Encounters finden sich mit Adentro mio está bailando (Argentinien) und Eco (Mexiko) zwei Dokumentationen über Klezmer-Musik bzw. das Leben im peripheren ländlichen Raum. Gut besetzt ist die beim Publikum beliebte Sektion Panorama mit vier Filmen: In El Castillo (Argentinien) bekommt eine ehemalige Hausangestellte ein verfallenes Landhaus in der Einöde vererbt. Propriedade (Brasilien) folgt der Großgrundbesitzerin Teresa, deren Landgut von revoltierenden Arbeiter*innen besetzt wird. Ein junger Soldat kommt in Heroico (Mexiko) in einer brutalen Militärakademie an seine Grenzen. In der Doku Transfariana (Kolumbien) nähern sich eine ehemalige trans*-Sexarbeiterin und ein FARC-Rebell im Gefängnis einander an. Und in The Eternal Memory (Chile) dokumentiert Regisseurin Maite Alberdi die Alzheimer-Erkrankung ihres Mannes.

Aus Chile kommt auch der Schriftsteller und Regisseur Antonio Skármeta, der in Aufenthaltserlaubnis aus dem Berliner Exil heraus mit anderen Dissidenten das Ende mehrerer Autokratien feiert. Der Film läuft in der Sektion Forum Special, zusammen mit A Rainha Diaba (Brasilien), einem Film über die Königin der Gangster von Rio de Janeiro zur Zeit der Militärdiktatur. Zur gleichen Zeit spielt auch El Juicio (Argentinien), eine dreistündige packende Dokumentation über den Gerichtsprozess 1985, der die größten Verbrecher der argentinischen Militärjunta (1976-83) ins Gefängnis brachte. Ein weiterer Dokumentarfilm (wie El Juicio aus der Sektion Forum) ist Llamadas desde Moscú (Kuba), der kubanische Migrant*innen in Moskau zur Zeit des Beginns des russischen Angriffskriegs ab 24. Februar 2022 gegen die Ukraine begleitet. Der einzige Film in der regulären Sektion Forum ist El rostro de la Medusa (Argentinien). Dort wacht eine Frau eines Tages mit verändertem Gesicht auf.

Kakteen, magischer Realismus und queere Geschichten

Die Jugendfilm-Sektion Generation (2022 gewann dort die Doku Alice aus Kolumbien den Hauptpreis) hat mit acht die meisten Filme aus Lateinamerika zu bieten. Adolfo (Mexiko) ist der Name eines Kaktus, der auf magische Weise das Leben zweier Jungen verändert. In Desperté con un sueño (Argentinien) muss ein junger Schauspieler den Traum von der Theaterkarriere vor seiner Mutter verheimlichen. Magischen Realismus gibt es in Infantaria (Brasilien), einer Geschichte über drei Teenager auf einer Geburtstagsparty in der Natur, zu sehen. Hummingbird (USA) durchtanzt mit den Migrantinnen Beba und Silvia lange Sommernächte in Texas an der Grenze zu Mexiko. In Ramona (Dominikanische Republik) kontaktiert die 15-jährige Camila aus wohlhabender Familie schwangere Teenagerinnen, um sich auf eine Schauspielrolle vorzubereiten.

Queere Geschichten erzählen Mutt (USA), eine Coming-of-Age-Story aus New York über die Latin-trans*- Person Feña und Almamula (Argentinien), wo der Teenager Nino vor homophoben Angriffen in ein Haus in einem Wald flüchtet, in dem ein Monster wohnt. Schließlich behandelt der Generation-Kurzfilm Antes de Madrid (Uruguay) die Abschiedsnacht von Micaela mit ihrem Freund Santiago, bevor sie nach Spanien zieht. Gespannt darf man auch auf den Kurzfilm As miçangas (Brasilien; Berlinale Shorts) mit Schauspielstar Karine Teles sein, in dem zwei Frauen sich in ein Ferienhaus zurückziehen, um eine medikamentöse Abtreibung durchzuführen.

Überraschenderweise sind diesmal auch in der Sektion Perspektive Deutsches Kino zwei je 30-minütige Filme aus Deutschland, aber mit starkem Lateinamerika-Bezug zu finden: In El secuestro de la novia sorgt der Hochzeitsbrauch der Brautentführung bei einem deutsch-argentinischen Paar für Schwierigkeiten. Und das Kurzmusical Ash Wednesday behandelt Polizeiwillkür und Rassismus in einer Favela am letzten Karnevalstag.

Alles in allem ist die Auswahl an lateinamerikanischen Filmen diesmal mit 24 Beiträgen etwas kleiner als zuletzt. Das sehr diverse Themenspektrum sollte aber trotzdem wieder für ein tolles und interessantes Berlinale-Kinoerlebnis made in Latinoamérica sorgen.

Die Lateinamerika Nachrichten werden wie auch in den Vorjahren zahlreiche lateinamerikanische Filme auf der Berlinale rezensieren. Die Rezensionen erscheinen in den kommenden Wochen auf unserer Homepage!

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