SOZIALER PROTEST ZWISCHEN HOFFNUNG UND POLARISIERUNG

Gefährlicher Einsatz Politische Opposition fordert in Kolumbien viele Menschenleben (Foto: Comunicaciones CRIC)

Der Begriff Minga bezeichnet einen kollektiven Arbeitseinsatz und wird in Kolumbien inzwischen auch für politische Versammlungen verwendet. Die derzeit wichtigste heißt „Minga für die Verteidigung des Lebens, des Territoriums, der Gerechtigkeit und des Friedens“. Nach und nach haben sich der Minga-Blockade auf der Panamericana ebenfalls Bauern und Bäuerinnen, Afro-Kolumbianer*innen und indigene Gruppen aus anderen Regionen angeschlossen. Trotz abwechselnd schwerer Regenfälle und brennender Sonne, nahm die Zahl der Protestierenden seit Mitte März eher zu als ab. Die Hauptforderung: Präsident Iván Duque soll in den Cauca kommen, um Rechenschaft abzulegen – über die mehr als tausend vom kolumbianischen Staat nicht erfüllten Abkommen mit den Gemeinden und ihren Organisationen, seine als Unterminierung wahr­­genommene Haltung gegenüber dem Friedensprozess mit der demobilisierten FARC-Guerilla sowie den immer weiter zunehmenden Morden an lokalen Führungspersönlichkeiten und Menschenrechtsverteidiger*innen. 556 solcher gezielten Tötungen verzeichnet das Forschungsinstitut für Entwicklung und Frieden (INDEPAZ) zwischen Januar 2016 und Januar 2019 in Kolumbien, mit einem stetigen Anstieg. Die meisten Morde wurden mit 252 an der Zahl im Jahr 2018 verübt. Die Region Cauca ist in dieser Statistik mit einem Anteil von mehr als einem Fünftel trauriger Spitzenreiter. Aber die Fronten sind verhärtet. Der Präsident weigerte sich wochenlang direkt mit den Protestierenden zu verhandeln und entsendete nur Stellvertreter*innen. „Mit Blockaden verhandeln wir nicht“, wiederholte er immer wieder in einer offensichtlichen Paraphrasierung der gleichen Aussage in Bezug auf Terrorist*innen. Erst am 5. April kam es zu einem Durchbruch bei den Verhandlungen. Die Regierung stellte ein über 230 Millionen Euro schweres Investitionspaket im Rahmen des Nationalen Entwicklungsplanes sowie die direkte Präsenz des Präsidenten in der Folgewoche in Aussicht. Im Gegenzug erklärten sich die an der Minga beteiligten Organisationen bereit, zwar nicht die Minga zu beenden, aber zumindest die Blockade der Panamericana bis auf weiteres aufzuheben.

„Gegen die Minga wird mit militä-rischen Mitteln vorgegangen.“

Bisher setzte Präsident Duque auf die Strategie der Kriminalisierung sozialer Proteste, die sein Verteidigungsminister Guillermo Botero im letzten Jahr mit der Behauptung, alle indigenen Proteste seien vom Drogenhandel finanziert, auf die Spitze trieb. Der Vorwurf, der Protest sei von bewaffneten Gruppen unterwandert oder politisch von der demobilisierten Guerilla FARC kontrolliert, wird seitdem laufend wiederholt. Mitglieder der Regierungspartei Centro Democrático befüttern unter anderem den Twitterkanal #MingaDeLasFarc laufend mit Propaganda. Dass die indigenen Gemeinden seit jeher die Präsenz aller bewaffneten Akteur*innen – egal ob Armee, Guerilla oder Paramilitärs – in ihren Territorien ablehnen und die autonome indigene Justiz regelmäßig Waffen und anderes Kriegsmaterial beschlagnahmt und ausnahmslos vernichtet, wird ignoriert.  Das befördert einerseits die von einigen Vertreter*innen des Regierungslagers betriebene politische Polarisierung der kolumbianischen Gesellschaft, mit fortwährenden Anschuldigungen und Beleidigungen gegen jede Opposition und rechtfertigt andererseits nach außen ein hartes Vorgehen gegen die Blockade. „Gegen die Minga wird mit militärischen Mitteln vorgegangen“, stellt Omar Quirá vom Menschenrechtsprogramm des Indigenen Regionalrats des Cauca (CRIC) fest, welcher als Zusammenschluss von 90 Prozent der indigenen Gemeinden des Cauca maßgebliche Kraft hinter der Minga ist. „Es ist besorgniserregend, dass unter den zur Kontrolle der Minga entsandten Kräften nicht nur Polizisten, sondern auch Soldaten sind. Außerdem gab es mehrere Versuche, die Minga zu infiltrieren. Wir haben ungefähr zehn Militärangehörige identifiziert und an die Defensoría del Pueblo [nationale Ombudsbehörde, Anm.d.Verf.] sowie die UNO übergeben,“ ergänzt Quirá.

Foto: Miguel Boller

Inzwischen sind mehrere Videos veröffentlicht worden, auf denen zu sehen ist, wie Soldaten mit auf Dauerfeuer geschalteten Waffen in Richtung der Protestierenden schießen. Mehrfach wurden auch die Zeltlager der Mingueroas angegriffen, obwohl sie abseits der Panamericana liegen. Militärflugzeuge, Drohnen und Hubschrauber überflogen trotz anders lautender Abmachungen immer wieder die Protestlager und warfen Propagandamaterial oder Leuchtkörper ab. Gleichzeitig versuchten anscheinend auch illegale bewaffnete Gruppen, die Situation zu nutzen, um ihre Positionen zu stärken oder gegen die autonomen Gemeinden vorzugehen, die für sie ein Hindernis bei der Durchsetzung ihres Machtanspruchs darstellen.

Die bisherige Bilanz: Über 100 Verletzte und 11 Tote auf Seiten der Mingueroas, darunter mehr als ein Dutzend durch Schusswaffen Verwundete. Außerdem wurde ein Polizist durch nicht identifizierte Heckenschützen erschossen. Die meisten Toten gab es bei einer noch ungeklärten Explosion in einer Hütte, in der sich mehrere Indigene ausruhten. Laut einem Überlebenden hatten Unbekannte einen Sprengsatz in die Hütte geworfen. Von der Regierungsseite wurden sofort Anschuldigungen laut, die Opfer hätten selbst mit Sprengstoff hantiert.Vom 3. auf den 4. April kam es in Popayán, der Hauptstadt des Cauca, zu massiven Übergriffen auf Gebäude und Installationen des Regionalrats des CRIC als wichtigste Kraft hinter der Minga. Außerdem wurden die Bauernorganisation CIMA und die nationale Ombudsbehörde angegriffen. Mehrere Menschen wurden teils schwer verletzt (siehe Kurznachrichten S.54).
Oberflächlich betrachtet ist der wichtigste Faktor hinter diesen Auseinandersetzungen die in Kolumbien allgegenwärtige Frage nach Landbesitz und einer Agrarreform. Die Bedeutung der Landfrage spiegelt sich auch darin dass die „Integrale Reform des ländlichen Raums“ der erste Punkt der Friedensabkommen von Havanna ist. Laut Daten von Oxfam ist die Ungleichheit in der Landverteilung in Kolumbien weiterhin extrem und hat seit den 1990er Jahren sprunghaft zugenommen: Nur ein Prozent der landwirtschaftlichen Produktionseinheiten kontrollieren über 70 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche.

Hier prallen Welten aufeinander

Im Cauca werden diese Gegensätze besonders deutlich: Auf der einen Seite stehen traditionelle Großgrundbesitzer*innen wie die Zuckerrohrbaron*innen im Norden des Departements, deren Felder sich über tausende Hektar in den am einfachsten zu bewirtschaftenden Ebenen vom Norden des Cauca bis in das Nachbardepartement Valle del Cauca erstrecken. Auf der anderen Seite finden sich tausende Kleinproduzent*innen in den indigenen, afrokolumbianischen und Campesino-Gemeinden, deren Ländereien häufig an den schwer zu bearbeitenden Andenhängen liegen und in vielen Fällen nicht einmal die Größe erreichen, die nach offiziellen Daten für den Unterhalt einer Familie ausreicht. Hinzu kommen relativ neue Akteur*innen wie Cartón Colombia, eine Tochterfirma der europäischen Smurfit Kappa mit Sitz in Irland. 2015 besaß Smurfit Kappa, unter anderem auch Deutschlands größter Hersteller von Kartonverpackungen, in Kolumbien knapp 68.000 Hektar. Mit Slogans wie „Better Planet Packaging“ bastelt die Firma in Europa an ihrem Nachhaltigkeitsimage und schafft es sogar noch, für völlig sterile Fichten- und Eukalyptus-Monokuturen Aufforstungs- und Klimaboni einzustreichen. Hier prallen nicht nur Welten aufeinander, sondern auch Produktionsmodelle: Agrarindustrie und kleine, diversifizierte Produktionsflächen, die neben der Produktion für den Verkauf auch der Selbstversorgung dienen.

Dass es gerade im Cauca immer wieder sowohl zu Gewaltausbrüchen als auch zu längeren Auseinandersetzungen zwischen sozialen Bewegungen kommt, hat weitere Gründe. Zum einen haben die unterschiedlichen bewaffneten Gruppen ein hohes Interesse an der Kontrolle sowohl von Anbaugebieten von Koka und Marihuana als auch an den unterschiedlichen Routen in Richtung Pazifik, wo die Drogen zum Export verladen werden. Zum anderen ist wohl nirgendwo in Amerika, mit Ausnahme der zapatistischen Gemeinden in Mexiko, die indigene Autonomie so weit entwickelt wie im Cauca. Der CRIC ist von fünf Gemeinden bei ihrer Gründung 1971 auf inzwischen 126 Gemeinden mit etwa 270.000 Einwohner*innen in der gesamten Region angewachsen. Die indigene Justiz setzt ihre Eigenständigkeit mit viel Selbstbewusstsein durch. Sie beschlagnahmt und zerstört Waffen und Drogen, und große Infrastruktur- oder Bergbauprojekte müssen regelmäßig mit gut organisiertem Widerstand rechnen. Es gibt autonome Schulen, ein eigenes Gesundheitssysstem und die Gemeinden schrecken auch vor Besetzungen von Ländereien der Familien mit Großgrundbesitz nicht zurück. Der Aufbau eigener Strukturen wurde außerdem von Beginn an mit einer juristischen Strategie begleitet. Damit konnten bestehende Normen und sogar Regelungen, die noch aus der Kolonialzeit stammen, subversiv zur Untermauerung von Forderungen und zur Absicherung von Erreichtem genutzt werden. Zusätzlich wurde efolgreich Lobbyarbeit für Gesetzesreformen betrieben, die auch nationale Auswirkungen haben.

Minga ist mehr als eine Blockade

Dadurch haben sich die indigenen Gemeinden des Cauca zu einem Machtfaktor entwickelt, der den bewaffneten Akteuren genauso ein Dorn im Auge ist wie der Regierung und den Großgrundbesitzer*innen. Diese greifen zur Verteidigung ihres Machtanspruchs immer wieder zu Gewalt und Kriminalisierung oder versuchen bei anderen benachteiligten Sektoren Neid auf die politischen und materiellen Errungenschaften der indigenen Bewegung zu schüren und sie gegeneinander auszuspielen. In letzter Zeit ist es dennoch mehrfach gelungen, vor allem die unterschiedlichen Gruppen aus dem ländlichen Raum zu koordinieren und eine gemeinsame Agenda auszuhandeln, so auch bei der aktuellen Minga. José Ildo Pepe, einer der von der Minga benannter Sprecher stellt fest: „Unsere Minga fordert die Umsetzung bestehender Abkommen und Rechte für die afrokolumbianischen Gemeinden, für die Campesinos und für uns Indígenas. Unsere Minga hat nationale Reichweite. Die Themen sind struktureller Art: Land, Schutz des Lebens und der Umwelt, Wasser, nicht nur im Cauca, sondern im ganzen Land. Die Regierung denkt, es geht nur um den von ihr vorgelegten Nationalen Entwicklungsplan. Aber es geht um mehr: Es geht um die Bewahrung des Lebens in seiner Ganzheit.”


(Foto: Comunicaciones CRIC)

 

Diese Sichtweise zeigt sich auch in den anderen Gesichtern der Minga, abseits der Konfrontationen mit der Staatsmacht, von Außenstehenden nur selten wahrgenommen. „Die Kreativität der Menschen, um unter solchen Bedingungen durchzuhalten, ist unglaublich“, erzählt Omar Quirá mit einem breiten Grinsen. „Es wurden zum Beispiel schon Fußballturniere und Unterricht in traditionellen andinen Tänzen mitten auf der Panamericana organisiert. Und ein paar Jugendliche drehen mit einer Kameraattrappe aus Pappe Runden durch die Protestlager, führen Interviews, verbreiten Neuigkeiten und bringen nebenbei die Leute zum Lachen.“ Auch die basisdemokratischen Elemente der indigenen Kultur sind ein wichtiger Bestandteil. „Nach jeder Verhandlungsrunde finden Versammlungen statt, um die Menschen zu informieren, zu hören, was sie denken, politische Themen zu diskutieren sowie Empfehlungen und Anweisungen an die Sprecher*innen und Verhandlungsführer*innen zu vereinbaren“, führt Quirá aus. „All das verwandelt sich in neue Protestformen, stärkt den Zusammenhalt und unsere autonome Kultur.“

 


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BILDUNG ZU DIESEL

Die Bilder in den Medien vermittelten ein Horrorszenario: Eine weinende hochschwangere Frau bettelt an einer Tankstelle um Benzin für ihr Auto, „weil die Ambulanzen nicht fahren“. Kein Insulin für Diabetes-Patient*innen in den Krankenhäusern, leergefegte Regale in den Supermärkten. Komplett überfüllte Autobusse, kilometerlange Schlangen an den Tankstellen, Streichung von Inlandsflügen an 14 Flughäfen, weil kein Kerosin geliefert werden kann. Und der Präsident setzt nach den ersten gescheiterten Verhandlungen das Militär ein, um die Blockaden der Lkw-Fahrer*innen auf den Fernstraßen aufzulösen. Grundlage dafür ist das Gesetz zur „Garantie von Gesetz und Ordnung“, das zum ersten Mal für das gesamte Land galt.

Doch am Abend des zweiten Tages nach dem Ende des landesweiten Streiks der selbstständigen Fuhrunternehmer*innen ist in der Millionenstadt Recife im Nordosten des Landes die Versorgungslage weitestgehend normal. Die langen Schlangen an den Tankstellen haben sich auf fünf bis zehn Autos reduziert. In den großen Supermärkten gibt es vereinzelte Lücken bei den Frischwaren wie Fleisch oder Gemüse, aber von einer Krise kann keine Rede sein. Und die – jährlich von starken Überschwemmungen der Straßen geprüften – Recifenses nehmen den Streik denkbar gelassen. „Wir machen sowieso einmal im Monat einen Großeinkauf, Obst und Gemüse kaufen wir alle vierzehn Tage“, sagt Kilsa Oliveira, die in einem Friseursalon arbeitet. „Da hat es uns an nichts gefehlt. Und mein Bus ist immer voll, das war nichts Neues.“ So oder so ähnlich klingt das bei fast allen, die den Streik beschreiben. Stärker als die Privatleute haben die Blockaden allerdings das Gewerbe getroffen, auch Restaurants sind auf tägliche Lieferungen angewiesen.

Und die öffentlichen Mittel für Gesundheit, Bildungm Wissenschaft und Würde werden zu Diesel

Aber auch hier galt: Im Ernstfall wurde einfach die Speisekarte umgeschrieben. Am schwierigsten war die Versorgung mit Benzin, drei bis vier Stunden zu warten und dann nicht einmal volltanken zu können – eine echte Geduldsprobe. Andere stiegen auf Öffentliche um, deren Verkehr in vielen Städten eingeschränkt weiter funktionierte. So fuhr in São Paulo immerhin jeder zweite Bus. Da viele Taxis Hybridmotoren haben, konnten sie Gas oder Alkohol als alternativen Treibstoff nutzen. Deshalb empört sich Taxifahrer Sandro Manga auch eher über diejenigen, die versuchten, aus dem Streik Geld zu schlagen, als über die Lkw-Fahrer*innen: „Das Benzin für neun Reai und 90 Centavos (2,27 Euro) zu verkaufen, das ist unverschämt. Die versuchten, auf unsere Kosten reich zu werden. Aber sie werden eine sehr hohe Strafe von 150.000 Reais erhalten, was ich ihnen wirklich gönne!“

Betroffen waren auch Universitäten und Schulen. „Wir mussten unsere Kurse für zehn Tage aussetzen“, erzählt Fatima Silva, die in Recife als Dozentin an einer Fakultät für Mode und Design arbeitet: „In den Außenbezirken fuhren kaum Busse, so dass viele Studierende gar nicht kommen konnten. Erst am vierten Juni konnten wir den Unterricht wieder aufnehmen.“

Doch auch wenn das Katastrophenszenario eher medial erzeugt war: Die selbständigen Fuhrunternehmer*innen haben mit ihrer zehntägigen Blockade-Aktion der Regierung Temer ihre erste große innenpolitische Niederlage beschert. Neben einer Senkung des Preises für Diesel – dieser ist in den vergangenen zwölf Monaten um fast 20 Prozent gestiegen – forderten sie eine Steuerbefreiung des Treibstoffs sowie eine festgelegte Untergrenze für Frachtgebühren. Und sie hatten Erfolg, denn nach nur wenigen Verhandlungstagen ist die Regierung eingeknickt, um die Straßen wieder frei zu bekommen und eine Ausweitung der Proteste zu verhindern.

Auch erhielten die Lkw-Fahrer*innen für ihre Blockaden durchaus Unterstützung von der Bevölkerung, selbst in armen ländlichen Gebieten im Sertão wurden sie tagelang mit Essen und Getränken versorgt. Schwerer tat sich die traditionelle Linke mit der Unterstützung. Da die meisten der streikenden Fahrer*innen zumindest offiziell selbständig sind, gehören sie nach Einschätzung der Linken eher zu den zu bekämpfenden Unternehmer*innen denn zur arbeitenden Klasse. Hinzu kommt, dass Teile der Fuhrunternehmer*innen nach dem Streik auf einer Demonstration in São Paulo den Eingriff der Militärs („Intervenção Militar“) in die brasilianische Innenpolitik forderten. Doch die Blockierenden sind nicht mehrheitlich den Rechten zuzuordnen; die vielen aus den Blockaden in den sozialen Medien veröffentlichen Videos und Interviews zeigen deutlich mehr Stellungnahmen zugunsten der Freilassung des ehemaligen Präsidenten Lula und mit Zuspruch für dessen Arbeiterpartei PT.

Aufgegriffen wurden die Proteste von der Gewerkschaft der Raffinerie-Arbeiter*innen, FUP. Diese erklärte einen Warnstreik von 72 Stunden ab dem 30. Mai und forderte eine erneute staatliche Regulierung der Preise für Benzin, Diesel und Gas sowie das Ende der täglichen Anpassungen an den Weltmarktpreis – was die große Mehrheit der Bevölkerung sicher aufs Wärmste begrüßen würde. Weiter ein Ende der Privatisierung des halbstaatlichen Mineralölunternehmens Petrobras und eine erneute Erhöhung der Produktion in den Raffinerien, um den auf 20 Prozent gestiegenen Marktanteil an internationalen Erdölderivaten wieder zu senken. Außerdem forderten sie den sofortigen Rücktritt des Direktors der Petrobras, Pedro Parente, der im Auftrag der Regierung Temer die Preisregelungen außer Kraft gesetzt hatte. Zumindest die letzte Forderung wurde schnell erfüllt, Pedro Parente ist bereits zurückgetreten. Bis zum Ende des Monats will die FUP entscheiden, ob weitere Streiks folgen sollen.

Ein weiteres Zugeständnis der Regierung ist die Senkung des Preises für den Liter Diesel um 0,46 Centavos, allerdings verkaufen bisher nur wenige Tankstellen Diesel zu diesem Preis. Denn, wie es die Folha de São Paulo formuliert, „das Dekret des Präsidenten verfügt den Preisnachlass durch die Raffinerien. Von den Raffinerien bis zu den Tankstellen bestimmen freie Verhandlungen den Preis. Es stellt sich die Frage, ob die Aktionen der Regierung an den Zapfsäulen verfassungsgemäß sind.“ Die teilweise Steuerbefreiung des Treibstoffs – insgesamt werden fünf verschiedene Formen von Steuern für Union und Bundesstaaten erhoben, die u.a. für den Straßenbau eingesetzt werden – sorgen für Unmut bei den Landesregierungen. Und die neuen Untergrenzen für Frachtgut rufen die Unternehmerverbände auf den Plan. Der Unternehmerverband von São Paulo, FIESP, hat bereits mit einer Klagewelle gedroht. So wird seit dem Ende des Streiks nachverhandelt und jeden Tag eine neue Lösung für die Einhaltung der Zusagen diskutiert.

Bereits am 30. Mai veröffentlichte die Regierung Temer das Präsidialdekret 839, eine 35 Seiten lange Liste mit Streichungen von finanziellen Mitteln in Regierungsprogrammen und Subventionen. Mehr als 1,2 Milliarden Reais (270 Millionen Euro) werden u.a. in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Förderung von Frauen und der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gestrichen. Der größere Teil der Budgetkürzungen, 12,1 Milliarden Reais, betrifft allerdings bisherige Subventionen, darunter in der Getränkeindustrie. Die Liste mit Kürzungen war bereits seit längerem erwartet worden, denn seit dem Oktober 2016 sind die Ausgaben für staatliche Sozialprogramme für 20 Jahre „eingefroren“. Die versprochene Preissenkung für Diesel muss daher durch weitere Kürzungen finanziert werden – oder wie es der Blogger Leonardo Sakamoto formulierte: „Und die öffentlichen Mittel für Gesundheit, Bildung, Wissenschaft und Würde werden zu Diesel.“


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