AUF DEN KLIMAWANDEL REAGIEREN

Eine der Kleinbauern und -bäuerinnen der NARANDINO-Kooperative beim Kaffeepflücken (Foto: Narandino)

Wie macht sich der Klimawandel für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern bemerkbar, die in Ihrer Kooperative Mitglied sind?

ANAPQUI Bolivien: Seit ungefähr zehn Jahren bekommen wir den Klimawandel verstärkt zu spüren – er verändert die Anbaubedingungen einschneidend: Die Dürren im Januar und Februar werden länger, mittags prallt die intensive Sonne auf die Quinoa-Felder, und die Winde wehen heftiger. Als Folge sinken die Ernteerträge. Zudem sind wir von wiederholten Kälteeinbrüchen, Hage

lstürzen und Überschwemmungen betroffen. Die Hochebenen der Anden sind sensible Ökosysteme, deren Böden von Wind- und Wassererosion bedroht sind. Mangelnder Regen ist eine große Herausforderung.

COSATIN Nicaragua: Seit 2011 haben unsere ProduzentInnen durch den in Lateinamerika grassierenden Kaffeepilz „Roya“ erhebliche Ernteeinbußen erlitten – so verloren wir rund 60 Prozent unserer Pflanzungen. Das zeigte uns auf dramatische Weise die Notwendigkeit, unsere Anbaukulturen zu diversifizieren. Wir mussten mühsam neue Flächen für den Anbau von Ingwer und Kurkuma suchen, wo früher Kühe weideten. In unseren Baumschulen hatten wir zum Glück Kaffeepflänzchen in verschiedenen Entwicklungsstadien, die nicht alle vom Pilz betroffen waren. Diese haben wir nachgepflanzt und behandeln sie nun präventiv mit biologischen Fungiziden aus Kalk und Schwefel. Zudem haben wir in Fortbildungen gelernt, Mikroorganismen in den Bergen zu suchen. Das sind nützliche Bakterien oder Pilze, die wir aus dem Boden ausgraben und daraus Pflanzenstärkungs-Präparate herstellen. Langfristig sind die zunehmende Trockenheit und Wasserknappheit ein großes Problem.

NORANDINO Peru: Seit einigen Jahren spielt das Wetter in unserer nördlichen Region Piura verrückt. Ein Jahr regnet es viel, dann wieder drei Jahre gar nicht. Die Böden sind erschöpft, so dass die Kaffeepflanzen vertrocknen und unsere Erträge sinken. Auch treten bislang ungekannte Schädlinge und Pflanzenkrankheiten auf. Wir sind gezwungen, nach neuen Flächen in höheren Lagen zu suchen. Die Starkregen letztes Jahr in Piura – die schlimmsten seit 1983 – haben immense Schäden angerichtet: durch Überschwemmungen ging exportfertige Panela (Rohrzucker) im Wert von 200.000 US-Dollar verloren.

Wie versuchen die Mitglieder der Kooperative ihre Produktion dem Klimawandel anzupassen?

ANAPQUI Bolivien: Wir pflanzen Windbarrieren um die Quinoa-Felder herum und wenden bei der Feldarbeit und Ernte verschiedene Bodenschutztechniken an, um Erosion zu verhindern. Zudem stellen wir Kompost aus Lamadung her, um die Bodenfruchtbarkeit und -struktur zu verbessern. Durch die Anpflanzung verschiedener einheimischer Baumarten ernten wir Früchte und Brennholz und erweitern dadurch unsere Ernährungs- und Einkommensquellen.

COSATIN Nicaragua: Wir versuchen, unsere Anbauprodukte zu diversifizieren: Neben Kaffee und Honig investieren wir zunehmend in Kräuter, Ingwer und Chili. Durch die Pflanzung verschiedener Bäume gewinnen wir Zitrusfrüchte und Nutzholz und mindern das Ernteausfallrisiko, weil die Kaffeepflanzen beschattet werden und die Böden weniger austrocknen. Außerdem haben wir eine Biodüngeranlage gebaut und in Gruppen gelernt, mit Gesteinsmehl Dünger zu präparieren, und säen Leguminosen (Pflanzen, die an ihren Wurzeln Luftstickstoff fixieren), um die Bodenfruchtbarkeit zu erhöhen. Dazu führen wir auch kleine Kampagnen durch, um konventionelle Produzent*innen zu sensibilisieren und unser Wissen weiterzugeben. Also alles an unsere Realität und unser Klima angepasste Methoden ökologischer Landwirtschaft.

NORANDINO Peru: Wir forsten im Hochland von Piura 500 Hektar Wald mit Hilfe internationaler Umwelt-NGOs wieder auf. Dadurch wird Feuchtigkeit im Wassereinzugsgebiet oberhalb der Kaffee- und Kakaopflanzungen auf 3.000 m Höhe gespeichert. Für das Projekt erhält NORANDINO internationale Klimaschutzgelder, die in Armutsbekämpfung und Maßnahme

n zur Anpassung an den Klimawandel investiert werden. Die lokalen Dorfgemeinschaften haben Komitees zur Wiederaufforstung gebildet und Baumschulen angelegt, wo sie die Setzlinge selbst ziehen. Das schafft kurz- und mittelfristig Arbeitsplätze und Einkommen, ein lokales Naturschutzgebiet und langfristig auch die Möglichkeit, nachhaltig Holz zu ernten.
Außerdem bauen die Kleinbauern neben den Exportkulturen Kaffee, Kakao und Zuckerrohr eine Vielzahl an Grundnahrungsmitteln wie Kartoffeln, Bohnen, Bananen, Mais und Obstbäume für den eigenen Bedarf an, um das Risiko von Ernteausfällen und Hunger zu reduzieren. Zudem wandeln wir degradierte, nicht-nachhaltige Reis­anbau-Flächen in ein ökologisches Agroforst­projekt um, bei dem Bananen, Kakao und Nutzholz-Baumarten kombiniert werden. Hierdurch werden Treibhausgasemissionen der Landwirtschaft wie Methan reduziert und Kohlen­dioxid gebunden.

In der herkömmlichen Landwirtschaft werden Pestizide eingesetzt. Wie gehen ihre ökologisch wirtschaftenden Kooperativen damit um?

ANAPQUI Bolivien: Die genannten Windbarrieren und Bäume sind auch ein wichtiger Schutz vor einer Kontaminierung durch konventionelle Nachbarbetriebe, die oft nur 30 Meter entfernt liegen. Wir schützen unsere eigenen Feldfrüchte durch die Herstellung biologischer Pflanzenstärkungspräparate, die die Anbaukulturen widerstandsfähig gegen Insekten und Pflanzen­krankheiten machen. So sind zum Beispiel Jauchen aus Lamadung, aus Bitterkräutern, aber auch aus Amaranth prima Abwehrmittel gegen Insekten; zudem pflanzen wir am Feldrand die Anden-Lupine, eine Leguminose, die Schädlinge fernhält.

COSATIN Nicaragua: Es gibt benachbarte, große konventionelle Betriebe. Manche sehen, wie die KleinproduzentInnen ökologischen produzieren, während sie selbst die Umwelt schädigen. Ein großer Kaffeebauer ahmt sogar schon einige unserer Öko-Praktiken nach. Zum Beispiel züchten wir einen Pilz, um einen schädlichen Käfer name

ns „Broca“ zu bekämpfen. In anderen Regionen Nicaraguas ist der Pestizideinsatz ein sehr großes Problem, zum Beispiel in den Zuckerrohrplantagen. Dort gibt es viele Leukämie- und andere Krebserkrankungen bei Farmarbeitern und Kindern. Wir dagegen setzen im Öko-Kaffeeanbau auf natürliche Prävention und Schädlingsbekämpfungsmittel, wie zum Beispiel ein auf die Blätter versprühtes Bio-Pflanzenstärkungsmittel und natürliche Fungizide aus Kalk und Schwefel. Wir stellen auch aus den Kaffee-Ernteabfällen Biodünger her und nutzen die Abwässer wieder.

NORANDINO Peru: Im Kaffeeanbau ist es leicht, auf Pestizide zu verzichten, im Kakaoanbau ist das schon schwieriger. Unsere Zertifizierer achten aber sehr darauf, dass es keine Kontaminierung gibt, zumal unsere Kakao- und Schokoladensorten bereits mehrfach international preisgekrönt wurden. Im andinen Hochland besteht in vielen Dörfern ein hoher traditioneller Zusammenhalt: die Bauern kennen sich und haben ein System interner wechselseitiger Öko-Kontrollen aufgebaut.

Welche Botschaft vermitteln Sie auf Ihrer Rundreise deutschen Verbraucher*innen?

ANAPQUI Bolivien: Wir alle können etwas dazu beitragen, um die Erderwärmung zu bekämpfen! Obwohl wir in Bolivien nur zu einem geringen Anteil den Klimawandel verursachen, sind wir besonders von ihm betroffen. Alle Menschen sollten Produkte aus nachhaltiger, ökologischer Landwirtschaft konsumieren, um den Klimawandel abzumildern.

COSATIN Nicaragua: Wir sind froh, dass wir diese Gelegenheit haben, um für unsere Produkte aus nachhaltiger Erzeugung und faire Preise zu werben, weil sich dadurch unsere Lebensqualität sehr verbessert hat. Früher waren wir sehr verletzlich und mussten teilweise als saisonale Tagelöhner zur Ernte auf großen, pestizidintensiven Kaffeeplantagen arbeiten gehen. Dank des Ökolandbaus und des Fairen Handels erzielen wir höhere Preise und können selbst ärmere Dorfmitglieder solidarisch unterstützen und ihnen Anstellung bieten. Der Konsum fair gehandelter Produkte in Deutschland ist aber

leider noch sehr niedrig! Wir hoffen, dass wir hier viele Kontakte knüpfen und Erfahrungen austauschen können, um deutsche Verbraucher zu animieren, mehr faire gehandelte Produkte zu konsumieren.

NORANDINO Peru: Bei NORANDINO haben wir viel gelernt und lernen weiterhin, es ist für uns in erster Linie eine Schule für das Leben. Hier machen wir die Dinge gut, und wir schützen die Umwelt, weil die Erde der einzige Ort ist, auf dem wir leben können.

MUSIKALISCHER DIALOG

Pfeifendes Tongefäß Traditionelles Instrument neu erfunden (Foto: Krzysztof Zielinski)

Ausgangspunkt für eure künstlerische Arbeit ist die Beschäftigung mit indigenen Klangvorstellungen und Musikpraxis. Wie kommt das?
Carlos: Wir wohnen in La Paz, in unserer Geschichte und unserem Leben kommen westliche und indigene Einflüsse zusammen. La Paz ist eine Stadt, deren Dynamik stark von der indigenen Welt beeinflusst ist. Meistens wird das aber vergessen oder geleugnet. Die Leute streben eher danach, das Westliche zu betonen, vor allem hinsichtlich des Weißseins und den damit verbundenen Privilegien.
In unserem Orchester geht es darum, einen Dialog zwischen den beiden Einflüssen zu schaffen und mehr noch, um die Akzeptanz, dass beide Einflüsse in uns zusammenleben, ohne dass der eine den anderen notwendigerweise entkräftet.

Ist indigene Musik Teil der zeitgenössischen Musikkultur Boliviens?
Carlos: Wenn indigene Musikgruppen in die Stadt kommen, hat es eher etwas Anekdotisches. Die Medien und Machtstrukturen haben sich mehr der Idee der Modernität verschrieben und zu Gesellschaften, Musik und Ästhetik der ersten Welt aufzuschauen. Andere Musik hat da keinen Platz.

Hat sich an dieser Akzeptanz in den letzten Jahren nichts verändert?
Tatiana: Es hat eine Öffnung stattgefunden, auch wenn Dinge der indigenen Welt von der Regierung genutzt werden, um Wählerstimmen in den Dörfern zu bekommen. Auf bestimmte Art und Weise wurde das Indigene präsenter. Manchmal ist es sogar eine Art Modeerscheinung, nicht nur in der Musik. Es gibt enorme Einflüsse auch in der Mode, bei den gewebten Stoffen. Und allein, dass ein Indigener an der Macht ist, hat dazu geführt, dass Städter auf einmal über bestimmte Praktiken und Rituale sagen: ‚Hey, das ist cool.’ Ich glaube, diese Präsenz des Indigenen hat sich mit der Regierung von Evo Morales verändert.
Carlos: Mit Evo Morales macht Bolivien einen politischen Prozess durch, in dem die Symbolik und das Narrativ des Indigenen angeeignet und dafür genutzt wird, Menschen für sich zu gewinnen. Man kann nicht abstreiten, dass sich viele Menschen mit dem Präsidenten identifizieren und er immer noch große Unterstützung genießt. Aber ich bin auch sehr kritisch gegenüber dieser Aneignung von Symbolen und Ideologien, in denen diese verfälscht und für politische Ziele genutzt werden. Ausgehend von dieser Entwicklung haben viele Künstler und Autoren begonnen, das Indigene in einer vielleicht kommerzielleren Weise zu nutzen.

Wie geht ihr damit in eurer Arbeit um?
Carlos: Wir sagen nicht, dass wir die andine Welt repräsentieren. Wir sind Städter, Künstler. Wir präsentieren eine Soundinstallation, ausgehend von Prinzipien, die die Art, wie wir Musik verstehen, verändert hat. Das Wissen über indigene Musik hat diese Arbeit beeinflusst. Das ist unser ganz einfaches Angebot. Uns interessiert, dass die Arbeit auch ohne den ganzen Kontext erfahren werden kann. Es ist gut ihn zu kennen, aber die Installation soll genauso gesehen werden, wie die eines deutschen Künstlers zum Beispiel.
Was ist es, das sich an eurem Musikverständnis verändert hat?
Carlos: Ich habe Musik an der Uni studiert. Uns wird europäische Musikgeschichte und Komposition beigebracht, eine westliche Art, Musik zu machen. Mich über das Orchester der indigenen Musik zu nähern, hat mich dazu gebracht, zu verstehen, dass es andere Arten gibt, Musik zu machen, Musik zu hören, Musik zu komponieren und andere Arten der Beziehung zwischen den Musikern.

Welche sind diese „anderen Arten“?
Carlos: Es gibt ganz viele verschiedene Konzepte, zum Beispiel das waqui. Das ist nicht direkt ein musikalisches Konzept, sondern eines der Gemeinschaft. Die Gemeinden in Bolivien sind politisch über Logiken organisiert, in denen die ganze Gemeinschaft etwas zum Funktionieren und Fortbestehen beitragen muss: Du gibst die Erde, ich die Samen und sie die Arbeit. Und das Ergebnis ist ein Gemeinsames. Jeder gibt das, was er kann, und von dem Ergebnis profitieren alle gemeinsam, das ist waqui. Das gleiche Konzept wird in einem musikalischen Ensemble angewendet. Zum Beispiel spielen die Alten andere Instrumente, sie haben mehr Erfahrung, aber vielleicht nicht mehr die Lungenkraft, um die großen Instrumente zu spielen. Die werden von den Jüngeren gespielt, die die Energie haben, aber noch nicht die Technik. Es gibt eine soziale Ordnung in der tropa (musikalisches Ensemble, Anm. d. Red.), die der gleichen Logik folgt. Man spielt nicht die ganze Melodie, sondern nur Teile. Ganz wird sie erst über die einzelnen Fragmente.

Ist das nicht ein etwas ähnliches Konzept wie bei einem Orchester?
Carlos: Ja, aber es gibt einen großen Unterschied. In einer indigenen Kombo wird mit verschiedenen Instrumenten nur ein einziger Klang erzeugt, es gibt keinen Protagonismus. In einem Symphonieorchester gibt es zum Beispiel ein Konzert für Flöte von Mozart. Es gibt vorne einen Virtuosen und hinten ein Orchester, das ihn begleitet. Die Funktion des Orchesters ist es, ihm die Hauptbühne zu geben. Es gibt einen Dirigenten, der der Star ist.
Tatiana: In den indigenen Kombos gibt es einen Guide, der beibringt, der vielleicht mehr Erfahrung hat, der von der Gruppe anerkannt ist. Wir sind alle mit ihm einverstanden, er wird uns nicht aufgezwungen. Wir erkennen seine Erfahrung an, und damit bauen wir zusammen etwas auf.
Carlos: Diese musikalische Führung spielt aber keine größere Rolle, weil er genau wie die anderen spielt, nicht lauter, nicht länger. Er muss das gleiche beitragen, wie die anderen. Das ist so, als hättest du eine Einheit, die sich aus der Summe ergibt, aber eine einzige Stimme. Du hast keine verschiedenen Klänge, alle tragen zu dem einen Klang und ausgehend von diesem Klang bei.

Musikpraxis ist also mit der Ausübung von sozialen Konzepten verbunden.
Carlos: Die Musik ist sehr wichtig für die sozialen Interaktionen. Alle Feste, Rituale und Aktivitäten werden von Musik begleitet. Die Musik wird vom landwirtschaftlichen Kalender bestimmt – es gibt Musik, die in der Regenzeit gespielt wird und Musik für die Trockenzeit. Denn es gibt Klänge, die das Wetter beeinflussen. Es ist verboten, Instrumente der Trockenzeit in der Regenzeit zu spielen.
Der arka ira ist ein Konzept, das im siku (Panflöte) auftaucht. Dort gibt es eine einzige Melodie, die zwischen zwei Personen über verschiedene Töne gewebt wird. Wenn eine einzelne Person die siku spielt, ist das eine moderne, weiße Interpretation. Auf dem Dorf gibt es das nicht als einzelnes Instrument, das alle Töne hat. Das zeigt das Prinzip, dass man mindestens zwei Personen braucht, um die Melodie zu spielen. Und das wird auf die tropa übertragen.

Wie funktioniert das in eurem Orchester?
Carlos: Im Orchester machen wir mit dieser Musik musikalische Früherziehung. Sie hat ein enormes pädagogisches Potenzial. Du sagst dem Kind: ,Wir sprechen miteinander. Fang an zu spielen, ich folge dir und wir weben das Gespräch.’ Es ist wie ein Spiel.
Es ist nicht die Arbeit unseres Orchesters, eine indigene Ideologie vor uns herzutragen, sondern wir wollen Alternativen zum hegemonialen westlichen Modell finden: pädagogische, kreative und soziale.
Tatiana: Es ist sehr wichtig, dass die Kinder die anderen Gesichter der Musik kennenlernen. Wie lernen wir Dinge, die am Anfang vielleicht kompliziert klingen, aber ganz simpel sind und ganz wichtig? Nicht nur für die Musik, sondern auch für das Leben. Ich habe selbst in diesem Programm gelernt und dabei viel mehr als im Blockflötenunterricht in der Schule. Und nicht nur die Logiken, die mit den indigenen Instrumenten vermittelt werden. Das bedeutet auch zu lernen, zuzuhören. Wir machen auch Reisen in indigene Gemeinden. Dabei ist immer eines unserer wichtigsten Ziele, eine gegenwärtige Erinnerung zu erhalten.

Erzählt mal von diesen Reisen!
Carlos: Wir haben zu Musik der Kallawaya geforscht, die wandernde Ärzte sind. Dort haben wir eine besondere Musik gefunden, die tuaillu heißt. Die wurde schon mehr als 40 Jahre nicht mehr gespielt, aus verschiedenen Gründen, zum Beispiel die starke Präsenz evangelikaler Kirchen, die in die Region eingedrungen sind. Die waren sehr bemüht, jegliche bestehende heidnische Praxis zu deaktivieren, zu entwurzeln. Wir haben versucht, diese Musik zu finden. Es gab unter anderem einen französischen Ethnologen, der ein paar Aufnahmen von dieser Musik gemacht hatte. Aber diese Aufnahmen haben wir nicht in Bolivien gefunden, sondern in einem Archiv in Paris. Und wir konnten sie nicht mal bekommen, denn sie waren sehr teuer. Also haben wir Raubkopien gemacht. Wir sind reingegangen und haben sie aufgenommen. Nicht für uns, sondern für den Ort. Diese Aufnahmen müssen an dem Ort sein, wo die Musik gespielt wurde.

Konntet ihr die wiedergefundene Musik an diesem Ort spielen?
Carlos: Ja, die Leute konnten nicht glauben, woher wir diese – ihre – Erinnerungen hatten. Die Alten hatten versucht, sich zu erinnern, aber bis auf drei Melodien hatten sie alles vergessen. Es wurde ein Fest organisiert, einige Ältere haben dann mit uns zusammen Musik gemacht und angefangen, sich zu erinnern. Unglaublich.
Tatiana: Manche haben einfach dabeigesessen, überwältigt vom Hören. Dann haben sie gesagt: ‚Nein, ich glaube, das müsste anders sein.’ Sie haben angefangen, uns zu leiten, uns zu korrigieren. Diese Erfahrung hat auch uns sehr bewegt. Es war eine kleine Gemeinde, in der ein Teil der Erinnerung schon verschwunden ist. Es gibt so viele dieser Gemeinden, die zu vergessen zulassen.
Carlos: Es gibt immer noch sehr viele Transkripte und Aufnahmen, aber die Aufbewahrungsorte und Archive der Musik der ganzen Welt sind in den Museen Europas. Wir wollen versuchen, einen Dialog aufzubauen, um diese alte Musik zu reaktivieren, die aus verschiedenen Gründen verschwunden ist. Natürlich nur, wenn in den Gemeinden der Wille besteht. Vielleicht gibt es den nicht, dann können wir nichts tun.

Wie spiegelt sich nun all dies in eurer Installation wider?
Carlos: Wir haben uns entschieden, mit pfeifenden Tongefäßen zu arbeiten. Die finden sich in verschiedenen prähispanischen Kulturen in Peru, Ecuador, Mexiko und Zentralamerika. Zwei Tongefäße, verbunden mit einem Kanal, ergeben ein System von Pfeifen. Der Mechanismus arbeitet mit Wasser. Durch den Weg, den das Wasser von einem Gefäß zum nächsten nimmt, fangen sie an zu pfeifen. Das erzeugt zwei sehr ähnliche Pfeiffrequenzen, die im Gehör ein drittes, tiefes Geräusch erzeugen, einen Differenzton, der nur im Ohr gebildet wird. Dieses Konzept von zwei so nahen Frequenzen, die einen dritten Ton erzeugen, ist ein sehr charakteristisches Konzept der indigenen Welt, etwa der Aymara. Ihre Musik ist sehr stark mit diesen akustischen Konzepten verbunden. Mit dieser Art von Zusammenstoß von Geräuschen wollten wir arbeiten. Wir haben Gefäße mit bis zu zehn Tönen entwickelt, die einen ganzen Block von Klängen erzeugen, mit doppelten Köpfen und doppelten Pfeifen, die in beide Richtungen klingen. Die haben wir so aufgebaut, wie die choques in Bolivien. Das ist, wenn mehrere Ensembles zusammenkommen und ihre eigene Musik zur gleichen Zeit spielen. Es entsteht eine Musik mit einer unglaublichen Räumlichkeit. Du kannst entscheiden, welchen Klängen du folgen willst, von hier hinten nach vorne, hin und zurück. Das ist Wahnsinn.

Also könnten alle Besucher*innen ihre ganz eigene Erfahrung in der Ausstellung haben?
Carlos: Genau, je nachdem wann du durch die Galerie gehst und wie lange du bleibst. Mit anderen Künstlern aus Deutschland haben wir die Instrumente mit Motoren verbunden, die über verschiedene Reize aktiviert werden. Zu den Pfeifen haben wir noch ein neues Instrument aus Stacheln entwickelt, ein umgedachtes Konzept aus einem Resonanzsystem für Trommeln, das durch Stacheln zusätzlich zum Schlag auf der anderen Seite der Trommel nachhallt.
Tatiana: Wir haben also mit den Gefäßen und der Perkussion eine Tonweise erschaffen, die zugleich Teil zeitgenössischer Musik ist. Die Basis, ein grundlegender Pfeiler unserer Arbeit und des Orchesters, ist indigene Musik, also Konzepte von Räumlichkeit und dieses Ensemble von Klängen, aber wir machen daraus neue, experimentelle Musik.

DAS GALLISCHE DORF VON ALTO BENI

Fotos: Nicole Maron

El Bala – der Ort verdankt seinen Namen der ungewöhnlichen Form des Felsens, der sich über ihn erhebt. Die Legende erzählt, dass das halbkreisförmige Loch auf dem Grat das Einschlagloch einer riesigen Kugel (spanisch bala) sei, die jemand vor Urzeiten hier abgefeuert habe. El Bala befindet sich mitten im bolivianischen Amazonasgebiet, 16 Kilometer von Rurrenabaque in der Region Alto Beni, die nach dem gleichnamigen Fluss benannt ist. Hier plant die bolivianische Regierung verschiedene Staudämme. Das größte Projekt besteht aus zwei miteinander verbundenen Staudämmen in El Chepete und El Bala, wobei letzterem nicht viel öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt wird, der im Vergleich zum Damm in El Chepete viel geringere Auswirkungen hätte. In El Chepete würde ein Gebiet von 680 Quadratkilometern überflutet, in El Bala „nur“ ein Gebiet von 93 Quadratkilometern.

“Viele Dörfer sind noch schlechter informiert, einige haben noch nie vom Staudammprojekt gehört.”

Allein im betroffenen Gebiet von El Bala würden jedoch hunderte von indigenen Familien ihrer Heimat beraubt werden, tausende Menschen wären betroffen. „Auch wenn die Zahlen in Bezug auf die Fläche der gesamten Region gering erscheinen mögen, besonders im Fall von El Bala, hätte der Bau dieses Staudamms einen immensen Einfluss, sowohl auf die Umwelt als auch auf die Menschen, die hier leben“, betont Mario Paniagua. Als Mitarbeiter der bolivianischen NGO „Fundación Tierra“ betreut er seit Jahren Projekte in der Amazonasregion und unterstützt die indigene Bevölkerung in ihren Anliegen. „Die Lebensgrundlage der indigenen Bevölkerung der Tsimanes und Mosetenes, die seit Generationen hier leben, besteht in der Landwirtschaft, dem Jagen und Fischen. Ihre Lebensweise ist vollkommen an die örtlichen Gegebenheiten angepasst. Es wäre für sie äußerst schwierig, ihre Kultur aufrechtzuerhalten, wenn sie an einen Ort umgesiedelt würden, an dem ganz andere Bedingungen herrschen.“ Doch von offizieller Seite ist von Umsiedlung bisher nicht die Rede – eigentlich werden die Dorfbewohner*innen überhaupt nicht informiert. „Sie sagen uns gar nichts,“ sagt Hermindo Vies Gutierrez, der Vorsteher des Dorfes Asunción de Quiquibey, „und die meisten anderen Dörfer sind noch viel schlechter informiert als wir, einige haben überhaupt noch nie vom Staudammprojekt gehört.“

Um zu klären, ob das Gebiet tatsächlich für einen Staudamm geeignet wäre, führt das nationale Elektrizitätsunternehmen (Empresa Nacional de Electricidad Bolivia, ENDE) seit einiger Zeit Studien durch, bei denen auch Messungen in den indigenen Territorien vorgenommen werden. Das Unternehmen befragt – oft ohne genau zu erklären, worum es geht – die Dorfbewohner*innen über ihr Leben und ihre landwirtschaftliche Produktion. „Im Rahmen dieses Projektes ist ENDE verpflichtet, auch die Auswirkungen auf die Umwelt und die sozialen Beziehungen zu untersuchen,“ erklärt Mario Paniagua. „Aber wie mir die indigenen Gemeinschaften erzählen, klärt ENDE nur ab, wie viele Menschen im betreffenden Dorf leben und was sie anbauen. Doch dies sind sehr oberflächliche, allgemeine Fragen, auf Grund derer sich die Situation nicht ernsthaft analysieren lässt.“

Die Befragungen sind auch für die Dorfbewohner*innen von Asunción de Quiquibey ein Grund zur Besorgnis. „Wenn sie uns fragen, wie viel Land wir haben und sich unsere Dörfer ansehen, befürchten wir, dass sie zu dem Schluss kommen, dass dies alles hier nicht viel Wert hat und wir einfach umzusiedeln wären,“ sagt Hermindo Vies Gutierrez. „Denn wir besitzen nicht viel und bauen nur Lebensmittel für die Selbstversorgung an. Unsere Häuser sind aus einfachen Materialien gebaut, die uns die Natur schenkt, mit Dächern aus Blättern. Überhaupt leben wir vom Wald: Er gibt uns Essen, Medizin, Fleisch und alles andere. So sind wir es gewohnt, und so haben es auch schon unsere Großeltern gemacht.“ Der Bezug auf die früheren Generationen ist von großer Bedeutung für die Identität der Indigenen: „Dieses Gebiet war schon immer das Zuhause der Mosetenes von Alto Beni bis Rurrenabaque. Wir können nicht einfach umziehen – außerdem gibt es gar keinen Hügel in der Nähe, der hoch genug wäre, um von der Überflutung verschont zu bleiben.“

Doch die Staudämme hätten nicht nur Auswirkungen auf die überfluteten Dörfer, sondern auch auf die Gemeinden weiter flussabwärts. „Viele Menschen in Rurrenabaque und den umliegenden Orten leben von der Fischerei,“ erklärt Mario Paniagua. „Doch mit den Staudämmen würde die Wanderung der Fische unterbrochen, und die Leute müssten neue Möglichkeiten finden, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Leider ist es sehr wahrscheinlich, dass dies wiederum negative Auswirkungen auf indigene Territorien in der ganzen Region hätte: Erfahrungsgemäß werden weitere Waldflächen abgeholzt, um Landwirtschaft betreiben zu können, wenn der Fischfang als Einnahmequelle wegfällt.“

Die Energie, die durch die Staudämme gewonnen würde, käme nicht der Region selbst zu Gute.


Hinzu kommt, dass die Energie, die durch die Staudämme gewonnen werden würde, nicht der Region selbst zu Gute käme, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach für den Export bestimmt wäre. Dies gibt ENDE zwar nicht öffentlich zu, aber laut Mario Paniagua ist es die einzig logische Schlussfolgerung: „Die Energie, die Bolivien zurzeit produziert, ist ausreichend für den inländischen Bedarf. Es macht einfach keinen Sinn, was die Regierung behauptet: dass die Nutznießer dieser Projekte die kleinen Dörfchen der Region wären. Ganz im Gegenteil ist davon auszugehen, dass ein Export nach Brasilien vorgesehen ist – was die indigenen Territorien übrigens noch zusätzlich belasten würde, da der Strom ja genau durch diese Region hindurch transportiert werden müsste.“

Kleine Gemeinschaften wie Asunción haben wenig Chancen gegen ein nationales Unternehmen wie ENDE. Eigentlich müsste sich die regionale Organisation der indigenen Gemeinden, der „Consejo Regional Tsiman Moseten“ (CRTM), zu der 23 Dörfer gehören, gemeinsam gegen die Staudammprojekte stark machen. Doch ENDE hat es geschafft, den CRTM davon zu überzeugen, einen Vertrag zu unterschreiben, der die Durchführung der Studien in seinem Territorium erlaubt. „Damit haben wir aber auf keinen Fall dem Bau der Staudämme zugestimmt“, betont der Vizepräsident des CRTM, Ramon Cubo. „Und dies wird auch nicht geschehen, da bin ich mir sicher. Die Entscheidung liegt bei der Versammlung aller Gemeinden, aber sie werden niemals dafür stimmen, dass ihre Dörfer zerstört werden und sie ihre Lebensgrundlage verlieren.“ Allerdings ist beim CRTM eine gewisse Unsicherheit spürbar, was die Konsequenzen der Studien betrifft. „Es gibt immer mehr Leute, die sagen, dass wir uns mit der Einwilligung in die Studien auch mit dem Bau der Dämme bereits so gut wie einverstanden erklärt haben. Aber dem ist nicht so. Der Vertrag, den wir unterschrieben haben, behandelt ausschließlich die Studien. Gegen den Bau der Staudämme aber werden wir mit allen Kräften kämpfen.“ Doch folgt man Mario Paniagua, dann darf daran gezweifelt werden, dass die indigenen Gemeinden die Staudämme noch verhindern könnten, falls sich ENDE definitiv für den Bau entscheidet.

Unsichere Zukunft Die Kinder aus dem „gallischen Dorf“ Asunción de Quiquibey

Angesichts dessen stellt sich natürlich die Frage, warum der CRTM und die Mehrheit der Flussgemeinden diesen Vertrag überhaupt unterschrieben haben. ENDE hat in diesem Zusammenhang auf eine bewährte Strategie zurückgegriffen und den Dörfern im Gegenzug in Aussicht gestellt, sie zu unterstützen. „Fast alle Dorfgemeinschaften in Bolivien – indigen oder nicht – haben bestimmte Probleme und bräuchten staatliche Unterstützung,“ erklärt Mario Paniagua. „Meist handelt es sich um den Zugang zu Bildung oder medizinischer Versorgung. Es kommt mir allerdings sehr unglaubwürdig vor, dass ein Unternehmen wie ENDE Unterstützung in diesen Bereichen verspricht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie diese Unterstützung aussehen soll, denn dies wäre Aufgabe der Gemeinde- oder Departements-Regierungen. Wie da ein Elektrizitätskonzern helfen soll, ist mir schleierhaft.“

Die einzige Dorfgemeinschaft, die den Vertrag nicht unterschrieben hat, ist Asunción de Quiquibey – das gallische Dorf von Alto Beni. „Bis sie uns nicht ganz genau erklärt haben, was sie vorhaben, und uns umfassend informieren, werden wir nicht unterschreiben“, versichert Hermindo Vies Gutierrez. Damit macht sich Asunción allerdings nicht nur bei ENDE unbeliebt, sondern auch beim CRTM, der darauf wartet, dass ENDE seine Versprechen erfüllt. „Bisher ist dies nicht passiert“, gibt Ramon Cubo zu, doch er ist überzeugt, dass in nächster Zeit damit zu rechnen ist: „Wegen der Richterwahlen im Dezember hat ENDE die Termine verschoben, aber wir stehen mit den Verantwortlichen in Kontakt und sie haben uns zugesagt, dass im Februar alles in die Wege geleitet wird.“ Bleibt zu hoffen, dass er Recht behält und ENDE nicht einfach eine Verzögerungstaktik verfolgt. Denn inwiefern die Richterwahlen ENDE davon abgehalten haben sollen, seinen Teil der Abmachung einzuhalten, leuchtet eigentlich niemandem ein.

AUF DER SUCHE NACH PAITITI

„Paititi wartet seit Jahrhunderten auf uns, und wir werden hinkommen, koste es, was es wolle.“ Der Patriarch Hans Ertl, einst Kameramann von Leni Riefenstahl und Erwin Rommel, nach dem Krieg mit seiner Familie nach Bolivien ausgewandert, ist besessen von der Idee, die seit der Conquista verlorene Inkastadt Paititi zu finden. Eine von vielen Expeditionen, im Zuge derer Hans üblicherweise monatelang verschwindet, während seine Frau und seine drei Töchter in La Paz auf ihn warten. Doch für Paititi macht er eine Ausnahme: Die beiden älteren Töchter, Monika und Heidi, sollen ihn begleiten, Kameratechniken erlernen, den Dschungel durchstreifen und überhaupt: Hans ist es wichtig, dass seine Töchter nicht wie ihre Mutter enden und ihr Leben lang auf einen Mann warten, sie sollen selber Abenteuer erleben. Die stoische Besessenheit und inneren Widersprüche des Vaters führen sein Team auf eine absurde, langwierige und gefährliche Expedition, die in einem hochexplosiven Finale endet.

Die Affekte ist der zweite Roman des bolivianischen Nachwuchsautors Rodrigo Hasbún. Er enthält dabei viel mehr als nur die tatsächlich stattfindende Suche nach Paititi. Der Mythos um die verschwundene Stadt symbolisiert eine nicht enden wollende Suche nach sozialer Gerechtigkeit und nach Rache, nach Einsamkeit und gleichzeitig nach familiärem Zusammenhalt. Nicht nur werden neben den fünfziger Jahren auch die sechziger und siebziger Jahre, sowohl in Bolivien als auch in München anekdotenhaft umrissen. Der Fokus liegt insbesondere auf dem Innenleben der verschiedenen Protagonist*innen des Romans wie der ältesten Tochter Monika, die ihrem Vater charakterlich sehr ähnlich und deren politische Radikalisierung der im wahrsten Sinne des Wortes rote Faden ist, der am Ende in einer erzählerisch spektakulären Aktion reißt.

Hasbún behandelt in Die Affekte allerdings nicht nur das Leben der beiden realhistorisch berühmten Ertls Hans und Monika. Sowohl die Perspektiven der beiden jüngeren Töchter, als auch des Guerrilleros Inti und Reinhards, eines ehemaligen Geliebten Monikas, spielen eine gleichberechtigte Rolle. Der Autor setzt für die verschiedenen Erzählperspektiven unterschiedliche sprachliche Techniken ein. So ist beispielsweise Reinhards Grabrede auf Monikas und seine Beziehung eine durch doppelte Schrägstriche verbundene Aufzählung scheinbar zusammenhangsloser Tatsachen, während Heidi, die mittlere Tochter, in ihrer Erzählung so stringent bleibt wie in ihrem Handeln. Der Tonfall bleibt jedoch immer lakonisch und gleichzeitig mitfühlend gegenüber den Figuren des Romans. Insbesondere Trixi, die jüngste Schwester, ist nach dem frühen Tod der Mutter verzweifelt darum bemüht, die Entfremdung der Familienmitglieder untereinander zu verhindern. Ihr eigenes trostloses Dasein in La Paz, geprägt von einer pathologischen Nikotinsucht, absoluter Einsamkeit und Ausgrenzung – ihre große Schwester sei schließlich eine Terroristin – präsentiert sie dabei ohne Scham und ohne Reue, lediglich nostalgisch. „Es stimmt nicht, dass die Erinnerung ein sicherer Ort ist“, so Trixi, „auch dort entfernen wir uns am Ende von den Menschen, die wir am meisten lieben.“

Hasbún hat sich einer wahren Geschichte bedient, diese meisterhaft fiktionalisiert und einen höchst persönlichen und intimen Abriss über das Schicksal einer vollständig auseinandergerissenen Familie erschaffen. Noch über die letzte Seite hinaus machen sich die Gedanken- und Aschefetzen der Roman-Ertls und dessen, was vielleicht einst Paititi war, selbstständig und schwirren in der Meditation über dem Buchrücken weiter umher.

 

ABTREIBUNG ALS PRIVILEG FÜR REICHE

Guadalupe Pérez (Mitte) setzt sich mit der Kampagne 28 September für die Entkriminalisierung der Abtreibung ein. Foto: Colectivo Rebeldía

Ende September hat das Abgeordnetenhaus Boliviens einer Gesetzesänderung zugestimmt, die Abtreibungen in acht Fällen legalisieren soll. Doch selbst wenn der Entwurf auch vom Senat angenommen wird, gelten selbstgewählte Schwangerschaftsabbrüche weiterhin als Straftatbestand. Die LN sprachen mit der Aktivistin Guadalupe Pérez über die Risiken von illegalen Schwangerschaftsabbrüchen und die Grenzen des neuen Gesetzesentwurfs. Die aus Kuba stammende Psychologin lebt seit über 30 Jahren in Bolivien und arbeitet für die NGO Colectivo Rebeldía. Seit Jahrzehnten setzt sie sich für Frauenrechte und die Entkriminalisierung von Abtreibungen ein.

Wie sieht die derzeitige Rechtslage zu Abtreibungen in Bolivien aus?
Abtreibungen sind in Bolivien – genauso wie in den meisten lateinamerikanischen Ländern – bis heute eine Straftat. Wenn die Schwangerschaft ein Risiko für die Gesundheit oder das Leben der Mutter darstellt oder sie aufgrund von Inzest oder einer Vergewaltigung schwanger wird, hat sie das Recht abzutreiben. Der letzte Fall gilt allerdings nur, wenn sie eine Anzeige gegen den Vergewaltiger vorweisen kann. Das Problem ist, dass Vergewaltigungen oft innerhalb der Familie oder des Bekanntenkreises stattfinden. Die Opfer werden unter Druck gesetzt, keine Anzeige zu erstatten.
Bis 2014 musste für eine legale Abtreibung nach einer Vergewaltigung sogar ein richterliches Urteil vorliegen. Doch nur in sehr seltenen Fällen gab ein Richter seine Einwilligung – ganze fünf Mal in 40 Jahren. Mit der Begründung, dass Abtreibungen ihrem Glauben widersprechen, konnten Richter ihre Einwilligung verweigern. Seit 2014 wurden landesweit 154 legale Abtreibungen durchgeführt, die Zahl der illegalen Abtreibungen liegt hingegen bei 185 – pro Tag!

Unter welchen Bedingungen finden die illegalen Abtreibungen statt?
Diesbezüglich herrscht in Bolivien eine Doppelmoral. Wer es sich leisten kann, kann gefahrlos abtreiben. Es ist kein Problem, einen guten Arzt oder eine Klinik zu finden, der die Abtreibung zwar heimlich, doch unter Einhaltung aller medizinischen Standards durchführt. Aber die meisten Frauen verfügen nicht über diese finanziellen Mittel und sind sogenannten „unsicheren Abtreibungen“ ausgeliefert. Diese werden unter riskanten Bedingungen durchgeführt: heimlich, ohne die Einhaltung von medizinischen und hygienischen Standards sowie oft durch inkompetente Personen. Aufgrund der Gesetzeslage, die Abtreibungen als Straftat einstuft, haben die Frauen keinerlei Handhabe, wenn zum Beispiel Komplikationen nach einer unsicheren Abtreibung auftreten. Aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen trauen sich die meisten nicht oder erst viel zu spät, zum Arzt zu gehen. Damit setzen die Frauen ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel.

Kommt es häufig zu Komplikationen?
Bolivien hat die höchste Müttersterblichkeitsrate der Region, sie liegt bei 235 Todesfällen pro 100.000 Lebendgeburten. Durchschnittlich 9,1 Prozent dieser Todesfälle sind auf unsichere Abtreibungen zurückzuführen. In manchen Regionen ist dieser Prozentsatz jedoch viel höher. Im Departemento Beni zum Beispiel liegt er bei 38 Prozent.

Sie sind seit der Gründung im Jahr 1996 in der Kampagne 28. September aktiv, die sich für die Liberalisierung von Abtreibungen einsetzt. Was fordern Sie?
Die Kriminalisierung von Abtreibungen mit all ihren Konsequenzen ist ein Angriff auf die Freiheit und die Autonomie der Frau. Deshalb fordern wir, dass Abtreibungen nicht länger als Straftat gelten und die entsprechenden gesetzlichen Regelungen nicht im Strafgesetzbuch, sondern zum Beispiel im Gesundheitsgesetz verankert werden. Wir haben einen Gesetzesentwurf ausgearbeitet und ihn 2013 und 2015 im Parlament vorgestellt – jedoch ohne Erfolg. Darin forderten wir unter anderem, dass alle Frauen in Bolivien ohne Einschränkung und kostenlos abtreiben können. Eine weitere Forderung war, dass Abtreibungen immer von medizinischem Fachpersonal in einer Klinik unter hygienischen Bedingungen durchgeführt werden müssen.

Damit ging dieser Gesetzesentwurf viel weiter als derjenige, der zurzeit im Parlament verhandelt wird.
Ja, der Gesetzesentwurf, der aktuell debattiert wird, soll zwar den Kriterienkatalog für legale Abtreibung erweitern – aber Abtreibungen insgesamt werden nicht entkriminalisiert. Der zurzeit diskutierte Entwurf stellt einen Fortschritt dar, der uns aber nicht weit genug geht. Positiv ist zum Beispiel, dass Abtreibungen legalisiert werden sollen, wenn die Mutter minderjährig ist oder noch studiert. Allerdings gilt in allen Fällen die Frist der ersten acht Schwangerschaftswochen, die wir für viel zu kurz halten. Frauen mit unregelmäßiger Menstruation, wie sie ja gerade bei Jugendlichen nicht unüblich ist, wissen vielleicht in der achten Woche noch nicht einmal, dass sie schwanger sind. Außerdem ist die Entscheidung abzutreiben, ja meist ein schwieriger und schmerzhafter Prozess und wird nicht von heute auf morgen getroffen.

Wie gut sind die Aussichten, dass die Gesetzesänderung angenommen wird?
Das Abgeordnetenhaus hat bereits zugestimmt, nun steht noch die Entscheidung des Senats aus. Diese dürfte im November dieses Jahres zu erwarten sein. Doch selbst bei einer Annahme bleibt die Frage offen, inwiefern sich die Situation für die Frauen tatsächlich ändert. Wir haben viele interessante Gesetze in Bolivien – ob sie jedoch umgesetzt werden, ist eine andere Frage. Viele Menschen kennen ihre Rechte nicht oder können sie unter anderem aus finanziellen Gründen nicht einfordern. Wie soll es sich zum Beispiel eine Frau aus einer abgelegenen ländlichen Gemeinde leisten können, in eine Klinik in der Stadt zu fahren?

Während dieser Debatte haben sich nicht nur die Befürworter*innen, sondern auch Gegner*innen viel öffentliche Aufmerksamkeit verschafft. Wer steckt dahinter und was sind ihre Argumente?
Es sind vor allem konservative Kreise sowie die Kirchen, die gegen die Entkriminalisierung von Abtreibungen sind. Sie stellen den Sachverhalt gerne so dar, als würde man Frauen damit zwingen, abzutreiben. Doch diese Diskussion ist absurd. Denn was wir wollen, ist ja genau das Gegenteil: Dass jede Frau das Recht hat, selbst über ihren Körper und ihr Leben zu entscheiden.

Wie begegnen Sie dieser Kritik?
Wir wollen niemanden überzeugen. Wenn jemand glaubt, dass eine Abtreibung Sünde ist, respektieren wir das. Was wir dagegen nicht respektieren ist, dass Abtreibung eine Straftat sein soll. In einem säkularen Staat wie Bolivien dürfen sich religiöse Moralvorstellungen nicht in Gesetzen niederschlagen.

Die Kampagne 28. September setzt sich nicht nur für die Änderung der gesetzlichen Bestimmungen ein, sondern leistet auch Sensibilisierungsarbeit in der Bevölkerung.
Dies ist zentral, da die Diskussion rund um das Thema Abtreibung nach wie vor sehr heikel und in vielen Kontexten ein Tabuthema ist. Wir versuchen, das Bewusstsein zu stärken und die Debatte anzuregen – es ist nämlich eine Diskussion, die nicht nur im Parlament geführt werden sollte. So veranstalten wir regelmäßig Seminare, Workshops und Diskussionsrunden, versuchen das Thema in die Medien zu bringen und gehen natürlich auch auf die Straße, um Aufmerksamkeit zu erregen. Zentral ist außerdem die politische Lobbyarbeit. Wir haben es geschafft, einige Politikerinnen und Politiker zu gewinnen, die sich mit unserem Anliegen solidarisiert haben und sich im Parlament dafür einsetzen.

Stichwort Politikerinnen und Politiker – wie wichtig ist es, auch Männer in die Kampagne einzubinden?
Essenziell! Schließlich wird keine Frau von alleine schwanger. Männer sind weitestgehend abwesend in dieser Debatte. Leider kommt es häufig vor, dass Männer Frauen mit der Entscheidung und den Konsequenzen vollkommen allein lassen. Es gibt Frauen, die abtreiben, weil sie nicht wissen, wie sie es schaffen sollen, ihr Kind alleine aufzuziehen. Sie dachten eigentlich, dass sie einen Partner haben. In dem Moment, in dem sie schwanger wurden, stellten sich ihre Partner aber als Mistkerle heraus, die abhauen, statt Verantwortung zu übernehmen.

Hat oder hatte Ihr Engagement für dieses heikle Thema Auswirkungen persönlicher Art?
Natürlich! Mir wurde meine Dozentenstelle an der katholischen Universität gekündigt, weil ich mich öffentlich zu Abtreibungen äußerte. Und zwar nicht in der Universität selbst, sondern in einer Pressekonferenz, an der ich als Vertreterin der Kampagne teilnahm. Und ich bin nicht die Einzige, die ihre Arbeitsstelle verloren hat oder der dies angedroht wurde. Da die meisten auf ihren Job angewiesen sind, ist dies natürlich eine sehr effektive Art, Menschen zum Schweigen zu bringen. Doch auch das soziale Umfeld spielt eine große Rolle: Viele unserer Mistreiterinnen werden in sozialen Netzwerken sowie in der Nachbarschaft oder in Vereinen geschnitten. Man verbietet ihnen das Wort und spricht nicht mehr mit ihnen. Es besteht ein großer sozialer Druck auf Frauen, die sich zu diesem Thema äußern.

“DIE REICHEN MUSSTEN ZUR ZISTERNE”

Im Nordwesten Boliviens plant die Regierung die großen Wasserkraftwerke El Bala und Chepete. Indigene Gemeinden kündigten eine Klage gegen den geplanten Stausee El Bala an. Sie arbeiten im städtischen Raum – welche Rolle nimmt das Thema Energie in der Stadt ein?

Mario Rodríguez: Es spielt eine Rolle, aber in Bolivien ist Energie noch kein Thema, das stark diskutiert wird. Die Regierung hat einen Nationalen Plan zur Entwicklung für das Vivir Bien (Gutes Leben) – der Name ist ein Widerspruch, aber so heißt der Plan. Ein zentrales Element ist das Ziel, Bolivien in ein Zentrum der Energieproduktion in Südamerika zu verwandeln, das Energie exportieren kann. Der Energieexport hängt stark mit der steigenden Nachfrage der Agrarindustrie, insbesondere in Brasilien, zusammen. Die größten Staatseinnahmen stammten in den vergangenen Jahren aus dem Gasexport, wobei Brasilien der größte Käufer ist. Brasilien kündigte an, die Importe aus Bolivien zu reduzieren, während Argentinien Anfang Februar Interesse an höheren Gasimporten verkündete. Zuletzt sind die Preise für Erdöl und Mineralien gesunken, was die Staatseinnahmen senkt. Dennoch kreist der Regierungsdiskurs weiter um die Idee, dass der Energieexport sich in eine noch bedeutendere Haupteinnahmequelle des Staates verwandelt. Dafür gibt es die Strategie, Energie im großen Maßstab zu produzieren. Diese Strategie beinhaltet unter anderem erneuerbare Energien aus Sonne und Wind, führt aber auch zwei zentrale Themen ein: den Bau von großen Wasserkraftwerken im Amazonas und zwei Zentren für Kernenergie.

In der Stadt El Alto soll nun ein Forschungszentrum für Kernenergie gebaut werden. Welche Reaktionen gab es auf das Vorhaben?

Die öffentliche Meinung reagierte sofort: Wie kann Bolivien in die Atomenergie eintreten, in einer Welt, die aus der Produktion aussteigt? Die Regierung startete in den vergangenen drei Jahren eine erste Phase und brachte ein Forschungszentrum für Kernenergie auf den Weg. Das Forschungszentrum sollte zunächst in Achocalla, das heißt neben La Paz und El Alto, gebaut werden. Dies ist eine Region, in der Nahrungsmittel produziert werden, insbesondere Gemüse. Die dortige Bevölkerung ist gemischt: Traditionell ist es eine bäuerliche Region, in der es gutes Wasser für die Landwirtschaft gibt. Hinzugekommen ist die Mittelklasse aus La Paz, die aus dem städtischen Raum zieht, um in einem schöneren, wärmeren Tal zu leben. Außerdem ziehen dort viele Ausländer*innen hin, Europäer*innen, die in Nichtregierungsorganisationen, der internationalen Zusammenarbeit usw. arbeiten. Diese bringen einen ökologischen Diskurs mit und Achocalla definiert sich inzwischen in einem Statut als ökologisches, produktives und touristisches Munizip. Gegen das Forschungszentrum für Kernenergie gab es in Achocalla Widerstand und das Munizip lehnte das Forschungszentrum ab. Die Regierung verlegte es also nach El Alto.

Können Sie erklären, wozu in dem Zentrum geforscht werden soll?

Das Forschungszentrum für Kernenergie arbeitet zu drei Themen: Erstens, im Bereich Gesundheit. Es gibt die Kritik, dass es günstiger wäre die Forschung zur Krebsfrüherkennung an ein Krankenhaus anzugliedern. Zweitens, Forschung um Exportobst und -gemüse keimfrei zu machen. Kritiker*innen zweifeln an, ob eine solche Nutzung notwendig ist. Falls sie für exportbestimmte Lebensmittel akzeptiert würde, sollte das ohnehin in der Grenzregion angesiedelt sein und nicht in El Alto. Das dritte Thema ist das Wichtigste: Es gibt einen kleinen Forschungsreaktor, der keine Energie produzieren wird, sondern nur der Forschung dient. Die Mehrheit der Menschen stellt sich jedoch die Frage: Wozu wollen wir zu Kernenergie forschen, wenn wir keine Kernenergie produzieren werden? Das macht keinen Sinn, deshalb wird davon ausgegangen, dass der Forschungsreaktor der erste Schritt in Richtung Atomkraftwerke ist. Mit dem Bau des Forschungszentrums soll dieses Jahr begonnen werden. Gibt es Widerstand? In der Stadt El Alto gab es keinen großen Widerstand. Im Kulturzentrum Wayna Tambo organisierten wir eine Reihe von Veranstaltungen, da wir gegen die Idee sind, in Bolivien Atomenergie zu produzieren.

In der einen Region gibt es also Menschen, die sich als ökologisch bezeichnen und über die Macht verfügen, das Projekt zurückzuweisen. Daraufhin wird das Projekt nach El Alto verlegt, eine Stadt die lange als Randgebiet der Hauptstadt La Paz angesehen wurde. Was glauben Sie, warum es in El Alto keinen Widerstand gab?

Zunächst ist Kernenergie für die Mehrheit der Bolivianer*innen immer noch kein Thema. Es ist weit weg vom Alltag, insbesondere für die ärmeren Sektoren. Die Zone, in der das Zentrum gebaut wird, ist ökonomisch betrachtet eine ziemlich arme Zone von El Alto. Viele Bewohner* innen betrachten das Zentrum mit der Hoffnung, dass es neue Möglichkeiten eröffnet, Einkommen zu generieren. Außerdem besteht bei vielen Menschen zu dem Thema ein großes Informationsdefizit, etwa über mögliche Risiken. Deshalb produzierten wir mit Wayna Tambo Radio- und Fernsehprogramme, um mehr Wissen darüber zu verbreiten, was es bedeutet in eine nukleare Phase einzutreten.

Gibt es gemeinsame Kämpfe zwischen Gruppen, die sich wie bei El Bala gegen Stauseen im Amazonas wehren, und Gruppen, die in der Stadt zum Thema Energie arbeiten?

Als die Regierung von Evo Morales die Pläne für die Wasserkraftwerke El Bala und Chapete wieder aufnahm (der Plan wurde bereits von mehreren Regierungen geprüft und fallen gelassen, d. Red.), reagierte der urbane Raum, zumindesten in den Medien, zuerst. Es handelt sich um kleine Organisationen in der Stadt, die vor allem von einer Mittelklasse mit ökologischem Diskurs getragen werden. Die indigenen Völker aus den betroffenen Territorien reagierten mit einer Diskussion über die Notwendigkeit der Befragung (consulta). Dies wird in den medialen Kampagnen in der Stadt aufgegriffen. Im Fall von El Bala und Chapete wird vermutet, dass die beauftragte Machbarkeitsstudie negativ ausfällt. Die Ergebnisse liegen jedoch noch nicht vor. Aufgrund der Transportwege ist offensichtlich, dass die dort produzierte Energie nicht für die Versorgung bolivianischer Städte gedacht ist. Bei den Wasserkraftwerken wird an die Nachfrage von (agro-)industriellen Zonen in Brasilien gedacht.

Zu Beginn erwähnten Sie die erneuerbaren Energien. Welche Bedeutung haben diese?

Seit den 1970ern gibt es Studien, die zeigen, dass eine Strategie mit kleinen Wasserkraftwerken, keine großen wie El Bala, reichen würde, um die Nachfrage nach Energie in Bolivien zu decken. Außerdem verfügt Bolivien über zwei sehr wichtige Elemente: Das Altiplano und der Salar de Uyuni sind zwei Regionen mit einer hohen Sonnenkonzentration. Das würde eine große Produktion von Solarenergie ermöglichen. Außerdem gibt es im Altiplano Zonen mit viel Wind, wo wir Windenergie erzeugen könnten. Die zurzeit verfolgte Strategie ist für die interne Versorgung also nicht notwendig.

Mit der Stromversorgung gibt es in den Städten offenbar kein Problem. Momentan gibt es in den Städten jedoch Wasserknappheit. Liegt das Problem beim Wassermanagement oder bei der ungewöhnlichen Dürre?

Das Ganze ist viel komplexer. Beim Thema Wasser gibt es drei Probleme: Zum einen die Auswirkungen des Klimawandels. Wir haben immer kürzere, aber stärkere Perioden der Regenzeit. Das heißt, es regnet sehr viel, aber in kurzer Zeit. Für die Wasserversorgung in den Städten hat dies negative Folgen. Es gibt Städte wie Cochabamba und Tarija, die historisch an Wasserknappheit leiden. La Paz leidet wegen der geografischen Lage hingegen eigentlich nicht darunter. Außerdem wirkt sich der globale Klimawandel sehr negativ auf die bolivianischen Gletscher aus. Zweitens verlieren Flüsse durch Übernutzung an Wassermenge. Das Problem ist, dass es keine Politik gibt, die die integrale Nutzung von Flüssen garantiert. Drittens gibt es ein Problem mit dem Wassermanagement. Die Frage des Umgangs mit der Wasserknappheit wird in den nächsten Jahren an Schärfe zunehmen. Es wird zu einem Thema der öffentlichen Agenda werden. Die Menschen diskutieren über Wasser, weil es sie in ihrem Alltag direkt betrifft.

Wie betrifft es die Menschen im Alltag?

In La Paz gibt es Viertel, die nur in bestimmten Stunden mit Wasser versorgt werden und nicht den ganzen Tag. Jetzt haben wir Februar und im März endet die Regenzeit.Trotzdem haben wir es nicht geschafft, eine normale Wasserversorgung zu erreichen. Die Menschen fragen sich, was erst in der Trockenzeit im Juni passieren wird. Dieses Problem hat zu ernsthaften Debatten über die Beziehung zwischen der urbanen und ruralen Welt geführt. Um die Wasserknappheit in La Paz zu mildern, wird Wasser aus einem Stauwerk in La Paz genutzt, aus dem historisch ein nahegelegenes Tal für die Gemüseproduktion versorgt wird. Die Bauern und Bäuerinnen beschweren sich, dass sie ihre Produktion verlieren werden wegen des Verbrauchs in der Stadt. Zum ersten Mal wird die Rolle der Stadt beim Wasserverbrauch diskutiert. Dadurch entwickelt sich auch eine Kritik an der imperialen Lebensweise.

Was meinen Sie damit?

Die mit dem Lebensstil verknüpfte, verschwenderische Wassernutzung in der Stadt wird in Frage gestellt. Es wird debattiert, ob im öffentlichen Raum wirklich wasserintensive Zierblumen gepflanzt werden sollen statt der lokalen, ans Klima angepassten Pflanzen. Oder die Wassernutzung zur Autowäsche, was mit unserem Lebensstil zusammenhängt. So wurde auch die Debatte angestoßen, ob das Wasser in besagtem Stauwerk tatsächlich für die Stadt genutzt werden soll oder lieber für die Produktion von gesundem lokalem Gemüse.

Ist Ihre Organisation Red de la Diversidad auch in dem Bereich aktiv?

Ja, für uns sind das zentrale Themen. Wir arbeiten für die Reziprozität zwischen dem ländlichen und städtischen Raum mit dem Horizont des Vivir Bien. Gerade in Bezug auf Wasser haben wir es geschafft, mit verschiedenen Organisationen Diskussionen anzustoßen. Wir haben Wissen über Wassersysteme verbreitet und zu der Frage gearbeitet, wie die Städte in Wassersysteme integriert sind. Die Stadt El Alto verschmutzt den Titicacasee beispielsweise enorm. Wir stoßen eine Diskussion darüber an, wie Wasser in die Stadt gelangt, und wie die Stadt dieses verschmutzt wieder ans Land zurückgibt. Deshalb diskutieren wir unseren Wasserverbrauch in der Stadt. Wir arbeiten seit etwa zehn Jahren dazu und seit etwa vier Jahren verzeichnen wir in kleinen Sektoren Erfolge. Durch die Wasserknappheit wurde eine Diskussion angeregt und das Interesse an dem Thema ist gewachsen.

Das Bewusstsein um das Wasserproblem wächst. Kann das mit einer Kritik an Staudämmen verknüpft werden?

Ja! Mehr noch als zur Energie ist das Bewusstsein für unsere natürlichen Ressourcen gewachsen. Wasser brauchen wir im Alltag immer und durch die Wasserknappheit der vergangenen Monate ist den Menschen ihre Verletzlichkeit bewusst geworden. Wer leidet unter der Wasserknappheit? Nicht alle Viertel in La Paz und El Alto litten unter Wasserknappheit, nur einige Stadtteile. Es gab deshalb so eine große Medienaufmerksamkeit, weil die Viertel, in denen die Reichen wohnen, von der Wasserknappheit betroffen waren. Viele ärmere Viertel hatten hingegen kein Problem. Dadurch, dass es privilegierte Personen betraf, ist die mediale Aufmerksamkeit gestiegen. Es waren die Reichen, die zu einer Zisterne mussten – etwas, was sie in ihrem Leben noch nie erfahren haben. Das hatte einen starken Effekt auf die Gesellschaft. Es wurde eine Debatte über unsere natürlichen Reichtümer und Gemeingüter angestoßen. Die Themen Wasser, Energie und Staudämme werden diskutiert. Die Menschen in der Stadt sind in ihrem Alltag von Projekten wie Mega-Wasserkraftwerken nicht betroffen. Sie wissen nichts über die betroffenen Regionen und die Menschen. Die Erfahrung mit dem Wasser schafft ein Bewusstsein, dass diese Themen das Leben der Menschen stark beeinflussen. In diesem Moment entsteht die Möglichkeit, wieder über diese Wasserkraftwerke zu sprechen. Das Thema ist nicht mehr weit weg.

“SCHANDE FÜR DIE ARGENTINISCHE JUSTIZ”

Milagro Sala hat das Sagen / Foto: Tupac Amaru

Sie war die erste politische Gefangene der neuen argentinischen Regierung. Milagro Sala, soziale Basis-Aktivistin und eine der einflussreichsten Frauen Argentiniens, wurde im Januar 2016 mit dubioser Begründung festgenommen und saß seither ohne Gerichtsurteil in illegaler Präventionshaft. Am 29. Dezember 2016 schließlich verurteilte sie das Landesgericht der Jujuy wegen „Anstiftung zum Protest“ aufgrund eines Vorfalls aus dem Jahr 2009 zu drei Jahren Haft auf Bewährung. Am darauffolgenden Tag wurde sie in einem parallelen Verfahren wegen einer Ordnungswidrigkeit mit einer Geldstrafe sowie einem quasi Berufsverbot belegt, das ihr für drei Jahre und drei Monate die Mitgliedschaft in einer sozialen Organisation untersagt. Beide Urteile haben nicht nur aufgrund zahlreicher Verfahrensfehler, fehlender Beweise oder mangelnder Glaubwürdigkeit des einzigen Zeugen Empörung ausgelöst. Neben dem hohen Strafmaß verstößt das verhängte Verbot, sich in sozialen und kulturellen Vereinen und Organisationen zu beteiligen, gegen das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Protest und öffentliche Meinungsäußerung. Beide Gerichtsprozesse verkommen so zu einer Farce, mit der der amtierende Gouverneur der Provinz Jujuy, Gerardo Morales, versucht, seine größte Widersacherin für den Rest seiner Amtszeit außer Gefecht zu setzen.

Die Dämonisierung der sozialen Figur Milagro Sala und die „fast pathologische Art“, wie sich Gouverneur Morales in den Fall hineinsteigere, seien „ein Skandal“, empört sich Salas Verteidigerin Elizabeth Gómez Alcorta am Tag des ersten Urteils, die Methoden, mit denen die Spielregeln der Justiz mit allen Mitteln umgeworfen werden, „unerhört“. Mit einem fairen Prozess habe sowieso niemand mehr gerechnet, aber das Urteil sei eine „Schande für die argentinische Justiz“, so Alcorta. Die persönliche „Hexenjagd“ des Gouverneurs beruht auf einer langen Geschichte. Denn Sala, von den einen verehrt, von den anderen gehasst, ist in den vergangenen zwanzig Jahren zu einer unentbehrlichen politischen Figur und sozialen Referenz in der Provinz Jujuy im Norden Argentiniens geworden. Sie ist Kopf (und Herz) der sozialen Basisorganisation Túpac Amaru, die in den 1990er Jahren als Reaktion auf die politische Krise der Provinz gegründet wurde. Fehlende politische Repräsentation, inaktive Parteien und die „Unregierbarkeit“ einer der ärmsten Provinzen des Landes – kaum ein Gouverneur konnte seine reguläre Amtszeit beenden – führten zu einem politischen Vakuum, in dem Raum für neue Formen der außerparlamentarischen politischen und sozialen Organisation entstand. Die Menschen, geplagt von Massenarbeitslosigkeit und Entlassungen, machten sich diesen Raum zu eigen und entwickelten eine neue Protestkultur, in der sowohl die gewerkschaftliche Organisation als auch die Energie der Arbeitslosen kanalisiert wurde.

Auch Milagro Salas Figur ist in dieser Zeit gewachsen, heraus aus peronistischen Jugendbewegungen und Gewerkschaften und hinein in die neue aktive Rolle, die Frauen in den neuen sozialen Protesten einnahmen. Heute ist sie für viele eine Referenz, die inspiriert und ein anderes Selbstvertrauen gibt. Denen, die am wenigsten haben, Würde zu geben, sei das, was sie bei der Túpac gemacht habe, sagt sie selbst noch vor der Urteilsverkündung: „Wir haben gearbeitet, ausgebildet, erklärt, uns die Kultur der Arbeit zurückerobert. Und Arbeiten bedeutete, jedem einzelnen unserer compañeros Würde zu geben“.

Milagro Salas Organisation Túpac Amaru hat allein in Jujuy über 70.000 Mitglieder und ist als politische und soziale Akteurin in der Provinz nicht mehr wegzudenken. Die Túpac, wie sie in Kurzform genannt wird, verteilt Ressourcen des Staates um und ist der gesellschaftliche Kitt, der die Nachbarschaft organisiert und zusammenhält, für Ordnung sorgt, Protestpotenzial bündelt. Sie setzt sich für die ein, die es am meisten benötigen, mit Wohnraum, Bildung, medizinischer Versorgung und sozialem Zusammenhalt. Gefestigt hat sich die Stellung der Organisation vor allem seit 2003 durch die zunächst skeptische, dann immer fruchtbarere Zusammenarbeit mit den Vorgängerregierungen Néstor und Cristina Kirchners. Túpac Amaru ist ein Paradebeispiel für die Rolle sozialer Organisationen im Kirchnerismus als Mittlerin zwischen Staat und ärmeren Teilen der Bevölkerung auf lokaler Ebene. Eine relativ neue Erscheinung – politischer Aktivismus, der zwar nicht parteilich gebunden ist, aber dennoch starke Verbindungen zur damaligen Regierungspartei Frente para la Victoria unterhielt.

Über die effiziente Verwaltung von Sozialprogrammen der Bundesregierung gewann die Túpac Bedeutung und Einfluss. Dabei bildete sie ein Flaggschiff in der Entwicklung von Kooperativen und dem damit verbundenen Wirtschaftsmodell, setzte sich ein für Arbeiter*innen- und Menschenrechte. In den eigens gegründeten Kooperativen zur Umsetzung von öffentlichen Programmen zum sozialen Wohnungsbau konnten sie vorhandene Mittel weitaus schneller, sparsamer und zielführender einsetzen als private Baufirmen und dabei weitaus mehr Menschen beschäftigen. Über 8.000 Wohnungen und ganze Stadtviertel wurden in Jujuy von den Menschen gebaut, die später selbst darin wohnen sollten. Auch das benötigte Material wurde in kooperativ betriebenen Fabriken produziert, somit Mittelsmänner ausgeschaltet und die eingesparten Ressourcen in Gesundheitszentren, Schulen, Rehabilitierungs- und Freizeitangebote innerhalb der Wohnblöcke investiert. Die Implementierung der staatlichen Programme hat die Túpac Amaru zu einem der größten Arbeitgeber in der Provinz gemacht. Mit dem Machtwechsel in Buenos Aires fiel Ende 2015 der größte Finanzgeber für die Túpac weg.

Die Gerichtsprozesse waren die reinste Farce.


Um die unangefochtene Führungsperson Milagro Sala existiert nahezu ein Kult. Wichtige Entscheidungen werden zwar im Plenum diskutiert, aber das Sagen hat Milagro Sala. Sie leitet mit Härte und Disziplin, es heißt, nicht wenige ihrer Anhänger*innen würden bis ans Äußerste für sie gehen. Sala hat selbst auf der Straße gelebt. Ihr politischer Aktivismus hat sie aus der Marginalität geholt, weg vom Drogensumpf und einem Leben zwischen Knast und Straße. Dort ist sie allerdings durch eine harte Schule gegangen und hat sich den Respekt der Menschen erkämpft. Durch Stärke, Strenge, Verbindlichkeit und Geradlinigkeit. Deswegen sind sie und die Organisation von den villeros, den Menschen, die in den Armenvierteln leben, akzeptiert, denn sie fühlen sich repräsentiert. Milagro Sala hat zudem die Fähigkeit, sich der konkreten Probleme der Menschen anzunehmen und sie oft gar zu lösen – mit staatlichen Mitteln. So wie es eigentlich sein sollte.

Doch durch ihr zunehmendes Gewicht ist die Organisation der Machtelite ein Dorn im Auge. Und Milagro Sala, als ihr Aushängeschild, wird als „Provokation“ wahrgenommen. Denn in der stark von Rassismus und Klassismus geprägten Provinz geht es nicht nur um politische und territoriale, sondern auch um symbolische Macht. Milagro Sala ist das absolute Gegenteil dieser Machtelite, von der sie gehasst wird: Sie ist eine Frau, sie ist Schwarz, das heißt nicht weiß, sie stammt nicht aus der Oberschicht, sondern aus dem Slum, sie sieht aus wie eine Indígena, so wie alle einfachen Menschen im Norden Argentiniens, deren sozialer Status sinkt, je dunkler die Hautfarbe. Aber sie ist stolz, rotzig und trotzig statt unterwürfig – ein Affront. Social Media-Kampagnen gegen sie sind oft von grauenhaftem Rassismus durchzogen. Dass sie, dieses „Negativ“ der weißen Justiz- und Politikelite, Ansehen, Macht und Einfluss gewonnen hat und in ihrer Arbeit Prinzipien umsetzt, die den herrschenden Status quo herausfordern, ist für diese eine Verhöhnung. Für sie ist die Túpac Amaru allemal eine Unruhestifterin und gefährlich aufgrund des enormen Protestpotenzials, der politischen Mobilisierungskraft und ihrer Legitimation in der Bevölkerung. Mit ihren Anhänger*innen können sie die ganze Provinz lahmlegen. In den vergangenen Jahren gab es Dutzende (mittlerweile eingestellte) Anzeigen gegen Sala, bei denen es immer um Widerstand gegen die Staatsgewalt ging – Demonstrationen, Besetzungen, Auseinandersetzungen mit der Polizei. Aber die Túpac ist weit mehr als bloßer Protest.

Die von der Túpac gebauten Stadtviertel sind eine Art Sozialbau, der seinesgleichen vergeblich sucht. In der britischen Zeitung The Guardian verglich der Journalist McGuirk das von Túpac gebaute Barrio Alto Comedoro mit einer ironischen Version der Country Clubs der Reichen, einer Kombination aus Vorstadt, disneyeskem Vergnügungspark und radikalem Sozialismus. Denn neben den Freizeitbädern wurden Nachbildungen indigener Kultstätten Tiwanakus gebaut und prangt die gesammelte revolutionäre Ikonographie auf den Wasserspeichern des Viertels: die Konterfeis Che Guevaras, Evitas und Túpac Amarus, Widerstandskämpfer der Indigenen gegen die spanische Kolonialisierung. Die Sport- und Freizeitangebote sind symbolische Gesten, die aber auch dazu führen, dass in den Vierteln eine Community nicht nur durch das Wohnen im Ballungsraum entsteht, sondern durch gemeinsame Freizeitaktivitäten, die sonst nur Reichen vorbehalten sind. Die Wohnprojekte seien ein „Stinkefinger für Politiker und private Bauunternehmen“, so McGuirk.

Nicht weiter verwunderlich, dass die neu gewählte Regierung – bestehend aus der bourgeoisen Elite der Provinz – alles daran setzt, die Organisation zu zerschlagen. Allen voran der ehemalige Senator Gerardo Morales, der im Dezember 2015 zum neuen Gouverneur von Jujuy gewählt wurde. Angetreten war er für die aus Oppositionsparteien zum Kirchnerismus bestehende Wahlallianz Frente Cambia Jujuy, der lokalen Variante der Regierungskoalition Cambiemos von Präsident Maurico Macri auf Bundesebene. Eine von Morales’ ersten Amtshandlungen war die Inhaftierung Milagro Salas. Die vagen und unhaltbaren Anschuldigungen gegen Sala wurden im Laufe der Anklage ständig verändert. Eine klar politisch motivierte Verhaftung, die zudem aufgrund zahlreicher Unregelmäßigkeiten im Verfahren unrechtmäßig war. Festgenommen wurde Milagro Sala zunächst am 16. Januar 2016 aufgrund eines friedlichen Protestcamps zur Zahlung von Sozialprogrammen und Wiederaufnahme des Dialogs mit der neu gewählten Regierung: „Anstiftung zu kriminellen Aktivitäten“.

Salas ist das Gegenteil der regierenden Machtelite.

Nachträglich wurde die Anklage fallengelassen, aber am selben Tag mehrere Klagen aufgrund anderer Delikte eingereicht – Veruntreuung öffentlicher Gelder, öffentlicher Aufruhr, Nötigung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Das Protestcamp wurde stattdessen in einem Verfahren wegen Ordnungswidrigkeit verhandelt, woraus das Urteil vom 30. Dezember resultierte. Das Vergehen, das jetzt vor dem Strafgericht beschieden wurde, ist allerdings ein Eierwurf aus dem Jahr 2009 auf den damals noch als Senator tätigen Morales, zu dem Sala angeblich aufgerufen haben soll, sie selbst aber nicht einmal anwesend war. Keine der anhängigen Klagen hatte jedoch die bald ein Jahr andauernde Präventionshaft gerechtfertigt, die unter höchst dubiosen Umständen zustande gekommen war: mit einem ad hoc erweiterten Obersten Gerichtshof, der dann von ehemaligen Abgeordneten aus der Partei neu besetzt wurde, die zuvor für seine Erweiterung gestimmt hatten; mit per Dekret ernannten Staatsanwält*innen, mit Untersuchungen ohne Durchsuchungsbefehl, mit Aufnahme von Anklagen in der Ferienzeit der Gerichte, mit Diffamierungen der Verteidiger*innen von Milagro Sala und vielen weiteren Unregelmäßigkeiten im Verfahren im Laufe des vergangenen Jahres, die gegen lokale und nationale Rechtsprechung verstoßen. Die Willkürlichkeit der Methoden, mit denen versucht wird, Sala außerhalb rechtlicher Konventionen in Haft zu behalten, zeigt eine Gesetzesinitiative aus Morales Regierungskoalition kurz vor der Urteilsverkündung, die sich für ein Referendum über den Verbleib in Untersuchungshaft der Angeklagten einsetzt. In Jujuy sind Justiz und Politik so sehr miteinander verknüpft, dass praktisch keine Unabhängigkeit besteht. Man könne gar nicht von Rechtstaatlichkeit sprechen, erklärt der Journalist und Menschenrechtler Horacio Verbitsky. Zu alledem müsste Sala als Abgeordnete des PARLASUR eigentlich parlamentarische Immunität genießen und auch die UN-Arbeitsgruppe zu willkürlichen Festnahmen hatte bereits im Oktober 2016 bestätigt, dass es keine legale Rechtfertigung für die Inhaftierung Salas geben würde – ohne Reaktion.

Auch nach der Urteilsverkündung gibt es weiterhin keine rechtliche Handhabe dafür, dass Sala in Haft verbleibt. Da es sich bei der Freilassung aber um eine rein politische Entscheidung handele, bleibe diese sehr unwahrscheinlich, bis sich die Machtverhältnisse geändert hätten, so die Pressesprecherin der Túpac Amaru Sabrina Roth gegenüber den LN. Dass die Willkürlichkeit und Korrumpierung des Justizsystems durch die Provinzregierung auch auf Bundesebene Unterstützung findet, ist besonders besorgniserregend. Denn nicht nur verfassungsmäßige Garantien und Regeln des Strafrechts werden missachtet, sondern friedlicher Protest und freie Meinungsäußerung werden als schwerwiegende kriminelle Handlungen dargestellt und auch als solche geahndet. Das kürzliche Urteil gegen Milagro Sala ist daher ein gefährlicher Präzedenzfall im Zusammenhang mit der Verbindlichkeit von grundlegenden Menschenrechten und vertieft die Sorge der Aktivist*innen um ein wieder aggressiver werdendes Klima gegenüber sozialen Protesten im neoliberal regierten Argentinien.

“NICHT EINE WENIGER, NICHT EINE TOTE MEHR!”

Foto: Josefina Jauregiberry

Am 19. Oktober kamen tausende Frauen und Mädchen zum Nationalstreik der Frauen zusammen und protestierten unter dem gemeinsamen Motto „Ni una menos, ni una muerta más“ („Nicht eine weniger, nicht eine Tote mehr“) gegen die machistische Kultur, die die Zahl der Feminizide im ganzen Land alarmierend ansteigen lässt. Allein im Oktober sind neunzehn Frauen durch machistische Gewalt gestorben, für das gesamte Jahr 2016 liegt die Zahl der bekannten Frauenmorde bei 226.

Der Plaza de Mayo versank in einem Meer aus Regenschirmen. Tausende Frauen schrien aus Wut und Empörung, bis ihnen die Stimme versagte. Und so wie der Regen am 19. Oktober in Buenos Aires nicht aufhören wollte zu strömen, riss auch der Strom von Frauen und Mädchen nicht ab, die aus den Straßen auf den Platz kamen, um sich vor dem Regierungsgebäude, der Casa Rosada zu versammeln. Mit Plakaten und Rufen prangerten Frauen jeden Alters, darunter auch viele Trans-Frauen und Lesben, die misogyne Kultur an, die schon so vielen das Leben genommen hat und sich unter dem Mantel des Normalen zu verstecken versucht.
Anfang Oktober dieses Jahres fand auf dem Nationalen Frauentreffen in Rosario ein Diskussionsforum unter dem Namen „Ni una menos“ statt, in dem die Themen Feminizid und Bekämpfungsstrategien diskutiert wurden. Das Nationale Frauentreffen versammelt seit 1986 jedes Jahr tausende Frauen aus dem ganzen Land, die gemeinsam in verschieden Workshops und Foren speziell über Themen diskutieren, die sie als Frauen betreffen. Dieses Jahr nahmen 70.000 Frauen teil. Während die Frauen und Mädchen bei der traditionellen Abschlussdemonstration von der Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen angegriffen wurden, wurde die 16-jährige Lucía Pérez in Mar del Plata vergewaltigt, gefoltert und ermordet. Die schreckliche Nachricht verbreitete sich über die Medien und sozialen Netzwerke rasend schnell und führte auch weit über Argentiniens Grenzen hinaus zu Wut und Empörung.
Der lateinamerikanische Kontinent ist geprägt von Plünderung, Missbrauch und kolonialer Unterdrückung. Dies zeigt sich auch in der tiefen Verwurzelung von Gewalt und Ungleichheit in seinen Kulturen, der Machismus ist nur ein Beispiel dafür. Doch dieses schwierige Erbe bringt auch das Vermächtnis des ehrfurchtslosen Widerstands und der Selbstorganisation mit sich, wie der Fall Argentinien momentan eindrücklich zeigt. Argentiniens Gesellschaft hat im Widerstand und über die Tragödie gelernt. Seit dem Staatsterrorismus der 70er und 80er Jahre kennt sie die Angst, aber auch den Mut, sie kennt die Zensur und die Erinnerung. Und nachdem sie 2001 in das wohl brutalste Gesicht des Kapitalismus geblickt hat, ist sie außerdem vertraut mit der Macht der Selbstverwaltung und des Kooperativismus.
Der Geist, der heute durch Argentinien und viele andere Länder des Kontinents wandelt heißt Feminismus. Ein Feminismus, der sich nicht zufriedengibt mit der Zerschlagung des Patriarchats, sondern eine Neustrukturierung der gesamten Gesellschaft fordert. Nur Stunden nach dem Bekanntwerden der schrecklichen Tat in Mar del Plata entschlossen sich 50 Organisationen und etwa 300 Frauen in einer kurzfristig organisierten, offenen Versammlung zu einem Nationalstreik der Frauen.
Der Streik und die Demonstration richteten sich nicht nur gegen die Feminizide, sondern auch gegen das hierarchische und patriarchalische System als Ganzes, das das Leben der Frauen in Argentinien bestimmt und dessen maximaler Ausdruck die Morde an Frauen sind. Dieses System bestimmt, ob wir nachts zu Fuß gehen oder welches Verkehrsmittel wir nehmen, es bestimmt unser Gehalt und den Moment, in dem wir der Justiz gegenüberstehen. Es ist kein Zufall, dass Frauen 27 Prozent weniger verdienen als Männer oder wir in prekären Arbeitsverhältnissen sogar bis zu 76 Prozent weniger Lohn bekommen. Es ist auch kein Zufall, dass im Fall einer Klage wegen Belästigung oder Vergewaltigung, zunächst die psychologische Verfassung der Frau in Frage gestellt und gegen sie, anstatt gegen die Täter, ermittelt wird, wie im Fall der 19-jährigen Ayelén Arroyo geschehen. Sie hatte ihren Vater wegen mehrmaliger Vergewaltigung angezeigt, woraufhin der zuständige Richter eine psychologische Untersuchung anordnete. Ayelén wurde kurz darauf von ihrem Vater ermordet.
Der Machismus herrscht, wenn die sexuellen Belästigungen auf der Straße normal sind, wenn der frühe und gewaltvolle Tot von Transvestiten als natürlich betrachtet wird und wenn das Recht auf legale, kostenlose und sichere Abtreibung hartnäckig ignoriert und bestraft wird. Und es ist auch kein Zufall, dass die Aktivistin und politische Anführerin Milagro Sala seit Januar unrechtmäßig inhaftiert ist (siehe LN 503). Der Grund ist „weil sie eine Frau ist, weil sie indigen ist und weil sie sich organisiert hat“, wie es auf den Plakaten bei der Demonstrantion in Buenos Aires heißt.
Es geht also nicht bloß darum, das Strafgesetz zu verschärfen, sondern darum, die strukturelle Ungleichheit sichtbar zu machen und das System zu dekonstruieren, in dem Gewalt gegen Frauen kein Verbrechen wie andere ist, sondern ein geschlechtsbedingtes: ein Feminizid. Diese Art von Gewalt liegt in der Institutionalisierung der ungleichen, hierarchischen und gewaltvollen Beziehungen, die aus Frauen Besitzgegenstände machen.
“Die Mädchen und Frauen, die sich jetzt dem Feminismus nähern und anfangen, über das Patriarchat nachzudenken und zu protestieren, machen Hoffnung. Aber es ist schade, dass wir uns immer wieder das mansplaining (aus „man“ und „explain“ im Englischen, bezieht sich auf herablassendes besserwisserisches Erklärverhalten, meistens von Männern gegenüber Frauen*, Anm. d. Red.) anhören müssen und Energie darauf verwenden, genau die Männer aufzuklären, die nicht die geringste Intention haben, sich zu verändern. Oder dass wir Frauen, die den Machismus hassen, uns mit Frauen streiten, die ihn immer noch verteidigen. Das ist ein großer Sieg des Patriarchats“, meint Rana Vegana, eine der Demonstrantinnen auf dem Plaza de Mayo.
Die Proteste und der Ruf „Ni una menos“ haben sich ausgebreitet und in Uruguay, Brasilien, Chile, Bolivien, Mexiko, Spanien und Frankreich ein Echo hervorgerufen, das deutlich macht, dass dies kein nationales Problem Argentiniens ist. „Auch wenn die Bewegung in Argentinien begann, umfasst sie doch eine Problematik, die in ganz Lateinamerika existiert. Dass ‚Ni una menos‘ auf Spanisch ist, bewirkt, dass sich viele lateinamerikanische Länder damit identifizieren können, was die Bewegung repräsentiert und es als etwas Eigenes übernommen haben. Was diese Bewegung so besonders macht, ist, dass unsere Stimmen immer dann viel lauter sind, wenn sie geeint sind“, sagt Amy Ramírez, eine andere Demonstrantin.
Auch Érika Díaz findet den Zusammenhalt besonders wichtig: “‚Ni una menos‘ drückt aus, worüber ich als Frau schon oft nachgedacht habe. Auf der Demonstration trifft man Leute, die genau so denken, vorher fühlte ich mich damit alleine. Jetzt ist klar, dass es eine große Gruppe in der Gesellschaft gibt, die fordert, dass diese Situation sichtbar gemacht wird. Außerdem fangen Leute an, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, die das vorher nicht getan haben. Das einzige Merkwürdige, sowohl heute auf der Demo, als auch am Tag der Frau und dem Nationalen Frauentreffen, sind die Fahnen. Jede mit ihrer politischen Partei, dabei geht es doch darum, gemeinsam etwas sichtbar zu machen, alle unter dem Motto ‚Ni una menos‘.“
Nach Schätzungen waren es bis zu 400.000 Frauen, die in Buenos Aires auf die Straße gingen und immer wieder „Ni una menos, ni una muerta más“ riefen, wie es die mexikanischen Dichterin und Aktivistin Susana Chávez Castillo sagte, bevor sie umgebracht wurde – weil sie kämpfte, weil sie Feministin war, und weil sie eine Frau war.

Die leere Hülle des Gesetzes

Vergangenen November sind in La Paz und Cochabamba besonders grausame Feminizide begangen worden: Eine Frau wurde von ihrem Mann zu Tode geschlagen, eine andere geviertelt. Dies ist aber nur die Spitze des Eisbergs, oder?
Eliana Quiñones: Seit Anfang 2013 bis November 2014 wurden laut des Informations- und Entwicklungszentrums der Frau (CIDEM) 206 Frauen ermordet, davon 96 dieses Jahr. Im März 2013 trat das Gesetz 348 in Kraft, das Frauen ein gewaltfreies Leben garantieren soll. Trotzdem wurden bis Mitte November bisher nur acht Morde an Frauen verurteilt! Wir sehen, wie die Gewalt anhält und durch die Straflosigkeit noch verschärft wird. Das ist empörend, denn die Gewalt wird normalisiert und naturalisiert. Laut einiger Medien wird die Gewalt erst jetzt sichtbar gemacht, aber im Namen der Sichtbarmachung wird sie zugleich normalisiert. Zu den letzten Fällen: Frauen protestierten empört auf der Straße – aber dann vergeht nur eine Woche und ein achtmonatiges Baby wird zu Tode vergewaltigt. Die Fälle erscheinen als Schlagzeilen in der Presse, aber es fehlt eine tiefgehende Analyse, warum das alles wirklich passiert.

Und warum gibt es diese horrende Gewalt gegen Frauen Ihrer Meinung nach?
Eliana Quiñones: Die Gewalt gegen Frauen ist ein Produkt der Krankheit des Patriarchats und der Objektivierung der Frau. Es gibt die Annahme, eine Frau könne zu Tode geschlagen werden oder gevierteilt werden, weil sie nichts wert sei.
Andrea Flores: Die genannten Zahlen erfassen längst nicht alle Fälle. Unsichtbar bleiben Frauen, die auf dem Land und in den Vorstadtgebieten vergewaltigt und getötet werden. Es fehlt der politische Wille, das zu sehen. Die Forensiker kommen zum Beispiel erst zwei Tage nach dem Tod einer Frau. Hier müsste die Politik ansetzen. In unserer langjährigen Arbeit auf dem Land haben wir beobachtet, dass viele Gewalttaten, die früher unsichtbar waren, nun publik gemacht werden. Die Gewalt steigt aber auch immer weiter an. Jetzt werden Anklagen erhoben – aber die Anklagenden haben Angst und sind ohne Gewissheit, ob der Staat reagiert. Die gewalttätigsten sind die Militärs und Polizisten. Man muss an das Bewusstsein der Regierung appellieren.

Sie arbeiten auch zur Problematik des Menschenhandels. Wie ist die Situation in Bolivien?
Andrea Flores: Der Menschenhandel ist kein sichtbares Thema. Eine Frau geht aus dem Haus und kommt nicht wieder. Es gibt Zeitungsartikel und dann passiert nichts mehr. Es gibt keine Informationen, sie verschwinden.
Eliana Quiñones: Es ist ein schwerwiegendes Problem! Der Menschenhandel ist in den letzten fünf Jahren um 96 Prozent gestiegen, in der Mehrheit sind Frauen und Kinder betroffen. In Bolivien verschwindet pro Tag eine Frau! Sie sind Opfer von Organhandel, Zwangsarbeit, oder, in den meisten Fällen, von sexueller Ausbeutung. Und wieder zeigt sich die Straflosigkeit. Von all en Fällen, die angezeigt wurden, wurde bis heute kein einziger aufgeklärt. Grund hierfür ist, dass die Mehrheit der Frauen aus der Provinz und aus den Grenzgebieten stammt – das ist eine überaus verletzliche Gruppe. In tausenden Fällen verschwinden die Unterlagen irgendwo bei der Polizei – und mit den Unterlagen verschwindet auch das Leben der Betroffenen vollkommen.

Die Straflosigkeit lässt an den neu verabschiedeten Gesetzen zweifeln.
Andrea Flores: Die neuen Gesetze sind sehr schön. Aber wenn die Gesellschaft sie nicht kennt, bringen sie nichts. Es ist unsere Aufgabe, uns der Gesetze zu bemächtigen und Strategien zu suchen, wie sie angewandt werden. Ansonsten wäre ein großer Aufwand für Gesetze verschwendet, die nur auf dem Papier stehen. Es muss einen Wandel geben, sowohl beim Staat, der die Umsetzung der Gesetze wollen muss, als auch bei uns Frauen.
Eliana Quiñones: Der Staat gibt uns Gesetze, die das Grundproblem nicht lösen. Stattdessen sind sie darauf ausgerichtet, die Frauenbewegung, die auf die Straße geht, verstummen zu lassen. Der Staat mach sich beispielsweise durch die Straflosigkeit zum Mittäter und trägt Verantwortung für die steigende Gewalt. Die Gleichgültigkeit der staatlichen Organisationen, des Gesundheitssystems, der Schulen, der Polizei, und auch der Familie spielen da hinein. Ein sicheres, gewaltfreies Leben wird somit unmöglich gemacht: Du gehst zum Arzt und wirst nicht behandelt, gehst zur Polizei und wirst schuldig gemacht, gehst in die Kirche und wirst verurteilt – die patriarchale Mentalität ist totaler Komplize.

Welche Reaktionen sind in der Gesellschaft zu beobachten?
Eliana Quiñones: Nach den Vorfällen gab es Demonstrationen, was ich sehr wichtig finde. Denn sie verleihen der Wut und Empörung Ausdruck. Aber die Mobilisierungen dürfen nicht nur konjunkturell sein und für die einzelnen Fälle Gerechtigkeit einfordern. Das ist zwar auch wichtig. Aber darüber hinaus müssen sie die Gesellschaft zu einer tiefgehenden Reflexion über das patriarchale System und die machistische Mentalität im Alltag bewegen. Sonst wird sich nichts ändern. Es muss Druck auf alle Institutionen ausgeübt werden, bis hin zur Meinung des Präsidenten selbst: Die sexistischen Äußerungen und Handlungen der ‚unanfechtbaren Autoritäten‘ dürfen nicht toleriert werden. Die Mobilisierung muss also größer werden, muss denunzieren, aber auch ihre Kritik vertiefen, um die Realität zu verändern. Denn wenn nicht, scheint es so, als ob die Genossinnen und Frauen nur bestimmte Fälle beklagen würden, und nicht mehr.

In Reaktion auf die Fälle Anfang November 2013 wurde in Cochabamba ein Alarmzustand erklärt. Viele Organisationen forderten die Ausrufung des Zustands auf nationaler Ebene. Die Polizei hat den Notzustand erklärt, was bedeutet, dass sie nun sofort auf Anzeigen reagieren will; außerdem wurden kostenlose Hotlines zur Anzeige von Gewalt gegen Frauen in La Paz, El Alto, Cochabamba und Santa Cruz eingerichtet. Sind das erste Schritte zu Veränderungen?
Eliana Quiñones: Das waren Reaktionen auf Forderungen von Organisationen, aber sie verändern strukturell nichts. Außerdem mussten immer erst sehr, sehr blutige Taten geschehen, damit etwas passiert. Beispielsweise wurde das Gesetz 348, das jahrelang auf Eis lag, erst verabschiedet, nachdem eine Journalistin ermordet worden war.Damals sind viele Frauen auf die Straße gegangen und daraufhin, so meine Meinung, wurde das Gesetz verabschiedet, um zu demobilisieren. Aber das Gesetz wird nicht umgesetzt. Die Verantwortlichen sind nicht geschult. Sie wissen nicht, wie sie mit Frauen, die in Gewalt leben, umgehen sollen und verstärken die Gewalt zusätzlich. Dann kommt es zu Vorfällen wie Anfang November und Gesetze werden verschärft oder erweitert, aber das ändert nichts an der gleichen Mentalität. Eine kostenlose Hotline ist keine Strategie, um die machistische Mentalität zu verändern, sondern um zu demobilisieren. Wir sehen, wie die Gewalt gegen Frauen angestiegen ist und das in einem Staat, der sich vermeintlich in einem Prozess des Wandels und der Depatriarchalisierung befindet.

Bei den nationalen Wahlen im vergangenen Oktober wurde im Parlament zum ersten Mal die Geschlechterparität erreicht, 51 Prozent der Abgeordneten sind Frauen. Steht das nicht im Widerspruch zu der erlebten Gewalt?
Andrea Flores: OMAK (Organisation der Aymara-Frauen von Kollasuyo, siehe Infokasten; Anm. d. Red.) hat mit vielen anderen Organisationen und Frauen bei diesen Wahlen für die 50-50-Quote gekämpft. Leider sind die Frauen, die ins Parlament eingezogen sind, von Männern aufgestellt worden. Die Politiker haben Angst vor Frauen, die widersprechen. Die Frauen im Parlament sollen schweigend alles akzeptieren. Es ist ein herausfordernder Kampf – aber ich habe noch die Hoffnung, dass die Frauen sich befreien können und Wandel bewirken. Aber diese Frauen werden ihre Arbeit verlieren und leiden. Wir Organisationen müssen deshalb auch von außen dafür kämpfen, dass Parität und Gleichheit im Staat umgesetzt werden. Die materielle Basis muss ebenfalls thematisiert werden. Eine arme oder finanziell abhängige Frau wird sich lieber still verhalten, als auf die Einnahmen zu verzichten. Deswegen haben wir ökonomisch-politische Strategien entwickelt, um eigene Ressourcen und eine starke Position im Kampf zu haben.
Eliana Quiñones: Die weiblichen Abgeordneten werden instrumentalisiert, sie partizipieren innerhalb der Struktur eines patriarchalen, maskulinen Staats. Sie partizipieren unter dessen eigenen Logiken und dessen eigenen Gewaltformen, und so verwandeln sich die Abgeordneten in Verbündete des patriarchalen Systems. Ein Beispiel aus vielen: In der Regierung sind Männer wie zum Beispiel jener Senator, der erzählt, dass Frauen lernen müssen, wie sie sich benehmen und kleiden, damit sie nicht vergewaltigt werden. Wer hat ihn hinterfragt und kritisiert? Keine.
Die 50-50-Quote funktioniert noch nicht, denn wir Frauen fühlen uns von denen im Parlament nicht repräsentiert. Warum? In diesem Parlament wirst du keine subversive Frau finden, die frei ist und widerspricht. Die werden rausgeschmissen. Eine andere Basisbewegung ist notwendig.

Afrobolivianische Identität im plurinationalen Staat

Schotterstraßen, Serpentinen und steile Berghänge. Der Ort Tocaña liegt mit 160 Einwohner*innen rund drei Autostunden von La Paz entfernt im subtropischen Norden Boliviens. Die kleine Häusersiedlung erstreckt sich auf einem mächtigen grünen Hügel voller Vegetation: Lemongras und Lianen wuchern an den Abhängen. Der Blick vom Dorfplatz schweift über die benachbarten Berggipfel, die von dichten Wolken bedeckt werden. Eine mächtige Kulisse. Doch der Ortskern von Tocaña wirkt öde: eine verriegelte Kirche, ein überdachter Beton-Sportplatz, zwei winzige Lebensmittelläden, kaum Menschen. Auf den ersten Blick hat die kleine Gemeinde nichts zu bieten. Dennoch: Tocaña ist anders als die meisten Ortschaften in der Umgebung. Das liegt an den Bewohner*innen.
„Wir sind gar nicht ursprünglich von hier“, sagt Jhony Perez. Dabei ist der 39-Jährige in Tocaña aufgewachsen. Es ist Sonntagnachmittag, 17 Uhr. Etwa 15 Dorfbewohner*innen haben sich neben dem Bolzplatz versammelt und trinken Bier aus Plastikbechern. Jhony Perez sitzt auf einer alten Schulbank aus Holz, die als Sitzgelegenheit aufgestellt wurde. Mit „nicht ursprünglich von hier“ meint er seine Vorfahren. „Die wurden hergebracht“, sagt er. Wie fast alle Menschen im Dorf ist Jhony Perez Nachfahre afrikanischer Sklav*innen. Im 16. und 17. Jahrhundert verschleppten die spanischen Kolonisator*innen massenhaft Frauen und Männer aus Afrika nach Bolivien. Der Plan der Konquistador*innen: Sie sollten sich in den Silberminen von Potosí für den Reichtum des spanischen Königshauses abarbeiten. Doch Höhenluft, Kälte und miserable Arbeitsbedingungen trieben viele in den Tod. Daraufhin wurden die versklavten Afrikaner*innen in den wärmeren Norden verkauft, um in den subtropischen Yungas in der Landwirtschaft ausgebeutet zu werden – vor allem in Anbau von Kaffee und Zitrusfrüchten.
Jhony Perez erzählt, seine Vorfahren kämen wahrscheinlich aus Mosambik. Das hätte vor ein paar Jahren mal jemand anhand der Untersuchung seines Kiefers festgestellt. Bei anderen Dorfbewohner*innen sei das Ergebnis der Kongo, Angola oder Nigeria gewesen. „Die spanischen Kolonisatoren haben absichtlich Sklaven aus verschiedensten Ländern verschleppt“, sagt Perez. „Damit sie sich nicht verständigen konnten und keine Rebellion starteten“. Die Frage der Ahnenforschung – wer jetzt aus welchem Land kommt – interessiert in Tocaña aber ohnehin keinen so wirklich. Keiner ist je nach Afrika gereist.
Unter den damals verschleppten Sklav*innen war auch der Thronfolger einer senegalesischen Ethnie. So jedenfalls erzählt der Mythos unter den Afrobolivianer*innen und so berichten bolivianische Medien, die BBC und die ARD. Seit dem offiziellen Ende der Sklaverei im Jahr 1826 wird auch unter den Nachfahren der Sklav*innen in Bolivien wieder ein König gekrönt, der König für die ganze afrobolivianische Community sein soll. Zwar wurde der Thron lange nicht vom bolivianischen Staat anerkannt, aber die Königsdynastie gab Anlass zu einer gemeinsamen afrobolivianischen Identität. Der US-amerikanische Anthroploge Norman E. Whitten schrieb etwa über den im 20. Jahrhundert thronenden Bonifaz, er sei ein black leader gewesen, den die Afrobolivianer*innen noch bis nach seinem Tod verehrt hätten.
Bis heute währt das Königreich. Im Internet präsentiert sich die Casa Real Afroboliviana (Afrobolivianisches Königshaus) mit eigenem Wappen und Throngeschichte. Der amtierende König, Don Julio Pinedo, wohnt in Murrata, rund zwei Stunden Fußmarsch von Tocaña entfernt. Der 72-jährige ist seit 1992 auf dem Thron und seit 2007 staatlich anerkannt. Er soll in einem kargen Eckhaus nahe des Dorfplatzes wohnen. Doch die Tür öffnet eine alte, dunkelhäutige Frau im traditionellen bolivianischen Pollera-Rock. Der König sei nicht da, sagt Königin Angélica. „Er arbeitet schon seit dem frühen Morgen auf dem Feld“. Die meisten Afrobolivianer*innen in den Yungas leben von der Landwirtschaft. In einer Studie des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen von 2011 liegt der Verkauf von Koka als Einkommensquelle unter den Afrobolivianer*innen an erster Stelle, 75 Prozent der Befragten gab an, mindestens einen Teil ihres Einkommens durch den Verkauf der Pflanze zu erwirtschaften. So lebt auch die Königsfamilie von der Landwirtschaft. Die 70-jährige Angélica sitzt im Erdgeschoss ihres Hauses. Sie verkauft Sardinendosen, Nudeln und Koka-Blätter in ihrem kleinen Dorfladen und schaut dabei eine Telenovela. „Wir haben nur das Nötigste“, erklärt die Königin. Sie und ihr Mann stünden der Community zwar mit Rat und Tat zur Seite, leider seien die finanziellen Mittel aber begrenzt. Auch wenn der afrobolivianische König von der nationalen Regierung in La Paz offiziell anerkannt ist, hat er keine exekutive Macht. „Mein Mann hat repräsentative, aber keine politischen Funktionen“, resümiert Doña Angélica und ist erpicht darauf, jetzt weiter ihre Fernsehsendung zu schauen.
Zurück in Tocaña. Von den rund 35 Familien hier sind fast alle schwarz. Die Afro-Identität spielt eine entscheidende Rolle im Dorf. In ganz Bolivien gibt es nach Schätzungen der Vereinten Nationen zwischen 30.000 und 35.000 Afrobolivianer*innen. Beim bolivianischen Zensus 2012 gaben laut Nationaler Statistikbehörde INE rund 23.300 Menschen an, sich als Afrobolivianer*innen zu fühlen. Diese Daten wurden zum ersten Mal überhaupt erfasst, denn erst seit der plurinationalen Verfassung von 2009 sind die Afrobolivianer*innen eine der 36 staatlich anerkannten Ethnien in Bolivien. In der neuen Verfassung werden sie in Artikel drei explizit als Teil der Nation aufgeführt und in Artikel 32 werden ihnen die gleichen ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Rechte zugesichert, wie der indigenen Bevölkerung.
Allein wegen dieser formalen Anerkennung hat Verfassungsvater und Präsident Evo Morales auch bei den Menschen in Tocaña einen Stein im Brett. „Früher mussten wir beim Zensus die Kategorie „andere“ ankreuzen. Wir waren nicht existent – Jetzt sind wir wer!“, freut sich Jhony Perez. Evo Morales’ Wertschätzung der afrobolivianischen Identität hat dafür gesorgt, dass so gut wie jede*r im Dorf den Präsidenten unterstützt. Landesweite Statistiken zum Wahlverhalten der Afrobolivianer*innen gibt es laut nationalem Wahltribunal zwar nicht, dennoch: „Wir Afrobolivianer haben bei den Wahlen 2014 vollends Evo Morales und seine Partei MAS unterstützt“, sagt Zenaida Avendaño Vasquez, eine Mitarbeiterin des Afrobolivianischen Zentrums (CADIC) in La Paz.
In Bolivien herrschte auch nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1826 noch eine extreme Abhängigkeit vom Großgrundbesitz. Zwar änderten sich die Besitzverhältnisse mit der Agrarreform von 1953, trotzdem gehören die Afrobolivianer*innen auch heute noch zum ärmeren Bevölkerungsteil Boliviens. NGOs und Internationale Organisationen wie die Minority Rights Group International oder das Welternährungsprogramm der UN gehen davon aus, dass Afrobolivianer*innen im Vergleich mit anderen Gruppen weniger verdienen und schlechteren Zugang zu Gesundheit und Bildung haben. Auch die Diskriminierung ist immer noch ein Problem, auch wenn 2010 ein Gesetz (Ley 045) verabschiedet wurde, das rassistische und diskriminierende Äußerungen und Handlungen mit einem Strafmaß von bis zu sieben Jahren Haft ahnden soll. Von den 135 angezeigten Verstößen gegen das Gesetz in den ersten 10 Monaten von 2013 wurden laut der Tageszeitung La Razon nur sieben tatsächlich verfolgt. Auch der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen kam 2013 zu dem Schluss, dass die Umsetzung des Gesetzes noch nicht funktioniere. In dem UN-Bericht heißt es: „Eine große Zahl der Afrobolivianer ist systematischer Ungerechtigkeit ausgesetzt, sie leiden unter fehlenden Meldemechanismen und mangelnder Unparteilichkeit von Behörden und Polizei“. Racial Profiling sei beispielsweise auch weiterhin ein großes Problem für die schwarze Bevölkerung. Jorge Medina ist der erste und im Moment einzige Afrobolivianer in der bolivianischen Abgeordnetenkammer und hat selbst am Gesetz 045 mitgearbeitet. Vier Jahre nach Verkündung des Gesetzes hätten rassistische Sprüche wie „¡Suerte negrito!“ zwar abgenommen, resümiert Medina auf seiner Website. Ein latenter Rassismus sei aber weiterhin vorhanden. Der spöttische Spruch, dem „kleinen Schwarzen“ Glück dabei zu wünschen, wenn er sich etwas anderem als der Feldarbeit widmet, charakterisiert den schwierigen Zugang zu öffentlichen Ämtern und Institutionen für Afrobolivianer*innen. „Früher ging kaum einer auf die Universität“, erklärt Medina am Telefon. „Heute zieht es immer mehr junge Leute in die Städte, für ihre Ausbildung gehen sie nach La Paz, Cochabamba und Santa Cruz“. In der Hauptstadt verschaffen sie sich auch immer mehr politisches Gehör: Neben dem Abgeordneten Medina setzt sich auch das Afrobolivianische Zentrum für ihre Belange ein. „Bolivien befindet sich in einer Transformation,“ fasst Medina zusammen. „Es ist jetzt die Aufgabe von Politik und Medien die Möglichkeiten der neuen Gesetze zu verbreiten, damit sie dann auch richtig angewendet werden“.Zurück in Tocaña. Hier sind es auch 188 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei immer noch die Afrobolivianer*innen, die die Felder bestellen. Sie züchten heute vor allem la coca. „Die kann man drei bis vier Mal im Jahr anbauen“, sagt Reyna Ballivián, eine weitere Bewohnerin Tocañas, die seit sie denken kann auf dem Feld steht. Reich ist sie davon nicht geworden. Die 40-Jährige schaut aus einem kleinen Fenster ihrer Küche aus Lehmziegeln. „Mein Bruder arbeitet für die Regierung in La Paz, meine Schwester lebt in Spanien“, sagt Reyna. Auch sie wäre gern rausgekommen. Mit dem Koka-Anbau kann die alleinerziehende Mutter aber immerhin ihre zwei Kinder durchbringen. Früher habe die Dorfbevölkerung hauptsächlich Kaffee gepflanzt. Doch in den 90ern sei der von Schädlingen befallen worden. Ohnehin ist es in Bolivien – spätestens seitdem der Präsident selbst ein ehemaliger Koka-Bauer ist – lukrativer, die grünen Blätter anzubauen. Von den USA gestützte Anti-Koka-Kampagnen der Vorgänger-Regierungen beendete Evo Morales – auch deshalb sind ihm viele afrobolivianische Koka-Bauern und Bäuerinnen treu. In der neuen Verfassung genießt die Koka-Pflanze den Status eines Kulturerbes und ist in ihrer traditionellen Form ausdrücklich kein Betäubungsmittel. 2013 erreichte Bolivien für den legalen Koka-Anbau sogar eine Ausnahmeregelung im UN-Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel.
Auch Jhony Perez lebt vom Koka-Strauch. Schon als Achtjähriger hat er auf dem Acker mitgeholfen. Während er spricht, kaut er immer wieder auf einem dicken Koka-Knäuel herum. In seiner linken Backenhälfte klemmen mindestens 20 Blätter, denen er den grasig schmeckenden Saft entzieht, die gegen Höhenkrankheit und Müdigkeit helfen. Diese kaubaren Energie-Booster kann Jhony Perez auch gut gebrauchen. Seine Ex-Frau ist mit einem anderen Mann nach Chile abgehauen und Perez muss seinen vier Kindern das Internat finanzieren. Tagsüber arbeitet er deshalb von 9 bis 17.30 Uhr auf den Koka-Feldern Tocañas. Nachts fährt er runter ins Tal, um in einer Mine Gold abzubauen. „Manchmal komme ich erst um sieben Uhr morgens nach Hause“, sagt Perez. Zwei Stunden später beginnt schon wieder die Feldarbeit.
Macht ihn die Schufterei nicht kaputt? „Nein“, betont der 39-Jährige später am Abend bei einer kleinen Feier in seinem etwa zehn Quadratmeter kleinen Zimmer. Es gibt Bier, Koka-Blätter und Gitarrenmusik. „Tocaña, meine Liebe, du bist meine Inspiration, singen Jhony, Reyna und die anderen. An der Wand hängen Fotos von Perez‘ Kindern. „Es ist schlicht hier, aber mir fehlt es an nichts“, sagt er gelassen. Zwei Mittzwanzigjährige kommen noch auf ein Bier vorbei. Sie sind in Tocaña aufgewachsen, aber haben sich in der nahegelegenen Provinzstadt Coroico mit einem kleinen Laden selbständig gemacht. „Das ist die neue Generation“, freut sich Jhony Perez, auch wenn sein eigener Alltag ein anderer ist: Am Tag nach der Feier in seinem Zimmer wollte Jhony Perez eigentlich zum Abendessen ins Dorf kommen. Aber dann kann er doch nicht. Es gebe viel Arbeit unten im Tal, sagt er am Telefon. „Ich muss heute Nacht in der Mine schlafen“.

Chávez spukt in Spanien

Es war etwas still geworden um die Indignados. Nachdem im Jahr 2008 die Immobilienblase in Spanien geplatzt war, hatte sich eine vielbeachtete Protestbewegung der Empörten gebildet, die als 15M-Bewegung für Furore sorgte. Ihre Wut trugen die vorwiegend jungen Menschen von der Plaza del Sol in Madrid aus auf die Plätze und Straßen Spaniens. Wut angesichts einer Krise, die viele Menschen in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedrohte und Familien knallhart aus ihren Wohnungen rausschmiss.

Diese Wut schien im verkrusteten spanischen Parteiensystem zu verpuffen. Die Regierungspolitik unterwarf sich den Vorgaben der EU-Troika, rettete Banken und ignorierte die Probleme der vielen Millionen Menschen, die in Spanien der Verelendung entgegensahen. In dieser unerträglichen Situation zeigte sich für viele Spanier*innen, auch jene, die nicht der Linken nahe standen, wie wenig die Souveränität in einer kapitalistischen Demokratie tatsächlich vom Volke ausgeht. In diesem politischen Klima kombinierten die Indignados treffend Kapitalismuskritik mit Forderungen nach demokratischer Teilhabe. Doch trotz allem saßen die sozialdemokratische PSOE und die rechtskonservative PP scheinbar so fest im Sattel wie eh und je.

Scheinbar. Denn neben den öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen widmeten sich die Indignados der Basisarbeit, die zwar weniger sichtbar, aber dafür um so wirksamer und nachhaltiger war. Sie bildeten Nachbarschaftsvereine, die gegen Zwangsräumungen protestierten und diese bisweilen verhinderten, die Hilfe organisierten und die sich Gedanken über eine andere politische Ordnung machte. Diese Graswurzelbewegung trägt nun politische Früchte. In Form der Parteigründung Podemos erreichte die Wut der Indignados Anfang 2014 erstmals die politische Bühne der parlamentarischen Demokratie. Die neue Partei erzielte bei den Europawahlen im Mai mit acht Prozent bereits einen Achtungserfolg. Laut aktuellen Umfragen hat Podemos sogar Chancen, die Parlamentswahlen im Jahr 2015 zu gewinnen. Der Parteichef, der charismatische Politikdozent Pablo Iglesias, hat vor allem ein Ziel: Die Neugründung Spaniens mittels einer verfassungsgebenden Versammlung. Das neue Spanien soll das Erbe des postfrankistischen Kompromisses beseitigen und die Regierungspolitik in die Interessen der Bevölkerung und nicht des Kapitals stellen. Intern macht Podemos bereits vor, wie Demokratie funktionieren kann. Landesweit haben sich 900 Basisgruppen der Partei gebildet, über das Internet arbeiten Tausende Unterstützer*innen am Parteiprogramm mit. Der scheinbare Dornröschenschlaf der Indignados ist beendet, sie sind in der Politik angekommen, um zu bleiben.

Denn Podemos ist als Ausdruck einer landesweiten sozialen Bewegung weit mehr als eine der Protestparteien, wie sie sich in Europa häufig eher am rechten Rand herausbilden. Die Vorbilder oder Vorläufer der neuen Partei sind weniger auf dem europäischen Kontinent zu suchen, sondern in den linken Transformationsprojekten Lateinamerikas. Die sichtbarsten Politiker*innen von Podemos beziehen sich ausdrücklich positiv auf Venezuela oder Bolivien, haben in diesen Ländern in den vergangenen Jahren gearbeitet und die linken Regierungen und Bewegungen aus nächster Nähe verfolgt.

Auch in den lateinamerikanischen Ländern vergingen zwischen der Repräsentationskrise der parlamentarischen Demokratie, ausgelöst durch die neoliberale Regierungspolitik der 1980er und 1990er Jahre, und der Herausbildung eines konkreten Gegenprojektes mehrere Jahre. In Venezuela, Bolivien und Ecuador waren verfassungsgebende Versammlungen unter breiter Bevölkerungsbeteiligung der erste Hebel, um die festgefahrenen politischen Systeme auf demokratischem Wege zu transformieren.

Die Vergleiche zwischen Podemos und Chávez, zwischen Stadtteilbewegungen in Caracas und Madrid sind freilich begrenzt, egal, ob sie zustimmend oder ablehnend formuliert werden. Doch die Indignados haben durchaus die venezolanischen Erfahrungen mitbedacht und daraus gelernt. Das zeigt, dass die lateinamerikanischen Transformationsprojekte der letzten Jahrzehnte kein regionales Phänomen bleiben müssen. Denn Unzufriedenheit mit dem Kapitalismus ist gewiss nicht nur in Lateinamerika verbreitet.

Ausgleich statt Radikalität

Der 12. Oktober könnte ein Sieg für die Geschichtsbücher gewesen sein. Sollte Evo Morales seine nunmehr dritte Amtszeit zu Ende bringen, wird er 14 Jahre an der Spitze des bolivianischen Staates gestanden haben, länger als jeder Präsident vor ihm. Dazu passend plant Morales ein neues Gebäude für die Inszenierung seiner Macht. Das auf 29 Stockwerke angelegte „Volkshaus“ soll den aktuellen Regierungspalast ersetzen. Dieser wird sich dann in ein „Museum des kolonialen Staats“ verwandeln, ein Beispiel für die üble Vergangenheit, für das alte Bolivien. Die Geschichte des Landes und seines Volkes wird unter der Regierung von Morales neu geschrieben.
Laut der offiziellen Interpretation der historischen Verhältnisse hat Bolivien seit dem ersten Wahlsieg der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) im Jahr 2006 einen Neuanfang erlebt. Der koloniale Staat liegt in der Vergangenheit. Der „plurinationale“ Staat hat sich durchgesetzt und zwar mit einer Verfassung, die zum ersten Mal seit der spanischen Eroberung die indigenen Völker als gleichberechtigte Subjekte anerkennt und in politische Entscheidungsprozesse mit einbezieht. Morales Alleinstellungsmerkmal in der Geschichte der politischen Repräsentation beruht nicht nur auf seiner ethnischen Identität, sondern auch auf der Tatsache, dass er als erster Präsident aus der Arbeiterklasse kommt.
1982 gelang der bolivianischen Linken erstmals ein Sieg an den Urnen. Begleitet von einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen des 20.Jahrhunderts endete diese Erfahrung schon nach drei Jahren. Damals kontrollierte die Kommunistische Partei drei Ministerien, trotz des Widerstands der amerikanischen Botschaft. Im Kontext des Kalten Krieges war es das Ziel der bolivianischen Linken, das Militär in die Kasernen zurück zu drängen und auf diese Weise die demokratische Grundordnung des Landes wieder herzustellen. Damals war keine Rede vom Sozialismus.
25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hat sich die bolivianische Linke an der Regierungsmacht etabliert. Evo Morales wurde mit einer Wahlbeteiligung von 89 Prozent zum zweiten Mal wiedergewählt. Laut offiziellen Angaben konnte sich seine Partei MAS mit 61 Prozent der Stimmen auch in der kommenden Legislaturperiode 2015 bis 2020 eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Kongresses sichern. Die Regierung kann weiterhin jedes ihrer Vorhaben mit den eigenen Stimmen verabschieden. Die beiden stärksten Oppositionsparteien schnitten hingegen wesentlich schlechter ab, die Demokratische Union (UD) erhielt 24 Prozent und die Christdemokraten (PDC) 9 Prozent der Stimmen.
Bereits in ihrem Parteinamen propagiert die Regierungspartei MAS den Weg zum Sozialismus.Der Vizepräsident des Landes, Álvaro García Linera, ist ein ehemaliger Guerrillero, der sich selbst als Kommunist versteht. Porträts von Che Guevara säumen die Wände des Regierungsgebäudes und die Beziehungen zu Kuba und Venezuela sind enger denn je. Ist Boliviens Regierung seit 2006 auf dem Weg, ein sozialistisches Modell zu implementieren?
Nach Meinung der aktuellen Zentren des Kapitalismus ist die klare Antwort ein Nein. Sowohl die Weltbank als auch der Internationale Währungsfonds, ehemalige Erzfeinde Morales‘, haben ihre Sympathie für das bisherige bolivianische Wachstumsmodell gezeigt. Die konservativen Meinungszirkel der USA, vertreten durch die New York Times oder das Wall Street Journal, applaudieren der Politik Morales. Sie sehen durch dessen Form des Sozialismus keine kapitalistischen Interessen gefährdet.
In Bolivien fällt die Antwort auf diese Frage jedoch wesentlich komplexer aus. An den Ergebnissen der letzten Wahl wird die eindeutige Unterstützung der Bevölkerung deutlich, die MAS gewann acht der neun großen Wahlbezirke des Landes. Ihre Wähler_innen konstituieren sich jedoch nicht nur aus den prekarisierten oder indigenen Teilen der Bevölkerung, sondern kommen auch aus den konservativen Regionen des Flachlandes wie Santa Cruz oder Tarija. Die dort ansässigen Großunternehmer_innen machen Gewinne und stabilisieren so die Macht der Regierung, die dabei ist, ein Machtmonopol in der Politik zu etablieren. Vor fünf Jahren war die Opposition der Meinung, die Regierung würde eine kommunistische Revolution in Gang bringen. Heute besteht die Erkenntnis, dass dies in keiner Weise die Absicht ist.
Tatsache ist, dass die Bewegung zum Sozialismus ihren eigenen Weg zur Modernisierung gefunden hat. Anfangs versprach sie, Großgrundbesitz zu enteignen und an die armen Landarbeiter_innen zu verteilen. Auch die Marktreformen der neunziger Jahre sollten rückgängig gemacht werden. Viele fürchteten die Radikalisierung des Klassenkampfes in einem Land, in dessen Geschichte die Gegensätze zwischen Arm und Reich tief verwurzelt sind. Um den damals radikalen Protest abzuschmälern, der das Land an den Rand eines Bürgerkriegs brachte , entschloss sich die Regierung dazu, die Armut zu reduzieren, ohne die Vermögen und Privilegien der Reichen anzurühren. Eine umfangreiche Sozialpolitik hat in den letzten Jahren die Revolution ersetzt. Das hat klare Folgen für die Wahlergebnisse gehabt.
Die zweite große Frage, die sich in diesem Kontext stellt, ist, ob die MAS ihre Ideale verraten hat. Hat sie sich an die Machtverhältnisse in der Welt einfach angepasst? Hat sie das Ziel des Sozialismus gegen Stabilität eingetauscht?
Eine der möglichen Antworten ist, dass der durch die positive wirtschaftliche Lage bedingte finanzielle Handlungsspielraum von der Regierung sinnvoll genutzt werden konnte, um soziale Spannungen abzuschwächen. Die neue Mittelschicht, aus der Verteilungspolitik des letzten Jahrzehntes entstanden, wird zunehmend konservativ. In einigen Ländern des Kontinents mit Linksregierung, wie Brasilien, hat sich die neue Mittelschicht von der Regierung distanziert. In Bolivien ist das Gegenteil geschehen, die Ausrichtung der Regierung hat sich geändert. Geschickt hat die bolivianische Linke, ähnlich wie in Uruguay, den veränderten gesellschaftlichen Grundkonsens begleitet und ist mit einem Teil der Bevölkerung zur politischen Mitte gewechselt.
Die bolivianische Gesellschaft wünscht sich den Sozialismus nicht mehr und und die Regierunghat dies rechtzeitig erkannt. Basierend auf dieser Grundstimmung in der Bevölkerung hat sie dann die Wahlkampagne initiiert. Keine Veränderungen mehr, das war die Parole während der aktuellen Wahlperiode. Eine verblüffende Entwicklung, die nur in einer funktionierenden repräsentativen Demokratie möglich ist.

Die Basis der MAS will mehr

An Evo Morales kommt keiner vorbei. Seit Monaten können der amtierende Präsident und seine Bewegung zum Sozialismus (MAS) auf hohe Umfragewerte für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 12. Oktober blicken. Im August hätten 59 Prozent der Wahlberechtigten Morales als Präsident wiedergewählt, so das Ergebnis einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos. Zentrale Gewerkschaftsverbände und soziale Organisationen (wie COB, FENCOMIN, Bartolina Sisas und CSUTCB) unterstützen öffentlich den Präsidenten. „Die sozialen Organisationen werden an der Macht bleiben“, erklärte CSUTCB-Gewerkschaftsführer Damián Condori. Nach acht Jahren Morales-Regierung also weiterhin rückhaltlose Unterstützung?
Ganz so klar gestalten sich die Verhältnisse in den Monaten vor der Wahl jedoch nicht. Neben Präsident und Vizepräsident_in werden 36 Senator_innen und 130 Abgeordnete neu gewählt. Die sozialen Bewegungen, die der Regierungspartei MAS kritisch gegenüber stehen, existieren zum Teil nicht mehr: Die indigene Organisation des Tieflands CIDOB wurde schon im Juli 2012 gespalten, die indigene Organisation des Hochlandes CONAMAQ folgte im Januar dieses Jahres nach der Besetzung ihres Büros in La Paz durch die regierungsnahe Gruppe um Hilarión Mamani. Die entmachtete regierungskritische Gruppierung um Cancio Rojas und Rafael Quispe nennt sich nun CONAMAQ „orgánico“, in Abgrenzung zum von Mamani geführten CONAMAQ. Für Leonida Zurita, die Internationale Sekretärin der MAS, vertreten Chávez und Quispe nur eine kleine Interessengruppe. „Die Spaltung ist nur der politische Machtkampf zwischen kleinen Gruppen“, sagt Zurita gegenüber den LN. Mit dieser Argumentationsweise werden Regierungskritiker_innen delegitimiert.
Erst Ende August versuchten Regierungsanhänger_innen auch den Sitz der Organisation Subcentral Sécure, die Gemeinden im indigenen Territorium und Naturschutzgebiet Isiboro-Securé TIPNIS repräsentiert, einzunehmen. Durch die Spaltung kritischer indigener Organisationen hat die MAS ihre Opposition in sozialen Bewegungen geschwächt. Auf Parteienebene bleiben die meisten Konkurrent_innen ohnehin chancenlos.
Das Oberste Wahlgericht hat fünf Parteien für die Wahlen im Oktober zugelassen. Für die MAS tritt wieder das Duo Morales und Álvaro García Linera als Vizepräsidentschaftskandidat an. Deren dritte Kandidatur in Folge war nicht unumstritten, da die Verfassung nur zwei Amtsperioden erlaubt. Allerdings wurde die jetzige Kandidatur als erst zweite Kandidatur seit Inkrafttreten der neuen Verfassung im Jahr 2009 ausgelegt. Der Versuch der Opposition, mit einem breiten Bündnis gegen das Duo anzutreten, ist gescheitert, so dass vier politische Kräfte die MAS herausfordern: Zwei davon sind in der klassischen rechten Opposition zu verorten. Der konservative Ex-Präsident Jorge „Tuto“ Quiroga Ramírez, der nach dem Tod des Generals Hugo Banzer als dessen Stellvertreter an die Macht kam, tritt mit der indigenen Yarhui Tomasa als Vizepräsidentin an. Seine neu gegründete Christdemokratische Partei PDC kommt laut der Umfrage von Ipsos auf vier Prozent. Erfolgreicher ist der Kandidat des Mitte-Rechts-Bündnisses Demokratische Einheit UD Samuel Doria Medina. Medina ist Unternehmer im Zementgewerbe und Inhaber mehrerer Hotels und Fast-Food-Ketten. Ihm prognostizieren die Umfragewerte 17 Prozent, womit er zurzeit an zweiter Stelle hinter Morales liegt.
Die beiden anderen Kandidat_innen hoffen auf die Stimmen von unentschlossenen und von der MAS enttäuschten Wähler_innen. Der ehemalige Bürgermeister von La Paz, Juan del Granado, tritt für die Mitte-Links-Partei MSM (Bewegung ohne Angst) an. Der MSM haben sich mehrere Aktivist_innen der MAS angeschlossen, auch Del Granado ist einstiger MAS-Anhänger. Laut Ipsos kommt Del Granado lediglich auf drei Prozent der wahlberechtigten Stimmen. Die zweite linke Oppositionspartei spielt politisch überhaupt keine Rolle. Die Grüne Partei Boliviens mit dem indigenen Aktivisten Fernando Vargas als Präsidentschaftskandidat, der 2011 und 2012 die Protestmärsche gegen den Bau der Straße durch das TIPNIS organisierte, werden nicht einmal ein Prozent der Stimmen vorhergesagt. Die Grüne Partei findet vor allem bei ausländischen Nichtregierungsorganisationen Anklang. Die Umfragewerte sind unter den Oppositionsparteien jedoch nicht unumstritten. Die noch Unentschlossenen machen zudem 17 Prozent aus. Diese gilt es zu gewinnen.
Die MAS tritt als die linke Kraft an. Nach ihrer Definition ist keine der anderen Parteien links und sie sieht sich weiterhin als die politische Partei der sozialen Bewegungen. Auf der Regierungsagenda der MAS stehen unter anderem die Entwicklung der Produktion und Industrialisierung der natürlichen Ressourcen und die Beseitigung der extremen Armut. Wie auch die Oppositionsparteien verspricht sie den Ausbau des Gesundheitssystems, der Infrastruktur und der Elektrizitätsversorgung. Weitere Aspekte sind die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie die Sicherstellung der Technologie- und Nahrungsmittelsouveränität. Unverändert dient als Entwicklungsmodell der Export von Rohstoffen, der sogenannte „Neue Extraktivismus“. Trotz der ökologischen und sozialen Kosten, sind es die Einnahmen dieses Entwicklungsmodells, die dem Regierungschef Erfolg bringen. Morales verweist auf die Erträge nach der Nationalisierung der fossilen Brennstoffe, die von 600 Millionen US-Dollar im Jahr 2005 auf mehr als fünf Milliarden US-Dollar in 2013 gestiegen sind. Das Pro-Kopf-Jahreseinkommen hat sich laut Regierungsangaben in den letzten neun Jahren auf 3.000 US-Dollar verdreifacht, der nationale Mindestlohn ist auf umgerechnet gut 200 US-Dollar pro Monat gestiegen. Wirtschaftsminister Luis Acre hat für das erste Quartal dieses Jahres einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 5,6 Prozent verkündet. Damit liegt Bolivien im lateinamerikanischen Vergleich mit an der Spitze. Die extreme Armut ist auf 18 Prozent der Bevölkerung gesunken. Es sind Erfolge, die Morales Zustimmung bringen und deren Kosten gleichzeitig zunehmend das Land spalten.
Die Opposition kritisiert, dass die Macht der MAS auf Klientelismus, der gewaltsamen Teilung der indigenen Organisationen und der Kriminalisierung ihrer Führungspersonen beruhe. Die sozialen Organisationen würden kooptiert und ihre Führungspersonen seien teilweise auch Kandidat_innen der MAS. Weiterer Kritikpunkt ist die Korruption. Die MAS tut diese Vorwürfe als „Verrat am Prozess des Wandels“ ab.
Dennoch: Strategie der Regierungspartei ist es, ehemals Angehörige rechter Parteien in ihre Reihen aufzunehmen, um so der Opposition Wind aus den Segeln zu nehmen. Außerdem wird um die Gunst der Mittelklasse geworben. „Die Zeiten der Konfrontation sind vorbei“, ließ der Präsident in seiner Rede zum Nationalfeiertag am 6. August verlauten. Eine Etappe der Versöhnung werde eingeleitet. Die Argumentation: Da die popularen Sektoren, Indigenen und Bäuer_innen ihre Führungsrolle im Prozess des Wandels deutlich gemacht haben, seien die Bedingungen so, dass auch andere Bevölkerungssektoren integriert werden könnten. Auch wenn sie vormals Unterstützer_innen der Rechten waren. Ehemalige Feinde werden zu Verbündeten, ehemalige Verbündete zu Verräter_innen.
Die MAS will erneut die Zweidrittel-Mehrheit erlangen, wodurch Verfassungsänderungen oder beispielsweise die Besetzung der Posten der Höchsten Gerichte ermöglicht würden. Dafür wird mit harten Bandagen gekämpft. Jüngst wurde der MSM-Kandidat Mario Orellana für acht Tage inhaftiert. Dieser hatte Tonaufnahmen von Morales von einem internen Parteitreffen veröffentlicht, die ihm aus der MAS zugespielt worden waren. Die Aufnahmen gaben aber nicht mehr preis als das, was die Opposition schon länger kritisiert: Regierungsveranstaltungen würden zu Wahlkampfzwecken missbraucht.
Benachteiligt fühlt sich die Opposition auch durch eine Resolution des Bundeswahlgerichts TSE, die die Nutzung von Bild oder Stimmen der Kandidat_innen in den Massenmedien bis zum 12. September verbietet. Der offizielle Wahlkampf beginnt drei Monate im Voraus, Medienkampagnen sind jedoch seit der neuen Resolution gesetzlich erst einen Monat vor den Wahlen gestattet. Der Verabschiedung gingen Medienkampagnen voraus, in der sich die politischen Gegner_innen untereinander attackierten. Eine öffentliche politische Debatte möchte die MAS nicht führen. Ehemalige Anhänger_innen der MAS glauben, dass die MAS sich einer öffentlichen Rechtfertigung über ihre Politik und ihr extraktivistisches Entwicklungsmodell entziehen möchte. Das TSE vereinbarte mit der Organisation Amerikanischer Staaten den Einsatz von mindestens 50 ausländischen Wahlbeobachter_innen.
Nicht nur bei der amtierenden Regierung, auch bei der Opposition gibt es fragwürdige Wahlversprechen und Wechsel zwischen den verschiedenen politischen Lagern. Die indigene Guaraní-Anführerin Justa Cabrera erregte Aufsehen, als sie sich im Wahlkampf wieder unter die Unterstützer_innen der MAS gesellte, da sie sich im Jahr 2011 nach dem gewaltsamen Eingreifen der Polizei im Zuge der TIPNIS-Proteste gegen die Regierung gestellt hatte. Sie befolge das Mandat der Guaraní-Organisationen, sagte die Aktivistin, die den achten Marsch zur Verteidigung des TIPNIS organisiert hatte.
Indigene spielen als Kandidat_innen bei den Wahlen nur eine untergeordnete Rolle, wie die Zeitschrift Pukara analysiert: Der MAS reiche es, einen indigenen Präsidenten in den Wahlkampf zu schicken. In allen anderen Fällen werde den neuen Alliierten bei der Vergabe von Kandidaturen vor den ehemaligen indigenen Aktivist_innen Vorrang gegeben. Beim MSM spielt das Indigene laut Pukara keine große Rolle. Die PDC hingegen schickt mit der Vizepräsidentschaftskandidatin Yarhui eine Indigene ins Rennen, die das Gegenteil zu Morales verkörpern soll. Andere indigene Repräsentant_innen sind bei der PDC jedoch nicht zu finden. Bei der Grünen Partei steht Vargas zwar an der Spitze, große Unterstützung hat er jedoch nicht. Die Kandidatur des ehemaligen Vorsitzenden des CONAMAQs und MAS-Gegners Quispe für die rechte UD wird von der Pukara als Wahltaktik von deren Präsidentschaftskandidat Samuel Doria Medinas gesehen. Medina ginge es nicht um die Schaffung eines neuen Diskurses oder die Integration Indigener. Sondern Quispes Stärke liege darin, dass ihn jene für die Rechte von Indigenen sensibilisierte Mittelklasse unterstützt.
Neben politischen Schlammschlachten und Wahlkampfversprechungen darf man gespannt sein, welche Themen noch auf der Agenda stehen werden. Angesichts von einem Feminizid alle drei Tage (59 im ersten Trimester 2014) ist es wichtig, dass das Thema Gewalt gegen Frauen Eingang in den Wahlkampf gefunden hat und öffentlich thematisiert wird. Die verschiedenen Parteien setzen sich alle im Wahlkampf dafür ein, dass der Staat eine stärkere Rolle gegen Gewalt gegen Frauen einnehmen soll.

Abkehr vom Neoliberalismus

Lateinamerika war die erste Region, in der neoliberale Ökonom_innen ihre Patentrezepte vom Rückzug des Staates aus der Wirtschaft durchsetzten. Nach dem Putsch gegen die sozialistische Regierung unter Salvador Allende in Chile 1973 breitete sich die neoliberale Politik bis in die 1980er Jahre in fast allen Ländern des Subkontinents aus. Bekanntlich brachte dieses Experiment nur vergleichsweise wenigen Menschen Reichtum und Wohlstand. Seit der Jahrtausendwende wählten die Bevölkerungen in den meisten lateinamerikanischen Ländern neoliberale Regierungen wieder ab. Dabei wurden sie häufig von sozialen Bewegungen unterstützt. Einen neoliberalen Rollback gab es bisher nur in vereinzelten Fällen, zum Beispiel in Honduras nach dem Putsch 2009.
Dieter Boris ist hierzulande einer der profiliertesten Lateinamerikaexperten. Er sieht im Aufschwung linker Regierungen „eine einmalige historische Konstellation, die es in Lateinamerika seit der politischen Unabhängigkeit vor circa 200 Jahren noch nicht gegeben hat“. Erstaunlich genug, dass sich Publikationen im deutschsprachigen Raum zwar häufig mit einzelnen Ländern, jedoch kaum mit übergreifenden Fragestellungen beschäftigen.
Mit Bolívars Erben legt der emeritierte Marburger Soziologie-Professor nun einen Überblick über Linksregierungen in Lateinamerika vor. Dabei geht es ihm nicht darum, die politische Situation der einzelnen Länder, denen trotz gehöriger Unterschiede jeweils das Label „Linksregierung“ anhaftet, nacheinander zu diskutieren. Vielmehr widmet er sich den größeren Zusammenhängen und bezieht die südliche Region Cono Sur sowie die am weitesten links stehenden Länder Bolivien, Ecuador und Venezuela verstärkt in die Analyse mit ein. Boris beschreibt in mehreren Aufsätzen die Bedingungen und den politischen Kontext für die Abwahl neoliberaler Regierungen, die neue Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Veränderungen der Sozialstrukturen und den Kampf um Hegemonie am Beispiel der Medienpolitik. Grundlegende theoretische Fragestellungen diskutiert er in einem Kapitel über die Rolle des Staates in Transformationsprozessen.
Wie erfolgreich die von den neuen Regierungen propagierte Abkehr vom Neoliberalismus ist und wie sinnvoll die Ansätze in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sind, darüber herrscht auch innerhalb der linken Debatte Uneinigkeit. Man muss nicht im Einzelnen mit Boris´Positionen einverstanden sein, etwa wie er staatskritische Ansätze wie jene der mexikanischen Zapatistas als einigermaßen naiv abtut. Auch wendet sich Boris gegen linke Regierungskritiker_innen, die die anhaltende Fokussierung auf Rohstoffexporte in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellen.
Aber der Autor argumentiert von einigen Spitzen abgesehen klug und legt die Errungenschaften und Grenzen der linken Projekte seriös dar. Ihm unterläuft nicht der verbreitete Fehler, die progressiven Diskurse mancher Regierungen von deren konkreter Politik losgelöst zu betrachten und hochzujubeln. Ebenso wenig erklärt er deren Politiken für gescheitert, nur weil sie bisher kein grundlegend anderes Wirtschaftsmodell etabliert haben. Mit seinem Buch leistet Dieter Boris einen wichtigen Beitrag zu der Frage, wie linke Politik in der Praxis aussehen kann und welchen Herausforderungen sie gegenübersteht. Für die weitere Debatte ist das ein großer Gewinn.

Dieter Boris // Bolívars Erben. Linksregierungen in Lateinamerika // PappyRossa Verlag // Köln 2014 // 204 Seiten // 14,90 Euro // www.papyrossa.de

“Frequenzen konnten vererbt werden“

Eigentlich sollte das neue Mediengesetz mehr Raum für kontroverse Debatten und kulturelle Vielfalt schaffen. Zugleich gibt es aber immer wieder auch Nachrichten darüber, dass einzelne Menschen oder Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bei ihrer Arbeit massiv behindert werden. Wie passt das zusammen?
Was in Ecuador gerade passiert, ist schon ziemlich beunruhigend. Es gibt verschiedene Beispiele, die zeigen, wie brüchig die Meinungsfreiheit ist. Ende vergangenen Jahres wurde beispielsweise die Stiftung Pacha Mama geschlossen, wegen ihrer Beteiligung an sozialen Protesten. Bei einer Demonstration gab es einen Zwischenfall, ein ausländischer Diplomat wurde mit einem Speer verletzt. Doch anstatt wie sonst üblich einen strafrechtlichen Prozess gegen den Täter einzuleiten, nahm die Regierung den Vorfall zum Anlass, Pacha Mama zu schließen. Ihre Begründung: Als NGO hätten sie nicht das Recht, sich in die Politik einzumischen oder Wahlkampf zu machen. Und der Beleg dafür war eben die Anwesenheit von Mitarbeitern der Stiftung auf dieser Demonstration.

Gibt es auch Angriffe auf einzelne Medienschaffende, die kritisch oder zu kontroversen Themen in Ecuador arbeiten?
Ja, auch solche Übergriffe beobachten wir immer wieder. Vor einiger Zeit schrieb eine junge Journalistin aus den USA über ein Massaker an zwei Gruppen der Taromenane-Indigenen. Kurze Zeit später erklärte Präsident Rafael Correa in einer Fernsehansprache, dass diese Ausländerin kein Recht habe, sich darüber eine Meinung zu bilden und dass ihre Schilderungen nicht stimmen würden. Correa erniedrigte sie nicht nur öffentlich, einige Menschen nahmen diese Anschuldigungen auch sehr ernst. Ein Shitstorm entlud sich in den sozialen Netzwerken, eine mediale Lynchjustiz setzte ein. Ich finde es furchtbar, die Bevölkerung so gegen eine Person aufzuhetzen. Jede und jeder hat doch das Recht seine oder ihre Meinung zu sagen und an öffentlichen Debatten teilzunehmen.

Sind auch Personen des öffentlichen Lebens in Ecuador von solchen Hasskampagnen betroffen?
Der Fall von Jaime Guevara, der für seine Protestlieder bekannt ist, hat für Aufsehen gesorgt. Guevara machte auf einer Demo eine obszöne Handbewegung als der Wagen des Präsidenten vorbeifuhr. Daraufhin stieg Correa aus und ordnete an, den Sänger wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit festzunehmen. Im Polizeibericht wurden dann diese Anschuldigungen einfach übernommen, Trunkenheit und Drogenkonsum. Einige Tage später machten Freunde des Verhafteten jedoch darauf aufmerksam, dass Guevara aus gesundheitlichen Gründen starke Medikamente nimmt und seit jeher völlig abstinent lebt. Correa entgegnete darauf, es sei ja wohl nicht seine Schuld, dass er betrunken gewirkt habe.
All diese Zwischenfälle zeigen, dass wir an einen Punkt gelangt sind, an dem die Regierung jegliche Kritik, jede Geste sofort als einen Angriff, als einen oppositionellen Akt wahrnimmt. Es sollte doch möglich sein, ein gemeinsames Terrain zu finden und so auch wieder die positiven Seiten der aktuellen staatlichen Politik ansprechen zu können, denn die gibt es ja auch. Doch dafür ist es notwendig, dass sich die Regierung den gesellschaftlichen Debatten stellt.

Zumindest der Forderung nach einem neuen Mediengesetz scheint die Regierung ja nachgekommen zu sein. Wie verliefen die Verhandlungen?
Es war schon ein ziemlich langwieriger Prozess. Gemeinsam mit vielen sozialen Organisationen haben wir jahrelang darauf hingearbeitet, die Kommunikationsmittel zu demokratisieren und anders als bisher zu regulieren. Gemeinsam waren wir direkt daran beteiligt, die Novellierung der Gesetze inhaltlich zu begleiten.

Und was waren Ihre konkreten Forderungen und Prinzipien, mit denen Sie die Medienlandschaft demokratisieren wollten?
Im Radiobereich griffen wir auf das inzwischen bekannte Prinzip einer paritätischen Dreiteilung aller verfügbaren Frequenzen zurück, das beispielsweise auch in Bolivien Anwendung findet: ein Drittel der Kanäle für öffentlich-staatliche Sender, ein Drittel für kommerzielle Anbieter und ein Drittel für kommunitäre Medien (wie Gemeinderadios; Anm. d. Red). Anfangs hat den staatlichen Vertretern diese Idee überhaupt nicht gefallen. Bei unserem ersten Treffen haben sie uns ausgelacht und gesagt, man könne das elektromagnetische Spektrum doch nicht wie eine Torte aufteilen. Aber dieselben, die anfangs nur lachten, machten sich später unser Argument zu eigen.

Das Problem ist doch auch, dass gerade in größeren Städten oft keine Frequenzen mehr frei sind für unabhängige, nicht-kommerzielle Projekte. Wie läuft das in Ecuador?
Die Regierung setzte eigens eine Kommission ein, die die Praktiken der Frequenzvergabe prüfen sollte. Das war ein ganz wichtiger Schritt und die dokumentierten Ergebnisse sehr plastisch. In Ecuador wurden Frequenzen schlicht und einfach verkauft, es war möglich, Frequenzen zu vererben und es gab auch spezifische Verfahren, Frequenzen an Freunde zu überschreiben. Correa sagte darauf, das sei eine Zeitbombe die sofort entschärft werden müsse. Leider verlief der danach angestrebte Reformprozess im Nichts.

Sind seit der Gesetzesreform auch neue kommunitäre Medien entstanden?
Vor dem neuen Gesetz gab es offiziell keine kommunitären Medien, nur einen TV-Sender, der von der Indigenenbewegung in Cotopaxi organisiert wurde. Nun finden kommunitäre Medien gesetzlich explizit Erwähnung und die Regierung übergab insgesamt 14 Sender an indigene Gemeinden, in Anerkennung einer historischen Schuld. Inzwischen sind weitere solche Sender entstanden. Aber es handelt sich eben nicht um einen Prozess, bei dem soziale Organisationen oder Gemeinden selbst eine Genehmigung anstrengen. Die Regierung bereitet alles vor und die späteren Träger unterschreiben nur. Auf diese Weise sind es insgesamt 54 Sender und es werden noch viele folgen. Aber sie sind Ausdruck des Regierungswillens und nicht das Ergebnis sozialer Forderungen.

Und was geschieht mit anderen Anträgen, um beispielsweise ein kommunitäres Radio legal anzuerkennen?
Mit unserer Organisation Radialistas informieren wir die Bevölkerung über ihr Recht, selbstbestimmt ein Radio organisieren zu können. Doch leider sind all diese Anträge bisher in einem Sammelordner abgeheftet worden, um zu einem späteren Zeitpunkt allen Projekten gleichzeitig ihre Lizenzen auszustellen. So heißt es von Regierungsseite. Schauen wir mal, wann das wirklich passiert, ich fürchte, dass es vielleicht gar nicht dazu kommt. Aber wir müssen trotzdem weiter Druck machen.

Worin genau sehen Sie das Problem bei den Sendern, die aktiv vom Staat geschaffen wurden?
Diese Sender wurden von Beginn an stark gefördert. Der Staat stellte jeweils das komplette Equipment zur Verfügung und zwei Techniker, denen jeweils ein monatliches Gehalt von 700 US-Dollar gezahlt wird. Die Sender funktionieren also de facto unter staatlicher Vormundschaft. Der Staat liefert alles und niemand macht sich Gedanken darüber, wie so ein Radio auch selbstverwaltet arbeiten könnte. Ich halte das für gefährlich. Klar, momentan schafft das auch viele positive Effekte für die einzelnen Gemeinden, aber was, wenn der Staat den Geldhahn irgendwann aus irgendeinem Grund zudreht?

Was für Möglichkeiten räumt das Gesetz denn den kommunitären Medien ein, um sich nachhaltig und unabhängig finanzieren zu können?
Solche Medien dürfen entgeltlich Dienstleistungen anbieten und auch Werbung senden, um mit den Einkünften ihren nicht-kommerziellen Betrieb zu gewährleisten. Aber genau das macht eben keiner der neu entstandenen Sender, da sie es wegen der staatlichen Förderung nicht nötig haben. Eine seltsame Situation. Das Gesetz hat den kommunitären Medien nur wenige Grenzen gesteckt, aber niemand erkundet diese Möglichkeiten.

In Lateinamerika wird inzwischen auch vermehrt über Radiofrequenzen als ein Gemeingut nachgedacht. Neben Radio und TV sollen sie auch eine weiterführende kommunitäre Nutzung des elektromagnetischen Spektrums im Auge haben, zum Beispiel den Aufbau nicht-kommerzieller Mobiltelefon- und drahtloser Datennetzwerke. Welche Ideen werden diesbezüglich in Ecuador diskutiert?
Unser Bündnis sozialer Organisationen tritt bei der Digitalisierung terrestrischer TV-Frequenzen zum Beispiel für die Einführung des japanisch-brasilianischen Standards ein. Der würde es erlauben, statt einem analogen Kanal, vier digitale Kanäle auf derselben Frequenz zu senden. Die Zahl der Sender könnte sich potenziell extrem vervielfältigen. Und natürlich treten wir auch im digitalen Spektrum für die bereits angesprochene paritätische Dreiteilung ein. Auch wenn wir vielleicht noch nicht die Kapazitäten für eine konkrete Nutzung haben, ist es wichtig, jetzt wachsam zu sein, um von Beginn an die Weichen für eine gerechte Verteilung zu stellen. Dieser Kampf ist von fundamentaler Bedeutung, um die Nutzung des elektromagnetischen Spektrums zu demokratisieren.

Infokasten

Clara Robayo ist Mitarbeiterin der Organisation Radialistas Apasionadas y Apasionados („Leidenschaftliche Rundfunker_innen“), die sich für eine Demokratisierung der Medien, besonders des Radios, einsetzt. Mit Sitz in Quito bieten sie ihr Knowhow allen Interessierten in Lateinamerika und der Karibik an. Auf ihrer Homepage sind über 4.000 unabhängig produzierte Audiobeiträge abrufbar.
Mehr Infos: www.radialistas.net/

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