EIN FILM FÜR DEN WANDEL

Während die Aufnahmen der argentinischen Einöde auf den ersten Blick eine schier endlose Weite vermitteln, ist gerade diese Umgebung beklemmend eng für den jungen Marcos. Nur hinter verschlossenen Türen tuscht er heimlich seine Wimpern und posiert in den bunten Röcken seiner Mutter vor dem Spiegel. Mit dem plötzlichen Tod des Vaters muss der Sohn einer Bauernfamilie mehr Verantwortung auf dem Hof übernehmen und ihm bleiben immer weniger Gelegenheiten für diese Ausflüchte aus dem harten Alltag. An Karneval kann er endlich sein wahres Ich in den Kleidern, die ihm gefallen, zeigen. Als „Marilyn“ macht sich Marcos jedoch auch angreifbar und ist verschiedensten Reaktionen der Dorfbewohner*innen von Begehren bis zu Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt.

Das Langfilmdebüt des argentinischen Regisseurs Martín Rodríguez Redondo zeichnet den steinigen Weg des Erwachsenwerdens und der queeren Selbstfindung in einer von konservativen Hierarchien geprägten Gesellschaft. Dabei gehen Ästhetik und Plot jedoch über die Grenzen eines klassischen Coming-of-age-Films hinaus. Neben Sexismus und Homophobie werden auch von Klassenunterschieden motivierte strukturelle und physische Gewalt sowie gesellschaftliche Unterschiede zwischen Stadt und Land thematisiert. Diese Komplexität der Hintergründe bindet sich jedoch ohne aufwendige Theatralik in die Geschichte ein. Sehr puristisch, ohne zusätzliche Musik und viele Dialoge, aber mit einigen überraschenden Wendungen, fokussiert sich Marilyn auf die Entwicklung der Hauptperson und deren innere Zerrissenheit.

Der Film lebt auch von der hervorragenden Leistung des Hauptdarstellers Walter Rodríguez, dessen persönlicher Bezug und emotionale Nähe zum tragischen, aber dennoch nicht hoffnungslosen Schicksal von Marcos/Marilyn spürbar ist. „Als ich zuerst das Drehbuch las, dachte ich nicht: Dieser Film wird alles für mich ändern. Aber ich habe gemerkt, er ist eine weitere Waffe im Kampf für den Wandel“, sagte er bei der Weltpremiere des Films am 19. Februar.

Die grenzübergreifende chilenisch-argentinische Produktion basiert auf einer wahren Geschichte. Die echte Marilyn konnte den Film im Gefängnis anschauen und sah in ihm „eine Dokumentation ihres Lebens“, so Redondo.

Marilyn lief 2018 im Berlinale Panorama.

GERICHTSSHOW FÜR FORTGESCHRITTENE

„Voltamos pra inferninho?“ („Gehen wir zurück in die Hölle?“) fragt José Eduardo Cardozo und er meint: den Gerichtssaal. Cardozo ist Rechtsanwalt und führte die Verteidigung der brasilianischen Präsidentin Dilma Roussef bei ihrem Amtsenthebungsprozess an. Ohne Erfolg, wie man heute weiß. Auf dem Weg dorthin hat er aber dennoch bemerkenswerte Arbeit geleistet. Dass dies nicht in Vergessenheit gerät, dafür sorgt der Dokumentarfilm O processo (Der Prozess) von Maria Augusta Ramos, der auf der Berlinale seine Weltpremiere feierte, und in dem Cardozo eine der wichtigsten Figuren ist.

Der Amtsenthebungsprozess der Präsidentin, der dem Film seinen Namen gibt, war ein bürokratisches Monster in mehreren Akten und – wie man heute mit großer Sicherheit sagen kann –ein abgekartetes Spiel, das deswegen von vielen als „kalter Putsch“ bezeichnet wird. Nicht weniger monströs war auch die Aufgabe, die sich Maria Augusta Ramos stellte. Aus 400 Stunden Material hat sie einen 137-minütigen Film destilliert, der ein anschauliches Bild der Ereignisse liefert – allerdings nur, und das ist die große Einschränkung, für Personen, die sich bereits mit Ablauf und Protagonist*innen der Ereignisse aus den Jahren 2016 und 2017 auskennen. Ramos folgt hauptsächlich dem Verlauf des Prozesses und filmt ihre Protagonist*innen bei der Arbeit, was fast den Eindruck eines Kammerspiels vermittelt. Ab und zu werden zur Auflockerung Bilder von Demonstrationen für und gegen die Präsidentin auf den Straßen, seltener private oder halb-private Eindrücke einzelner Personen oder Bilder aus der Stadt Brasilia eingespielt. Musik gibt es nicht zu hören. „Spartanisch“ nennt die Regisseurin ihre filmische Herangehensweise. „Ich mag das“.

Im Gegensatz dazu stehen die oft chaotischen Szenen aus Gerichtssälen oder Parlamenten. Angefangen mit der legendären Abstimmung im brasilianischen Parlament, in der die Stimmen pro oder contra Dilma Amtsenthebungsverfahren unter anderem Gott, der eigenen Familie, ehemaligen Folterknechten, der Demookratie, Truckern oder der LGBT*-Bewegung gewidmet wurden und einige Abgeordnete sich wüst beschimpften und bespuckten. Sprechchöre, Tumulte, das Absingen der Nationalhymne nach gewonnenen Abstimmungen – in Deutschland undenkbar, in Brasilien mittlerweile Normalität. Neben diesen oft befremdlich wirkenden Ausuferungen zeigt der Film aber auch sehr exakt den Austausch von Argumenten und Gegenargumenten im Gerichtssaal. Dabei fokussiert sich die Regisseurin auf einige emblematische Personen, zum Beispiel die Anwälte der Verteidigung (Cardozo) und der Anklage. Letztere in Person der Evangelikalen Janaina Paschoal, die nicht nur der Verteidigung mit ihren substanzarm-pathetischen, oft mit Tränen untermalten Reden („Dilma, es tut mir leid, wenn ich dir wehtun muss, aber deine Enkelkinder werden mir für deine Amtsenthebung dankbar sein!“) den letzten Nerv raubt. Brilliant dagegen die messerscharfen Analysen und Diskurse ihres Gegenspielers José Cardozo, der sich mit seiner couragierten Verteidigung eines von vorne herein verlorenen Falls großen Respekt erwirbt und fadenscheinige Argumente der Anklage gekonnt entkräftet. Gut nachvollziehen kann man den Verlauf des Prozesses dadurch, dass Maria Augusta Ramos den Argumentationen und auch den Protagonist*innen beider Seiten Platz einräumt. Dies war ihr leider bei den strategischen Lagebesprechungen vor den Verhandlungen und Abstimmungen nicht möglich, da ihr nur die Verteidigung die Erlaubnis erteilte, zu filmen. Die Diskussionen dort gehören zu den Highlights des Films, da man dort intime Eindrücke in politische Strategien gewinnt, die sonst meist im Verborgenen bleiben.

Die Schwäche von O processo ist, dass er ein Film von Expert*innen für Expert*innen ist. Als Nicht-Kenner*in der Personen und des brasilianischen politischen Systems ist es schwer, ja fast unmöglich, dem Geschehen zu folgen. Dafür verantwortlich sind zum Teil auch ganz schlichte handwerkliche Fehler. Namen der Protagonist*innen werden so gut wie nie eingeblendet, die einzelnen Schritte der Amtsenthebung weder in Wort noch in Schrift erklärt. So kann man als Außenstehende*r zwar interessiert den Debatten folgen, weiß aber nie, wo diese gerade stattfinden – in der Abgeordnetenkammer, im Senat, vor einem Gericht oder ganz woanders? Schade, denn so verspielt Ramos die Chance, ihre ansonsten hervorragend gemachte Dokumentation für ein breiteres Publikum verständlich zu machen. Dennoch ist O processo aber eine wichtige und sehenswerte filmische Aufarbeitung von Ereignissen, die als eines der dunkleren Kapitel des brasilianischen Politik- und Justizsystems in die Geschichte eingehen werden.

 

O processo lief auf der diesjährigen Berlinale in der Kategorie Panorama Dokumente.

 

GUTE ESSGESCHICHTEN

Köstlichkeiten brauchen keine Sterne. Sie benötigen auch kein Restaurant. Doch ohne die nötigen Zutaten wird es schwierig. Und es wurde schwer, als Anfang der 1990er Jahre der Handel von Zuckerrohr gegen lebensnotwendige Importgüter mit der Sowjetunion wegbrach, weil sich diese auflöste. Kuba erlebte eine Zeit extremer Entbehrung, die den meisten Menschen die tägliche Versorgung mit Lebensmitteln zur beschwerlichen Hauptaufgabe machte.

Mit einer Einführung in die kubanische Geschichte der „Sonderperiode“ beginnt der Film Cuban Food Stories des inzwischen in New York lebenden Regisseurs Asori Soto. In neun Episoden führt er als heimkehrender Besucher die Zuschauer*innen durch die Kochtöpfe und offenen Feuer der Insel. Die Knappheit von Nahrungsmitteln in den 1990er Jahren führte zum teilweisen Verschwinden kulinarischer Fertigkeiten, was noch heute spürbar sei, so der Regisseur mit englisch sprechender Stimme aus dem Hintergrund. Beispielsweise muss der Gastgeber in Trinidad stundenlang durch mehrere Läden laufen, um die Zutaten für seine Gäste zu besorgen. Die bereiteten Speisen sind wiederum das Beste, was man sich wünschen kann bei Gedanken an Frische, Hingabe und Natürlichkeit. Zu entdecken gibt es in den recht kurzen Episoden vor allem Hausmannskost, oft draußen zubereitet, auf dem Boot oder am Strand. Keineswegs Küche, mit der Köche um Sterne kochen, dafür charmantes Essen am Herkunftsort.


Die Zuschauer*innen staunen nicht nur über die kulinarische Vielfalt, sondern werden gepackt von der Leidenschaft und dem Herzblut der Kubaner*innen an ihren Kochtöpfen. Gerade die alltäglichen Herausforderungen, welche das Leben für viele beschwerlich machen, bringen die Menschen am Esstisch zusammen. Sie teilen gemeinsam – sowohl das Essen als auch die Probleme. Eine lukullische Reise durch die Insel. Ein Dokumentarfilm der Sehnsüchte.

 

Cuban Food Stories waren 2018 im Berlinale Special zu sehen.

SOJAMEER STATT PFIRSICHBÄUME

Grünes Meer soweit das Auge reicht. Millionen Hektar Sojaplantagen bedecken das Land und auch wenn Argentiniens Soja-Problematik ökologisch interessierten Menschen geläufig sein mag, wurde sie selten so plakativ und geballt vorgeführt, wie in Viaje a los pueblos fumigados (Reise in die verseuchten Dörfer).

Der Dokumentarfilm erzählt die Geschichte des Sojabooms in Argentinien, die gefeierten Anfänge, die Entwicklung, die extremen Folgen. Dafür reist Regisseur Fernando „Pino“ Solanas durch verschiedene Provinzen Argentiniens und widmet sich der dortigen Sojaproduktion und den damit verbunden Problematiken – es geht um Entwaldung, Vertreibung von indigenen Gemeinden, Landflucht, Binnenmigration. Aber auch um Agrobusiness, transnationale Verflechtungen, Patentrechte, die extremen gesundheitlichen Folgen des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln und Rückstände von Pestiziden in Flüssen, in Böden, im Gemüse, in Blutanalysen.

So reist das Team von Pino Solanas in die Provinz Salta, trifft dort auf Wichi-Communities, die mit Pflanzenschutzmittel geradezu „bombardiert“ und von Gebieten, in denen sie über 200 Jahre ansässig waren, vertrieben werden, da diese als Sojaanbaugebiete genutzt werden. Oder nur noch eingezäunt in Arealen leben, weil Straßen und Zugangswege bereits privatisiert sind. Solanas besucht ländliche Schulen, über die die Sprühflugzeuge ohne Beachtung vorgeschriebener Distanzen hinwegfliegen; Dörfer, in denen überdurchschnittlich viele Menschen an Krebs erkranken oder mit Missbildungen geboren werden und Gemeinden, in denen Kinder sterben, weil sie pestizidverseuchten Flüssen gespielt haben.

„Es gibt kein Leben, keine Insekten mehr“, beschweren sich Landwirt*innen in Entre Ríos, nur ein kleines „subversives Unkraut“ finden sie, das ob des Einsatzes der Pestizide überlebt hat. Hunderttausende Menschen haben das traditionelle Campo und die Arbeit in der Landwirtschaft verlassen. Dabei galt das genmanipulierte Saatgut zu Beginn des Sojabooms als Zeichen der Modernität. So weit ging der Fortschrittswahn, dass alles, was nicht genmanipuliert war, als rückständig, ja fast schon reaktionär galt. Doch nach dem Boom kam der Fall und die Krise nach dem Preisverfall auf dem Weltmarkt trieb hunderttausende abhängige kleine Produzent*innen in den Ruin. Was geblieben ist, ist eine Landwirtschaft ohne Landwirt*innen (gepflanzt wird nur noch übers Telefon), Quantität ohne Qualität, verlassene Bauernhöfe, verwaiste Schulen, abgeholzte Bäume und Wälder, Erinnerungen an Pfirsichbäume, wo nun Sojameere wachsen.

Solanas Film ist dicht, fast etwas erschlagend und vor allem deprimierend. Die Wörter „traurig“ und „machtlos“ fallen oft in den Interviews und wirken fast alternativlos angesichts einer Rhetorik in der Regie, die oft an Kriegsszenarien erinnert und vom Soja wie von einem übermächtigen Feind spricht, von Invasion, Überfall, Bombardierung, Zerstörung.

Eindeutig kommen alle Beteiligten des Films zu dem Schluss, dass diese Form der Landwirtschaft nicht den versprochenen Fortschritt gebracht hat, sondern den größten Rückschritt für ihr Land bedeutet. Und suchen daher wieder nach Alternativen zum Sojamodell, die im Film auch nicht zu kurz kommen. So entdecken sie heimische Gemüsesorten wieder neu, erzählen von Mischwirtschaft und Biohöfen, von Protesten der betroffenen Dorfgemeinschaften und wissenschaftlichen Studien an Universitäten und aus medizinischer Forschung. Diese belegen die Zusammenhänge zwischen dem Unkrautbekämpfungsmittel Glyphosat und den gestiegenen Zahlen an Krebserkrankungen, an Allergieleiden und schweren Missbildungen.

Viaje a los pueblos fumigados ist der achte Dokumentarfilm des argentinischen Filmemachers und grünen Politikers Fernando „Pino“ Solanas. Bereits im Jahr 2004 hatte Solanas einen Goldenen Bären für seinen Film Memorias del Saqueo gewonnen. Viaje a los pueblos fumigados läuft in der diesjährigen Berlinale im Programm Berlinale Special, das außergewöhnliche Filmpersönlichkeiten ehrt.

Pino Solanas als die besondere Persönlichkeit, die er ist, ist dann auch durchweg präsent im Film, meist kommt er im Auto (immer in verschiedenen) an seine Schauplätze gefahren, zeigt sich hinter und vor der Kamera, baut Nähe zu seinen Interviewpartner*innen auf, indem er sie immer mit Vornamen anredet und mit ihnen Mate trinkt. Jedenfalls ist er immer im Bild. Die Nähe aber ist spürbar, seine Protagonist*innen schätzen Pino und vertrauen ihm, er ist ein willkommener Gast, ein Freund, ein angesehener Aktivist.

Durch die entsättigten Farben der Aufnahmen, erinnert die Bildsprache an die 70er Jahre, was ästhetisch (und manchmal leider pathetisch) wirkt, aber vielleicht der Aktualität und Brisanz des Materials entgegenwirkt. Denn so scheint es fast, als ginge es um längst vergangene Kämpfe und könnte darüber hinwegtäuschen, dass diese bodenlosen Dummheiten in den letzten Jahren geschehen und immer noch aktuell sind.

Was der Film deutlich macht, ist die Abwesenheit des Staates, die fehlende Kontrolle der Politik. Keine Politiker*innen kommen zu Wort, niemand, der*die die (fehlende) Politik zu rechtfertigen sucht. Alle noch so extremen Konsequenzen der Sojaproduktion werden verleugnet oder verschwiegen. „Alle wissen es, aber niemand spricht darüber“, ist der Tenor, der zuletzt auch durch Bilder jener, die diese Katastrophe zu verantworten haben, emblematisch wird: stumme Präsident*innen und Minister*innen, die nur als Fotografien eingeblendet werden und nicht sprechen. Ob sie nicht wollten oder nicht durften, bleibt unklar.

Viaje a los pueblos fumigados ist zugleich Zeugnis und Anklage. Zeugnis einer, wie Solanas sagt, sozio-kulturellen und politischen Krise seines Landes und eine Anklage gegen Kontrollbehörden und Politiker*innen, die die Zerstörung der Ökosysteme und Beeinträchtigung der Gesundheit durch Pflanzenschutzmittel und Pestizide zulassen. Es ist ein Film, der vor allem auch in Argentinien gesehen werden sollte.

 

Viaje a los pueblos fumigados lief im Berlinale Special und ist vielleicht bald in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

DIE NACKTE VERZWEIFLUNG

Schon die erste Szene von La cama ist ein harter Brocken. Zwei ältere Menschen nackt im Bett, ein Ehepaar, dessen Beziehung die besten Jahre hinter sich hat. Beide versuchen fast schon verzweifelt, miteinander zu schlafen, doch es gelingt nicht. Zu unterschiedlich sind die Bedürfnisse, um die gegenseitigen Erwartungen nicht zu enttäuschen. Aus hysterischem Schmerz wird schließlich stumme Resignation, wissend, dass gewohnte Routinen schon bald den kurzen Ausbruch der Emotion lindernd übertünchen werden.

Dem ersten Langfilm der argentinischen Schauspielerin und Regisseurin Mónica Lairana zuzusehen, ist nicht nur wegen dieser Szene nicht immer ein Vergnügen. Wie Mabel und Jorge, die sich auseinandergelebt haben und nun die letzten 24 Stunden gemeinsam in ihrem Haus verbringen, bevor sie ausziehen und in jeder Sekunde das Scheitern ihrer jahrzehntelangen Beziehung an der Gewohnheit atmen, tut beim Zusehen fast physisch weh. Klaustrophobisch erscheint die Enge des Hauses, das zu allem Überfluss auch noch leergeräumt werden muss, da es am nächsten Tag zum Verkauf freigegeben wird. Dabei gehen Dinge zu Bruch, Essen und das Verpacken von Habseligkeiten werden freudlos und meist stumm erledigt. Kurze Momente der Entspannung wie ein Bad mit dem Schlauch im Garten oder die Aufteilung der teils schon abgelaufenen Medikamente können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Beziehung längst in einem Teufelskreis aus Gleichgültigkeit und gleichzeitigem Nicht-Loslassenkönnen verfangen hat. Das Ende ist unausweichlich, die Entscheidung getroffen, jedoch bei weitem ohne vorher alle Probleme gelöst zu haben.

Mónica Lairana hat in La cama nach eigener Aussage Erfahrungen einer eigenen gescheiterten Beziehung verarbeitet, was auch nicht gerade Anlass für Optimismus bietet. Die ästhetischen Stilmittel – ein asketischer Realismus, der an Dogma-Filme erinnert, die Kamera, die die Zuschauer*innen auf voyeuristische Weise Nähe erfahren lässt, die kraftvoll-nüchterne Darstellung von Nacktheit – erfüllen ihren Zweck. Nichts wirkt gekünstelt, gestellt oder dramaturgisiert. Dialoge beschränken sich auf die notwendigste Alltagskonversation, Musik oder filmische Effekte kommen nicht vor. Auch die schauspielerischen Leistungen lassen nichts zu wünschen übrig. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – muss man schon hart gesotten sein und einen sehr speziellen Geschmack haben, um ein wenig Genuss aus diesen anderthalb Stunden Depression zu ziehen. Das Kino dient nicht selten als Vehikel, um kurz den Alltagssorgen zu entfliehen. La cama verweigert sich dieser Funktion abervöllig, erinnert vielmehr schmerzhaft daran, wie präsent und unausweichlich sie sein können. Für manch eine*n ist das womöglich etwas zu viel des Realismus.

La cama lief 2018 im Forum der Berlinale.

KEINE EINFACHEN WAHRHEITEN

Als der Abend des 16. April 1989 in Montevideo hereinbricht, regnet es in Strömen. Hörbar prasselt das Wasser auf Straßen und Dächer, während sich nach langen Stunden der Anspannung die Müdigkeit in den Auszählungsräumen breit macht. Vor den Augen vieler Beobachter*innen sind die Stimmzettel zu farbigen Stapeln angewachsen: Grün, das ist die Farbe der Referendumsbefürworter*innen, steht für eine Aufhebung des Amnestiegesetzes. Gelb, die Farbe der Referendumgsgegner*innen, steht für ein weiter wie bisher.

Als sich die ersten Ergebnisse der Auszählung wenig später herumsprechen, ist kein Jubel auf den Straßen zu vernehmen. Gelb gewinnt. Nur wenige Menschen trotzen dem Regen und lassen sich vor der Kamera befragen. Vor allem die Jungen wirken ungläubig bis fassungslos.

Unas preguntas von Kristina Konrad ist eine Art teilnehmende Beobachtung, welche die Geschichte der Volksabstimmung über das „Ley de la Caducidad“ Ende der 80er Jahre in Uruguay erzählt. Über jenes Gesetz also, das Militär und Polizei Straffreiheit für die in der Zeit der Militärdiktatur begangenen Verbrechen gewährt – darunter Entführung, Folter und Mord.

Über einen Zeitraum von zwei Jahren haben Kristina Konrad und ihre Freundinnen Maria und Gabriella den Prozess des Referendums begleitet. Initiiert von einer Koalition aus Hinterbliebenen, einer linken urbanen Mittelschicht und Gegner*innen der Militärdiktatur, liegt in diesem Referendum über die Abschaffung der Straffreiheit die Hoffnung auf eine Aufarbeitung der Diktatur und ihrer Gräueltaten und auf einen Aufbruch in eine gerechtere Zukunft. Es sind auffällig viele Frauen, die die Demonstrationen anführen, unerschrocken und fordernd in den ersten Reihen stehen.

Konrad und ihre BegleiterInnen waren stets dabei – vom Sammeln der für den Antrag notwendigen Stimmen über die Mobilisierungsprozesse von Gegner*innen und Befürworter*innen des Referendums bis zum Referendum selbst und dieser Nacht am 16. April 1989.

Was sie mit ihren einfachen Handkameras eingefangen haben, ist heute, fast 30 Jahre nach den Geschehnissen, ein historisches Dokument. Die Qualität der alten Bilder, das Rauschen, haben heute einen ästhetischen Charakter – die gezeigten Auseinandersetzungen jedoch zum Teil erschreckende Gemeinsamkeiten mit aktuellen Geschehnissen.

Klug geschnitten wechseln sich Bilder der Straßenszenerie mit einfachen Interviews ab. Zusammen mit immer wieder eingeschobener Fernsehwerbung vermittelt diese ein Gefühl für die Zeit der 80er in Uruguay. Die Zeit nach langen Jahren der Diktatur und wirtschaftlicher Rezession.

Im Mittelpunkt stehen hierbei die Menschen und die Straße als Ort des Austausches. Der Film tut gut daran, unterschiedlichste Menschen an unterschiedlichsten Orten des Landes, ihre Motive und Gedanken, vor die Kamera zu bringen. Maria und Gabriella leiten mit ihren intervenierenden aber immer beruhigenden und klaren Fragen durch den Film. Zum Teil fällt der Ton aus, oder ist ganz leise. Dann sprechen die Bilder für sich.

Der Film zeigt eine sich politisierende Gesellschaft, welche nach Jahren der Militärdiktatur auf der Suche danach ist, was Gerechtigkeit und Frieden, was Erinnerung und Vergessen sind.

Befürworter*innen wie Gegner*innen polarisieren, wobei die Seite der Gegner*innen stark polemisiert und Drohszenarien heraufbeschwört. Da ist die Rede von marxistischen Sekten, Subversion und einer kommunistischen Bedrohung. Angesichts eines prophezeiten Bürgerkriegs fällt es ihnen leicht, Begriffe wie Frieden, Demokratie und Gerechtigkeit für sich zu vereinnahmen und umzudeuten. In Funk und Fernsehen entwickelt sich ein propagandistischer Schlagabtausch, bei dem nur Kleidungsstil, Automodelle und die Tatsache, dass die Menschen sich Radios statt Smartphones an die Ohren halten, daran erinnern, dass diese Auseinandersetzung weit in der Vergangenheit zurückliegt.

Wie Konrad selbst sagt, soll der Film zeigen, wie Demokratie funktioniert. Allerdings wird ebenso ersichtlich, wie schwierig es ist, Gerechtigkeit über ein Referendum herzustellen, und dass Demokratie nicht automatisch zu Gerechtigkeit führt.

Das Referendum entwickelt sich zu mehr als einer bloßen Frage der Zustimmung oder Ablehnung des Gesetzes. Gedanken, Gefühle und Ängste der Befragten vermischen sich und es zeigt sich eine zunehmende Unmöglichkeit ,die Pluralität der Meinungen auf eine binäre Entscheidungsstruktur des 1 oder 0, des Entweder-Oder, des Ja oder Nein zu reduzieren.

Auf die leitende, so einfache wie komplexe Frage „Was ist Frieden?“ gibt es selten eine klare und deutliche Antwort. Und auch in den Interviews, die außerhalb der beiden Lager geführt werden, zeigt sich, dass für viele, deren soziale Realität von Armut, Gewalt und einem Bedürfnis nach sozialer und ökonomischer Sicherheit geprägt ist, Frieden und Gerechtigkeit eine Abstraktion darstellen, welche nicht mit einem Referendum hergestellt werden kann.

Unas preguntas von Kristina Konrad ist ein Film, der durch verschiedene Lebensrealitäten geht und diese offen und ehrlich zeigt, der zuhört und nachhakt, ohne dabei aufdringlich zu wirken. Der sich Zeit nimmt und lange dauert, aber nicht langweilig wird, der die Anspannung und Verunsicherung Vieler und die Hoffnung Einiger darstellt.

Der Film ist sicherlich spannend für historisch Interessierte, hat aber auch einen gewissen Lehrstückcharakter für alle, die Fragen danach umtreiben, ob und wie ein bisschen mehr Gerechtigkeit möglich ist.

Unas preguntas lief 2018 im Forum der Berlinale.

DIE WELT IN EINER BILDERKISTE

Segundo wacht erschrocken auf, als der Pick Up über ein Schlagloch hüpft und der Altarschrein nach vorn zu kippen droht. Sorgfältig verstaut er den eingewickelten Flügelaltar wieder sicher auf der Ladefläche. Dann lugt er nach vorn ins Fahrerhäuschen und sieht etwas, das ihn zutiefst verstört –  seinen Vater mit einem anderen Mann.

Segundo lebt in einem Dorf in den Bergen Perus und lernt von seinem Vater die Anfertigung von traditionellen Retabeln, aufklappbare kunstvoll gefertigte Holzboxen, die im Inneren durch kleine Figuren religiöse oder soziale Geschichten darstellen. Sein Vater, das ist ein geachteter Mann in der Dorfgemeinschaft und Segundos großes Vorbild. Das Geschehen auf dem Fußballplatz, wo die Jugendlichen des Dorfes darum buhlen, wer der Stärkste ist, beobachtet Segundo distanziert. Als er von der Homosexualität seines Vaters erfährt, verspricht er seinem besten Freund mit ihm das Dorf zu verlassen und seinen Traum, Kunsthandwerker zu werden, aufzugeben. Aber dann findet auch das Dorf heraus, dass Segundos Vater sexuelle Beziehungen mit Männern führt und Segundo sieht sich mit dem Schlimmsten konfrontiert und muss sich entscheiden, welchen Weg er einschlagen möchte.

Der Regisseur entwirft nicht bloß das Bild einer Dorfgemeinschaft in Peru, sondern zeigt letztendlich auf, wohin die konsequente Durchsetzung heteronormativer Ordnungen führt.

In seinem Spielfilmdebüt Retablo zeichnet Álvaro Delgado Aparicio einfühlsam das Bild eines Jugendlichen, der in einer von patriarchalen Strukturen geprägten Welt heranwächst. Dabei legt er schonungslos offen, wie viel Gewalttätigkeit sich hinter den homophoben Strukturen des vermeintlich harmonischen Dorflebens verbirgt. Die Brutalität, mit der die Dorfbewohner*innen den Vater aus der Gemeinschaft ausschließen, als dessen Homosexualität entdeckt wird, erschüttert. Doch der Regisseur entwirft nicht bloß das Bild einer Dorfgemeinschaft in Peru, sondern zeigt letztendlich auf, wohin die konsequente Durchsetzung heteronormativer Ordnungen führt.

Der Welt des Machismus steht in Retablo die Welt des Kunsthandwerks gegenüber, in die der Vater Segundo hingebungsvoll und geduldig einführt. Liebevoll bringt dieser ihm bei, die kleinen Figuren für die Schreine zu formen und zu bemalen. Dabei gelingt es Delgado Aparicio hervorragend zu zeigen, dass das traditionelle Kunsthandwerk nicht nur ein Handwerk ist, sondern auch eine Form der Kunst, die ein Wissen voraussetzt, das über Generationen weitergegeben wird. Auch die filmische Inszenierung orientiert sich in ihrer Ästhetik an der Konstruktion der Altarretabeln: Immer wieder sind die Ereignisse durch Türen oder Fenster gerahmt, die geöffnet oder geschlossen werden, was den Eindruck erweckt, dass die Geschichte innerhalb eines Retablos stattfindet.

Besonders schön an Retablo ist, dass er fast komplett auf Quechua gedreht wurde und damit die indigenen Bewohner*innen der Anden und ein Stück ihrer Lebenswelt auf die Filmleinwand bringt, was selten passiert und noch seltener in den Kinos der Berlinale zu sehen ist. Es fällt auf, dass vor allem die derben Beleidigungen, die sich die Dorfjugendlichen gegenseitig an den Kopf werfen, aus dem kolonialen Spanisch stammen.
Amiel Cayo, der den Vater spielt, ist nicht nur im Film Kunsthandwerker. Neben seiner Arbeit auf Bühnen und in Filmen fertigt er im wirklichen Leben auch rituelle Masken für das Theater. Junior Béjar, in der Rolle des Segundo, steht zum ersten Mal für einen Kinofilm vor der Kamera, wohingegen Magaly Solier, die Mutter in Retablo, schon zum dritten Mal mit einem Film auf der Berlinale vertreten ist. 2009 gewann sie mit Claudia Llosas La teta asustada den Goldenen Bären.

Retablo wurde 2017 mit dem Preis für den besten peruanischen Film auf dem internationalen Filmfestival in Lima ausgezeichnet. Den Preis hat er sich verdient. Auch wenn das Ende in seiner dramatischen Überspitzung der Ereignisse ein wenig zu dick aufträgt, erzählt der Film sehr gelungen von der Wirkmächtigkeit von Homophobie.

 

Retablo lief auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Generation 14plus und gewann den L’Oreal Paris Newcomer Award. Außerdenm gab es eine Lobende Erwähnung für den Langfilm in der Kategorie Generation 14plus.

STILVOLL STEPPEN IN SCHWARZ-WEIß

Wer gewinnt, muss aufhören. Das ist eines der ehernen Gesetze beim Malambo, einem dem Flamenco nicht unähnlichen Tanz aus Argentinien, der völlig ohne Gesang auskommt und ausschließlich von Männern praktiziert wird. Einmal im Jahr findet ein großer Wettbewerb statt. Der Sieger erntet großen Ruhm, darf danach aber nie mehr bei Turnieren antreten, sondern nur noch andere Tänzer anleiten und ausbilden.

Auch Gaspar träumt den großen Traum, den Wettbewerb der besten Malambistas zu gewinnen. Aber seine Voraussetzungen sind schlechter als bei seinen Konkurrenten: Er hat hartnäckige Rückenschmerzen und das beeinträchtigt ihn beim Üben für die körperlich sehr anspruchsvolle Performance unter Anleitung seines extrem fordernden Trainers Fernando sehr. Deshalb ordnet Gaspar alles seinem großen Traum unter. Er trainiert wie ein Verrückter, schwimmt und macht Wärmebehandlungen, um die Schmerzen in den Griff zu bekommen. Er ignoriert sogar Flirtversuche seiner Physiotherapeutin. Doch seine Verbissenheit und sein Hass auf den Gegner, der ihn beim letzten Turnier besiegt hat, sind für seine Ziele nicht nur förderlich.

Malambo – El Hombre Bueno ist eine sauber und mit viel Herz erzählte Charakterstudie. In stilvollen Schwarz-Weiß-Bildern bleibt der Film sehr dicht an seinem zutiefst sympathischen Protagonisten Gaspar, seinen Zweifeln und Hoffnungen. Obwohl der Hauptdarsteller Gaspar Jofré auch im wirklichen Leben Malambista ist, ist der Film keine Dokumentation. Trotzdem wird ein interessantes und faszinierendes Bild des hierzulande ziemlich unbekannten Tanzes vermittelt – viele schick anzusehende Tanzszenen inklusive. Regisseur Santiago Loza sagt zwar: „Ich mache Filme mit meinen Freunden und für meine Freunde!“ – in diesem Fall könnte es ihm aber außerdem glücken, auch ein weit entferntes Publikum für ein außerhalb Argentiniens weitgehend unbekanntes Phänomen zu interessieren. Sein Beitrag gehört dadurch genau zu der Art von Filmen, wegen derer Filmfestivals wie die Berlinale ursprünglich erfunden wurden.

Malambo – El Hombre Bueno lief auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Panorama.

ECHT INSZENIERT

Wie gelingt es, einen argentinischen Film über den Falklandkrieg zu machen, ohne pathetisch zu sein, ohne anzuklagen, ohne Stellung zu beziehen? Ihren ersten Langfilm widmet die vor allem als Theaterregisseurin bekannte Lola Arias der Erinnerung an diesen fast vergessenen Krieg und zeigt darin ihre intensive Arbeit mit Kriegsveteranen bei den Proben zu ihrem Theaterstück Minefield, das im letzten Jahr in Argentinien und Europa zu sehen war. Zwar klingt ein Dokumentarfilm über ein Theaterprojekt nicht gerade nach einem sonderlich vielversprechenden Angebot. Aber Arias hat es mit Theatre of War (Teatro de Guerra) geschafft, aus diesem Stoff ein spannendes und berührendes Dokument zu machen, das statt in Klischees zu verfallen immer wieder neu zu überraschen vermag.

Die Protagonisten von Theatre of War sind sechs Veteranen des Kriegs um die Islas Malvinas bzw. Falklandinseln – je nachdem, aus welcher Position gesprochen wird. Der Krieg im Jahr 1982 zwischen Argentinien und Großbritannien um die besagte Inselgruppe im Atlantik, ca. 400 km östlich von Feuerland, kostete etwa 1000 Soldaten auf beiden Seiten das Leben. Nach zwei Monaten Nahkampf verlor Argentinien den Krieg auf den Malvinas – was den Anfang des Endes der argentinischen Militärdiktatur einläutete. Noch heute schwelt der Konflikt um die Inseln. In Großbritannien bald in Vergessenheit geraten, ist der Krieg und die Frage um die „rechtmäßige Zugehörigkeit“ der Inseln in Argentinien immer noch hoch aktuell und ein heikles Thema: „Die Malvinas sind argentinisch“ ist unter Argentinier*innen eine mindestens so unumstrittene Gewissheit, wie die, dass Maradona ein Heiliger ist. Und ein bitterernstes Streitthema, sollte jemand, vor allem Europäer*innen, Zweifel daran haben. Seither kämpfen die argentinischen Veteranen um Pensionen, soziale Sicherung und Anerkennung durch den argentinischen Staat und sind bald ebenso häufig gesehene Gäste auf der berühmten Plaza de Mayo wie die Madres derselben, die für die Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur einstehen.

In Lola Arias Film Theatre of War, der nun bei der diesjährigen Berlinale im Forum läuft, treffen jeweils drei argentinische und drei britische Veteranen aufeinander. Heute Lehrer, Wachmänner, Gärtner oder Musiker zwischen Mitte 50 und Mitte 60, begegnen sie sich, um ihre Erinnerungen von vor über 35 Jahren zu rekonstruieren, als sie sich als junge Männer an der Front gegenüberstanden. Der Film arbeitet mit Nahaufnahmen der Protagonisten, mit Interviews, die sie noch näher kommen lassen, die Sympathie aufbauen und in denen die ehemaligen Soldaten zart wirken und verletzlich, traurig und berührend, lustig und skurril.

Die Veteranen erzählen aus ihrer Erinnerung, rekonstruieren sie mit Requisiten und Bewegungen, mit Messern, mit den Armen Maschinengewehre imitierend, kniend, in Montur – je nach Szene. Die Aufnahmen vermischen inhaltliche Erzählungen mit theatralen Aspekten, die wiederum dadurch aufgelöst werden, dass die Kamera den Ausschnitt vergrößert und die Zuschauer*innen die sich erinnernden, schauspielenden Veteranen im aufgebauten Set sehen: Mikros, Licht, Leinwand sind nun Teil des Spektakels, der Bühne, auf der die Veteranen ihre Erinnerungen durch Schauspiel erneut lebendig werden lassen. Und dabei so sehr darin versunken sind, dass sie im Spiel das Setting auf einmal verlassen, plötzlich zwischen den Mikrofonständern sitzen oder so sehr in Kampfbewegungen versunken sind, dass die Hintergrundleinwand verrutscht.

Was ist Text, was Erinnerung? Was ist geprobt, was spontan? Was genuin, was inszeniert? Alles verschwimmt und es wird unwichtig, zu wissen, was was ist – vielleicht ist auch immer beides beides. Zumindest wirkt es immer so, als könnte es beides beides sein.

Und das macht die Besonderheit dieses Films aus, einer, der einerseits so inszeniert ist und andererseits so echt. Vielleicht ist es diese ständige Grenzüberschreitung, die eine*n gebannt folgen und mitfühlen lässt, so z.B. die peinlich berührende Situation des ersten Treffens zweier ehemaliger Erzfeinde: argentinischer Soldat trifft auf englischen, Handschütteln, steifes Annähern in Spanglish oder einer auf Englisch, einer auf Spanisch. Alle reden aneinander vorbei, wo soll das schon hinführen? Die unbehagliche Steifheit überträgt sich durch die Kinoleinwand und die Situation wirkt genauso künstlich wie sie es in echt wohl wäre – oder vielleicht sogar noch künstlicher? Doch immer mehr mischen sich zaghafte, fast liebevolle Gesten unter den einzelnen Männern zwischen die Begegnungen. Trotz immer noch vorherrschender gegensätzlicher politischer Ansichten (war der argentinische Angriff nun eine Invasion oder eine Rückeroberung?) und Vorurteilen gibt es eine gewisse Verbundenheit von gemeinsamen Erfahrungen und Traumata, ein doch irgendwie geteiltes Leid. Irgendwann wird klar, wie wahllos und willkürlich Krieg ist und wie es am Ende für diejenigen, die an der Front kämpfen und darin ihr Leben lassen müssen, keine Rolle mehr spielt, wer Angreifer und wer Angegriffener gewesen ist. Alle sechs so unterschiedlichen Charaktere tragen die Erinnerungen auf verschiedene Weisen mit sich, als Narben auf den Körpern, als Bilder im Kopf, als Traumata oder Psychosen, als Steine von den Inseln in Koffern.

So begleitet man die Männer in nachgestellten, oft skurrilen Szenen in leere Schwimmbäder, Militärkrankenhäuser, Stützpunkte und Diskotheken, in denen die Schauspieler aber so echt wirken, dass sie die absolute Künstlichkeit des Settings konterkarieren. Allesamt Orte der Erinnerungen, diesmal verbunden mit Erinnerungen aus dem Leben nach dem Krieg. Einerseits scheint das Erlebte sie zu jagen, sie nicht ruhen zu lassen, andererseits scheinen sie Angst zu haben, zu vergessen. Und jede künstliche Szene wird durch Natürlichkeit aufgelöst und in jeder aufrichtigen Erzählung die Künstlichkeit bewusstgemacht. Es ist ein sehr durchdachter und perfekt inszenierter Film, auch die Sprachbarrieren, die gegenseitigen Vorbehalte, der Theateraspekt werden vorsorglich reflektiert, indem die Unbehaglichkeit der Männer im Schauspiel, im Aufeinandertreffen, in der Arbeit am Projekt zum Thema verschiedener verfilmter Unterhaltungen wird.

Letztlich übergeben die sechs Veteranen ihr gemeinsam erarbeitetes „Drehbuch aus Erinnerungen“ an „echte“, junge Schauspieler, die die vergangenen Ichs der Soldaten verkörpern und im Spiel ihre kollektive Erinnerung zu einer Geschichte werden lassen – vielleicht die Möglichkeit für die Veteranen, das Kriegstheater in Frieden zu verlassen.

 

Teatro de Guerra lief 2018 im Forum der Berlinale.

IN DEN DÜST’REN, DÜST’REN WALD HINEIN

Es gibt Filme, die lassen uns während ihrer gesamten Laufzeit nicht ein einziges Mal tief durchatmen. Filme, die ohne special effects und ohne Überraschungen, ohne mörderische Verfolgungsjagden und Zombieauftritte dafür sorgen, dass sich die Fingernägel 90 Minuten lang in die Lehne des Kinosessels bohren. El día que resistía („Der endlose Tag“), das Langfilmdebut der argentinischen Regisseurin Alessia Chiesa, ist so ein Film.

Die Geschwister Fan, Tino und Claa führen ein scheinbar unbeschwertes kindliches Leben in einem schönen alten Haus inmitten eines schönen alten Waldes. Sie spielen Verstecken im Garten, feiern Süßigkeitenparties und gehen gemeinsam mit dem Labrador Äpfel pflücken. Doch bald stellt sich heraus: die Eltern sind weg. Und eigentlich spricht nichts dafür, dass sie irgendwann wiederkommen. Fan übernimmt die Mutterrolle, kümmert sich liebevoll um ihre kleinen Geschwister, stellt Regeln auf – das Schlafzimmer der Eltern ist tabu, niemals dürft ihr alleine in den Wald gehen, wir müssen das Haus putzen, damit es schön aussieht, wenn Mama und Papa zurückkommen – und liest als warnende Erziehungsmaßnahme aus Hänsel und Gretel vor. Sie manscht Tomatensauce und Erbsen zusammen, das Rezept stößt bei ihrem Bruder Tino auf große Begeisterung. Als die Zahnpastavorräte zur Neige gehen, nimmt sie als Ersatz irgendeine ungenießbare Salbe. Sie liest ihren Geschwistern vermeintlich von den Eltern stammende Briefe vor, in denen sie Tino und Claa dazu ermahnt, ihrer großen Schwester auch ja zu gehorchen. Sie tut alles, um den Schein aufrechtzuerhalten.

Doch Tino bemerkt bald, dass Fan sich nicht an ihre eigenen Regeln hält und die kleine Claa und die mit ihr verbündete Hündin ziehen meistens ihr eigenes Ding durch. Dass Fan eigentlich zutiefst traurig ist, zeigen ihre eigenen Tabubrüche, die sie jedoch sorgsam vor den beiden anderen zu verstecken sucht.

Die wachsende Spannung in El día que resistía wird nicht durch unerwartete Szenen erzeugt, sondern durch die langsame Kameraführung, die düsteren, märchenhaften Bilder des dunklen Waldes, spannungsvolle Musik und den stillen, sich erst nach und nach aufbauenden Konflikt zwischen den drei Geschwistern, der sich mit der schleichenden Verwahrlosung und der ansteigenden Frustration und Einsamkeit verschlimmert. Warum die drei alleine sind, ist unklar. Die Interpretation liegt nahe, dass die Eltern im Zuge der argentinischen Militärdiktatur der siebziger und achtziger Jahre verschleppt worden sind. Das resistir, zu Deutsch „aushalten“, aber auch „Widerstand leisten“, im Filmtitel könnte darauf hindeuten, auch wenn dieser in der deutschen Übersetzung leider seine Doppeldeutigkeit verliert. Auch das verwahrloste Auto im Garten, Einrichtung und Kleidung könnten auf jene Zeit hindeuten. Könnten – denn vielleicht ist dies auch schon eine ungewünschte Überinterpretation. Fakt ist, dass nicht das Schicksal der Eltern, sondern das der Kinder im Mittelpunkt steht. Und dieses wird von den drei jungen Schauspieler*innen Lara Rógora (Fan), Mateo Baldasso (Tino) und Mila Marchisio (Claa) wunderbar verkörpert.

Auch wenn der Film auf der Berlinale unter der Rubrik Generation läuft und die drei einzigen Rollen von Kindern besetzt sind, ist El día que resistía nicht nur ein Kinder- und Jugendfilm. Er erlaubt auch Erwachsenen ein großartiges Eintauchen in eine zauberhafte und zugleich angsteinflößende Welt. Tragisch, gefühlvoll und zugleich spannender und gruseliger als die meisten Horrorfilme.

El día que resistía lief auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Generation Kplus.

REISE IN DIE TIEFE SEELE AMAZONIENS

Ex Pajé erzählt die Geschichte eines Kriegers, der außerhalb seiner gewohnten Umgebung, dem brasilianischen Amazonasgebiet, leben muss. Perera und seine Familie gehören zu den Paiter Suruí, einer indigenen Gemeinschaft, die jahrzehntelang im Regenwald nach ihrer eigenen Weltanschauung lebte, bis die Modernisierungswelle sie erreichte. Perera lebt jetzt umgeben von Handys, Waschmaschinen und anderen Objekten des Systems derWeißen Männer”. Er ist aber eigentlich ein Krieger und ehemaliger Schamane (portugiesisch: Pajé) der seine Gruppe durch das Amazonasgebiet leitete. Der Film entwickelt sich ausgehend von diesem Konflikt.

Die Gefahren im Urwald haben sich verändert. Heute muss Pereras Familie gegen das illegale Holzfällen kämpfen und die Beschwerden darüber mit Fotos auf Facebook posten. Dazu kommt die moderne Medizin: Früher hat der Schamane, also Perera, mit den Geistern des Waldes gesprochen, um seine Verwandten zu heilen, aber jetzt bekommen sie moderne Pillen für moderne Schmerzen. Um zu guter Letzt alles noch schlimmer zu machen ist auch noch die Heilige Katholische Kirche im Ort und hat ein strenges Verbot der Paiter SuruíWeltanschauung ausgesprochen, die als Teufelswerk verdammt wurde.

Perera bewacht nachts die Türen der Kirche und bekommt Besuch von den Dschungelgeistern, die ihn als Strafe für seine Unterwerfung unter das Verbot seiner Traditionen durch die Kirche schlagen. Aber etwas Unerwartetes geschieht in Pereras Familie und er muss die Entscheidung treffen, wieder ein Schamane zu werden, um seiner Gruppe zu helfen.

Diese Dokumentation des brasilianischen Regisseurs Luiz Bolognesi (u.a. Uma História de Amor e Fúria; Amazônia Desconhecida) wird bei dieser 68. Berlinale in der Sektion Panorama gezeigt. Die Geschichte trifft mit dem Konflikt des Protagonisten und der Herausforderung, der er begegnen muss, ins Herz der Zuschauer. Was den Film besonders macht, ist die Perspektive von Bolognesi: die Welt durch Pereras Augen zu sehen und seine Weltanschauung zu zeigen.

Spezielle Erwähnung muss der Filmsound bekommen: Er ist sehr wichtig. weil es die Sprache des Urwalds ist, der Perera ständig zuhört. Daher wurde hier richtig gut gearbeitet, um dem Publikum die mächtige akustische Präsenz Amazoniens nahezubringen.

Mit Ex-Pajé schafft Bolognesi etwas Wunderbares: Die orale Geschichte der Paiter Suruí durch Pereras Aktionen und Gespräche mit seinem Enkel aufzunehmen. Gedreht mit Empathie und Respekt zeigt die Dokumentation, wie wichtig es ist, die Natur zu verstehen und stellt auch die Frage, wie weit entfernt wir selbst in der “Westlichen Welt” von einer Beziehung mit der Natur sind.

Ex Pajé wurde auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Panorama Dokumente gezeigt und erhielt neben einer Lobenden Erwähnung den Glashütte Original Dokumentarfilmpreis.

RÄTSELHAFTES AUS RIO

Zu Beginn nur Bäume. Tropischer Urwald, grün und dunkel. Ist es die Floresta de Tijuca, die grüne Lunge von Rio de Janeiro? Man weiß es nicht, man kann es nur vermuten. Wie so vieles in Evangelia Kraniotis zweitem Langfilm Obscuro Barroco, der eine Hommage an die Stadt Rio de Janeiro sein soll. Nur leider gelingt das nicht so ganz.

Obscuro Barroco folgt, so das nachvollziehbare Konzept, einem visuellen Leitfaden, der Rio de Janeiro als eine Stadt, die Platz für alternative Lebensentwürfe und deren offenes Ausleben bietet, zeigen soll. Gefilmt wurde ausschließlich nachts, Tourismusklischees wie Zuckerhut oder Corcovado finden keinen Platz im Film. Protagonistin des Ganzen, und auch das ist nachvollziehbar, ist die vor kurzem verstorbene Luana Muniz, eine Legende des Nachtlebens in Rio de Janeiro. Luana Muniz war Sängerin, aber euch Leiterin eines Bordells im Ausgehviertel Lapa, das Trans*-Personen, HIV-Positive, Prostituierte und Obdachlose von der Straße holte und aufnahm. Sie qualifizierte Travestis und Trans-Personen für den Arbeitsmarkt und war Vorsitzende der Vereinigung der Sexarbeiter*innen der Travestis und Trans*Personen in Rio de Janeiro.

All dies wären interessante Informationen gewesen, die Obscuro Barroco einem Publikum außerhalb Brasiliens hätte vermitteln können. Doch leider enthält der Film sie den Betrachter*innen vor und überlässt es – sofern sie sich überhaupt die Mühe machen – ihnen und Google, sich über das durchaus interessante Leben der „Königin von Lapa“ kundig zu machen. Stattdessen lässt Kranioti Muniz aus dem Off permanent mit reichlich Pathos aufgeladene Kommentare raunen – teils aus Werken der brasilianischen Lyrikerin Clarice Lispector, teils (auch das kann man nur vermuten) von ihr selbst verfasst. Das beginnt spätestens ab der Hälfte des Films erheblich zu nerven, da die meisten der Aussagen, die die Bilder eigentlich tragen und ihnen Bedeutung verleihen sollen, deutlich zu wenig Gehalt haben, um über Banalitäten hinauszugehen. Zu allem Überfluss wiederholen sie sich zum Teil auch noch. Darüber hinaus wird nie richtig klar, was Obscuro Barroco eigentlich sein möchte. Ein Porträt von Luana Lessa? Dazu fehlen Informationen zu ihrem Hintergrund und Menschen, die im Film auftreten und über sie erzählen. Ein umfassender Einblick in die LGBTIQ-Szene von Rio ist der Film aber genauso wenig wie ein alternatives Porträt oder eine künstlerische Collage über die Stadt, denn ständig wird der Fokus verengt, erweitert oder verschoben, so dass man irgendwann überhaupt nichts mehr damit anfangen kann. Am interessantesten ist Evangelia Kraniotis Arbeit dann, wenn sie Momente aus der Trans*-Szene Rios zeigt, ausgelassene Partys oder eine Szene bei einem Schönheitschirurgen, wo (endlich! atmet man auf) auch einmal kurz andere Personen zu Wort kommen, als der wabernde Sermon von Luana Muniz aus dem Off. Leider wird das schon kurz darauf wieder konterkariert von ziemlich aus dem Zusammenhang gerissenen Bildern einer Demonstration gegen die Amtsenthebung Dilma Roussefs, längeren Großaufnahmen der Protagonistin oder unverhohlen voyeuristischen Kamerafahrten über nackte Körper. Auch der als Stilmittel fungierende weiß maskierte Clown, der des öfteren Seilbahn fahrend oder in den Straßen spazierend durch den Film vagabundiert, wirkt aufgesetzt und prätentiös. Evangelia Kranioti hätte es gut getan, den neugierigen Blick der Außenseiterin, die sie als Nicht-Einwohnerin von Rio ist, beizubehalten, statt einen Insider-Film aus einem sehr speziellen Blickwinkel über die Stadt zu drehen. Mit dieser Herangehensweise hat sie weder dem Publikum noch ihrem Werk einen Gefallen getan, das unverständlicherweise von der Berlinale auch noch in die Sektion Panorama (statt ins experimentellere Forum) eingestuft wurde. Bis auf ein paar schöne Aufnahmen und die genannten Einblicke ins LGBTIQ-Szene von Rio bleibt so von „Obscuro Barroco“ leider nicht viel hängen – es sei denn, man ist eingefleischter Fan von Luana Muniz, was außerhalb Rios aber ein überschaubarer Personenkreis sein dürfte. Wer an der Trans*/LGBTIQ-Thematik in Brasilien interessiert ist, dem sei deswegen der deutlich lohnenswertere Berlinale-Beitrag Bixa Travesty (Rezension ebenfalls auf dieser Seite) empfohlen.

Obscuro Barroco lief auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Panorama Dokumente und erhielt den Special Jury Award.

BLEISCHWERE JUGEND

Eine Gruppe von Jugendlichen streift auf ihren aufgemotzten Fahrrädern durch die Straßen einer argentinischen Kleinstadt. Fast sind es noch Kinder, doch alle geben sich betont hart: fluchen, kein Bock auf Schule, kein Bock auf die Eltern.

Wer schon einmal in Lateinamerika war, wird sich sofort in diese frühabendliche Stimmung hineinversetzen können, wenn langsam das gelbliche Licht der Straßenlaternen die kleinen Gassen ausmalt und der Feierabendverkehr dichter wird. Darío Mascambroni wählt diese Szenerie als Schauplatz für die Geschichte des 14-jährigen Tomás.

Am Tag, an dem der Mörder seines Vaters aus dem Gefängnis entlassen werden soll, ist Tomás bereit, ihn mit einer geladenen Pistole im Schulrucksack zu empfangen. Doch ist es weniger Rachsucht, die ihn antreibt, als vielmehr das Gefühl von Ohnmacht und Verzweiflung, in der ihn umgebenden Welt von Intrigen und Unausgesprochenem, seinen Platz einnehmen zu müssen. So trägt er nicht nur die Last der Pistole mit sich herum, sondern auch die der Gewissheit, dass es jetzt an der Zeit ist, erwachsen zu werden und wie ein Mann zu handeln. Immer wieder wird diese Trennlinie gezeichnet: Erwachsenenangelegenheiten in der Erwachsenenwelt; Kinderangelegenheiten in der Kinderwelt. Insgesamt ist die Stimmung bedrückend, aufgeladen, oft gewaltvoll – eine Realität, von der man vermutlich behaupten würde, sie sei nicht für Kinder gemacht. Und so wird den Zuschauenden schnell klar, dass es sich um eine Farce handelt, wenn Tomás Mutter und alle anderen Erwachsenen davon ausgehen, die Jugendlichen bekämen nichts mit und verstünden nichts. Tomás versteht sehr wohl, dass es sich um ein Netz aus Lügen und Halbwahrheiten handelt, dass seit dem Tod seines Vaters um ihn herum gesponnen wurde, vermeintlich, um ihn zu schützen. Er kann nicht länger warten, muss endlich herausfinden, wer sein Vater war und warum man ihn tötete.

In Mochila de Plomo werden die Gedanken und Konflikte der Jugendlichen in den Mittelpunkt gerückt – Gefühle, die sonst meist im Verborgenen bleiben. Mascambroni zeichnet dabei auch ein bestimmtes Bild von Männlichkeit und männlichen Verhaltens. Die ehemaligen Freunde von Tomás‘ Vater treffen sich im Fußballverein, um sich zu betrinken und die Rückkehr des Mörders und ebenso geschätzten Vereinsmitgliedes aus dem Gefängnis zu besiegeln. Die älteren Brüder von Tomás‘ Freunden schrauben an Motorrädern und rasieren den Jüngeren stylische Muster ins Haar. Die einzigen beiden weiblichen Figuren werden auf ebenso stereotype Geschlechterrollen festgeschrieben. Zunächst ist da Tomás‘ angeheiratete Tante, die – schwanger, spießig und mit sich selbst beschäftigt – mit den Geschichten ihres herumstreichenden, von der Schule suspendierten Neffen, nichts zu tun haben will. Und dann gibt es noch seine Mutter. Diese schlägt ins andere Extrem: Nach den langen Nächten, die sie mit einem jüngeren Typen verbringt und in seinem schicken Auto von Bar zu Bar zieht, verschläft sie die Tage und vernachlässigt ihren Sohn. Auch diese scheinbar undurchdringbar starren Rollen sind es, die ein Gefühl von Unbehagen hinterlassen. Mochila de plomo dauert nur 65 Minuten, doch werden viele Fragen angestoßen: Darüber, wer wann authentisch handelt und spricht oder aber nur eine Rolle spielt und darüber, ob sich dies überhaupt so einfach unterscheiden lässt.

Mochila de plomo lief auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Generation Kplus.

TOWARDS DIVERSITY

„Towards tolerance“ lautete einmal ein Motto der Berlinale zu den Zeiten, als vermutlich eine PR-Agentur überzeugt davon war, ohne solch einen Spruch ginge es nicht mehr beim größten Publikumsfilmfest der Welt. „Accept diversity“ lautete ein anderer der Slogans, die wohl die Idee verkörpern sollten, dass die Filme des Festivals ein Stück weit die Welt verändern können. Mittlerweile gibt es keine Berlinale-Mottos mehr, aber „Towards Diversity“ könnte sinnbildlich für die Auswahl der lateinamerikanischen Beiträge auf ihrer 68. Ausgabe stehen. Denn in allen Sektionen sind lateinamerikanische Filme zahlreich vertreten (außer in den „Berlinale Classics“ und der diesmal spärlich besetzten „NATIVe“-Reihe).

Es zeigt sich ein Kaleidoskop lateinamerikanischen Realitätskinos.

Erfreulicherweise ist wieder mehr Abwechslung in das Länderspektrum eingezogen. Von Filmen zwischen Mexiko und Kolumbien ist zwar nichts zu sehen (gibt es wirklich keine aus den so extrem bewegten zentralamerikanischen Ländern wie Honduras oder Nicaragua?), denn daneben beherrschen Brasilien und Argentinien das Latino-Programm. Dafür sind aus Südamerika alle Länder bis auf Bolivien und die Guyanas mit Beiträgen vertreten (Ecuador allerdings nur als Schauplatz). Ein Kaleidoskop lateinamerikanischen Realitätskinos bildet sich durch Beiträge zu Gender- und Machismo, ländlichem Leben, künstlerischem Ausdruck, Indigenen und Evangelikalen bis zur Vergangenheitsbewältigung. Es dürfte für viele Geschmäcker etwas dabei sein. Die Wettbewerbs- und Special-Beiträge lassen zudem den Star-Faktor nicht zu kurz kommen, sodass man der Berlinale aus lateinamerikanischer Sicht diesmal mit Vorfreude entgegensehen könnte. In dieser Ausgabe gibt es mit der Besprechung des Animationsfilms „Virus Tropical“ einen kleinen Vorgeschmack.

 

Museo (MEX)

Im Wettbewerb darf man sich nach der letztjährigen Jury-Teilnahme Diego Lunas nun auf den Auftritt seines so oft genialen Partners Gael Garcia Bernal freuen. Er spielt in Museo von Regisseur Alonso Ruizpalacios („Güeros“), der die wahre Geschichte eines der berühmtesten Kunstdiebstähle der mexikanischen Geschichte aus den 1980er Jahren adaptiert. Las Herederas, der zweite lateinamerikanische Teilnehmer, ist – Tusch! – der erste Film aus Paraguay in der 68-jährigen Geschichte des Berlinale-Wettbewerbs. Sowohl Regisseur Marcelo Martinessi, Autor des besten Kurzfilms des Festivals von Venedig 2016, als auch die Geschichte über einige Damen der besseren Gesellschaft, denen mit zunehmendem Alter das Geld ausgeht, versprechen ein hochinteressantes Debüt. Dazu gibt es in der Sektion Berlinale Special das neueste Werk des mittlerweile 81-jährigen argentinischen Regie-Großmeisters Fernando „Pino“ Solanas zu sehen. Die Dokumentation Viaje a los pueblos fumigados widmet sich der Auswirkung der Verseuchung von Böden durch die Agrarindustrie in einer ländlichen Region Argentiniens auf die Menschen, die dort leben.

In der publikumsorientierten Sektion Panorama kämpfen in der Dokumentation Bixa Travesty (BRA) eine schwarze Trans-Sängerin und in La omisión (ARG) eine junge Mutter in Feuerland für ihre Anerkennung und gegen gesellschaftliche Konventionen. Im Dokumentarfilm Ex Pajé (BRA) kehrt ein ehemaliger Schamane zu seinen Wurzeln zurück, um die von Kirche und Modernisierung bedrohte Identität seines Dorfes im Amazonasbecken zu retten.

Marylin (ARG/CHI)

Weit entfernt in der Hauptstadt Brasília fand derweil die umstrittene Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Roussef statt. Die Dokumentation O processo (BRA) rekonstruiert die Ereignisse, die von vielen bis heute als Putsch bezeichnet werden. Der Spielfilm Malambo, el hombre bueno (ARG) führt die Zuschauer*innen in die faszinierende Welt des Malambo-Tanzes ein, dessen Protagonist*innen ein Leben lang bis zur Selbstaufgabe für den Gewinn eines Wettbewerbs trainieren, nach dessen Gewinn sie mit dem Tanzen aufhören müssen. In Marilyn (ARG/CHI) stehen dem jungen Farmarbeiter Marcos durch den Umzug seiner Familie tiefgreifende Veränderungen in seinem Leben bevor. Land (MEX/I/F/NL) befasst sich mit einer Native-Familie in den USA, die durch den Tod eines ihrer drei Söhne aus ihrer Routine aus Alkoholismus und Resignation gerissen wird. In Zentralflughafen THF (BRA/D/F) begleitet der brasilianisch-algerische Regisseur Karim Aïnouz den Alltag von Geflüchteten in der Unterkunft im ehemaligen Flughafen Berlin-Tempelhof. Tinta bruta (BRA) erzählt schließlich die Geschichte von Pedro, der mit Farbe bemalt erotische Auftritte vor seiner Webcam auslebt. Dabei bekommt er jedoch zu seinem Unmut Konkurrenz von einem Plagiator.

Bei den experimentelleren Filmen aus dem Forum und Forum Expanded tummeln sich diesmal acht Beiträge aus Lateinamerika: Unter anderem die Dokumentationen über den brasilianischen Künstler und Musiker Tantão aus Rio de Janeiro und das fast vierstündige Unas preguntas (URU/D), in dem die Regisseurin Kristina Konrad Ende der 80er Jahre auf der Straße Stimmen zum uruguayischen Amnestiegesetz nach der dortigen Militärdiktatur sammelt. Im Spielfilm Con el viento (ARG/E/F) kehrt die Tänzerin Monica nach langer Abwesenheit zur Beerdigung ihres Vaters in ihr Heimatdorf zurück und muss sich ihrer Vergangenheit stellen. Dazu laufen in diesem Programmteil die Filme La cama (ARG/BRA/D/NL/E), Con el viento (ARG/E/F), Teatro de Guerra (ARG/ESP), La casa lobo (CHI), Los débiles (MEX) und The Chaotic Life of Nada Kadić (MEX/BOS), zu denen nähere Beschreibungen den in Kürze erscheinenden Programmheften der Berlinale zu entnehmen sind.

Auch die oftmals sehr sehenswerten Beiträge der Jugendfilm-Sektion Generation haben einige interessante Teilnahmen aus Lateinamerika zu bieten. Virus Tropical (KOL/F) erzählt in grafisch animierten Bildern die Geschichte der ecuadorianischen Comiczeichnerin Powerpaola. Adam (MX/D/ISL/USA) handelt von der Verbindung eines gehörlosen Jugendlichen zu seiner Mutter, die Technomusikerin ist und bei der ein irreversibler Hirnschaden festgestellt wird. El dia que resistía (ARG/F) folgt drei auf sich allein gestellten Kindern durch eine märchenhaft-düstere Bilderwelt. Unicórnio (BRA) ist inspiriert vom magischen Realismus und entfaltet die Geschichte um die 13-jährige Maria, deren Aufwachsen in ländlicher Idylle ins Wanken gerät, als ein junger Mann mit seiner Ziegenherde in ihre Nachbarschaft zieht. In Retablo (PER/D/NOR) wird das Verhältnis zwischen dem 14-jährigen Segundo und seinem bewunderten Vater Noé, einem angesehenen Kunsthandwerker, auf die Probe gestellt, als bei diesem ein dunkles Geheimnis zu Tage tritt und hinter der Fassade einer scheinbar intakten Dorfgemeinschaft Gewalt und Homophobie sichtbar werden. Mochila de Plomo (ARG) widmet sich schließlich dem 12-jährigen Tomás, der mit einer geladenen Pistole in seinem Rucksack auf Rache am Mörder seines Vaters sinnt, als dieser aus dem Gefängnis entlassen wird. Dazu kommen die Generation-Kurzfilme Playa, Sinfonia de un mar triste (beide MEX) und Toda mi alegría (ARG).

Ein Special Screening gibt es von einer restaurierten Fassung des mexikanischen Films Santo contra Cerebro de mal aus dem Jahr 1961, in dem der Wrestler El Santo, eine Ikone der mexikanischen Popkultur, inszeniert wird.

Im internationalen Wettbewerb des Kurzfilm-Programms gibt es vier lateinamerikanische Teilnehmer zu entdecken. Brasilien ist hier gleich drei Mal vertreten, dabei geht es um einen von der Leidenschaft gepackten Liebhaber (Alma bandida), eine Gefängnisheimkehrerin (Russa) und eine evangelikale Schlagershow (Terremoto Santo). Der argentinische Beitrag T.R.A.P. folgt drei mittelalterlichen Rittern am Rio de la Plata, die eigentlich ein Ritual an einem Grab durchführen sollen, aber stattdessen von Sex, Bier, einem Auto und noch so manch anderem abgelenkt werden. Schließlich wartet auch das Kulinarische Kino noch mit einem lateinamerikanischen Film auf. Die Dokumentation Cuban Food Stories (CUB/USA) widmet sich der Wiederentdeckung kulinarischer Traditionen auf Kuba, wo delikates Essen an entlegenen Orten unter freiem Himmel zubereitet wird.

PERSEPOLIS À LA LATINA

Früher las man einfach nur Comics. In den in kleine Vierecke gepressten, gemalten Geschichten traten sprechende Enten und Mäuse auf. Oder erwachsene Männer, die ihre Kindheitstraumata therapierten, indem sie zum Beispiel nachts in Fledermauskostümen technische Spielereien ausprobierten oder sich in rot-blauen Ganzkörperkondomen von Wolkenkratzer zu Wolkenkratzer schwangen. Dem intellektuellen Anspruch waren dabei aber oft enge Grenzen gesetzt. Deshalb differenzierte sich das Medium ab den 1980er Jahren aus. Die Geschichten waren nicht mehr ganz so extravagant, aber dafür häufig deutlich komplexer, nicht selten autobiografisch geprägt und dadurch viel näher an der Realität. Die Graphic Novel war geboren.

Nach Lateinamerika kam die Graphic Novel relativ spät, selbst die Comic-Szene war lange relativ klein. Deshalb ist es nicht überraschend, dass auch die ecuadorianische Zeichnerin Powerpaola erst spät das Medium entdeckte, das sie international bekannt machte und ihr nun zusammen mit dem kolumbianischen Regisseur Santiago Caicedo als Animationsfilm zu einem Auftritt auf der Berlinale verhalf.


Virus Tropical ist die Adaptation ihres gleichnamigen autobiografischen Comicbuchs, das international große Beachtung fand und die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito und im kolumbianischen Calí erzählt. Paola Gaviria, wie Protagonistin eigentlich heißt, wächst in einer bürgerlichen Mittelklassefamilie auf, die stark von Frauen dominiert wird. Der Vater, ein ehemaliger Priester, der seinen Beruf zugunsten seiner Familie an den Nagel gehängt hat und deshalb oft frustriert ist, verlässt diese, als Paola noch ein Kind ist. Damit überlässt er der Mutter Hilda, die ihren Lebensunterhalt mit Wahrsagen für reiche Kund*innen verdient, die Verantwortung für sie und ihre beiden älteren Schwestern Claudia und Patty. Als letztere beschließt, in Kolumbien Psychologie zu studieren, zieht auch die 14-jährige Paola mit ihrer Mutter dorthin, was einen erheblichen Einschnitt im Lebenswandel vom eher konservativen Quito zum freizügigeren Calí bedeutet. Paola passt sich nach anfänglichen Schwierigkeiten schnell an, ihre Mutter kommt damit jedoch nicht so gut klar und kehrt deswegen immer wieder zu längeren Aufenthalten nach Ecuador zurück. Ihre Erfahrungen mit Drogen und Liebschaften teilt Paola deshalb hauptsächlich mit Patty, die in Abwesenheit von Hilda gleichzeitig die Rolle der besten Freundin und Ersatzmutter übernehmen muss.


Virus Tropical ist sowohl grafisch als auch dramaturgisch kein revolutionär progressiver Film. Die naiv-liebenswert gestalteten Schwarz-Weiß-Zeichnungen (unweigerlich denkt man beim Betrachten des Films an Marjane Satrapis Persepolis) sind zwar gut anzusehen, bleiben aber meist in der Darstellung realer Ereignisse verhaftet. Kreativere, surreale Darstellungen z.B. des Innenlebens der Protagonistin kommen leider kaum vor, wodurch das Potenzial, das ein Animationsfilm gegenüber anderen Formaten bietet, nicht ganz ausgeschöpft wird. Auch die Geschichte ist trotz einigen familiären Hin und Hers im Grunde nichts weiter als eine solide Coming-of-Age-Story. Konfliktlinien wie der Kampf gegen machistische Strukturen, den alle Frauen der Familie zu kämpfen haben, werden nur in Zwischentönen deutlich – zum Beispiel wenn die jahrzehntelange Hausangestellte zum ersten Mal im Leben Geld von der Familie klaut, um sich eine umfassende Schönheitsoperation zu gönnen. Dass der Film oft unspektakuläre Alltagsszenen zeigt, ist auch nicht schlimm, denn schließlich ist es einer der interessantesten Aspekte von Graphic Novels (und im übrigen auch von Filmfestivals) anschaulich zum Verständnis unbekannter alltäglicher Realitäten beizutragen. Dennoch hätte man sich an manchen Stellen ein wenig mehr Mut zur Fokussierung gewünscht. Wer in Lateinamerika gelebt hat oder aufgewachsen ist, wird deshalb trotz eines durchaus vorhandenen Unterhaltungswerts eher Wiedererkennungs- und Identifikationsmomente beim Betrachten des Filmes haben als wirklich neue Erkenntnisse mitnehmen.

Virus Tropical lief auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Generation 14plus.

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