“DIE VIELFALT WIRD NICHT MEHR ANERKANNT”

Foto: Martin Schäfer

Der neue Präsident Jair Bolsonaro sagte, alle brasilianischen Aktivist*innen müssten jetzt entweder ins Ausland oder ins Gefängnis. Auf der Berlinale stehen Sie und Ihr Team im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Fühlen Sie sich bedroht?
Ich persönlich fühle hier auf der Berlinale, eine Mission zu haben, das ist neu für mich. Wenn ich im Ausland von der schwierigen Situation in Brasilien erzähle, versuche ich, Fakten statt Meinungen zu kommunizieren. Und ich erschrecke selbst darüber, was ich sage, da ich zum ersten Mal seit Bolsonaros Amtsűbernahme die Geschehnisse mit etwas Distanz betrachte. Zu Beginn der Fragerunde nach der Weltpremiere meines Films erkundigte sich jemand: ,,Glauben Sie, dass der Film in Brasilien gezeigt werden wird?” Und meine erste Reaktion darauf war, zu denken, ,,natürlich, was für eine dumme Frage!”. Aber dann wurde mir klar, dass das Publikum hier weiß, dass wir es mit einer repressiven Regierung zu tun haben.
Um mich selbst habe ich keine Angst, im Gegenteil, die Situation gibt mir mehr Mut, da ich weiß, wie wichtig der Kampf ist. Ich bin privilegiert und könnte im Notfall das Land verlassen, denke aber nicht daran, denn jetzt möchte ich mehr als je zuvor Filme machen. Als Regisseurin bin ich aber besorgt um die jungen Leute im Film, denn die mediale Exposition kann sie schützen, aber gleichzeitig auch in Gefahr bringen.
In Momenten wie diesen ist es sehr wichtig, zu dokumentieren, wie es den Menschen geht. Nach meiner Empfindung haben wir in Brasilien eine kranke Gesellschaft mit vielen Formen der Gewalt: Der Hunger ist eine, die Armut auch, dazu kommt die tatsächliche Gewalt selbst. Das führt zu Leiden. Der Film zeigt Gewalt, und die Verfolgung von Aktivisten ist in Brasilien nichts Neues. Neu ist aber, dass sie jetzt nicht mehr illegal ist, sondern Regierungspolitik. Das macht es noch schrecklicher, als es vorher schon war.

Steht die brasilianische Linke unter Schock?
Der Wahlausgang hat zunächst Entsetzen und Niedergeschlagenheit verursacht. Es gab Fluchtgedanken bei Leuten, die sich das leisten können. Dann beruhigte sich die Stimmung etwas. Natürlich gibt es jetzt Leute, die Angst haben, es hängt davon ab, mit welcher Situation, mit welchen Leuten man konfrontiert ist. Erwartet wird, dass es unter Bolsonaro zu Gewalt kommen wird, soviel ist klar. Es gibt aber nicht eine Stimmung, sondern viele unterschiedliche Stimmungen.

Espero tua (re)volta beginnt mit der Wahl Bolsonaros und ist daher hochaktuell. Wie haben Sie den Film ursprünglich geplant, als diese Entwicklung nicht absehbar war?
Meine Motivation für den Film waren die 200 Schulbesetzungen in São Paulo im Jahr 2015, die wiederum durch einen Dokumentarfilm über die Schulbesetzungen in Chile im Jahr 2006 beeinflusst waren. Die Bilder aus den Jahren 2013 bis 2015 im Film sind nicht von mir, der konkrete Beginn meiner Arbeit am Film war erst im Jahr 2016, nachdem ich das besetzte Parlament von São Paulo besucht hatte. Ich traf mich dort aus einem anderen Grund mit der Produzentin Mariana Genescá und wollte nur kurz bleiben. Dann wollten wir aber beide wissen, was los war, und am Ende übernachteten wir dort. Wir hatten zuvor nie zusammengearbeitet, aber am Ende entwickelten wir die Gewissheit, dass wir darüber gemeinsam einen Film machen wollten, weil es sehr komplex und sehr interessant wirkte.
Wir planten das Ende der Dreharbeiten für Juli 2018 und die Premiere für Oktober. Im August wurden wir zu Festivals in Brasilien eingeladen, aber wir hatten eine Intuition, dass der Film irgendwie nicht fertig war, das Ende stimmte noch nicht. In dem Moment konnten wir uns gar nicht vorstellen, dass Bolsonaro die Wahl gewinnen würde. Als Bolsonaro den ersten Wahlgang gewann und seine im Film gezeigte Rede gegen den Aktivismus hielt, begann ich zu ahnen, dass er gewinnen würde und fing sofort an, das Ende des Films zu ändern. Ich dachte, mein Gott, dieser Film war von Anfang an dafür gemacht, zu erklären, wie es dazu kommen konnte!

Welche Wirkung erwarten Sie von Ihrem Film?
Zuvor hatte ich für den Film ,,Resistencia“, in dem es auch um Besetzungen ging, erstmalig mit Schülern gearbeitet. Es gab damals Probleme damit, den Film im Fernsehen zu zeigen, eine Art Zensur. Wir haben ihn dann über alternative soziale Kanäle verbreitet, allein in den ersten zwei Wochen wurden in 80 Städten Vorführungen organisiert. Als ich mit Interviews überall im Land die Arbeit an meinem neuen Film begann, erzählte ich zwei Mädchen in einem Kollektiv von ,,Resistencia“. Sie waren überrascht und erzählten, dass sie den Film in einer der Vorführungen gesehen und daraufhin beschlossen hatten, ihr Schülerkollektiv zu gründen. Das war in einer sehr kleinen Stadt im Nordosten Brasiliens. Wow, dachte ich, man weiß nie, was mit einem Film passiert, wenn er einmal in der Welt ist.
Um Espero tua (re)volta zu verbreiten, wollen wir wieder Organisationen und Personen kontaktieren, die Vorführungen organisieren, und den Film außerdem über die Online-Plattform ,,Taturana“ allen zum Download zur Verfügung stellen, die selbst eine Vorführung des Films mit anschließender Diskussion organisieren möchten, in Brasilien oder auch im Ausland. So wollen wir viele Menschen erreichen. Dafür wünschen wir uns jeweils ein Feedback über die Veranstaltungen, um zu wissen, was mit dem Film passiert. Natürlich ist es ein Traum, dass ,,Espero tua (re)volta“ dabei hilft, die Leute zu mobilisieren oder zusammenzubringen. Ich wünsche mir auch, dass er den Leuten hilft zu verstehen, was mit den sozialen Bewegungen passiert.

Ihr Film nutzt eine innovative Erzählform: die drei Hauptfiguren führen durch den Film, kommentieren ihn, springen zwischen den Episoden hin und her. Wie sind Sie darauf gekommen, den Film auf diese Weise zu machen?
Das war ein langer Arbeitsprozess. Ich hatte zu Beginn über 100 Stunden Archivmaterial angesehen und dann diejenigen Schüler kontaktiert, die am längsten bei der Besetzung dabei waren. Je mehr Material ich sah, desto mehr verstand ich, wie komplex das Thema war. Daher kam das Konzept, drei Schüler mit sehr verschiedenen Perspektiven den Film erzählen zu lassen. Die Jugendlichen sind unser primäres Zielpublikum und wir wollten den Dokumentarfilm eine von ihnen inspirierte Sprache sprechen lassen. Bei der Kommunikation mit ihnen hatte ich immer das Gefühl, dass sie eine ,,Multitasking-Generation“ sind: Sie haben Ideen und Assoziationen, schauen mal eben etwas auf Google nach oder in einem Video, sie springen von einem Thema zum nächsten. Der Film orientiert sich an dieser ,,Multitasking-Sprache“ in dem Sinne, dass der Erzählfluss nicht linear ist, sondern mit Einschüben, die Ideen folgen und dann wieder zur Geschichte zurückkehren. Das entspricht auch ein bisschen der Art, wie wir Lateinamerikaner nach meiner Wahrnehmung Geschichten erzählen.

Der Feminismus spielt in Ihrem Werk eine wichtige Rolle, so auch in Espero tua (re)volta.
Ich habe eine Neugier, zu verstehen, was mit der Welt und ihren Ungerechtigkeiten passiert, daher ist es logisch, dass mich Frauen interessieren. Ich denke, ich habe schon Filme über feministische Themen gemacht, bevor mir das richtig bewusst wurde. In der Schülerbewegung war der Feminismus im Hinblick auf Geschlecht und Ethnizität ein wichtiges Thema, so dass er aus meiner Sicht im Film eine Rolle spielen musste, um der Bewegung gerecht zu werden. Es lag also nahe, dass zwei der drei Hauptpersonen Frauen sind – eine schwarze und eine nicht hetero-normative Frau.

Werden es kritische Filme wie Ihrer unter Bolsonaro jetzt schwer haben, eine Finanzierung zu bekommen oder gezeigt zu werden?
Unter den Regierungen der PT hat es in Brasilien eine große Unterstützung für die Kunstschaffenden gegeben, besonders für das Kino. Das zeigt sich auch an der großen Zahl brasilianischer Filme hier auf der Berlinale und auf anderen Festivals. Fast alle brasilianischen Filme bekamen Fördergeld vom Staat, so auch unser Film. Dadurch hatte sich nicht nur die Qualität der Filme verbessert, auch die Produktionsorte hatten sich diversifiziert – historisch betrachtet kam das brasilianische Kino vor allem aus Rio und São Paulo, ein bisschen aus Recife und Porto Alegre. Durch die neue Vielfalt gab es zuletzt viele verschiedene Stimmen im Kino, und diese Vielfalt ist sehr schön für ein so großes Land wie Brasilien.
Schon seit der Absetzung von Dilma Rousseff gab es jedoch eine Bewegung, diese Vielfalt zu beseitigen, eine Art Diffamierung oder Kriminalisierung der Künstler. Es wird der Eindruck erweckt, dass wir Geld vom Staat erhalten, ohne etwas Sinnvolles damit zu tun. Ganz so, als ob nicht die Arbeit vieler Leute davon abhängen würde, vom Regisseur über den Chauffeur bis hin zum Koch, die davon leben und ihre Mieten bezahlen. Bolsonaro hatte im Wahlkampf die Abschaffung des Kulturministeriums angekündigt und es dann mit der Unterstützung einer Bevölkerungsmehrheit am ersten Tag seiner Regierung umgesetzt. Das ist gravierend und sagt einiges über den Moment aus, in dem wir uns befinden, denn die Vielfalt wird nicht mehr anerkannt. Das sieht man inzwischen auch an den Auswahlkriterien der Filmförderung. Bisher wurden Projekte nach der Qualität ihrer Ausarbeitung und ihrer Thematik bewertet, aber das ist vorbei. Jetzt ist das wirtschaftliche Potenzial eines Regisseurs ein Kriterium für die Förderung eines Films. Wie ist wohl das wirtschaftliche Potenzial eines Regisseurs, der Dokumentarfilme über soziale Bewegungen dreht? Es ist in Ordnung, dass Filme gedreht werden, die Gewinn einbringen, aber wenn es nichts anderes mehr geben soll, ist das für mich ein ernstes Problem. Die Künstler und Kinoleute machen sich also große Sorgen darüber, was nun passieren wird. Es gibt einen Angriff auf die Kultur in Brasilien, nicht nur auf das Kino, sondern auf alles, was für Vielfalt von Meinungen und Perspektiven steht, wie kritische Stimmen oder Gruppen, die im Kapitalismus nicht glücklich sind, z.B. Indigene. Die neue Regierung ist noch keine zwei Monate im Amt, und schon merkt man den Politikwechsel an vielen Fronten.

Für das Kino, für das Sie stehen, wird es also kaum noch Möglichkeiten geben?
Die politische Verfolgung ist bereits sehr stark. Es gibt neue rechte Gruppen, die Bolsonaro unterstützen, sie organisieren demoralisierende Kampagnen, mittels derer sie Verleumdungen über Linke verbreiten. Man sieht das etwa an den Drohungen gegen den Film Marighella, dessen Regisseur Wagner Moura sich mit einem kritischen, linken Denken immer politisch geäußert hat. Wir müssen abwarten, aber ich bin nicht optimistisch.

 

WASSER STEHT FÜR VERLANGEN UND TOD

Foto: © Aurora Dominicana


Eine französische divenhafte Schauspielerin, ein vertrauenswürdiger, doch zugleich skeptischer Produzent und ein schicksalergebener Kameramann sind die Protagonist*innen dieser einzigartigen Geschichte. Diese so verschiedenen und dennoch eng miteinander verbundenen Charaktere tun sich zusammen, um das Filmprojekt ihres verstorbenen Freundes Jean-Louis Jorge – dem eigentlichen Regisseur – zu vollenden, welches aus verschiedenen und verworrenen Gründen niemals beendet werden konnte. Das Projekt wird nach und nach von neuen Ideen vereinnahmt, besonders von Vera, der Schauspielerin, die sie durchzusetzen versucht, aber auch gleichzeitig vergisst. Es ist vor allem die intensive Beziehung der drei, aufgewirbelt durch den Auftritt einer vierten Person, die die Zuschauer*innen von der ersten Minute an in ihren Bann schlägt. Sie verstehen sich gut, respektieren sich und stehen füreinander ein. Sie kennen sich von früher, wissen genau, wie die anderen in ihrer Jugend waren und lernen sich nun als Erwachsene erneut zu schätzen. Als sich bei den Dreharbeiten jedoch eine Reihe von Zwischenfällen ereignet, die einem Bela Lugosi-Film entstammen könnte, wirkt es fast so, als ob diese der eigentliche Grund der unverhofften Wiedervereinigung wäre.

© Aurora Dominicana

Derweil präsentiert sich Santo Domingo als einflussreicher und für die Handlung inspirierender Ort, gar als intensives Spiegelbild der Emotionen der Figuren: es kübelt wie aus Eimern, es trieft aus allen Ritzen, das kalte Nass fällt vom Himmel und durchnässt die Menschen, welche in Lagunen und Becken schwimmen. In dieser nassen, aber majestätischen Szenerie spielt der Film, in dem die Kamera keine einzige Aufnahme aus der Luft zeigt. Genau das aber stellt eine Bereicherung dar: Die permanente Feuchtigkeit zieht uns in einen fast lüsternen Sog. Das treibende Verlangen zwischen den Charakteren, verdeutlicht durch eindrückliche Nahaufnahmen ihrer Körper, lässt die Frage nach einem roten Faden in der Erzählung aufkommen. Und danach, wie das alles enden soll.

© Aurora Dominicana

Wie eine Anleitung zum Träumen erscheint dieser Spielfilm der Regisseur*innen Laura Amelia Guzmán und Israel Cárdenas. Ihnen ist die Hommage an den dominikanischen Filmemacher Jean Louis Jorge gelungen, welcher durch gewagte Filme wie La serpiente de la luna de los piratas und Cuando un amor se va in den siebziger Jahren Berühmtheit erlangte.

Tango und Cabaret der siebziger Jahre, kombiniert mit den sinnlichen Klängen des Bandoneons und antiken Filmbildern voller Pailletten wecken die Neugierde und machen La fiera y la fiesta noch interessanter. Die Schauspieler*innen, sowohl Geraldine Chaplin als auch Udo Kier, bewegen sich auf der Leinwand wie Fische im Wasser. Genauso wie von ihren Regisseur*innen gewollt. Es ist ein Film über das Filmen, nur dieses Mal ohne vorheriges Proben.

 

“ICH BIN BRASILIANER”

Foto: © 02 Filmes


Wer während einer Diktatur geboren und aufgewachsen ist, ganz gleich auf welchem Fleck dieser Erde, trägt das ganze Leben eine besondere Last mit sich herum: Die Last der Unfähigkeit zu verstehen, was passiert ist. Oder vielmehr die der Unfähigkeit zu verstehen, was passiert ist und nach dem Warum zu fragen.

“Auge um Auge, wir werden nicht aufgeben”, das ist der Satz, der ständig wiederholt wird und der im kollektiven Unbewussten verbleibt, nachdem man Marighella gesehen hat. Der Film von Wagner Moura erzählt vom Leben und Kampf des brasilianischen Revolutionärs Carlos Marighella von 1964 bis zu seinem Tod 1969. 1911 geboren, erlebt er die Zeit der großen Revolutionen in Lateinamerika und der Karibik und wird von diesen geprägt. Er wird anerkanntes Mitglied der kommunistischen Partei Brasiliens und gründet und leitet später die bewaffnete Gruppe ALN.

Foto: © 02 Filmes

Marighella ist eine Mischung zwischen historischem Drama und Actionkino, in dem wir seinem strategischen Handeln mit der ALN und die großen Wendepunkte seiner Biografie wie die Veröffentlichung seines Buches Handbuch der Stadtguerrilla verfolgen können. Zu den einschneidensten Momenten im Leben des Revolutionärs gehören sicherlich auch die Entführung des US-Senators Charles Ekbrick und jeder einzelne der Versuche, Marighella selbst umzubringen, etwa im Hinterhalt vom November 1969 durch den faschistischen Polizisten Sergio Paranhos Fleury.

Gelungene Verfolgungsszenen, gefilmt mit der Handkamera, geben den Zuschauer*innen das Gefühl, selbst unter denen zu sein, die in den 60er Jahren von der Polizei verfolgt wurden. Die Spannung und das Adrenalin übertragen sich derart, dass man sich in einigen Momenten am liebsten die Augen zuhalten möchte, aber das unangenehme Schicksal und die geschichtliche Verantwortung verbieten es.

Selbstverständlich ist der Film nicht frei von Gewalt- und Folterszenen. Glücklicherweise wird die Grausamkeit derer, die der Film zeigt, in visueller Hinsicht nicht allzu exzessiv. Sowohl Masken- als auch Szenenbild leisten ganze Arbeit. Trotzdem nehmen diese Szenen einen am meisten mit, überwältigen, weil man weiß, dass es tatsächlich so geschehen ist. Genau dieses Verhältnis macht Marighella zu einem Spielfilm, mit dem man die Grausamkeit jeder der lateinamerikanischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts zeigen könnte.

Foto: © 02 Filmes

Die Leistung der Schauspieler*innen ist makellos, eine einzelne Nahaufnahme des Gesichts von Seu Jorge – der Carlos Marighella darstellt – oder der anderen Darsteller*innen ist schon allein so viel wert wie die Gesamtheit aller Szenen. Die Mischung aus tiefer Trauer und der intensive Eindruck über die Unnachgiebigkeit der Revolutionär*innen, der einen überkommt, lassen immer wieder die Frage danach stellen, warum dieser Film zwar im Wettbewerb läuft, jedoch außer Konkurrenz. Bleibt ein 3-Stunden-Film unbemerkt, weil er schlicht und einfach zu lang ist? Oder geht ein Werk, das die Unterdrückung der Menschen in Lateinamerika auf so heftige Weise kritisiert, der ehrbaren Jury dieser 69. Berlinale gegen den Strich?

Wagner Moura hebt in Marighella auch den Kampf der Revolution gegen die Zensur hervor, ebenso wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Freiheit und Unabhängigkeit der Medien. In einem Interview mit “Brasil de Fato” sagte er: “Dieser Film ist Teil des Kampfes gegen die brasilianische Rechte und das Regime Bolsonaros.” Auf diese Aussage hin folgten Drohungen von faschistischen Gruppen gegen ihn und das Filmteam, in das Set einzudringen. “Ich bin bereit für den Putsch”, erwiderte Moura als Antwort auf die aktuelle Zensur. Es scheint, als käme nichts aus der Mode. Leider.

ERDE UND EMOTIONEN

Foto: © HDPERU


In einer riesigen Lagerhalle verabschiedet sich eine kleine Delegation aus Cusco von ihren Kartoffeln: „Weine nicht, kleine Kartoffel, weine nicht!“, singt Brizaida Siqus mit Tränen in den Augen. Angesichts der Bedrohung der Biodiversität haben die Kleinbäuerin und ihre Kooperative sich auf den weiten Weg nach Norwegen gemacht um alte Kartoffelsorten im Saatgut-Tresor von Svalbard vor dem Aussterben zu bewahren.

© HDPERU

Brizaida ist eine von fünf indigenen Kleinbäuerinnen aus den Gegenden um Cusco und Puno, die die Brüder Álvaro und Diego Sarmiento in ihrem Dokumentarfilm Sembradoras de vida porträtieren. Vor allem der Klimawandel ist bei den fünf Frauen ein großes Thema, denn seine Folgen sind im Hochland der Anden schon jetzt zu spüren. Techniken, mit denen seit Jahrhunderten das Wetter vorhergesagt wurde, greifen nicht mehr, wenn es gar nicht mehr regnet oder der Regen nicht mehr aufhört. Ihre Großmutter habe anhand der Frösche erkannt, wie die Ernte werde, erklärt die Anthropologin Eliana García, die nach dem Studium zur Landwirtschaft zurückgekehrt ist. Jetzt sei sie froh, wenn sie überhaupt einmal einen Frosch sehe. Doch Eliana und die anderen Frauen halten an der traditionellen Landwirtschaft fest. Der Film begleitet die harte Arbeit der Bäuerinnen in wunderschönen Bildern und verlässt selten die Quinoa-, Kartoffel- und Maisfelder. Untermalt von Gitarre und Panflöte sehen wir die fünf Frauen beim Säen und Ernten, bei Opfergaben und dabei, wie sie altes Wissen an ihre Kinder weitergeben. Ein äußerst stimmiger Film, der stets seine Protagonistinnen selbst zu Wort kommen lässt und auch nicht in verkitschende Zurück-zur-Natur-Romantik verfällt.

Dem Kurzfilm La herencia del viento von gleich drei jungen mexikanischen Regisseur*innen hätte es dagegen gut getan, sich ebenso viel Zeit zu lassen. In nur 16 Minuten möchte der Film zu viel zeigen und sagen. Reduktion auf wenige Szenen hätte hier gut getan, denn der liebevolle Umgang des Bauern Juan Zuñija mit Familie und Pflanzen ist wirklich beeindruckend. Für Juan sind Kindererziehung und Landwirtschaft kaum voneinander zu trennen. Die Erde merke, genau wie die Kinder, mit welchen Emotionen man an sie herantrete. Schon seinen kleinsten Kindern bringt der Bauer einen tiefen Respekt vor der Natur bei.

© César Camacho

Es lässt hoffen, dass die Berlinale zwei Filmen Raum gibt, die zeigen, wie wichtig Biodiversität und ein umsichtiger Umgang mit unseren Ressourcen sind. So wird einmal mehr unsere Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie das klimafeindliche Verhalten des globalen Nordens schon jetzt das Leben derjenigen verändert, die am wenigsten zum Klimawandel beitragen.

 

WENIGER IST MEHR

Foto: © Diana Garay


Ein Junge wohnt mit seinem Vater in einem einfachen Haus, umgeben von Natur. Es regnet durchs Dach und das Haus ist innen ganz leer, nur ein Feuer wärmt die beiden, wenn sie in ihrer löchrigen Kleidung auf dem harten Boden sitzen und sich ein karges Mahl teilen. Die Seele wärmt jedoch nichts, keine persönlichen Gegenstände, kein Spielzeug und auch kein Regal, in die man sie legen könnte. Eines Tages findet der Junge im Wald einen Stuhl – begeistert nimmt er ihn mit nach Hause.

© Germano Saracco

Der Vater möchte dies jedoch nicht und bittet ihn, den Stuhl zurückzubringen. Der Sohn sitzt daraufhin abends traurig in der Ecke, dann bekommt er die Erlaubnis doch. Als der Junge am nächsten Tag den Stuhl holen will, hat sich jedoch etwas Wichtiges verändert, und er muss ihn dort lassen.
In der minimalistischen Fabel El tamaño de las cosas (Die Größe der Dinge) aus Kolumbien möchte uns Regisseur Carlos Felipe Montoya in nur 12 Minuten mit elementaren Fragen konfrontieren, die unter anderem mit dem Begehren von Dingen und allgemeiner der Bedeutung zu tun haben, die wir ihnen beimessen, sowie der sich ändernden Wahrnehmung der Dinge. “Weiß das zu schätzen, was du im Leben hast”, sagt etwa der Vater in einer Szene zu seinem Sohn. Montoya, der bereits zum zweiten Mal mit einem Kurzfilm auf der Berlinale zu Gast ist, gibt den Zuschauer*innen jedoch nicht einfach eine Moral mit auf den Weg. Er möchte, wie er sagt, dass diese nach dem Kinobesuch noch eine Weile über den Film und seine Botschaft nachdenken. Das ist ihm auf jeden Fall gelungen.

© Diana Garay

Schmerzt in El tamaño de las cosas die Abwesenheit materieller Dinge, so ist es in Los ausentes (Die Abwesenden) aus Mexiko der Tod eines Menschen. Er gibt Anlass zu Überlegungen ganz anderer Art: Der siebenjährige Rafaelito und seine beiden Freunde sollen auf einer Totenwache zur Aufmunterung ein paar traditionelle Huapango-Lieder spielen, jedoch haben sie nur ein Repertoire von drei Stücken. Wie sollen sie reagieren, als die trauernde Witwe am Ende ihrer Darbietung gern noch ein weiteres Stück hören möchte? Sie müssen sich schnell entscheiden.

Der Kurzfilm von José Lomas Hervert erzählt eine einfache, aber sensible Geschichte einiger Menschen ganz unterschiedlichen Alters. Die Kamera zeigt uns auf einfühlsame Weise weinende, aber auch lächelnde Gesichter, wir sehen sowohl Trauer als auch sich entwickelnde Zuneigung. Gesprochen wird dagegen nicht viel, Gestik und Mimik sagen neben der Musik mehr aus als tausend Worte. Zur Unterstützung dieses Fokus ist der Film in Schwarzweiß gedreht. Zurück bleibt nach 17 Minuten ein Mikrokosmos der Gefühle und des Lebens.

El tamaño de las cosas und Los ausentes laufen 2019 in Berlinale Generation (Kplus).

HOW TO BE GRETA


Foto: © Aline Belfort


Pedro ist alt, lebt allein und arbeitet als Pfleger im Krankenhaus von Fortaleza im Nordosten von Brasilien. Morgens schleppt er sich mühselig aus dem Bett, schluckt ein paar Pillen und geht zur Arbeit. Abends sitzt er allein in seiner Wohnung und hört bei einem Glas Schnaps Musik von italienischen Sängerinnen. Seine Besessenheit von Greta Garbo lebt er in gelegentlichen Besuchen in der Schwulensauna und bei der poetischen Aussprache des Garbo-Satzes “I want to be alone“ aus dem Film Grand Hotel aus. So trostlos und einsam sein privater Alltag auch ist, bei der Arbeit widmet sich Pedro ganz seinen Patient*innen und geht liebevoll mit seinen Mitmenschen um. Zu ihnen gehört auch seine enge Freundin, die Trans*frau Daniela, die als Entertainerin arbeitet und an Nierenversagen leidet. Das Krankenhaus, in das sie eingeliefert wird und in dem das erste Drittel des Films fast ausschließlich spielt, ist weder weiß noch klinisch und sicher. Stattdessen ist es überfüllt, dunkel und bildet eine fast bedrohliche Szenerie. Als für Daniela dort kein Platz mehr ist, überschlagen sich in Pedros Leben die Ereignisse: Er verhilft Jean, einem Patienten, der nach einer Auseinandersetzung ins Krankenhaus eingeliefert wurde und seitdem von Polizisten überwacht wird, zur Flucht und lässt ihn bei sich unterkommen. Die beiden teilen Pedros Wohnung, den Alkohol und das Bett. Jean lässt Pedros Identifikation mit Greta Garbo freien Lauf und so entwickelt sich eine vielschichtige Beziehung, die schon bald auf die Probe gestellt wird. Gleichzeitig verschlechtert sich Danielas Zustand und lässt die wichtigen Themen in Greta ans Licht kommen: Freundschaft und Liebe, Leben, Krankheit, Alter und Tod.

© Aline Belfort

Armando Praças Debütfilm und Beitrag zum diesjährigen Berlinale Panorama lebt vor allem durch die besonderen Charaktere. So spielt Marco Nanini den Krankenpfleger Pedro mit seiner fürsorglichen, aber gleichzeitig traurigen Art grandios. Auch Denise Weinberg beeindruckt schauspielerisch und gesangstechnisch als die erkrankte Diva Daniela, die sich mit dem Tod konfrontiert sieht. Die zunächst zu flache Figur von Jean, gespielt von Demick Lopes, dessen Schnurrbart, Kleidung und Macho-Art einem 90er-Jahre-US-Film entsprungen sein könnte, nimmt im Laufe des Films eine erfreuliche Wendung und beweist ihre Vielschichtigkeit.

© Aline Belfort

Auch wenn die Handlung so manch seltsame oder abwegige Wendung nimmt, schafft es Greta doch, die Zuschauer*innen zu beeindrucken und nachdenklich zu machen. So beleuchtet der Film drei bemerkenswerte Persönlichkeiten und Lebensrealitäten. Besonders an Pedros Figur wird die Tiefe menschlicher Bedürfnisse nach Nähe und Vertrauen deutlich. Aus Einsamkeit, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft zu seinen Mitmenschen riskiert der 70-Jährige viel, wenn nicht alles. Wer genau hinschaut, kann in der Geschichte um Jean, Pedro und Daniela auch kleine Hinweise auf die alltäglichen Erfahrungen und Probleme älterer LGBTI* im heutigen Brasilien erkennen.

FRAUEN ERWACHEN

Bild: © Betta Films


Isabel, eine 30 Jahre alte Schneiderin, wohnt mit ihrem Mann Alcides und ihren beiden Töchtern in einer costaricanischen Kleinstadt. Sie haben nur sehr wenig Geld, dafür aber viele Verwandte. Familienfeiern und ab und zu ein Ausflug in eine Bar sind ihre größten Abwechslungen vom Alltag.
Ausgehend von dieser für Lateinamerika nicht untypischen Lebenswirklichkeit erkundet das doppelte Debüt El despertar de las hormigas (für Regisseurin Antonella Sudasassi und Hauptdarstellerin Daniela Valenciano ist es jeweils der erste Spielfilm), was es bedeutet, als Frau auf diesem Subkontinent zu leben: Alcides (Leynar Gómez, Narcos) mag es, wenn Isabel ihr Haar lang trägt. Er und seine große Familie erwarten von ihr, dass sie eine gute Hausfrau ist und mäkeln an ihr herum, wenn ihnen etwas nicht passt. Er selbst lässt sich derweil bedienen, kennt sich in seiner eigenen Küche nicht aus und reagiert hilflos bis unwirsch, wenn sie ihn bittet, beim Decken des Tisches zu helfen. Das Wichtigste aber: Isabel soll doch bitte noch einen Sohn bekommen.

© Betta Films

Wie wirkt es sich auf ihre Sexualität aus, wenn angesichts solcher Erwartungshaltungen für ihr eigenes Ich im Leben wenig Platz ist? Mit ihrem Mann schläft Isabel oft eher widerwillig und befriedigt sich lieber selbst. Wenn sie doch Lust auf Sex hat, führt dies zu Frust, weil Alcides nicht gerade mit Feingefühl und Gespür für ihre Lust zur Sache geht.
Isabel fühlt sich zunehmend unwohl damit, nicht selbst über ihr Leben bestimmen zu können. Sie hinterfragt das zu Beginn noch nicht bewusst, stattdessen mündet ihr Frust in Fantasien und Halluzinationen. Sie würde gern ihre Arbeit als Schneiderin vertiefen und dafür einen kleinen Laden mieten. Wenn sie ein weiteres Kind bekäme, hätte sie dafür keine Zeit mehr. Das will Isabel nicht, traut sich aber nicht, dies Alcides zu sagen und kauft sich stattdessen heimlich Verhütungspillen. Auf diese Weise kann sie dem Konflikt mit der Familie – letztlich mit den gesellschaftlichen Strukturen – jedoch nicht ewig aus dem Weg gehen.
Durch ihre lateinamerikanische Sozialisation ist Isabel wie so viele Frauen daran gewöhnt, sich selbst für die Familie hintanzustellen „Ich wollte eine Geschichte erzählen, die diese idealisierte, machistische, mütterliche Liebe neu definiert, die uns dazu bringt, uns um die anderen zu kümmern und uns selbst zu vergessen“, sagt Sudasassi über ihren Film. Er erzählt Isabels Geschichte durchweg auf sehr glaubwürdige und emotional greifbare Weise. Dass die männliche Hauptperson trotz erwähnter Macho-Allüren nicht überzeichnet wird, schadet dem Film dabei keineswegs. So hat Alcides keine Wutausbrüche, wird nicht gewalttätig, und dass seine Frau wie er arbeitet, stellt er auch nie infrage.
El despertar de las hormigas ist Teil eines mehrteiligen Transmedia-Projekts zur weiblichen Sexualität in verschiedenen Lebensetappen: einen Kurzfilm über die Kindheit hat Antonella Sudasassi bereits gedreht, ein Dokumentarfilm über das Alter soll folgen, außerdem sind Künstlerinnen aus der ganzen Welt dazu eingeladen, eigene Beiträge einzubringen. Mit ihrem Projekt thematisiert die Regisseurin, dass das sexuelle Erleben der Frau in ihrer Gesellschaft ein Tabu ist, über das man nicht spricht.
Das Erwachen der Ameisen heißen. Letztere tauchen im Film immer wieder auf – am Waschbecken, in den Haaren, unter der Dusche – und wirken wie eine Störung, eine Reflektion von Isabels zunehmendem Unwohlsein. Sie verursachen Irritation und Unverständnis bei den Zuschauer*innen. Und vielleicht ist genau das beabsichtigt, denn rufen das Erwachen des Verlangens nach mehr weiblicher Selbstbestimmung sowie deren Einforderung oft nicht ebendiese Reaktionen hervor, weil sie die gesellschaftlichen Strukturen infrage stellen und damit zu Konflikten führen?
El despertar de las hormigas läuft 2019 im Berlinale Forum.

 

AUF AUGENHÖHE

Foto: © Camila Freitas

So 10.02. 16:30 CineStar 8
Mo 11.02. 14:00 HAU Hebbel am Ufer (HAU1), Berlinale Talents
Di 12.02. 19:30 Cubix 9
Fr 15.02. 14:00 Delphi Filmpalast
So 17.02. 16:30 Delphi Filmpalast

Sektion: Forum


P.C. und seine Großmutter sitzen im Ausguck, halten Wache und schmieden Pläne. Die Großmutter – eine alte, aber erstaunlich kräftige Frau mit sonnengegerbter Haut – zählt auf, was sie einmal anbauen möchte, wenn sie ihr eigenes Land besitzt: Reis, Maniok, Orangen und Palmherzen. Ihr Enkel P.C., ein Mann Ende 30, notiert alles und erstellt den passenden Grundriss, ergänzt Ställe und Felder für die Tierzucht. Die zuversichtlichen Blicke der beiden schweifen aus dem Fenster, das nicht einmal eine Scheibe besitzt, hinüber zum Camp. Die Zelte, die nur aus Brettern, Baumstämmen und Planen bestehen und auf einer Wiese verteilt sind, schützen die Menschen kaum vor Wind und Wetter und sind noch weit entfernt von ihrem Traum vom eigenen Land. Aber P.C., seine Großmutter und die hunderten Familien, die wie hier im brasilianischen Bundesstaat Goiás Land besetzen, sind bereit, genau dafür zu kämpfen.

© Camila Freitas

Ganze vier Jahre lang hat die Filmemacherin und Kamerafrau Camila Freitas die Besetzungen der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) begleitet. Dem daraus entstandenen Dokumentarfilm Chão ist ebendiese Ruhe und vor allem die Vertrautheit zwischen Filmemacher*innen und Gefilmten anzumerken. So ist ein nahes und respektvolles Porträt einer Bewegung entstanden, die Menschen in dem Grundgedanken vereint, sich ihr Stück Land von Großgrundbesitzer*innen und Konzernen zurückzuholen. Viele von ihnen sind in die Städte verdrängt worden, einige leben dort schon in zweiter oder dritter Generation unter ärmlichen Verhältnissen. Der Zustand der Landlosigkeit wird im Film auch als „Versklavung“ bezeichnet, aus der sich die Menschen nun versuchen zu lösen. Eine von ihnen, eine erschöpft wirkende junge Mutter, sagt mit starker und zuversichtlicher Stimme: „Ich komme vom Land, ich bin eine Kämpferin.“ Gemeinsam organisieren die Gruppen im MST Landbesetzungen, Blockade- und Protestaktionen, die Licht auf die ungerechten und ungesunden Verhältnisse in der brasilianischen Landwirtschaft werfen (siehe dazu auch die Berichterstattung der LN – Nummer 516 und 529/ 530). Gleichzeitig begleitet der Dokumentarfilm den Aufbau eigener landwirtschaftlicher und politischer Strukturen in den besetzten Gebieten. In Versammlungen entwerfen die Menschen gemeinsame Zukunftsmodelle für ein gerechtes und nachhaltiges Leben und Arbeiten.

© Camila Freitas

Auch wenn die Mitglieder des MST zuversichtlich wirken und die Menge an Menschen, die an den Aktionen teilnehmen, Hoffnung macht, verschweigt Chão nicht die Felsen, die den Landlosen in den Weg zum eigenen Land gelegt werden. „Die Gesellschaft ignoriert uns“, erzählt eine junge Frau. Die Beobachtungen, die Camila Freitas jahrelang gemacht hat und an denen sie nun auf der Berlinale ein großes Publikum teilhaben lässt, zeigen auch, wie die Landlosenbewegung von offizieller Seite kriminalisiert, bedroht und von den Medien verleumdet und als gewalttätig diskreditiert wird. „Das hier ist kein Wochenendausflug“, stellt ein Mann vom MST gleich zu Beginn einer neuen Landbesetzung klar. Die kräftezehrenden, aber friedlichen Aktionen der Bewegung, an der auch Familien mit Kindern teilnehmen, scheinen nicht in das bedrohliche Bild zu passen, das der Agrobusiness und Personen von offizieller Seite vom MST zeichnen wollen. Zu ihnen gehört auch der Blairo Maggi, Landwirtschaftsminister unter Michel Temer und selbst Großgrundbesitzer und Sojaproduzent. Die einzigen bedrohlich wirkenden Szenen von Chão aber zeigen die riesigen Genmais- und Sojafelder, die die Agrokonzerne mit monsterähnlichen Traktoren und Pestiziden bewirtschaften. Das vom MST besetze Land dagegen ist mit den unterschiedlichsten Pflanzen und Tieren vor allem eins: natürlich. Hier hegt und pflegt die Großmutter ihr Gemüsebeet, da wird Biodünger hergestellt, dort sitzt eine Familie am Abendbrottisch.
Statt das Thema der Landkonflikte in Brasilien schnell und reißerisch abzuhandeln und auf große Effekte oder gewaltvolle Szenen zu setzen, hat das Team um Camila Freitas keine Zeit und Mühe gespart, um sich den Menschen in der Landlosenbewegung ehrlich zu nähern. Chão schafft es, deren Leben und Miteinander unvoreingenommen zu begleiten und ihr wichtiges Anliegen zu vermitteln. Und genau das ist angesichts der ernüchternden Bilanz der ersten Wochen brasilianischer Agrarpolitik unter Bolsonaro höchst relevant. Nicht nur deswegen ist Chão unbedingt zu empfehlen.

Camila Freitas (mit Mikro), das Filmteam und Elizabet Cerqueira vom MST (rote Mütze) bei der Weltpremiere von Chão in Berlin (Foto: Christian Russau)

Wer sich für die aktuelle Situation des MST unter Bolsonaro interessiert, ist am Mittwoch (13.2.2019, 18:30 Uhr) herzlich ins FDCL eingeladen. Dort wird MST-Mitglied Elizabet Cerqueira, die anlässlich der Berlinale vor Ort ist, berichten und mit den Gästen diskutieren. Mehr Informationen unter: https://www.fdcl.org/event/brasilien-bolsonaro-und-die-landlosenbewegung-mst/

 

EINE ANDERE ART VON LEBEN?

© Eduardo Crespo


Ich wäre nicht auf die Erde gekommen, wenn ich gewusst hätte, wie kompliziert hier alles ist.“ Daniela ist sich sicher, dass das violette Alien im blauen Koffer nicht freiwillig hier ist. Die Sehnsucht nach der Heimat spielt aber nicht nur für das Alien eine Rolle, sondern für alle Protagonist*innen von Breve historia del planeta verde. Doch was ist eigentlich Heimat? Und für wen kann die Erde ein zu Hause sein?

© Eduardo Crespo
Nachdem 2018 Malambo – el hombre bueno auf der Berlinale zu sehen war, ist der argentinische Regisseur Santiago Loza auch dieses Jahr wieder dabei. Mit seinem „Road Movie zu Fuß“, hat er ein kraftvolles Porträt einer bedingungslosen Freundschaft geschaffen, das am Ende jedoch einige Fragen offen lässt und eine eher zweifelhafte Message aussendet.

Als Tanias Großmutter stirbt, macht sie sich gemeinsam mit ihren Kindheitsfreund*innen Daniela und Pedro auf den Weg, den letzten Wunsch der Verstorbenen zu erfüllen: das Alien, das die Großmutter in ihren letzten Jahren begleitet hat, zurück in seine Heimat zu bringen. Schwarz-weiß Fotos, die die Oma mit dem Alien in Alltagssituationen zeigen, als wäre es ein geliebtes Enkelkind, rühren die drei zutiefst. Sie folgen einer Karte der Großmutter, auf der Suche nach dem Ort, an dem das Alien die Erde zum ersten Mal betreten hat. Alle drei befinden sich in schwierigen Lebenssituationen und nutzen die Reise und die wohltuende Gesellschaft des Aliens, um zu neuer Kraft zu finden. Daniela hat gerade eine Trennung hinter sich, Pedro scheint depressiv, tanzen ist für ihn die einzige Möglichkeit, seiner Traurigkeit zu entfliehen. Die Trans*frau Tania wirkt zwar selbstbewusst, ist in Wirklichkeit aber zutiefst verletzlich.
© Eduardo Crespo
Konfrontiert mit den Schatten der eigenen Kindheit in der Kleinstadt, in der ihre Reise startet, wird trotz weniger und kurzer Dialoge deutlich, dass alle drei Traumata erfahren haben. Sie transportieren das immer schwächere Alien durch unwegsames Gelände, während Tania selbst mit Schmerzen zu kämpfen hat. Doch die beiden scheinen sich gegenseitig zu heilen. Überhaupt strahlen all diejenigen, die mit dem Alien in Kontakt kommen, im Anschluss eine tiefe Glückseligkeit aus. Fast scheint es, als sei das Anders-sein selbst eine Heilung von den Traumata des Anders-seins. Vielleicht ist das Alien aber auch einfach „zu gut“ für den grünen Planeten.
Die große Stärke des Films ist die intensive und spannungsvolle Musik, von Techno über melancholische, psychedelische Cumbia zu immer wiederkehrenden Piano Variationen, in Kombination mit den düsteren Bildern der Reise durch das ländliche Argentinien. Es ist kein Film zum Wohlfühlen, aber das macht nichts. Allerdings verstrickt die Geschichte sich jedoch gerade zum Ende hin in zumindest problematischen Analogien. Die Gleichsetzung von Trans*Personen mit Aliens ist möglicherweise eine Überinterpretation, gibt jedoch Grund zum Nachdenken. Während der Film darauf pocht, dass eine andere Art von Leben möglich ist, widerspricht er sich im Verlauf der Erzählung leider selbst. Das mag Absicht sein, hinterlässt aber einen bitteren Beigeschmack.
Nichtsdestotrotz hat Loza ein ästhetisch durchaus gelungenes Tribut an den „Alien in uns“ geschaffen, das von der intimen Verbindung der drei Protagonist*innen lebt, die bereit sind, alles füreinander zu tun – sogar loszulassen.

HEIMATSUCHE IM REGENWALD


Es ist die Suche nach etwas Verlorenem, nach den eigenen Wurzeln und der Herkunft, die Ramira umtreibt. Die Protagonistin in Fern von uns hat Heimat und Familie vor Jahren zurückgelassen, und es wird schnell deutlich, dass ihre Beziehung zu beiden nicht positiv ist. Die Erinnerung an die Heimat verfolgt Ramira, deren provinzieller Charakter sie abschreckt. Nun kehrt sie dennoch zurück, und besonders schwierig gestaltet sich das hinsichtlich ihrer Wiederannäherung an Sohn Matteo, der bisher von Ramiras Mutter großgezogen wurde und von ihr entfremdet ist.

Auf erstaunlich unsentimentale Weise erzählen die Regisseur*innen Verena Kuri und Laura Bierbrauer den Prozess der Annäherung einer jungen Mutter an ihr eigenes Kind. Dieser ist durch kleine Fortschritte, wiederkehrende Rückschläge und auf der Stelle treten gekennzeichnet. Fast genauso schwierig ist Ramiras Beziehung zu den anderen Familienmitgliedern: Das Urteil der Älteren über ihr plötzliches Verschwinden und ihre Rückkehr fällt vorwurfsvoll aus, mit ihrer Mutter befindet sie sich in einem stillen Konkurrenzkampf um die Erziehung Matteos. Als Ramira ihr Kind wegen hohen Fiebers in die nächstgelegene größere Stadt bringt und dabei in Konflikt mit den örtlichen Behörden gerät, ist ihr Tiefpunkt erreicht, und es flackert Neid zwischen Mutter und Tochter auf.
Dass gerade die nordargentinische Provinz Misiones, ein zwischen Paraguay und Brasilien eingeklemmtes Stückchen Land, Schauplatz des Films ist, erweist sich mitnichten als Zufall. Bedingt durch mehrere Einwanderungswellen aus Europa und ihrer besonderen geographischen Lage erscheint die Region als kultureller Schmelztiegel. So ist es nicht nur Ramira, die bei ihrer Rückkehr mit ihren Wurzeln fremdelt, sondern ebenso ihre Familie, eine Gemeinschaft deutschstämmiger Bauern im argentinischen Regenwald. Den Zuschauer*innen offenbaren sich hochinteressante Einblicke in diese deutsche Gemeinschaft im Exil, die nach ihrer Flucht ein neues Zuhause gefunden zu haben scheint. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch ein gewisser, durch das Leben zwischen den Kulturen bedingter Identitätsverlust deutlich. Auch zwischen den Familienmitgliedern brodelt es aufgrund ungeklärter Landbesitzansprüche und der knappen Erträge bei der Sojaernte. Die Kühe – seit Jahren die Lebensgrundlage der Bauern – versinnbildlichen die familiären Beziehungen und werden wiederholt in die Bildsprache des Films einbezogen.
Ramiras zwiespältigen Gefühle zu ihrer Heimat werden von den Regisseurinnen in Fern von uns zu einem intensiven Farbteppich verwoben und dadurch den Zuschauer*innen gefühlsecht nähergebracht. Es gelingt ihnen trotz eines relativ gemächlichen Erzählrhythmus und des spärlichen Einsatzes von Musik, eine dichte Atmosphäre zu erzeugen. Angesichts der gleichzeitig intimen und doch fremden Beziehungen beschleicht die Zuschauer*innen selbst ein bedrückendes Gefühl. Nicht zuletzt ist Ramiras existenzielle Frage nach der Entfremdung von der eigenen Herkunft und der damit einhergehenden Entwurzelung des Ichs – kurz: nach Heimat – im Zeitalter der Globalisierung aktuell.

„VERLASSE DEINEN KÖRPER.”

© Clin d’oeil Films


Tania wächst als Mädchen bei ihrer strengen Großmutter im peruanischen Amazonasgebiet auf. „Hier wird nicht geweint”, gibt ihr die Großmutter noch auf den Weg, bevor sie stirbt. Tania hat nun das ganze Leben vor sich. Nur zu gerne lässt sie sich auf das Versprechen einer Trans*Frau ein, in einer Goldgräberstadt flussabwärts in einer Bar zu arbeiten und dort die Männer zum Trinken zu animieren. Auf der endlosen Flussfahrt über den ruhigen, schönen Amazonas nimmt ihr die Frau, deren Namen sie nie erfährt, den Pass ab und sagt: „Jetzt bis du niemand.”

© Clin d’oeil Films

So fangen wohl hunderte oder tausende Schicksale von jungen Frauen an, die in der Zwangsprostitution landen. By the name of Tania ist ein Hybridfilm, eine Visualisierung realer Zeugenaussagen, in der Tania aus dem Off in nachgestellten Szenen von ihrem Leidensweg erzählt. Es sind wenige, ruhige und auch schöne Einstellungen, zentral ist zunächst der Fluss. Und doch ist ständig eine Anspannung spürbar, die durch unscharfe Kameraeinstellungen und hallende, an- und abschwellende Lautstärke noch verstärkt wird. Der Film bekommt etwas Traumhaftes; doch es ist kein Traum und Tania heißt auch nicht Tania: „Ich habe alles verloren. Sogar das Schamgefühl. Sogar meinen Namen.” Immer häufiger taucht nun die Stadt auf und genauso wird häppchenweise die Verschlimmerung ihrer Lage eingestreut. Das Unsagbare passiert einfach und so wird Tania es wohl auch erlebt haben. Die allgegenwärtige Straflosigkeit, Rechtlosigkeit und Hoffnungslosigkeit auch anderer Akteure finden eher beiläufig Erwähnung. Intuitiv findet Tania ihre Überlebensstrategie: „Verlasse deinen Körper.”

© Clin d’oeil Films

By the Name of Tania ist bereits die dritte Dokumentarfilm-Koproduktion (nach Sobre las Brasas 2013 und Le Chant des Hommes 2015) der Regisseurinnen Bénédicte Liénard aus Belgien und Mary Jiménez aus Peru. Mit minimalistischen Mitteln geben sie einem Schicksal, das sich sein Leben schließlich zurückholt, eine Stimme, einen Namen und ein Gesicht. Damit verfolgen sie einen anderen Zugang zu diesem schwierigen Thema als etwa Lilja 4-ever (2002), der aber auch kein Dokumentarfilm ist. Beide Filme kommen ohne voyeurhafte Brutalität aus, Lilja 4-ever ist rasant und atemlos, wonach man heulen möchte. Nach By the Name of Tania frag man sich, und jetzt? Was ist aus den Tätern geworden? Was aus den anderen Frauen? Was sollte in Zukunft passieren? Und bleibt deshalb eher ratlos zurück.

 

EXPERIMENT MISSGLÜCKT

Foto: © C-Side


Leonel und Antuán sind Freunde. Zwar trennen die beiden kubanischen Jungen 4 Jahre, aber die Verbindung zwischen den beiden ist stärker als der Altersunterschied. Antuán, mit 13 Jahren der Ältere, färbt sich schon die Haare blond und rasiert sich die Beine – bei den Teenagern im etwas heruntergekommenen Provinzkaff Pueblo Textil momentan offenbar der letzte Schrei. Leonel will von solchen Moden noch nichts wissen, bricht mit Antuán aber dennoch bereitwillig zu gemeinsamen Streifzügen in den gemeinsamen Sommerferien auf. Die beiden Heranwachsenden erforschen dabei stillgelegte Industrieanlagen, trockengelegte Swimmingpools und geheimnisvolle Höhlen, träumen von einer Fahrt ans Meer oder kabbeln sich auch mal. Doch die Freundschaft wird auf eine Probe gestellt: Antuán zieht mit seinem Vater in die Hauptstadt La Habana, wo sich die Familie ein besseres Leben erhofft.

© C-Side

Der Argentinier Pablo Briones hat Baracoa im modischen Genre der Dokufiktion verortet und sich für eine angeleitete Dokumentation mit realen Protagonisten entschieden. Was genau spontan passiert und was erfunden ist, bleibt also offen. Doch auch wenn Briones dies mit einem vielversprechenden Mittelweg zwischen realistischer Situation und ungebundener Kreativität der beiden Hauptdarsteller zu erklären versucht – es tut dem Film alles andere als gut. Denn das Experiment des Changierens zwischen den Formaten missglückt an zu vielen Stellen. Wenn die beiden Jungen interagieren, ist nie klar, ob Stimmungen und Gespräche spontan entstanden oder nicht doch angeleitet, vorherbestimmt sind. Zumindest die Schauplätze des Films, das scheint klar, sind vom Filmteam ausgewählt. Die beiden Jungen werden hauptsächlich an verlassenen Orten gezeigt. Ausgehöhlte Autos und tote Tiere säumen ihren Weg, Interaktion mit anderen Menschen wird fast völlig ausgespart. Das ist schade, denn diese könnte höchst interessant sein: Beide Protagonisten sind nämlich ohne Vater aufgewachsen, das Verhältnis zu ihren Hauptbezugspersonen – zum Beispiel Leonels Oma – bleibt aber unklar. Tanz, Spiel, Fröhlichkeit, Ausgelassenheit mit Erwachsenen oder anderen Kindern sind kaum zu sehen. Erst als Leonel Antuán in La Habana besucht, wird dieses klaustrophobisch und etwas unauthentisch wirkende Setting aufgebrochen. Aufgrund des Genres der Dokufiktion drängt sich deshalb im Laufe des Films der ungute Verdacht auf, dass hier eine Realität gezeigt wird, die nicht ist, sondern sein soll. Das scheinbare Leben der beiden Jungen in ihrer eigenen, von außen abgeschnittenen Welt wirkt nicht echt, als Zuschauer*in fällt es so schwer, dem Filmteam in seinem Zeigen der (Nicht-)Realität Vertrauen zu schenken. Und, auch wenn es bitter klingt: Sollten tatsächlich größere Teile des Films fiktionalisiert sein, dann sind sowohl die Charaktere als auch die Geschichte dafür einfach nicht interessant genug. Weil nie klar wird, ob die Ereignisse nun real oder vom Filmteam beeinflusst sind, wirkt der Film über weite Strecken beliebig, ja sogar langweilig. Selbst das Sympathisieren mit den Hauptcharakteren wird durch die durchgehende Verwendung des homophoben Worts „Maricon“ („Schwuchtel“) in den Dialogen oder ein Spiel, in dem die Rollen von Gefangenen und Aufseher*innen übernommen werden (inklusive Folter) nicht gerade erleichtert.

© C-Side

Erst ganz zum Schluss, als man eigentlich schon ratlos das Kino verlassen möchte, erklärt Leonel aus dem Off plötzlich eine Minute lang, warum er an Gott glaubt und Antuán nicht („Wenn es ihn gibt, warum erschafft er nicht ewiges Leben“?), dass es ihn nicht interessiert, wer sein Vater ist („Wichtig ist, dass jemand auf mich aufpasst“) und warum er sich trotz allem vorstellen kann, sein restliches Leben in Pueblo Textil zu verbringen („Auch wenn es manchmal langweilig ist, genieße ich das Leben doch jeden Tag“). Es fragt sich, wieso diese für einen Neunjährigen so reifen Ansichten nicht schon früher im Film Verwendung finden. Oder weshalb Leonel nicht in den Momenten gezeigt wird, die ihn zu diesem plötzlichen Ausbruch an Erkenntnis kommen lassen. Ein Schelm, wer denkt, dass hier zu guter Letzt die Fiktion doch noch die Oberhand über die Doku gewonnen hat.

SPANNUNG UND TRAUER AM STRAND

Foto: © Volpe Films


Zwei junge Menschen kommen zu einem Haus in einer Küstenstadt. Es gibt nur ein Bett in dem Haus. Niemand will es benutzen, genausowenig wie das Bad, so als gäbe es etwas Unangenehmes, das die beiden nicht berühren wollten.

© Volpe Films

Los miembros de la familia die Geschichte der Geschwister Gilda (20) und Lucas (17), die in die Kleinstadt gekommen sind, um etwas für beide sehr Wichtiges zu erledigen: das Einzige, was ihnen von ihrer verstorbenen Mutter geblieben ist, ins Meer zu werfen.
Ihr Plan ist, dafür nur eine Nacht zu bleiben, aber aufgrund eines sich länger hinziehenden Busstreiks sind die Geschwister gezwungen, einige Tage gemeinsam in dem alten Haus ihrer Mutter zu verbringen. Mit der Zeit kommen alte Streitereien zwischen den beiden wieder zum Vorschein, Vorwürfe des Distanziertseins und der unterschiedliche Umgang der beiden mit dem Tod der Mutter.
Ständiger Nebel und weite Kameraeinstellungen der Küste symbolisieren in den Szenen mit Lucas die Öffnung einer sexuellen Suche, eine Suche, die weitere Personen einschließt, die in diesem Entdeckungsprozess langsam wichtig werden. Gilda wird ihrerseits in geschlossenen Räumen und aus einem etwas voyeuristischen Blickwinkel gezeigt. Als Zuschauer*in betrachtet man sie wie aus einer Ecke, ohne dass sie es merkt, so als ob man sie bespitzeln wollte um herauszufinden, was sie vor uns versteckt.

© Volpe Films

Die Spannung zwischen den Hauptpersonen ist während des größten Teils des Films zu spüren. Durch Abwesenheit jeglicher Musik und die Nahaufnahmen der traurigen und unzufriedenen Gesichter fühlt man sich als Zuschauer*in etwas unbehaglich und doch wie eine Person der Geschichte.
In seinem zweiten Spielfilm beschäftigt sich Regisseur Mateo Bendesky behutsam mit den Themen Heranwachsen und Trauer. Indem er die jugendliche Identitätssuche mit der Verarbeitung des Verlusts vermischt, taucht er uns in eine komplexe Welt der Gefühle und Empfindungen.

DEPRIMIERT VS. GEHEIMNISVOLL

Fede wird von seiner Freundin verlassen, just nachdem seine Oma gestorben ist. Fede geht zur Therapie, um zu verstehen, was mit ihm los ist. Fede rammt nach Verlassen der Sitzung das Auto seiner Therapeutin. Fede traut sich nicht, noch einmal zur Therapiesitzung zu gehen, weil er das Auto seiner Therapeutin gerammt hat. Aber Fede traut sich, zu einer Party zu gehen. Fede lernt auf der Party ein Mädchen kennen. Fede geht in Begleitung des Mädchens nach Hause. Fede sieht das Mädchen gehen.

Die vom Kurzfilm Shakti des argentinischen Regisseurs Martin Rejtman erzählte Geschichte spielt in Buenos Aires. Sie handelt von den Eindrücken des Twens Fede, der einen schwierigen Moment in seinem Leben durchlebt, als seine Oma stirbt und seine Freundin ihn verlässt. Fede stellt sich Fragen, sucht Schuldige, geht ein bisschen aus dem Haus, kommt wieder. Er sieht seine Familie. Er versucht, wieder auf die Beine zu kommen.


Mit seiner auf wenigen, alltäglichen Schauplätzen erzählten Geschichte gibt uns der Regisseur das Gefühl, auf Kurzurlaub mit einem Freund zu sein, der nie zufrieden ist. Leider fragt man sich ein bisschen, ob Fedes Darsteller so verlorene Gesichtszüge hat, weil das Drehbuch dies vorsieht, oder weil Martin Rejtman keinen ausdrucksstärkeren Schauspieler finden konnte. Eine Komödie mit schwarzem oder eher hellgrauem Humor, die einem ein Schmunzeln entlockt – oder vielleicht ein halbes Schmunzeln.

Von einer Verwirrung ganz anderer Art erzählt uns der Kurzfilm Héctor der chilenischen Regisseurin Victoria Giesen. Er beginnt mit kameradschaftlichen Gesprächen einer Gruppe junger Männer an einer Fischerbucht. Es geht um den Teufel, von dem es an den Küsten Chiles Legenden zuhauf gibt. Die Beteiligten lachen und machen Witze über deren Wahrheitsgehalt.

© Viktoria Giesen Carvajal

Die Männer leben davon, Algen zu sammeln. Sie holen sie aus dem Meer, säubern sie und lassen sie am Strand trocknen. Einer der Gruppe wird der “Türke“ genannt. Und dann gibt es da noch “Héctor”, eine androgyne Frau, die besonders die Aufmerksamkeit des “Türken” auf sich zieht. “Héctor” versucht, unter den Männern nicht aufzufallen, aber zweifellos gelingt es ihr nicht, von den anderen als einer der ihren wahrgenommen zu werden. Langsam und fast ohne erkennbare Dialoge beginnt sich eine unerwartete Nähe zwischen den beiden Hauptfiguren zu entwickeln.

Zum nagenden Klang von Violoncelli sieht man Bilder von sich zwischen den Wellen bewegenden Algen. Sie bewirken zuweilen, dass die Zuschauer*innen sich verwirrt und unangenehm berührt fühlen. Die Felsenküste wird zu einem schweigenden, aber eindrucksvollen Hauptdarsteller, als ob sie die Anziehungskraft zwischen den Figuren bestimmen würde, und mehr noch, als ob sie jede sich entwickelnde Handlung übertünchen würde. Das Auf und Ab des Meeres wirkt wie eine Parallele zur Entwicklung des Plots: nicht einzusortieren und beunruhigend.

Dieser experimentell-sinnliche Kurzfilm zeichnet sich durch seine gute Kameraführung aus. Der Schauplatz der Handlung an der Küste eröffnet uns eine Reise ins Unbekannte und verschafft uns einen Hauch Verwirrung, genug, um uns für einen Moment dem Alltag zu entreißen.

Shakti und Héctor laufen 2019 in den Berlinale Shorts.

Sa 09.02. 16:00 CinemaxX 5
Mo 11.02. 21:30 CinemaxX 3
Di 12.02. 17:00 Colosseum 1
Do 14.02. 16:00 CinemaxX 5

Sektion: Berlinale Shorts

NEOLIBERALES SCHNARREN

Foto: © Carnaval Filmes


Viel Hoffnung scheint es nicht zu geben. Das, was bleibt, ist das gleichförmige Rattern, Schnarren und Klicken der unzähligen Nähmaschinen, die sich zu einem einzigen großen vielmaschigen Soundteppich verweben. Dazu gesellt sich die Monotonie derselben, sich immer wiederholenden Bewegungsabläufe: Umkrempeln des rechten Beins, lange Naht rechte Seite, halbe Drehung, lange Naht linke Seite und wieder von vorn. Das Leben der Dorfbewohner*innen scheint von Gleichförmigkeit und Monotonie bestimmt. Das Hamsterrad der ewigen Profitmaximierung dreht sich unaufhaltsam weiter. Der moderne Kapitalismus interessiert sich nicht für die Einzelschicksale der Menschen, welche die Maschinen bedienen. Marcelo Gomez aber versucht einen Blick auf eben diese Persönlichkeiten zu werfen und die Auswirkungen eines menschenunwürdigen Systems am lebenden Objekt nachzuvollziehen.

© Carnaval Filmes

Die Kleinstadt Toritama in Agreste (Pernambuco), einer trockenen, vom Kapitalismus ausgebrannten Region im Nordwesten Brasiliens, dient als Schauplatz seines Dokumentarstreifens Estou Me Gourdando Para Quando O Carnaval Chegar. Ein Großteil dieser 40.000-Seelengemeinde hat sich über die Jahre hinweg eine oder mehrere Nähmaschinen zugelegt. Mehr braucht es nicht, um in die Jeansproduktion – die einzige vielversprechende Ernährungsgrundlage – einzusteigen. Hiermit lenkt der Regisseur die Aufmerksamkeit auch auf neue Auswüchse des modernen Kapitalismus und auf neue, schwer fassbare Beschäftigungsverhältnisse: Als Kleinunternehmer*in kann jede*r Bewohner*in durch den bloßen Besitz einer Nähmaschine für namentlich nicht genannte Konzerne von seinem eigenen Heim aus Hosenteile zusammenflicken. Jegliche gewerkschaftliche Organisation wird so von vornherein unterbunden, geregelte Löhne und Arbeitszeiten sind fehl am Platz. Es gilt die Devise: Je mehr du schuftest, desto praller gefüllt ist auch dein Geldbeutel. So kehrt der moderne Kapitalismus zu seinen Grundprinzipien und ursprünglich größten Verheißungen zurück und macht das abgedroschene neoliberale Motto „Du bist deines eigenen Glückes Schmied“ wieder salonfähig.

© Carnaval Filmes

Mittels einer meist statischen Kameraführung erzählt Marcelo Gomez von den Einzelschicksalen dieser Maschinerie und schaut in die Hinterhöfe und Garagen der Bewohner*innen von Toritama. Die Zuschauer*innen nehmen dabei durch auffallend unauffällige Weise Anteil an den Auswirkungen der Überproduktion auf die Menschen und ihre Beziehungen und erhaschen intime Einblicke in deren Familienverhältnisse. Auffällig ist, dass die meisten der Dorfbewohner*innen ihre Situation weitaus positiver bewerten, als es die meisten Zuschauer*innen wohl tun würden. Zwar hinterfragen viele das inhumane System, aber die Mehrzahl bewertet ihre Situation als relativ zufriedenstellend. Sie hätten ja Arbeit und das sei verglichen mit anderen auf dieser Erde ja das wichtigste, das und wiedabei nur zweitrangig, so sagen sie. Trotzdem sprechen sie von ihren Sehnsüchten, von ihren Träumen und – zwischen den Zeilen – auch von einem besseren Leben. Es wird offenkundig, dass die Widersprüche des Kapitalismus am drastischsten, da in fast allen Lebensbereichen allgegenwärtig, am Produktionsort hervortreten. Am stärksten zeigt sich dies am magischen Realismus des durch Landwirtschaft und Aberglauben geprägten Dorfalltags, welcher sich noch heute im krassen Gegensatz zur industrialisierten Moderne präsentiert. Zur Karnevalszeit scheint ein Mal im Jahr jenes bessere Leben für viele greifbar nahe. Sie verkaufen ihre Fernseher, ihre Kühlschränke und ihr letztes Hab und Gut, um sich die Reise ans Meer und einen Moment der Ausgelassenheit und des Glücks finanzieren zu können. Für ein paar Tage verwandelt sich Toritama in eine Geisterstadt und die Maschinen stehen still, nur um kurz darauf erneut in ein gleichförmiges, unaufhörliches Surren zu verfallen.


Estou Me Guardando Para Quando O Carnaval Chegar läuft auf der diesjährigen Berlinale in der Kategorie Panorama Dokumente

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