AVANTGARDE DES RÜCKSCHRITTS

Fakten lügen nicht Die politische, sexuelle und psychische Gewalt gegen Frauen hat in Brasilien zugenommen (Foto: Mohamed Hassan)

In den vergangenen Jahren hat Brasiliens Zivilgesellschaft die internationale Gemeinschaft unermüdlich vor der rasanten Zerstörung der brasilianischen Demokratie gewarnt. Da Brasilien eines der am stärksten von COVID-19 betroffenen Länder ist, hat sich die Zivilgesellschaft auf nationaler Ebene unermüdlich dafür eingesetzt, die politischen Entscheidungsträger*innen darauf aufmerksam zu machen, dass die drastischen Folgen der Pandemie – zum Beispiel die Auswirkungen auf das Gesundheitssystem – abgemildert werden könnten. Dafür hätte allerdings die eigene Bundesverfassung und das internationale Engagement, das Brasilien 2015 vorangetrieben hat und das in die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung mündete, respektiert werden müssen.

Leider wurden wir nicht gehört. Und obwohl wir als Zivilgesellschaft wissen, dass die Geschichte unsere Beharrlichkeit anerkennen wird, ist die Realität, dass Brasilien ein dekadentes Land geworden ist, dessen Führung sich weder um die Gegenwart, noch um die Zukunft der Menschen im Land kümmert. Traurigerweise nimmt die Gewalt immer weiter zu und die Ungleichheiten vertiefen sich in einem Ausmaß, das wir uns vor zehn Jahren nicht hätten vorstellen können. Die Folgen der Fehlentscheidungen der politischen Entscheidungsträger lassen sich in der sechsten Ausgabe des Spotlight Reports der Zivilgesellschaft über die Umsetzung der Agenda 2030 in Brasilien gut belegen. Verfasst wurde der Bericht von 101 Expert*innen aus den Bereichen Soziales, Wirtschaft und Umwelt. Er stützt sich auf offizielle Daten von Regierungsinstitutionen und Universitäten. Methodisch wird die nationale Politik anhand von 168 Zielen und rund 230 Indikatoren überprüft, die den brasilianischen Staat beim Schutz der Umwelt, der Förderung des Friedens und der Inklusion leiten sollen.

Die Ziele und Indikatoren wurden nach dem Grad ihrer Umsetzung kategorisiert und zeigen, dass die Ergebnisse alles andere als positiv sind: Brasilien hat nur bei einem der 168 analysierten Ziele zufriedenstellende Fortschritte erzielt. Bei 110 Zielen (65,47 Prozent) zeigten sich Rückschritte, bei 24 Zielen (14,28 Prozent) waren die Fortschritte unzureichend. 11 Ziele (6,54 Prozent) verblieben auf dem Vorjahresniveau oder stagnierten insgesamt, 14 Ziele (8,33 Prozent) sind gefährdet und zu 8 Zielen (4,76 Prozemt) liegen keine Daten vor. Im Vergleich zum Bericht von 2021 stieg die Zahl der Ziele, deren Umsetzung rückläufig ist, von 92 auf 110 und die der Ziele mit unzureichenden Fortschritten von 13 auf 24.

Bolsonaros Regierung war eine Katastrophe mit Ankündigung

Wenn wir hinter diese Daten blicken, sehen wir Leben ohne Hoffnung, eine vergeudete Gegenwart und die Vorstellung einer besseren Zukunft, an die kaum zu glauben ist. Übersetzt in die Realität zeigt der Bericht ein Land, das sich rasch zurückentwickelt und die eingegangenen internationalen Verpflichtungen verleugnet – was dazu geführt hat, dass Brasilien international isoliert ist. In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall, dass Brasilien im Oktober 2022 die gewalttätigsten Wahlen (des Präsidenten der Republik, der Gouverneure der Bundesstaaten und der Parlamente) in der Geschichte des Landes erwartet.

Es gibt sicher keinen Zweifel an den begrenzten intellektuellen Fähigkeiten von Jair Bolsonaro, der nicht in der Lage ist, auch nur ein oberflächliches Gespräch mit führenden Politiker*innen der Welt zu führen. Die analysierten Daten zeigen jedoch, dass er bei der Erfüllung all seiner Wahlversprechen von 2018, die sich vor allem gegen die Rechte der Bevölkerung richten, ziemlich erfolgreich war. Taktisch hat er Allianzen mit rechtsextremen Gruppen, christlichen Pfingstkirchen, der Waffenindustrie und illegalen Extraktivist*innen geschlossen und damit dem organisierten Verbrechen mehr Raum gegeben. Durch die Bestechung politischer Parteien gelang es ihm, Gesetze zu verabschieden, die die zuvor eroberten Rechte wieder einschränkten. Er zerstörte Institutionen und Foren der gesellschaftlichen Partizipation und machte Menschenrechtsverteidi-gerinnen, Nichtregierungsorganisationen und Indigene zu Staatsfeinden.

Während er Budgets, öffentliche Dienstleistungen und Kontrollinstrumente zerstörte, hat Bolsonaro erfolgreich auf einen manichäischen populistischen Diskurs („wir gegen sie“) gesetzt, der typisch für Faschist*innen ist. Damit hat er Sexismus, Rassismus und LGBTI-Phobie in einem Land, das bereits durch Sklaverei und Machismus traumatisiert ist, noch verstärkt. Fakten lügen nicht: Die Zahl der Feminizide an Transgender-Frauen hat im Jahr 2021 zugenommen, ebenso wie die politische, sexuelle und psychische Gewalt, die selbst Frauen im Parlament betrifft. Nach Angaben von UN-Women haben 82 Prozent der brasilianischen Politikerinnen psychische Gewalt erlitten, 45 Prozent wurden bedroht, 25 Prozent wurden im Parlament körperlich angegriffen und 20 Prozent wurden sexuell belästigt. Brasilien liegt heute bei der Beteiligung von Frauen in den Parlamenten auf Platz 143 von 188 Ländern (2015 war es noch Platz 115) und in der Bundesregierung sind nur 8,7 Prozent der Minister*innen Frauen.

Die Regierung spricht sich offen gegen sexuelle und reproduktive Rechte und Gendergerechtigkeit aus, so dass die Sexualerziehung aus dem Nationalen Gemeinsamen Basislehrplan (BNCC) gestrichen wurde. Nur 3 von 26 Bundesstaaten empfehlen den Schulen, Unterricht über Sexualität, Genderfragen, Prävention von Teenagerschwangerschaften und Gewalt anzubieten. Selbst die Bekämpfung von HIV und Aids, in der Brasilien ein internationales Vorbild war, wurde deutlich geschwächt, da die Mittel für Präventionskampagnen in alarmierender Weise gekürzt wurden. Betrug das Budget für HIV/AIDS-Prävention 2015 noch 20,1 Millionen brasilianische Reais, sank es 2020, im zweiten Jahr der Amtszeit von Jair Bolsonaro, auf 3,9 Millionen Reais. 2021 waren es nur noch rund 100.000 Reais.

Die Regierung Bolsonaro war eine angekündigte Katastrophe, aber die Ergebnisse sind deutlich schlimmer, als von der Zivilgesellschaft erwartet. Denn es bestand noch die Hoffnung, dass die demokratischen Institutionen bei der Erfüllung ihres Mandats der Exekutive die richtigen Grenzen setzen würden – was nicht geschah. Und so erscheint Brasilien 2022 erneut auf der Welthungerkarte: Die Anzahl der Hungernden stieg von 19,1 Millionen im Jahr 2020 auf 33,1 Millionen im Jahr 2021; insgesamt 125,2 Millionen Menschen leben in einem gewissen Grad von Ernährungsunsicherheit. Das ist mehr als jede*r Zweite im Land.

Brasilien erwartet die gewalttätigsten Wahlen seiner Geschichte

Bei einer Arbeitslosenquote von 11,2 Prozent fehlt es an wirksamen Maßnahmen, um Arbeitsplätze und Einkommen zu schaffen. Die Agrarreform wurde ausgesetzt und die Zahl der Konflikte auf dem Land ist bis 2021 um 1.100 Prozent gestiegen, während das räuberische Agrobusiness weiter vorrückt und das Leben der Indigenen und Quilombolas zerstört. Das brasilianische Entwicklungsmodell setzt grundsätzlich auf den Primärsektor und ist von geringer Dynamik und hoher Umweltzerstörung gekennzeichnet. Doch die Situation ist außer Kontrolle geraten: Die Entwaldung war im Jahr 2021 um 79 Prozent höher als im Jahr 2020 und erreichte 20 Prozent der Gesamtfläche des Amazonasgebiets, während sie im Trockenwald Cerrado um acht Prozent (8.531 km2) zunahm. Zwischen 2019 und 2021 gingen in den Schutzgebieten 130 Prozent mehr Waldfläche verloren als in den drei Jahren zuvor, und in den indigenen Gebieten war die Entwaldung um 138 Prozent höher.

Das Wirtschaftsteam der Regierung Bolsonaro ist nachweislich inkompetent und theoretisch nicht auf dem neusten Stand, so dass es – selbst wenn es wollte, was nicht der Fall ist – nicht wüsste, wie es mit der schwierigen ökonomischen Situation in Brasilien umgehen soll. Durch seine Arbeit stieg die Inflation, die Preise für Treibstoff, Energie und die Lebenshaltungskosten. Das führte zu einem sprunghaften Anstieg der Anzahl der auf der Straße lebenden Menschen. Die jüngste Volkszählung in der reichen Stadt São Paulo hat ergeben, dass die Zahl der Obdachlosen in den vergangenen zwei Jahren um 31 Prozent gestiegen ist und sich überwiegend aus Frauen, Kindern und ganzen Familien zusammensetzt. Bolsonaro verfolgt jedoch weiter strukturpolitische Maßnahmen, und hat erst vor wenigen Wochen, mit Blick auf die Wahlen, mehr Mittel für soziale Hilfsleistungen bewilligt.

Bei all diesen deprimierenden Kennzahlen zeigt der Spotlight Report aber auch, dass es Lösungen gibt. Die 116 Empfehlungen zeigen, dass es möglich ist, unsere Rechte wieder in den öffentlichen Haushalt aufzunehmen und den Boden zurückzugewinnen, den wir durch Gewalt, Hunger, Armut, Rassismus und geschlechtsspezifische Ungleichheiten verloren haben, die das heutige Brasilien kennzeichnen. Wir müssen unbedingt unsere Kultur der Privilegien beenden. Dazu ist es dringend erforderlich, die Arbeits- und Sozialversicherungsreformen der vergangenen Jahre zu revidieren, und die Gesetze wieder abzuschaffen, die öffentliche Investitionen in Gesundheit, Bildung und andere wichtige Bereiche verhindern. Zum Beispiel die Verfassungsänderung EC 95 der Regierung von Michel Temer, die von den Vereinten Nationen als die weltweit drastischste wirtschaftliche Maßnahme gegen soziale Rechte angesehen wird. Wir brauchen eine Steuerreform, über die effiziente und menschenrechtsorientierte Projekte gefördert werden. Schließlich müssen wir die Steuervermeidung und -hinterziehung sowie die öffentliche Finanzierung von Unternehmen, die nicht auf eine nachhaltige Entwicklung hinarbeiten, beenden. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen werden wir nicht aufgeben, bis diese Regierung und ihre Kumpane im Parlament für ihre Verbrechen vor Gericht gestellt werden. Dafür müssen die Kapazitäten der Zivilgesellschaft und der demokratischen Institutionen gestärkt werden, auch durch eine größere Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft.

LULA FOR PRESIDENT?

Tintenfisch mit Gurke An der Seite von „Tintenfisch“ Lula tritt Alckmin als Vize an – er hat in der Vergangenheit den Spitznamen chuchu bekommen – ein geschmackloses Gemüse (Foto: www.lula.com.br)

Am 26. Mai veröffentlichte das als sehr zuverlässig geltende Wahlforschungsinstitut Datafolha eine neue Umfrage zu den Präsidentschaftswahlen. Danach liegt Lula mit 48 Prozent deutlich vor Bolsonaro, der lediglich auf 27 Prozent der Stimmen kommt. Ein Wahlsieg von Lula bereits im ersten Wahlgang wäre damit möglich. Die Umfrage bestätigt ein sich immer mehr konsolidierendes Szenario: Die Präsidentschaftswahl läuft auf ein Duell zwischen Lula und Bolsonaro hinaus, alle anderen Kandidat*innen bleiben im einstelligen Bereich. Damit dürften alle Versuche, einen sogenannten „Dritten Weg“ jenseits der bestehenden Polarisierung zu finden, als gescheitert gelten. Im linken Lager wurde das Ergebnis der Umfrage mit großer Erleichterung aufgenommen. Denn in den vorangegangen Umfragen hatte sich der Abstand zwischen Lula und Bolsonaro zusehends verringert, Bolsonaro holte auf. Dieser Trend ist nach den aktuellen Ergebnissen von Datafolha nun anscheinend gebrochen. Es ist schwer zu sagen, worauf dies zurückzuführen ist. Sicher ist, dass die wirtschaftliche Entwicklung den Amtsinhaber nicht begünstigt. Die Wirtschaftskrise hält an, die Inflation steigt unaufhörlich. Die offizielle Inflationsrate liegt nun bei sieben Prozent, aber der Preisindex für Konsumgüter ist um zwölf Prozent gestiegen. Dies trifft insbesondere die Ärmsten, die Verschlechterung der Lebenslage ist spürbar. Traurigster Indikator dafür ist die Wiederkehr des Hungers in Brasilien. Eine neue Studie geht davon aus, dass im Jahr 2020 rund 55 Prozent der brasilianischen Bevölkerung von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, das heißt 116,7 Millionen Menschen. Von diesen 116,7 Millionen sind 19 Millionen, also neun Prozent der Gesamtbevölkerung, von Hunger betroffen und weitere 11,5 Millionen Menschen ohne regelmäßigen und gesicherten Zugang zu Nahrung (siehe LN 563). Dies ist ein Ergebnis der Streichung zahlreicher Sozialprogramme durch die Regierung Bolsonaro. Auf jeden Fall bedeuten die Umfragewerte Rückenwind für die Strategie von Lula und der PT. Anders als bei den letzten Wahlen tritt Lula nun mit einem Wahlbündnis an, das über die üblichen Verdächtigen aus dem linken Lager hinausgeht. Tatsächlich war früh klar, dass die kleineren linken Parteien Lulas Kandidatur unterstützen werden. Auch die sozialistische PSOL wird Lula bereits im ersten Wahlgang unterstützen und keinen eigenen Kandidaten aufstellen. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2018 war sie mit dem populären Guilherme Boulos von der Bewegung der Wohnungslosen MTST angetreten, der nun für das Bundesparlament kandidieren wird.

Alckmins Nominierung als Lulas Vize ist ein Signal an das bürgerliche Lager

Ein überraschender und möglicherweise wahlentscheidender Schachzug gelang Lula und der PT aber mit der Nominierung von Geraldo Alckmin als Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten. Alckmin war in den letzten Jahrzehnten der wichtigste Politiker der PSDB, dem historischen Widersacher der PT. Präsidentschaftswahlen waren in Brasilien lange Zeit ein Duell zwischen den Kandidat*innen der PT und der PSDB; 2006 unterlag Alckmin Lula bei den Präsidentschaftswahlen. Nach dem katastrophalen Abschneiden der PSDB bei den Präsidentschaftswahlen 2018 hat sich die Partei aber in rivalisierende Lager aufgespalten. Alckmin wechselte zur PSB, einer Partei, die zwar den Sozialismus im Namen führt, aber in vielen Bundesstaaten ein Sammelbecken ohne klares politisches Profil bildet. Alckmin ist jeglicher linker Sympathien unverdächtig, seine Nominierung ist genau das Signal an das bürgerliche Lager, das sich Lula und die Mehrheit seiner Partei wünschen: Unser Bündnis umfasst ein weites politisches Spektrum, niemand – außer der Familie Bolsonaros und dem härtesten Kern seiner Anhänger – müsse vor einer Präsidentschaft Lulas Angst haben, so die Botschaft.

Neidisch schaute die Linke Brasiliens nach Kolumbien

Unter den linken Strömungen der PT und in der PSOL wurde die Nominierung Alckmins hingegen mit Misstrauen und offener Ablehnung aufgenommen. „Wir glauben, dass Alckmin keine Stimmen bringt. Er ist ein Neoliberaler, ein Unterstützer des Putsches (gegen Dilma Rousseff, Anm. d. Red.) und er hat unzählige Male die PT und Lula beleidigt“, kritisierte Valter Pomar, prominenter Vertreter der PT-Linken. Neidisch schaute die Linke Brasiliens nach Kolumbien und wünschte der PT den Mut, eine Frau wie Francia Marquéz auszuwählen. Doch es half alles nichts – mit großer Mehrheit bestätigte der Vorstand der PT Anfang Mai die Kandidatur Alckmins. Die Kritiker*innen haben die Entscheidung zähneknirschend akzeptiert und die Unterstützung der Kandidatur Lulas nicht von der Entscheidung der PT für Alckmin abhängig gemacht. Lula com chuchu (Tintenfisch mit Gurke) heißt daher das Motto der Stunde: Alckmin hat in der Vergangenheit den Spitznamen chuchu bekommen, ein als besonders geschmacklos geltendes Gemüse. Auch wenn in den aktuellen Umfragen Bolsonaro klar hinter Lula liegt – er ist und bleibt der einzige Kandidat, der Aussichten hat, Lula zu schlagen. Deshalb wird immer wieder davor gewarnt, Bolsonaro zu unterschätzen und zu siegesgewiss zu sein. Die Tatsache, dass Bolsonaro trotz der desaströsen Bilanz seiner Regierung über ein stabiles Fundament von etwa 30 Prozent der Wähler*innen verfügt, zeigt, dass der Bolsonarismus inzwischen fest in der brasilianischen Gesellschaft verwurzelt ist und wohl auch auch bei einer Niederlage die kommenden Wahlen überleben würde. Die gesellschaftlichen Gruppen, die den Bolsonarismus speisen, sind die extrem konservativen Evangelikalen und alle diejenigen, die sich durch „Genderideologie“, Feminismus, Menschenrechte und Kommunismus bedroht und von der traditionellen Politik verraten fühlen. Die Zustimmung zu Bolsonaro ist bei Männern höher als bei Frauen und steigt parallel zum Einkommen. Auf dieser Basis wird Bolsonaro seinen Wahlkampf als moralischen Kreuzzug gegen das Böse führen und Themen wie die Verteufelung der Entkriminalisierung von Abtreibung, der Rechte von LGBTIQ* aber auch die Verbindungen der PT zu den als „kommunistisch“ bezeichneten Regierungen von Venezuela, Kuba und Nicaragua in den Mittelpunkt stellen. Lula und die PT hingegen werden genau diese Themen meiden und die wirtschaftliche Lage, die Inflation sowie die zunehmende Verelendung thematisieren und immer wieder zeigen, dass unter Lulas Präsidentschaft alles besser war.

„Leute, wir können jetzt nicht über Abtreibung reden!“

Die Frage der Abtreibung zeigt, wieviel von der PT in diesem Wahlkampf zu erwarten ist. Lula hatte im April bei einer Veranstaltung erklärt, Abtreibung solle zu eine Frage der öffentlichen Gesundheitsfürsorge werden. Nach heftigen Reaktionen erklärte er, dass er persönlich gegen Abtreibung sei, und seitdem wird das Thema von der PT vermieden. Symptomatisch ist die Äußerung der populären Schauspielerin und Lula-Unterstützerin Maria Ribeiro, die vor allem durch den Film Tropa de Elite bekannt wurde: „Leute, wir können jetzt nicht über Abtreibung reden. Darüber sprechen wir nächstes Jahr, verstanden? Wir müssen diese Wahl gewinnen.“ Lulas Wahlsieg hängt davon ab, dass es ihm gelingt, das konservative Lager zu spalten und zumindest zum Teil für sich zu gewinnen. Die Konservativen sind die entscheidende Zielgruppe des Wahlkampfes und für sie ist die Nominierung Alckmins das richtige Signal. Die Linke werde ohnehin Lula wählen, zumal wenn die Alternative Bolsonaro lautet – so das Kalkül von Lula und der PT.

Überschattet wird der beginnende Wahlkampf von einer weiteren Frage: Ist der amtierende Präsident überhaupt bereit, ein anderes Wahlergebnis als seinen Sieg zu akzeptieren? Seit Anfang Mai hat Bolsonaro die Angriffe gegen die demokratischen Institutionen verstärkt, insbesondere gegen den Obersten Gerichtshof STF. Er sät immer wieder Zweifel an dem elektronischen Wahlverfahren und beschwört das Gespenst von Wahlfälschungen. Damit ist die Gefahr eines Putsches in der brasilianischen Presse erneut omnipräsent. So bereitet Bolsonaro das Terrain dafür vor, im Falle einer Wahlniederlage den demokratischen Prozess zu delegitimieren. Das alles erinnert natürlich an die Rhetorik von Donald Trump. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied: Bolsonaro hat die Unterstützung (weiter Teile) des Militärs und anderer bewaffneter Gruppen aus Militärpolizei, Sicherheitsdiensten und Milizen. Keine andere gesellschaftliche Gruppe hat so von der Regierung Bolsonaros profitiert wie die Militärs. 6.000 Angehörige der Streitkräfte haben gutbezahlte Posten in der Regierung erhalten, mehr als in den Zeiten der Militärdiktatur. Die Gehälter der Militärs wurden angehoben und in den Wahlkampf wird Bolsonaro wohl mit einem loyalen Militär als Kandidat für die Vizepräsidentschaft gehen. Zudem rühmt er sich, dass unter seiner Regierung der Zugang zu Waffen erleichtert wurde. Im Mai dieses Jahres wiederholte Bolsonaro einen seiner Lieblingssprüche: „Das bewaffnete Volk wird niemals versklavt sein. Die Waffe in der Hand der aufrechten Bürger wird nicht nur die Familie, sondern auch das Vaterland verteidigen.“ Und er fügte hinzu: „Meine Regierung ist radikal gegen Abtreibung, Genderideologie und den Kommunismus, und Gott steht über allen.“ Unter den Menschen Angst zu verbreiten, gehört zu den speziellen Fähigkeiten Bolsonaros. Brasiliens Demokratie steht vor schweren Zeiten.

“KÖNNEN WIR NOCH WEITERE VIER JAHRE SO LEBEN?”

Foto: Katie Mähler @katie_maehler

Anfang Oktober sind Wahlen in Brasilien. Welche Erwartungen habt ihr mit Blick auf dieses Ereignis?
Alice: Ich hoffe sehr, dass ein anderer Kandidat als Bolsonaro gewinnt. Ich habe natürlich meine Präferenzen und konkrete Vorstellungen für die Zukunft, aber wie heißt es so schön: Das Leben ist kein Wunschkonzert. Auch wenn ein Kandidat erklärt, die indigenen Völker zu unterstützen, bedeutet das nicht unbedingt viel. Wir benötigen konkrete Aktionen. Während der Vorgängerregierungen hatten wir bereits bemerkt, dass es zwischen der indigenen Bewegung und der brasilianischen Politik eine tiefe Spaltung gibt. Und das müssen wir ein für alle Mal verändern. Ich hoffe wirklich sehr, dass die neue Regierung kompromissbereit sein wird und Verantwortung übernimmt. Denn bei Wahlkundgebungen ist es sehr einfach, Unterstützung zu zeigen. Doch sie in die Praxis umzusetzen und das Leben der Indigenen etwas zu erleichtern sowie endlich die Anerkennung der indigenen Territorien umzusetzen, das wäre für uns alle ideal.

Wie sind eure Erfahrungen als indigene Frauen und politische Führungspersönlichkeiten der Pataxó und der Uru Eu Wau Wau?
Tejubi: Bisher ist das eine gute Erfahrung für mich. Es ist zum Beispiel das erste Mal, dass ich als Vertreterin meines Volkes so weit gereist bin. Dass meine Tochter so weit weg ist, macht mir etwas Angst, weil ich oft an die Invasionen in unser Land denke und weiß, dass immer etwas Schlimmes passieren kann. Ich muss aber sagen, dass es nicht immer einfach war, mein Volk zu vertreten, denn ich wurde häufig diskriminiert und habe gehört, dass Frauen diese Aufgaben nicht übernehmen können. Aber ich stehe hier, um zu zeigen, dass wir es doch können.
Alice: Das ist ein extrem komplexes Thema. Wir sprechen von indigenen Völkern, die immer noch vom Patriarchat und gewissermaßen auch vom Machismo dominiert werden. Die Pataxós haben heute eine größere Offenheit, so sehe ich es, da es seit vielen Jahren Frauen gibt, die Führungspersönlichkeiten und Caciques sind. Diese Entwicklung nimmt zu. Heute sehe ich mehr Mädchen, die sich in politischen Räumen beteiligen und ihre Communities vertreten können. Das ist auch für uns sehr wichtig, denn wir bewegen uns von einer Position, in der wir nur als Frauen oder Mütter gesehen werden, zu einer anderen, in der wir eine politische, individuelle Person sein dürfen. Dabei geht es nicht nur um Zugang zur Politik, sondern auch um andere Möglichkeiten, wie zum Beispiel ein Studium. Das stärkt alle indigenen Frauen.

Wie blickt ihr auf die indigenen Kämpfe der letzten Jahre, in denen die Regierung Bolsonaro die territorialen Besetzungen und den Genozid an den indigenen Völkern vorangetrieben hat?
Alice: Der Genozid ist das Hauptmerkmal der Regierung von Bolsonaro. Ich habe noch nie eine solche Gesetzlosigkeit erlebt, sie erstickt die indigene Bevölkerung langsam. Die Suizidrate von Indigenen ist gestiegen, ebenso wie die von LGBT. Die Lage ist chaotisch, vor allem in Bezug auf die Pandemie. Es macht uns extrem traurig – umso mehr, wenn wir daran denken, dass Bolsonaro erneut kandidieren will. Falls er gewinnt, was werden wir tun, um mit seiner Politik umgehen zu können? Denn ehrlich gesagt, ist der Schaden nach vier Jahren seiner Regierung äußerst groß. Ich frage mich, ob wir noch weitere vier Jahre so leben können.
Tejubi: Seit Bolsonaro an der Macht ist, stellen alle fest, dass die Besetzungen in den indigenen Territorien beträchtlich zugenommen haben. Ich denke gerade an eine Geschichte, die bei uns passiert ist. Einige Invasoren sind in unser Land eingedrungen. Meine Verwandten sind zu ihnen gegangen und haben von ihnen gehört: „Das ist ein Befehl von oben. Wichtige Menschen haben uns erlaubt, das Land hier zu besetzen”. Wir Indigene und viele andere Brasilianer haben nur Probleme seit dem Beginn von Bolsonaros Amtszeit. Aber manche nehmen die Katastrophe nicht wahr, denn die Mehrheit seiner Unterstützer besitzen Land und Vieh und befürworten die Abschaffung indigener Territorien völlig.
Alice: Die Regierung Bolsonaro verfolgt eine politische Agenda, die sich gegen die indigenen Völker richtet und gegen die Menschen aus Favelas. Es ist für uns sehr schwer zu akzeptieren, dass das bestehende brasilianische System nur weiße Personen berücksichtigt, die über Privilegien und Ressourcen verfügen. Alle Vorstellungen von Entwicklung, die aktuell von der Regierung vertreten werden, basieren darauf. Auf Geld, auf Entwaldung, kurz: auf allem, was wir bekämpfen und seit langem versuchen zu verändern.

Welche Rolle spielte der digitale Aktivismus in euren politischen Kämpfen?
Alice: Ich arbeite heutzutage mit sozialen Medien. Sie sind ein Werkzeug mit großem Potenzial, das der indigenen Bewegung viel geben kann, denn sie dienen dazu, Menschen, die keinen Zugang zu unseren Communities haben, über unsere Bewegung und unsere Realität zu infor-*mieren. Es gibt eine riesige, nicht nur geographische, Distanz zwischen indigenen Dörfern und den Städten in Brasilien und dies hat natürlich Konsequenzen. Wir müssen aber gut aufpassen, denn dieses Werkzeug hat andererseits auch negative Effekte. Es gibt eine neue Generation, die langsam diesen virtuellen Raum besetzt, der ursprünglich nicht für uns geschaffen worden ist. Hier in Deutschland und Europa ist das Engagement über die sozialen Medien sehr stark, viele zeigen großes Interesse für die indigene Bewegung in Brasilien. Diese Annäherung wurde nur dank des Internets ermöglicht.
Tejubi: Alice ist die Influencerin von uns beiden (Gelächter).
Alice: Ich sehe mich nicht als Influencerin, denn ich beeinflusse Menschen nicht. Vielmehr kläre ich sie auf, denn das interessiert mich. Ich will nicht sagen, was die anderen tun sollten. “Influence” ist ein Begriff, der für die Kommerzialisierung konzipiert wurde und ich denke einfach anders.
Tejubi: Das Internet war für uns von Uru Eu Wau Wau sehr wichtig, denn so konnten wir etwas bekannter werden. Wir haben gelernt, Drohnen und GPS zu nutzen, um ein Harpyie-Nest (seltener, tropischer Greifvogel, der in den höchsten Baumkronen nistet, Anm. d. Red.) zu beobachten. Dies haben wir der FUNAI (Nationale Behörde für Indigene, Anm. d. Red.) gezeigt, um zu dokumentieren, dass dort Entwaldung stattfindet. Obwohl sie dem widersprochen haben – sie wären dort gewesen und hätten nichts gefunden, sagten sie – haben wir angefangen zu posten, was in unserem Territorium geschieht, und hoffen nun, dass uns dies helfen kann.

Wie stellt ihr euch das Engagement der jungen Generationen gegen die Entwaldung und für die Umwelt vor?
Alice: Junge Menschen können etwas tun, auch auf autonome Art und Weise. Mein Großvater hat mir immer gesagt, dass die Jugendlichen von heute die Führungsfiguren von morgen sein werden. In dieser Hinsicht ist unsere Bewegung sehr gewachsen und das ist extrem positiv. Ich hoffe, dass wir mehr Zugang zu Möglichkeiten erhalten sowie weniger Vorurteile und Diskriminierungen erleben werden, denn wir sind dagegen nicht immun. Unsere Jugend braucht auch mehr Engagement der neuen Generationen anderer Länder, um die echten Probleme besser angehen zu können.

In Bezug auf eure Reise nach Europa: Wie schätzt ihr die Möglichkeiten ein, mit internationalen Akteuren zu kooperieren?
Tejubi: Ich hoffe, dass unsere Reise nach Europa positive Folgen haben wird. Mein Volk würde sich sehr darüber freuen, wenn ich mit konkreten Ergebnissen zurückkehren könnte. Ich denke dabei an die Ermordung zweier meiner Onkel, die keine juristischen Konsequenzen hatte. Der eine war Lehrer und Mitglied einer Monitoring-Gruppe, er wurde vor zwei Jahren ermordet. Der andere erst vor drei Monaten, wahrscheinlich von einem Goldgräber in Guajará-Mirim. Wir haben dazu noch nichts erfahren, weder von Seiten der FUNAI, noch der Polizei. Es ist sehr schwierig für mich, wenn mich meine Großmutter fragt, ob ich hier schon etwas erreichen konnte, um die Verbrechen aufzuklären.
Alice: Ich finde es auf jeden Fall positiv und notwendig, die Realität unseres Kampfes in einem internationalen Kontext darstellen zu können. Beispielsweise können durch Kunst unsere Gefühle und andere Aspekte unserer Bewegung sehr effektiv kommuniziert werden. Auch wenn wir in den letzten Jahren mehr Raum in der nationalen wie internationalen Politik einnehmen konnten, kommen wir in vielerlei Hinsicht immer noch zuletzt, was sehr schade ist.

GEGEN DEN TRANSFEINDLICHEN NORMALZUSTAND

Ein sicherer Ort mit umfassender Betreuung In den Kliniken arbeiten interdisziplinäre Teams an der Hormontherapie (Foto: Renato Araújo/Agência Brasilia (CC BY 2.0))

Wie viele Travestis und trans* Frauen in Lateinamerika hat Brenda ihre Hormontherapie ohne ärztliche Begleitung begonnen. Diane 35, ein für die Behandlung von Akne vorgesehener Testosteronblocker sowie Perlutan, eine für cis Frauen vorgesehene Verhütungsspritze, sind frei in Apotheken verkäuflich. Seit dem Beginn ihrer Behandlung in einem Ambulatório Trans in ihrer Heimatstadt Natal konnte Brenda die Selbstmedikation reduzieren. „Auch wenn einige Hormone wie etwa Diane 35 vom SUS weiterhin nur für cis Frauen verschrieben werden, fühle ich mich bei den Trans-Kliniken gut aufgehoben. Dort werde ich von einer Endokrinologin betreut und kann kostenlos meine Östradiol- und Testosteronwerte kontrollieren lassen“.

Gegen die transfeindliche Politik Jair Bolsonaros ist die Implementierung der Trans-Kliniken ein wichtiger Schritt des Widerstandes. Seit Beginn seiner Amtszeit zieht der rechtsextreme Präsident seine konservative Agenda gegen die sogenannte „Gender-Ideologie“ durch und legitimiert transfeindliche Gewalt – und das in einer ohnehin schon polarisierten Gesellschaft. 2019 schwärmte Damares Alves, damals Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, in einem Video, dass eine neue Ära anbrechen würde, in der „Mädchen rosa und Jungs blau tragen“. 2020 wurde ein Video von Eduardo Bolsonaro verbreitet, Sohn des Präsidenten und Kongressabgeordneter, in dem er während einer „Gender reveal party“ mit einer Waffe auf einen Ballon schießt, um das Geschlecht seines Kindes zu enthüllen. 

Jedes Jahr werden durchschnittlich 123 trans* Personen in Brasilien ermordet

Die Zahlen von Travestiziden und Transfeminiziden sind alarmierend hoch. Laut dem jüngsten Bericht der nationalen Vereinigung für Travestis und Transsexuelle (ANTRA), werden jährlich durchschnittlich 123 trans* Personen ermordet. Damit bleibt Brasilien das dreizehnte Jahr in Folge das Land, in dem weltweit am meisten trans* Personen ermordet werden. Daran hat sich nichts geändert, seit sich bei den Kommunalwahlen 2020 die Anzahl der in politische Ämter gewählten Travestis und trans* Menschen vervierfacht hat. Viele der jetzigen Abgeordneten sind mit anonymen Morddrohungen konfrontiert. Benny Briolly, Stadträtin von Niterói, musste sogar vorrübergehend das Land verlassen.

Trotz dieser brutalen Realität sind in den letzten Jahren eine bedeutende Zahl von Trans-Kliniken entstanden. Politisch ermöglicht hat dies eine 2011 noch unter der Regierung Dilma Rousseffs vom Gesundheitsministerium erlassene Richtlinie. 2013 wurde diese um den Zugang zur Hormontherapie sowie zu operativen geschlechtsangleichenden Maßnahmen für trans* Männer und Travestis erweitert. Die erste Trans-Klinik wurde 2009 in São Paulo eröffnet, mittlerweile finden sie sich in den meisten Hauptstädten des Landes. Manche, etwa diejenige in Salvador, sind nur durch das Engagement von Aktivist*innen wie Mirella Santos zustande gekommen. In ganz Brasilien gibt es momentan 33 Ambulatórios Trans – eine Zahl, die vor wenigen Jahren noch unvorstellbar war.

„Die Trans-Kliniken bieten eine sichere Möglichkeit für die Hormontherapie“, erzählt Brenda. In der Klinik von Natal wird sie die im Laufe ihrer Therapie von einem interdisziplinären Team begleitet, dem auch Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen angehören. Als safe spaces garantieren die Kliniken eine kontinuierliche Behandlung. „In anderen Praxiszentren würden wir nicht so gut behandelt werden, wegen der Stigmatisierung unserer Körper und unserer Leben“ erläutert sie weiter. Diese koordinierte und sichere Möglichkeit zur Hormontherapie gibt es nicht einmal in Berlin. Dort müssen Termine bei verschieden Arztpraxen vereinbart werden. Eine ohne die Unterstützung durch die Community fast unmögliche Aufgabe. Zusätzlich muss die Diagnose einer Störung (F64 ICD 10) von einem*einer psychologischen Gutachter*in vorliegen.

„Die Diagnostizierung solch einer ‘Störung’ sollte verfassungswidrig sein“, meint Porca Flor, eine Travesti aus Brasilien. Sie berichtet, dass am Anfang ihrer Behandlung in der Trans-Klinik in João Pessoa auch eine psychologische Diagnose stand. Das Gespräch mit der Psychologin fand sie „karikaturistisch, aber zugleich interessant“, denn es war das erste Mal, dass sie überhaupt psychologische Beratung machte: „Ganz anders, als mit einer Freundin zu reden“, ergänzt sie. „Dennoch musste ich mich ständig daran erinnern, wer da eigentlich sitzt, und welche Logik der Normativität diese Person ausdrückt. Und dementsprechend habe ich einfach mitgespielt“. Nachdem sie mit dem Gutachten bei einem Psychiater war, konnte sie die Behandlung beginnen. Diese institutionelle Pathologisierung und Diskriminierung findet in vielen Ländern Lateinamerikas, aber auch Europas statt, wie die Organisation Transgender Europe in der Studie „Trans Healthcare Lottery“ kritisiert. „Wäre die Psychologin trans gewesen, oder rassifiziert, dann wär’s vielleicht was. Aber mit einer weißen cis Frau, die keine Ahnung von meinem Leben als Travesti hat, konnte ich nichts anfangen“, fügt Porca hinzu. „Denn es ist doch wünschenswert, dass wir alle eine psychologische Begleitung zu unseren Behandlungen bekommen. Es ist sehr schwer, selbst eine Hormontherapie durchzuführen, ohne zu wissen, wie du dich über die körperlichen Merkmale hinaus veränderst, auch was die sozialen Konsequenzen der Transition betrifft“.

Auch wenn die Trans-Kliniken als eine gegen die strukturelle Transfeindlichkeit gerichtete Organisation gelten, sind sie in ihrer Wirkmächtigkeit limitiert. ANTRA weist auf wichtige politische Herausforderungen hin. Seit der Aktualisierung der WHO-Klassifikation von Krankheiten und verwandten Gesundheitsproblemen (ICD-11) im Jahr 2018 wird „Transsexualität“ als Genderinkongruenz und nicht mehr als psychische Störung gelistet – ein Erfolg, aber die Richtlinien des Gesundheitsministeriums blieben bisher unverändert. „Wir müssen darauf ein Auge haben. Seit der Verfassungsänderung zur Obergrenze für öffentliche Ausgaben sieht die Lage im Gesundheitsministerium nicht gut aus. Es sind keine weiteren Investitionen vorgesehen und die konstanten Angriffe auf die SUS lässt Rückschritte befürchten“. Im Webinar „Transkommunikation im Netz“ von 2021 hat sich Bianca Lopes, Vertreterin von ANTRA in Góias, auch zu territorialen Limitierungen der von den Trans-Kliniken angebotenen Dienste geäußert. „Es fehlt eine ausführliche soziodemographische Dokumentation zu Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen. Ohne dieses Wissen ist der Erweiterung der Angebote auf andere Städte schwierig.“ Außerdem müssten die alltägliche Diskriminierung, die strukturelle Marginalisierung und die Gewalt gegenüber Travestis und trans* Personen in der Diskussion über den gerechten Zugang zur Hormontherapie und weiteren medizinischen Behandlungen eine zentrale Rolle spielen. Erst wenn diese Benachteiligungen vollständig berücksichtigt werden, kann sich die Gesundheitsversorgung entsprechend weiterentwickeln. Dass Brasilien überhaupt in der Lage ist, so einen institutionellen Service zu gewährleisten, ist das Ergebnis von politischem Aktivismus – und von diesem aus muss es sich auch weiterentwickeln.

Die Zukunft der Trans-Kliniken ist auch vom Ausgang der im Herbst anstehenden Wahlen in Brasilien abhängig. Bei einer Wiederwahl Bolsonaros könnte Gewalt gegen Travesti und trans* Personen noch weiter legitimiert werden. Und auch wenn einige der wichtigen Fortschritte für die Community unter den PT-Regierungen zustande kamen, ist fraglich, ob eine zukünftige PT-Regierung in der Lage wäre, sich gemeinsam mit Transaktvist*innen gegen die alarmierende Gewalt einzusetzen und das Fortbestehen der Trans-Kliniken zu garantieren und ihr Angebot zu verbessern.

IN DER PARANOIDEN PARALLELWELT DES BOLSONARISMUS

Sieht nicht nur faschistisch aus Bolsonaro beim cercadinho (Foto: Niklas Franzen)

Langsam rollt die schwarze Limousine heran und bremst vor einem hüfthohen Gitter. Ein Mann öffnet die hintere Tür des Wagens. Jair Bolsonaro steigt aus, richtet seinen Anzug, grinst. Hinter einer Absperrung stehen rund 30 Menschen, ich bin einer davon. Fast jeden Tag trifft Brasiliens Präsident in der Hauptstadt Brasília seine Anhänger*innen vor dem Palast der Morgenröte, der offiziellen Residenz. Er schüttelt Hände, plaudert, posiert für Selfies. Ein Präsident zum Anfassen.

Ich habe mich als Unterstützer getarnt. Denn Journalist*innen sind hier nicht erwünscht. Kolleg*innen rieten mir ab, am cercadinho, am kleinen Zaun, aufzukreuzen. Viel zu riskant, sagten sie. Und ihre Sorge ist nicht unberechtigt. Journalist*innen wurden hier schon beschimpft, bespuckt, geschlagen. Mittlerweile haben sich Medienvertreter*innen daran gewöhnt, von Pressekonferenzen ausgeladen, durch Online-Kampagnen eingeschüchtert und wüst beschimpft zu werden. Auch der Präsident beteiligt sich höchstpersönlich an der Hetze gegen die vierte Gewalt. Vor dem Palast der Morgenröte brüllte er einmal einem Reporter entgegen, dass er Lust habe, ihm sein Gesicht einzuschlagen. Einem anderen erklärte er vor laufenden Kameras, dass er aussehe wie ein „schrecklicher Homosexueller“.

So ist es nicht verwunderlich, dass die großen Medienhäuser ihre Reporter*innen schon länger nicht mehr zum cercadinho schicken. Doch ich wollte unbedingt eines dieser skurrilen Treffen hautnah miterleben. Denn an kaum einem anderen Ort kommt man dem Präsidenten so nah wie hier. An kaum einem anderen Ort wird Bolsonaro so deutlich in seinen Ansprachen. Und an kaum einem anderen Ort lässt sich besser die fast schon religiöse Hingabe von Bolsonaros Anhänger*innen beobachten.

Es gibt nur zwei Kategorien: Für Bolsonaro oder gegen ihn.

Auch für den Präsidenten sind die Treffen enorm wichtig. Sie sind eine Möglichkeit, Dampf abzulassen und Dinge einzuordnen. Ohne Kritik, ohne Widerspruch, ohne Nachfragen der Presse. Ich versuche es trotzdem und spreche Bolsonaro auf eine Klage von Umweltschützer*innen vor dem Internationalen Strafgerichtshof an. Verärgert schaut er mich an und beginnt, sichtlich genervt über NGOs zu schimpfen. Es wird klar: Bolsonaro will hier nicht über kritische Dinge sprechen. Das ist typisch für seinen autoritären Kurs. Dialog findet kaum noch statt. Politik macht Bolsonaro nur für seine Basis. Dass er an diesem Abend wieder einmal haarsträubende Lügen erzählt, stört hier niemanden.

Aus dem ganzen Land sind die Fans des Präsidenten angereist. Tausende Kilometer für ein kurzes Treffen. Einige haben Freudentränen in den Augen. Ein blonder Mann murmelt immer wieder: „Ein Traum ist wahr geworden, ein Traum ist wahr geworden.“ Bei den meisten Menschen löst ein Treffen mit einem Staatsoberhaupt Ehrfurcht aus. Doch bei Bolsonaro ist es mehr. Es ist eine Verehrung, die schon fast sektenhafte Züge trägt. Woher kommt dieser regelrechte Führerkult? Ist es Bolsonaros Persönlichkeit? Sind es seine politischen Ideen? Oder hat er einfach nur Gefühle freigesetzt, die seit langem in den Brasilianer*innen schwelen?

Vor dem Präsidentenpalast lerne ich Clemerson kennen. 37, braungebrannt, Brasilien-Trikot. Mit seinem Sohn ist er aus dem Soja-Bundesstaat Mato Grosso angereist, um „seinen Präsidenten“ zu treffen. Warum er Bolsonaro unterstütze? „Er ist ehrlich. Ganz anders als der Rest.“ Solche Aussagen hört man häufig. Von seinen Anhänger*innen wird Bolsonaro für seine „authentische Art“ gefeiert. Und in der Tat ist er mehr als der hasserfüllte Provokateur. Der Rechtsradikale versteht es, eine einfache Sprache zu benutzen, was in einem Land mit einem geringen Bildungsniveau nicht ganz unwichtig ist. Er ist sehr direkt, erzählt gerne Anekdoten, macht Witze und nimmt nie ein Blatt vor den Mund. Mit dieser Art gibt er seinen Unterstützer*innen zu verstehen: Seht her, ich bin ein ganz normaler Brasilianer! Einer von euch! So ist es für ihn kein Nachteil, dass er nur ein mittelmäßiger Redner ist und wenig Ausstrahlung hat. Im Gegenteil. Fast alle haben einen Onkel oder Bruder, die ähnlich reden oder auftreten wie Bolsonaro. In Zeiten einer schweren gesellschaftlichen und politischen Krise, in der dem politischen Establishment große Ablehnung entgegenschlägt, wünschen sich viele genau so jemand wie Bolsonaro: Hauptsache kein klassischer Politiker.

Addition von Extremen statt gemeinsamer Mitte

Bolsonaro hat sich immer als Vollstrecker des „wahren Volkswillens“ betrachtet. Jemand, der die vermeintlichen Eliten das Fürchten lehrt. Klassischer Populismus. Doch der Bolsonarismus ist mehr, er hat durchaus ein ideologisches Fundament. Ein tropischer Neofaschismus, sagen einige. Klar ist: Im Bolsonarismus vereinen sich ganz unterschiedliche reaktionäre Ideen. Religiöser Fanatismus, Ultranationalismus, Militarismus, Antikommunismus. Was sie zusammenhält, ist die Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen und eine Haltung, sich hermetisch nach außen abzuschirmen. Zweifel? Gibt es nicht. Kritik? Wird nicht toleriert. Es gibt nur zwei Kategorien: Für Bolsonaro oder gegen ihn. Freund oder Feind. Wir gegen die. Bolsonaro nährt diese Wagenburgmentalität, indem er ständig Konflikte mit den demokratischen Institutionen provoziert.

In der paranoiden Parallelwelt des Bolsonarismus ist das „System“, also die Justiz, der Kongress und die Medien, von einer korrupten Elite infiziert und müsse deshalb gesäubert werden. Richtig ist: Bolsonaro liegt im Dauerclinch mit den Institutionen, weil diese vielen Initiativen der Regierung einen Riegel vorgeschoben haben. Mit seiner Ablehnung der Gewaltenteilung ähnelt Bolsonaro seinen autoritären Zeitgenossen auf der ganzen Welt, die die Parlamente und Justiz entweder zerschlagen haben oder sie frontal angreifen. Diese Schützengrabenlogik hat noch einen weiteren Vorteil: Jegliche Unfähigkeit des Präsidenten lässt sich mit dem Widerstand des „Systems“ erklären. Mehrmals spreche ich Unterstützer*innen von Bolsonaro auf die magere Bilanz ihres Idols an. Die Antwort ist fast immer die gleiche: „Sie lassen den Präsidenten nicht arbeiten.“

Auch die ständigen Eklats und Polemiken haben System. Man hat kaum Zeit, auf einen Zwischenfall einzugehen, schon wird dieser vom nächsten überschattet. Mal gibt Bolsonaro im Fußballtrikot Pressekonferenzen, mal beschimpft er im Kneipenjargon seine politischen Gegner*innen. Dadurch schafft er es, sich ständig in Szene zu setzen, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und von eigenen Fehlern abzulenken. Seine Fans vergöttern ihn für die „unkonventionelle Art“. Seit Bolsonaros fulminantem Wahlsieg im Jahr 2018 ist viel Zeit vergangen. Der Rowdy-Präsident hat die meisten seiner Versprechen nicht eingehalten, das Land an den Rand eines Kollaps geführt. Traumatisiert durch die Pandemie, als Paria im Ausland, zernagt durch die Wirtschaftskrise. Doch obwohl sich viele ehemalige Wähler*innen von Bolsonaro abgewendet haben, kann er sich auf den harten Kern seiner Unterstützer*innen verlassen. Seine Anhänger*innen stehen nicht trotz, sondern wegen seiner ständigen Tabubrüche und Provokationen hinter ihm.

Früher ging es in der Politik einmal darum, so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Doch wenn Bolsonaro eine Sache gelernt hat, dann die: Man muss als Politiker nicht mehr die ganze Bevölkerung ansprechen, auch nicht als Präsident. Heute reicht es, die Gesellschaft zu spalten und kleine Gruppen mit einer Idee anzustecken. „Um eine Mehrheit für sich zu gewinnen, ist es nicht mehr nötig, eine gemeinsame Mitte zu finden, sondern man addiert einfach die Extremen“, schreibt der italienische Journalist Giuliano da Empoli in seinem Buch „Ingenieure des Chaos“. Deshalb sollte man den von den Rechten initiierten Kulturkampf nicht unterschätzen. Es geht primär darum, kleine Gruppen anzustacheln. Und damit sind sie extrem erfolgreich. Ein Teil der Gesellschaft driftet immer weiter in rechtsradikale Paralleluniversen ab. Es ist davon auszugehen, dass sich Teile der brasilianischen Bevölkerung noch weiter radikalisieren. Wie weit sind die bereit zu gehen?

Gerade in Krisenzeiten sucht Bolsonaro immer wieder Zuflucht bei seinen radikalisierten Anhänger*innen. Und er versucht konstant Bilder zu produzieren, die ihn als großen Volkstribun zeigen. Bolsonaro düst im Stile des italienischen Faschisten Benito Mussolini in Motorradparaden über Autobahnen, lässt sich vermeintlich spontan an Stränden blicken und von Badegästen feiern. Warum tut er das? Die Antwort ist simpel: Weil er im Prinzip gar keine andere Möglichkeit hat. Durch seine Politik hat sich Bolsonaro weitestgehend isoliert, er hat keine starke Partei hinter sich, gilt für viele Brasilianer*innen als die Hassfigur schlechthin. Ohne seine radikalisierte Basis hat Bolsonaro nicht viel vorzuweisen. Deshalb ist es für ihn auch nicht möglich, sich zu mäßigen oder sich wie ein normaler Präsident zu verhalten.

Im Oktober 2022 findet die nächste Präsidentschaftswahl in Brasilien statt. Einige haben die Hoffnung, Bolsonaro ließe sich an der Urne abwählen. Das stimmt hoffentlich. Doch es wäre fatal, bereits einen Abgesang anzustimmen. Denn bis zur Wahl wird noch sehr viel passieren. Und es ist ein Fehler, ausschließlich auf Amtszeiten zu blicken. Denn der Bolsonarismus wird sich nicht einfach in Luft auflösen, auch wenn der Namensgeber dieses Phänomens nicht mehr Präsident sein sollte. Er repräsentiert eine Idee und eine neue Art, Politik zu machen, nicht nur auf der großen Bühne der Bundespolitik. Bolsonaros Ideen und sein Politikstil sind gekommen, um zu bleiben.

GEWÄHLT, ABER NOCH NICHT IM AMT

KAZIKE MARCOS Der Kazike Marcos Luidson de Araújo (43) ist Sohn des Kaziken Chicão, der im Mai 1998 ermordet wurde. Mit 21 Jahren ist er Anführer der Xukuru geworden, ein indigenes Volk von etwa 20.000 Mitgliedern im nordostbrasilianischen Bundesstaat Pernambuco. Marcos Luidson de Araújo ist auch in regionalen und nationalen indigenen Organisationen aktiv und hat sich 2020 zum ersten Mal einer allgemeinen Wahl gestellt. (Foto: Thiago Silva)

Was bedeutete Ihre Wahl für Pesqueira?

In Pesqueira hat immer eine bestimmte Elite regiert, es gab nie einen Bürgermeister, der nicht zu dieser traditionellen Elite gehörte. Im Jahr 2000, als ich Kazike wurde, haben wir eine Umfrage in Auftrag gegeben zu den Einstellungen gegenüber Indigenen in Pesqueira. 70 Prozent der Bevölkerung hatten negative Einstellungen und Vorurteile gegenüber uns Xukuru. In den über 20 Jahren seither hat sich einiges verbessert, so dass ich mit einer Mehrheit zum Bürgermeister gewählt werden konnte. Das ist ein wichtiger Schritt für Pesqueira.

Ihre Wahl fiel unerwartet klar aus und das bereits im ersten Wahlgang. Warum konnten Sie trotzdem bis heute als Bürgermeister ihr Amt nicht antreten?

Gleich nach den Wahlen hat die unterlegene Seite Klage erhoben mit der Begründung, dass ich im Jahr 2003 – nach einem Anschlag auf mich, bei dem zwei meiner indigenen Begleiter erschossen wurden – Teil einer Gruppe war, die Eigentum der Angreifer zerstört hätte. Nach brasilianischem Gesetz kann niemand ein öffentliches Amt bekleiden, dem Zerstörung öffentlichen Eigentums vorgeworfen wird. Obwohl damals 2003 privates Eigentum wie Autos und Teile von Immobilien zerstört wurden, behandelte das Gericht dies wie öffentliches Eigentum. Das fechten wir jetzt an. Wir warten auf das abschließende Urteil der höchsten richterlichen Instanz in Brasília (TSE).

Wie fiel denn das ursprüngliche Urteil aus?

Nach dem Anschlag auf mich und der Sachbeschädigung haben die Polizei und Staatsanwaltschaft bestimmte Dinge nicht untersucht. Ich habe bei dem Anschlag einen Streifschuss abbekommen, weshalb ich mich im Krankenhaus behandeln ließ. Dies wurde nie überprüft. Mit mir wurden von insgesamt 50 Angeklagten 35 verurteilt − ich zu zehn Jahren und vier Monaten. Ich bin ganz ruhig. Wir haben schon viel erreicht. Egal wie das Urteil ausfällt, werde ich mich weiter für die Xukuru und meine Stadt einsetzen, so wie ich das auch heute mache. Ich sitze ja nicht zu Hause herum, sondern arbeite bereits im Bürgermeisteramt. Der Interimsbürgermeister hat mich zum sogenannten Regierungssekretär ernannt. Ich bin für die Koordination und Planung von Projekten der Stadtverwaltung zuständig.

Wie hat Ihre Familie und Ihr Umfeld auf Ihre Entscheidung reagiert, sich als Bürgermeisterkandidat aufstellen zu lassen?

Meine Mutter hatte zwei Einwände: Erstens, Pesqueira sei chaotisch, es wird schwer sein, etwas zu erreichen und deshalb viele Angriffe auf mich geben. Zweitens, es gab viele Unregelmäßigkeiten in den letzten 30 Jahren. Wenn man daran rüttele, sei es möglich, dass ich so ende wie mein Vater, der ermordet wurde.

Was haben Sie den Einwänden Ihrer Mutter entgegnet?

Meine Mission war immer, die Xukuru und unser Territorium zu verteidigen. Viele von uns leben aber in Pesqueira, die Anstrengungen für die Xukuru und für die Stadt gehen ineinander über und beeinflussen sich. Die Probleme der Stadt sind nicht in vier Jahren zu lösen, aber man kann wenigstens davon träumen, etwas zum Besseren zu verändern. Trotzdem habe ich über ein Jahr lang überlegt, ob ich den Schritt in die Politik wirklich wagen soll. Pesqueira ist Teil unseres ursprünglichen Landes und um etwas verändern zu können, geht kein Weg an politischer Teilhabe vorbei. Ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich dafür bereit bin. Meine Mutter weinte, umarmte mich und wünschte mir viel Glück.

Wie ist dann der Wahlkampf verlaufen?

Es war uns klar, dass es eine harte Auseinandersetzung werden würde. Es gab eine Kampagne gegen mich, um mich zu isolieren. Gerade in sozialen Medien wurde gegen mich agitiert. Man hat gesagt, ein Indio kann doch nicht eine solche Aufgabe übernehmen oder man hat sich darüber mokiert, dass ich ein Handy benutze. Die Kampagne war sehr persönlich und verletzend. Die Strategie war, mein Image zu zerstören.

Was haben Sie dem entgegengesetzt?

Ich habe versucht, in den Peripherien der Stadt, unser politisches Projekt zu erklären. Ich wollte in persönlichen Gesprächen Vertrauen schaffen. Während der Kampagne habe ich nichts versprochen, das ich nicht halten kann, keine Infrastrukturprojekte, keine Jobs. Ich habe auch gesagt, dass vier Jahre nicht reichen, aber dass jetzt ein neuer Moment sei für positive Veränderung. Jeder soll teilhaben können und sich dadurch auch mehr verantwortlich fühlen.

Ihr Vater fiel einem Attentat zum Opfer, wie hat sich Ihr Leben dadurch verändert?

Als ich 19 Jahre alt war, wurde mein Vater ermordet und ich von einer Versammlung der Xukuru zum Kazike bestimmt. Das Amt habe ich Anfang 2000 mit 21 Jahren übernommen. Das war natürlich so nicht mein Lebensplan. Ich hätte mir gewünscht, von meinem Vater mehr lernen zu können und das Amt ungefähr in einem Alter, in dem ich jetzt bin, also Anfang 40, zu übernehmen. Ermutigt vom Beispiel meines Vaters, habe ich mich erstmal darum bemüht, unsere indigenen Strukturen zu stärken. Aber von Anfang an gab es auch immer Spannungen mit denen, die das uns zustehende Land besetzt hatten. Ich erhielt umgehend Morddrohungen, die mich stark getroffen haben.

Wie kann man sich die indigenen Strukturen vorstellen?

Seit 2001 organisieren wir regelmäßig eine große Zusammenkunft der Xukuru, um über Probleme und Lösungen zu diskutieren. Das hat mit der Zeit das Interesse von anderen geweckt, die mittlerweile auch an diesen Versammlungen teilhaben. Alle können teilnehmen. Wir haben damit ein anderes politisches Projekt als Alternative gezeigt, einen anderen Weg, in Form einer kollektiven Arbeit. Wir als Xukuru verstecken uns nicht. Jedes Jahr am 20. Mai, dem Todestag meines Vaters, organisieren wir eine Demonstration, zu der wir auch an den Ort gehen, an dem er ermordet wurde. Mit dieser Vorarbeit und Form der Organisation konnten wir dann auch die Macht in der Stadt brechen.

Sie sind für die republikanische Partei REP angetreten, die nicht gerade zum progressiven und minderheitenfreundlichen politischen Lager gehört. Warum diese Partei?

Wir haben es mit einer Stadt im Landesinneren von Pernambuco zu tun, die lange Zeit von konservativen Agrar-Oligarchien beherrscht wurde. Eine konservative Partei hat es deshalb in so einem Umfeld leichter, in weiteren Kreisen akzeptiert zu werden. Trotzdem war ich zu Beginn monatelang allein unterwegs, nur mit zwei Xukuru-Stadtratsmitgliedern. Nach und nach gewannen wir an Sichtbarkeit, die Kandidatur gewann an Stärke und das Verhältnis zu den politischen Kräften veränderte sich. Die Arbeiterpartei (PT) hat nach langem Zögern unsere Kandidatur unterstützt. Aber über die politischen Parteien hinaus haben wir auf eine breite Basis an Unterstützenden gesetzt. Es gab einen Dialog mit den Gewerkschaften, mit der Zivilgesellschaft. Im Kommunalen hängt sehr viel von den zwischenmenschlichen Beziehungen ab. Wir haben deshalb versucht, so viele Kreise wie möglich zu erreichen.

Wie hat sich das Leben der Xukuru in der Zeit Ihrer Anführerschaft verändert?

In den letzten 20 Jahren hat sich die Lebenssituation und -qualität der Xukuru deutlich verbessert. Davor waren viele in sklavenähnlichen Anstellungsverhältnissen in der Landwirtschaft tätig.

In welchen Berufen arbeiten die Xukuru heute?

Viele leben von traditionellen Formen der Landwirtschaft und Fischerei, vor allem in den indigenen Dörfern rund um Pesqueira, von denen es 24 gibt. Einige arbeiten mittlerweile auch in der Stadt, in Geschäften, Supermärkten oder Imbissen. Eine immer wichtigere Rolle spielen aber heute unsere indigenen Erziehungsstrukturen. Wir haben 37 Schulen für Xukuru Kinder, in denen 200 Lehrende arbeiten, die für etwa 3.000 Schulpflichtige zuständig sind. Diese Schulen werden von der Regierung des Bundesstaates Pernambuco finanziert. Da wir Xukuru leider unsere ursprüngliche Sprache verloren haben, ist der Unterricht ausschließlich auf Portugiesisch.

Wie sehen Sie die Rolle der Funai, der Nationalen Stiftung für Indigene, bei der Verteidigung indigener Rechte?

Die Funai ist ein notwendiges Übel. Man braucht eine Institution, die sich um die Territorien und die Anliegen der Indigenen kümmert. Das große Problem sind die dort Tätigen. Leider gibt es wenig Kontinuität und es finden sich dort Personen, die von Indigenen keine Ahnung haben und sich weder für uns interessieren, noch sich für unsere Belange einsetzen. Das Ziel der jetzigen Regierung ist es, die Funai zu schwächen.

Was haben die Xukuru in den letzten Jahrzehnten trotz dieser geringen staatlichen Unterstützung erreicht?

Vor allem seit den 1980er Jahren gibt es eine andauernde Bemühung um die Demarkation unseres Territoriums, in der mein Vater eine wichtige Rolle spielte. Es geht um die Rückeroberung physischer Orte. Seitdem haben wir viel erreicht. An die 50 Territorien konnten demarkiert werden.

Nach über 20 Jahren politischer Auseinandersetzung fühlen Sie sich heute als Indigener von Nicht-Indigenen als gleichwertig akzeptiert?

Es ist schwierig zu sagen, dass ich als Indigener schon als gleichwertig akzeptiert werde. Leider ist das Wissen über Indigene sehr gering, Vorurteile halten sich deshalb. Dies kann nur durch Bildung und das Erziehungssystem geändert werden. Zur Zeit wird der plurinationale Charakter Brasiliens nicht gelehrt. Wir als Indigene können über mehr Sichtbarkeit zu einer positiven Veränderung beitragen. Aber das ist noch ein langer Weg, den wir als Indigene und Brasilien vor uns haben.

„WENN WIR NICHT AUFSCHREIEN, WIRD ES GENAUSO ABLAUFEN WIE GEPLANT“

Zu Wasser und zu Land Aktivist*innen wollen den Bau der industriellen Wasserstraße verhindern (Foto: Claudia Horn)

Um fünf Uhr im Morgengrauen legt das Boot von der Flussgemeinde Igarapé-Miri im brasilianischen Amazonasgebiet ab. Die Passagiere haben im Boot oder in der Gemeinde in Hängematten geschlafen. Nun treiben wir an den Anlegestellen der Häuser auf Stelzen und den Fischerbooten aus Holz vorbei, bis sich der Fluss verbreitert und die Sonne aufgeht. Im Boot riecht es nach Kaffee und Butter. Die Mitglieder der Karawane begrüßen und umarmen sich und warten auf die Morgenrunde, bei der die Tagesroute, Agenda und Aufgaben angekündigt, neue Mitglieder begrüßt und Lieder gesungen werden. Es ist Tag zwei der sechstägigen Karawane. Auf dem Tagesprogramm steht heute der Besuch von zwei weiteren Fischergemeinden entlang des Flusses Tocantins. Zusammen mit einem Videoteam teilen die etwa dreißig Aktivist*innen während der sechs Tage nicht nur den engen Raum auf dem Boot, sondern auch Erfahrungen und alltägliche Aufgaben wie Putzen, Kochen und die Vorbereitung der Versammlungen in den Gemeinden.

In jeder Gemeinde stellen sich die Aktivist*innen vor, berichten von dem Bauprojekt und hören die Gemeindemitglieder an. Beim ersten Halt im Dorf Itupanema versammeln sich nur wenige Anwohner*innen. Am Rande der Versammlung, vor dem Hintergrund des massiven Industriehafens Porto de Vila do Conde, erzählt einer der Koordinatoren der Karawane, Iury Paulino, von der Bewegung der von Staudämmen Betroffenen (MAB). „Die Karawane soll nicht nur die Situation anprangern, sondern auch die Betroffenen zusammenführen und ihnen eine reale Vorstellung von den Problemen vermitteln, welche die Wasserstraße mit sich bringen kann. Es geht um die Bildung einer Organisation, die den kollektiven Widerstand ermöglicht.“

Mit einer Länge von mehr als 2.000 Kilometern ist der Tocantins der zweitgrößte Fluss Brasiliens. Er beginnt im Bundestaat Goiás und durchquert die Amazonas-Bundesstaaten Tocantins und Maranhão, bis er bei Belém im Bundesstaat Pará ins Meer mündet. Das Tocantins-Araguaia-Becken, das zwischen dem Norden und dem Landeszentrum liegt und insgesamt 409 Gemeinden umfasst, ist das größte vollständig auf brasilianischem Gebiet liegende Flussbecken. Entlang des Flusses leben indigene und traditionelle Gemeinden sowie Quilombola-Gemeinden, die von entflohenen Sklaven gegründet wurden, dazu kommen Fischer*innen und Bauernfamilien. Zusammen bilden sie die lokale Wirtschaft. Ihr Lebensunterhalt hängt vom Fluss ab.

Von Barcarena bis Itupiranga Die Route der Karawane auf dem Fluss Tocantins in Pará (Grafik: Martin Schäfer)

Die geplante Wasserstraße ist Teil des so genannten Nordbogen-Korridors, der Eisenbahnstrecken, Autobahnen und Wasserwege in Brasiliens zentraler Sojaproduktionsregion miteinander verbindet. Vom Hafen Vila de Conde in Barcarena aus erreichen die Güter den Ozean und globale Märkte. Nach Angaben der Nationalen Agentur für Wassertransport werden hauptsächlich Kraftstoffe und Minerale, Sojabohnen und Mais befördert. Die geplanten Bauarbeiten am Tocantins zielen darauf ab, die Wasserstraße ganzjährig schiffbar zu machen. Dazu sollen die Flussabschnitte auf beiden Seiten des Stausees am Wasserkraftwerk Tucuruí im Bundestaat Pará auf einer Länge von insgesamt 212 Kilometern ausgebaggert werden, um Bodenmaterial, natürliche Sedimente und Felsen vom Grund des Gewässers zu entfernen, einschließlich der Sprengung von 35 Kilometern der Felsenformation Pedral do Lourenção.

Die Diskussionen über die Wasserstraße begannen bereits in den 1960er Jahren und wurden in den 1980er Jahren wieder aufgenommen. Das laufende Genehmigungsverfahren durch die brasilianische Umweltbehörde IBAMA verletzt die internationalen und nationalen Konventionen, die eine Beratung mit den betroffenen traditionellen Gemeinschaften genauso vorsehen, wie deren vorherige und informierte Zustimmung. Obwohl die Gemeinschaften nicht über ihre Rechte informiert wurden, ist eine Genehmigung der industriellen Wasserstraße in den nächsten Wochen zu erwarten. Dass es jetzt so schnell geht, liegt vor allem daran, dass die Bolsonaro-Regierung die Umweltregulierung in den letzten vier Jahren stark geschwächt hat.

Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung werden ignoriert

Carmen Foro, Leiterin der Karawane und Generalsekretärin der brasilianischen Gewerkschaftszentrale (CUT) ist selbst am Tocantins aufgewachsen. In der Flussgemeinde Paquetá erklärt sie einem großen Publikum aus Kindern und Erwachsenen, dass die Karawane die sozial-ökologischen Schäden der Wasserstraße aufzeigen soll. „Multinationalen Unternehmen verursachen große Schäden, aber machen sehr wenig für das lokale Leben. Sie versprechen Arbeitsplätze, Investitionen in Struktur und Bildung, ohne sie später einzulösen.“ Auf der Rückfahrt im Bus erinnert sich Carmen, dass bereits beim Bau des Tucuruí-Staudamms in den späten 1970er Jahren die Bedürfnisse von Fischer*innen, Bauernfamilien und Flussbewohner*innen ignoriert wurden. „Jahrelange Mobilisierung war notwendig, um Strom für die Gemeinden zu erreichen, während deren Fischereierträge bereits zurückgingen.“

Studien der Universität von Pará zeigen, dass die Wasserstraße zu einem noch größeren Verlust von Fischarten führen wird und auch Fischer*innen selbst sagen, dass der Bau den Fluss tötet, weil er zum Verlust der Wasserqualität, der biologischen Vielfalt, der Bodenfruchtbarkeit, der Fischereimöglichkeiten und damit der Lebensgrundlage der Gemeinden führt. Die industrielle Nutzung bringt außerdem Verschmutzung durch Pestizide und Industrieabfälle und droht Wälder und Kleinbäuerinnen und -bauern durch Monokulturen zu ersetzen.

In einer der Gemeinden am Rande des Tocantins spreche ich während des gemeinsamen Mittagessens mit Antonio Dias, Mitglied der Karawane von MAB und Direktor der Vereinigung der Flussanwohner*innen von Cametá. Antonio berichtet, dass die Bewohner*innen bereits seit 38 Jahren mit den negativen Auswirkungen des Tucuruí-Staudamms leben. „Wir haben allein über 40 Fischarten verloren.” Die Fischer*innen wissen um das Ausmaß dieser Einflüsse und trotzdem, so Dias, „ist die Wasserstraße für uns immer noch eine unbekannte Sache, ein Phantom.”

Schon bei unserem Gespräch in Barcarena machte Iury Paulinho vom MAB auf ein weiteres Problem des Staudamms aufmerksam. Die katastrophalen Dammbrüche von Brumadinho und Mariana haben gezeigt, dass es in Brasilien keine Sicherheitspolitik für die Strukturen dieser Staudämme und für die betroffenen Menschen gibt. Tausende von Menschen leben in gefährdeten Gebieten und es gibt keine Strategie, sie umzusiedeln oder zu retten. Ein Beispiel ist eine 300 Familien große Gemeinde in Marabá, die unterhalb des Rückhaltebeckens lebt. Im Falle eines Dammbruchs würden ihre Häuser innerhalb von drei Minuten überflutet. Paulinho erklärt: „Dort hörst du Berichte von Menschen, die gesehen haben, was in Mariana passiert ist und die nicht mehr schlafen können, sogar die Kinder.”

Das Projekt der Wasserstraße wird kaum in der Öffentlichkeit diskutiert, als hätte es geringe Auswirkungen auf die Gesellschaft. Am Rande einer Veranstaltung, auf dem Gras sitzend, berichtet Marcia De São de Martins von der Quilombola-Gemeinde Igarapé Preto in Baião, dass sich der Bau auch auf die Städte auswirke. „Wenn Landwirt*innen und Landarbeiter*innen nicht produzieren und essen können, ziehen sie in der Regel an den Stadtrand, wo prekäre Bedingungen und soziale Probleme, insbesondere für Frauen, vorherrschend sind.“

Die Karawane hat einen tiefen gesellschaftlichen Konflikt aufgezeigt, denn vorher wusste niemand, was die lokale Bevölkerung dachte. „Nun haben sich drei Interessengruppen gebildet”, erzählt Carmen Foro. Wochen nach der Karawane sitzen wir in ihrem Büro in Belém. „Die Karawane und deren Verbündete sind die, die das Projekt in Frage stellen, die Wasserstraße nicht wollen und über Alternativen nachdenken, um den Fluss nicht zu zerstören. Es gibt eine andere Gruppe, vor allem große Landwirte, die finanzielle Entschädigungen will und versucht, die traditionellen Gemeinden für sich zu gewinnen. Und die Gruppe der Bürgermeister*innen will Arbeitsplätze in den Städten schaffen und ihre Wiederwahl garantieren.“

Für Iury Paulinho sind die Entschädigungsversprechen eine Falle. „Ich sage immer, zeig’ mir einen Fall, wo sich die Bedingungen der Gemeinschaft erfüllt haben. Wenn es einen solchen Fall gibt, bin ich offen dafür, einen Vorschlag dieser Art zu diskutieren und zu akzeptieren.” Tatsächlich gibt es keine nationale Politik, die die Rechte der Betroffenen definiert. Die MAB definiert „betroffen” als finanzielle, kulturelle und soziale Frage. „Umsiedlung und Wiedergutmachung sind unterschiedliche Dinge. Eine Lehrerin, die in einer Gemeinde unterrichtet und aufgrund des Baus ihre Stelle verliert, wird nicht umgesiedelt, doch sie sollte entschädigt werden,” so Paulinho. Formal gelten in Pará nur indigene Völker als traditionelle Bevölkerung, das schließt die traditionellen Quilombola-Gemeinschaften und andere Flussbewohner*innen aus.

Die industrielle Wasserstraße tötet den Fluss

„Der Amazonas wurde und wird weiterhin ausgebeutet, genau wie im 14. Jahrhundert“, erklärt Carmen Foro, zurück in Belém. Die Protestbewegung richtet sich nicht gegen Entwicklung, sondern gegen die Ausbeutung der Region. Die CUT hat daher auch grundlegende Forderungen für Alternativen. Alle Gemeinden bis nach Barcarena sollen als Betroffene anerkannt werden. Außerdem fordert die CUT ein Programm, um die Auswirkungen von Infrastrukturprojekten zu verringern. Dieses sieht fünf Maßnahmen vor: Erstens die Regulierung der Landtitel der Quilombolas und der indigenen Bevölkerung am Flussufer. Zweitens die Verbesserung der lokalen Infrastruktur, der Straßen und Häfen. Drittens die Förderung der landwirtschaftlichen Produktion der traditionellen Gemeinden. Viertens ein Programm zur Wiederherstellung der Umwelt, des Flusses und der Auenwälder. Der fünfte Punkt betrifft die öffentlichen Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung, berufliche Qualifikation und Forschung. Kurzum, ein Programm für nachhaltige Entwicklung zum Wohle der lokalen Bevölkerung.

Die Aktivist*innen wollen eine Audienz beim Gouverneur und eine öffentliche Anhörung im brasilianischen Senat, um den Bau aufzuhalten und die Rechte der Bevölkerung zu verteidigen. Dieses Jahr sind Präsidentschaftswahlen, doch unabhängig von ihrem Ausgang spürt die Amazonasregion jederzeit, dass Großunternehmen das Sagen haben. Bei unserem Treffen in Belém sagt Carmen Foro: „Wenn wir nicht aufschreien, wird es genauso ablaufen wie geplant. Wenn wir aufschreien, ist es möglich, dass der Bau trotzdem stattfindet, aber wir werden versuchen, den Schaden zu begrenzen.” Es gibt bereits Erfolge. Bei der feierlichen Eröffnung der Fangsaison im März sprachen sich Fischer öffentlich gegen die Wasserstraße aus und zeigten das Banner „Nein zur Wasserstraße!” Foro erzählt dies mit Tränen in den Augen.

Die MAB ist sowohl in ländlichen als auch in städtischen Gebieten aktiv, doch erreicht die Bewegung nicht einmal einen von zehn der von Staudämmen betroffenen Menschen in Brasilien. Die Karawane hält Iury Paulinho von grundlegender Bedeutung für die Mobilisierung der Anwohner*innen, weil sie verschiedene Sektoren verbindet: Gewerkschaften, Quilombola-Bewegung und die Kirche. Auch Jandyra, die Menschenrechtsreferentin der CUT meint in ihrer Ansprache vor der Flussgemeinde von Paquetá: „Es ist kein einfacher Kampf, wie alle Kämpfe des brasilianischen Volkes, aber gerade dieser richtet sich gegen mächtige Interessen − die des Großkapitals, des Bergbaus und der Agrarindustrie. Der Aufbau einer wirklichen Einheit zwischen den betroffenen Gemeinden und sozialen Bewegungen ist daher in diesem Kampf grundlegend.”

ABSURD IST ANSICHTSSACHE


Isabella Pereira, Pedro Ribeiro, Jonata Vieira in Três Tigres Tristes (Foto: © Cris Lyra)

Bewertung: 4/5

Mit der Corona-Pandemie kreativ umzugehen, fällt vielen Filmemacher*innen auch zwei Jahre nach ihrem Beginn nicht leicht. COVID wird im Kino weitgehend ignoriert, selbst Masken sind auf der großen Leinwand kaum zu sehen. Umso interessanter, wenn jemand den Mut hat, den Elefanten im Raum – also das Virus – nicht nur zu thematisieren, sondern sogar für sein Anliegen zu nutzen. Dem brasilianischen Filmemacher Gustavo Vinagre ist das mit seinem queeren Tagtraum Três Tigres Tristes (Drei traurige Tiger) gelungen und er hatte offensichtlich auch noch großen Spaß daran. Belohnt wurde er dafür auf der Berlinale 2022 mit dem Teddy Award für den besten queeren Spielfilm.

Gustavo Vinagre ist erst 35 Jahre alt, kann aber schon auf einen beeindruckenden cineastischen Output verweisen. Die meisten seiner zwölf Filme beschäftigen sich mit queerem Leben und Lifestyle in und um São Paulo. Auch Três Tigres Tristes spielt in der brasilianischen Megastadt. Seine Protagonist*innen sind Pedro, Jonata und Isabella, die einen Tag durch deren Außenbezirke streifen und dabei allerhand Alltägliches und Absurdes erleben. Was genau dabei normal ist und was nicht, bleibt dem Urteil der Zuschauer*innen überlassen – die Drei nehmen die Dinge meist gelassen und mit einer Prise Humor. Anders geht es vermutlich auch gar nicht, denn die Stadt und ganz Brasilien befinden sich mitten in einer Pandemie. Allerdings geht es hier nicht um das, wonach es aussieht. Denn die Virusinfektion im Film ist zwar nicht weniger tödlich als COVID-19, führt aber im Gegensatz dazu zu massivem Gedächtnisverlust. Und so muss sich Jonata jedes Mal neu am Empfang anmelden, wenn er das Gebäude seines (gleichaltrigen) Onkels Pedro betritt. Und Ghosting (Kontaktabbruch ohne Ankündigung) beim Daten bekommt eine ganz neue Dimension, wenn das Gegenüber sich gar nicht mehr erinnern kann, wer man eigentlich ist.

Neben dem eleganten Umgang mit dem Thema Corona spielt Três Tigres Tristes auch geschickt mit den Konzepten Normalität und Außenseitertum. Der Sexarbeiter Pedro, die Drag Queen Jonata und die trans* Frau Isabella leben nicht nur an der Peripherie der Großstadt, sondern auch der Gesellschaft. Doch sie halten zusammen und treffen bei ihrem Spaziergang auf Verbündete: eine Sammlerin, die mit ihren Objekten sprechen kann („Den Namen hat mir dein Rucksack verraten!“), ein haarloses Meerschweinchen, eine YouTuberin, die nach Models für ihr Makeup sucht. Heiße Eisen wie Diskriminierung, HIV (Jonata ist positiv) oder Einsamkeit im Alter packt Três Tigres Tristes dabei angenehm beiläufig an, ohne sie zu sehr zu problematisieren. Vinagre benutzt dafür oft (Galgen-)Humor, der auch mal ins Absurde rutschen kann – wenn es so etwas wie Absurdität überhaupt gibt in einer Welt, in der jede*r ein Päckchen zu tragen hat oder irgendeinen Spleen versteckt oder offen auslebt. Lange Zeit funktioniert der unterhaltsame Stadtspaziergang, der gar nicht so traurigen Drei so wirklich hervorragend. Erst gegen Ende übertreibt es der Film mit etwas zu ausgedehnt-freakigen Performances, die nicht unbedingt nötig gewesen wären. Dennoch ist Três Tigres Tristes ein vergnüglich-melancholischer Trip durch das queere São Paulo geworden, der Gelassenheit in harten Zeiten verströmt.

FEMINISTISCH, PARTIZIPATIV, TRANSPARENT

(Foto: © JUNTAS Codeputadas)

In Kürze ist der 8. März, der Internationale Frauentag. Wie sehen Sie als JUNTAS dem Tag entgegen?
Joelma Carla: Wir beteiligen uns immer an den Kundgebungen zum Internationalen Frauentag. Der 8. März 2019 und 2020 waren fantastisch: wir inmitten unserer Wähler*innenschaft, eine super Stimmung. Der 8. März 2021 war dagegen wegen der Pandemie sehr traurig. In diesem Jahr bereiten wir eine Kundgebung vor, die wir fundamental wichtig finden, sie erinnert an Marielle Franco, eine Schwarze, feministische Abgeordnete in Rio de Janeiro. Es ist jetzt mehr als drei Jahre her, dass sie ermordet wurde. Sie war Mitglied unserer Partei, der PSOL. Wir fühlen uns verpflichtet, öffentlich zu machen, wie die Rechte der Frauen durch den Staat gebrochen werden.

Kátia Cunha: Außerdem wollen wir am 8. März mit unseren Wähler*innen über alle Maßnahmen sprechen, die wir in diesen drei Jahren für Frauen durchgeführt haben und gemeinsam bewerten, was wir noch nicht geschafft haben. Wir sind in einem Wahljahr. Es ist daher wichtig, unseren Wähler*innen zu sagen, dass die Stimme der Frauen durch unser Mandat großen Widerhall hatte, aber wir noch sehr viel mehr tun müssen.

Wie bewertet das Kollektiv denn die bisherige Amtszeit?
KC: Das aktuelle Landesparlament in Pernambuco ist das fundamentalistischste seit den 1980er Jahren. Unter den Abgeordneten gibt es einen Wettstreit darum, wer der größte Anhänger des Bolsonarismus ist oder der beste Evangelikale. Es ist daher nicht einfach Gesetze durchzubringen, die Frauenrechte garantieren.

Wir haben das Mandat 2019 mit sehr viel Enthusiasmus angetreten. Wir haben geglaubt, wir könnten die ganze Welt verändern (lacht), zumindest aber Pernambuco. Und dann sahen wir uns dieser Realität hier im Abgeordnetenhaus gegenüber. Trotzdem geben wir nicht auf und versuchen Gesetze durchzubringen. Die Pandemie hat unsere Form der Politik viel schwieriger gemacht: Wir konnten nicht mehr auf die Straße gehen und versuchten auf virtuelle Treffen auszuweichen. Wir konnten niemanden mehr einladen, niemanden treffen. Das war tragisch, denn das Markenzeichen unseres Mandats ist, dass wir sehr nah dran sind an den Menschen.

Würden Sie sagen, dass die politische Teilhabe in Ihrer Amtszeit zugenommen hat?
KC: Ja, auf jeden Fall. Wir haben zum Beispiel alle 14 indigenen Völker, die es in Pernambuco gibt, zu einer Sitzung in das Abgeordnetenhaus eingeladen. Dieses Gebäude hat das Aussehen eines Palastes, es ist sehr schick. Wenn Wähler*innen hier vorbeikommen, bleiben sie auf dem Bürgersteig vor dem Gebäude, sie haben Angst, es zu betreten. Und es gibt eine Kleiderordnung, es darf nicht in Shorts betreten werden. Aber wir haben es geschafft, dass die Indigenen in ihrer eigenen Kleidung kommen konnten, obwohl es einiges an Aufruhr und Diskriminierung am Eingang gab.

JC: An der Struktur dieses Abgeordnetenhauses haben wir wirklich etwas verändert. Die Leute wussten nicht einmal, dass sie sich in diesem Raum beteiligen oder wenigstens zuhören können. Ich erinnere mich an eine Anhörung wegen eines fundamentalistischen Abgeordneten und der Sicherheitsdienst ließ die Bürger*innen, die zuhören wollten, nicht hinein. Wir sind dann an den Eingang gegangen und haben dafür gesorgt, dass sie hineingelassen wurden. Das ist ihr Recht als Bürger*innen.

Wie hat sich die Partizipation der sozialen Bewegungen während der Pandemie entwickelt?
JC: Die Pandemie hat es unmöglich gemacht, dass wir die Territorien besuchen, die Quilombos, die indigenen Gemeinden, die Peripherie der Städte. All das gehört zu unserem Selbstverständnis als kollektives Mandat der Basisorganisationen. Wir versuchen, maximal transparent zu sein, wir machen nichts, was nicht veröffentlicht werden kann, was die Leute nicht wissen dürften. Im Gegenteil: Wir haben ein sehr transparentes und partizipatives Mandat gestaltet. Wir sind die Brücke zwischen Legislative und sozialen Bewegungen.

KC: Wir sind fünf Frauen, die sehr divers sind. Wir haben sogar Scherze darüber gemacht, dass wir es schaffen, omnipräsent zu sein, denn wir können uns ja an fünf Diskussionen gleichzeitig beteiligen. Wir haben das genutzt, um mehr Forderungen aus den Bewegungen aufzunehmen. Allein im ersten Jahr haben wir 17 öffentliche Anhörungen organisiert und 87-mal im Abgeordnetenhaus gesprochen. Wir haben 17 Gesetzesvorhaben eingebracht. In dieser Hinsicht hat das kollektive Mandat sehr gut funktioniert.

Was würden Sie als Ihren größten Erfolg bezeichnen?
KC: Das war die Umsetzung des Gesetzes zur Verhinderung von Zwangsräumungen (Lei despejo zero, Anm. der Red.). Niemand darf gezwungen werden, seinen Wohnraum zu verlassen, während es einen Notstand gibt. Das Gesetz gab es schon vor der Pandemie. In Pernambuco gibt es sehr viele bankrotte Zuckerbetriebe. Die Arbeiter und ihre Familien nutzen das Land daher, um Nahrungsmittel anzubauen. Die Besitzer dieser Betriebe versuchten während der Pandemie, die Besetzungen räumen zu lassen und die Arbeiter zu vertreiben.

Wir haben es geschafft durchzusetzen, dass alle Landbesetzungen von vor dem 20. März 2020, dem offiziellen Beginn der Pandemie, nicht geräumt werden durften. Dadurch haben wir sehr viele Familien vor der Räumung bewahrt, die sonst obdachlos auf der Straße gestanden hätten.

Gab es auch Niederlagen während der Amtszeit?
JC: Die extreme Armut hat in Pernambuco sehr zugenommen. Heute leben hier 1,2 Millionen Familien mit einem Pro-Kopf-Einkommen von null bis achtzig Reais (14 Euro, Anm. der Red.). Wir haben daher der Landesregierung das Projekt eines Notfall-Grundeinkommens vorgeschlagen, das es 60.000 Familien ermöglicht hätte, über sechs Monate 350 Reais (62 Euro, Anm. der Red.) zu beziehen. Das war vor zwei Jahren. Die Landesregierung hat dieses Projekt zwei Jahre lang ignoriert. Sie geht einfach über die Menschen hinweg, die nicht wissen, was sie zum Frühstück oder zu Mittag essen können. Es gibt keine Politik der öffentlichen Hand, die bei der Schwarzen Bevölkerung in der Peripherie oder in den indigenen Territorien ankommt. Wir finden das sehr besorgniserregend.

Wie groß ist die Bedrohung für weibliche, linke Abgeordnete in einem Brasilien unter Bolsonaro – hat es in den drei Jahren Gewalt oder Drohungen gegen Sie gegeben?
JC: Wir sind vor allem dem Widerstand einiger fundamentalistischer konservativer Parlamentarier ausgesetzt. Sie haben Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass Frauen diesen Ort der Macht besetzen. Sie haben gefordert, dass Robeyoncé Lima aus dem Abgeordnetenhaus entfernt wird. Sie ist Schwarz und trans und das stört das System. Was dauernd passiert, ist die Bagatellisierung von Gewalt. Früher haben die Leute in der Politik gegeneinander verbale Gewalt ausgeübt, jetzt gibt es auch direkte physische Aggressionen. Wir bewegen uns also in einem sehr gefährlichen Umfeld, selbst wenn wir keine direkten Bedrohungen erlebt haben.

2022 wird auch der Präsident Brasiliens gewählt. Wie schätzen Sie die Stimmung im Wahljahr ein?
KC: Wir sammeln gerade alle Kräfte, um diesen inhumanen Präsidenten abzuwählen. Die großen Parteien der Linken vereinen sich, um Bolsonaro zu besiegen. Wir als PSOL werden auf nationaler Ebene eine Allianz mit der Arbeiterpartei PT eingehen, um Präsident Lula zu wählen. Er ist die einzige Person, die in der Lage ist, Bolsonaro zu schlagen. Wir glauben nicht, dass Bolsonaro heute die Kraft hätte, einen Putsch anzuzetteln, aber er wird alles tun, um im Amt zu bleiben. Das Problem ist, dass es nicht nur Bolsonaro gibt, sondern auch seine Anhänger, die sehr gewalttätig sind. Wir befürchten also, dass es zu Gewaltakten kommen wird. Hier in Pernambuco ist die Situation ein bisschen anders, denn die PT unterstützt die Landesregierung der PSB. Deshalb werden wir eine eigene Kandidatur der PSOL unterstützen.

Wie blicken die JUNTAS in die Zukunft?
JC: Ich bin mir bewusst, dass zwischen uns Frauen Unterschiede bestehen, Klassenunterschiede, Unterschiede zwischen Schwarz und weiß. Aber der feministische Kampf ist der Kampf, der uns vereint. Räume zu besetzen, in Parteien, in der Gesetzgebung, in denen wir selbst über unsere Rechte entscheiden können, das gibt uns und unseren Kämpfen Sinn. Unser kollektives, feministisches, antirassistisches Mandat hat auf nationaler Ebene Bedeutung als Inspiration und Referenz gewonnen. Wir haben 33 Mandate von Frauen in der vergangenen Wahl von 2020 hinzugewonnen. Aber wir sind uns bewusst, dass wir noch mehr werden müssen. Denn ein einziges Mandat im Bundesstaat Pernambuco ist nicht genug. Und wir sind nicht der Gouverneur, sondern Abgeordnete.

KC: Wir hoffen, dass dieses Format, in dem wir Politik machen, dieses kollektive Mandat, andere inspiriert. Vor allem andere Frauen. Damit mehr von ihnen den Mut gewinnen, sich zu engagieren. Denn wenn wir die anderen einfach machen lassen, stellen wir ihnen einen Blankoscheck aus. Es ist notwendig, dass mehr Frauen institutionelle Räume besetzen und effektiv Politik für unsere Anliegen machen. Die Idee ist, dass wir es schaffen, zu inspirieren, zu fördern und mehr Frauen hierher zu holen, um diese Form der politischen Partizipation auszuüben.

IM PATRIARCHALEN HINTERLAND

Bárbara Colen in Fogaréu, Berlinale 2022 (Foto: © Bananeira Filmes)

Bewertung 5 / 5

Es fällt schwer, diesen Film nicht in Superlativen zu loben: Fantastische Hauptdarstellerin, exzellente Besetzung bis in die Nebenrollen, außergewöhnlich gelungenes Drehbuch, immer neue, ungewöhnlichen Wendungen und eindrucksvolle Landschaftsbilder aus dem Agrarstaat Goiás mit seinen gigantischen Feldern und Weiden. Nicht zu vergessen die gelungene Einbeziehung des politischen Grauens Brasiliens in eine Familiengeschichte, die Regisseurin Flávia Neves in großen Teilen selbst erlebt hat.

Fernanda (gespielt von der überragenden Bárbara Colen) kehrt nach vielen Jahren zum ersten Mal in das koloniale Städtchen Goiás Velho zurück, das sie als Kind mit ihrer Mutter verlassen hat. Bei ihrer Ankunft platzt sie unangekündigt in einen kleinen Empfang im Haus ihres Onkels Antônio (Eucir de Souza), dessen erneute Kandidatur zum Bürgermeister gefeiert wird. Und obwohl Fernanda von ihrer Tante Arlette (Fernanda Vianna) bemüht freundlich empfangen wird, ist die Atmosphäre sofort geprägt von unterschwelligen Aggressionen, die sich im Laufe des Films langsam entfalten und verdichten, um dann zu eskalieren.

Bereits die Dialoge der ersten Filmszenen sind brillant geschrieben und inszeniert – deutlich ist zu spüren, dass hier Welten aufeinandertreffen: das moderne, aufgeklärte Brasilien, verkörpert durch Fernanda, und das konservative, rückwärtsgewandte, unterschwellig bis offen brutale Brasilien des weiten Hinterlandes. Immer wieder stößt sich Fernanda an der Sprache ihrer Familie. Mittels dieser werden tiefgreifende Unterschiede zwischen ihren Werten und Sichtweisen auf die Welt markiert und die zahlreichen Lügen maskiert, die sich ebenso auf die Vergangenheit wie auf die Gegenwart beziehen.

Doch Fernanda ist nicht zurückgekommen, um sich mit der offiziellen Geschichte abspeisen zu lassen. Sie will die Wahrheit hinter den zahlreichen Familiengeheimnissen entdecken und ist dabei unerschrocken und rücksichtslos, auch sich selbst gegenüber – bis hin zur Gefahr für Leib und Leben. Eine so mutige, offensive Frau kann im patriarchalen Raum des Hinterlandes nicht geduldet werden. Dabei verschränkt sich die persönliche Geschichte mit der politischen Dimension der Handlung. „Für mein Vaterland! Für meine Familie!“, grölten die Hinterbänkler, die im April 2016 die brasilianische Präsidentin Dima Rousseff absetzten, bei der Stimmabgabe in die Mikrophone. FOGARÉU entlarvt diesen Konservatismus: Die vorgeblichen Ideale des Patriotismus und der Familie schützen nur den rücksichtslosen Machterhalt einer weißen Elite von Landbesitzern, denen die Rechte von Frauen, Hausangestellten und Indigenen herzlich egal sind.

Regisseurin Flávia Neves, die auch gemeinsam mit Melanie Dimantas das Drehbuch geschrieben hat, inszeniert die Erschütterung der lokalen Macht durch eine Gruppe sehr unterschiedlicher Frauen, die sich gegenseitig unterstützen. Dabei kommt keine ohne Schmerzen und Verluste davon. Dass es am Ende ein bisschen Magie braucht, um das Böse zu zerstören, ist angesichts der Situation im brasilianischen Hinterland vielleicht die realistischste Option.

FOGARÉU ist der erste abendfüllende Spielfilm der Brasilianerin Flávia Neves, die mit 16 Jahren ihren ersten Kurzfilm drehte und seither im Bereich Film arbeitet. An der Produktion von FOGARÉU waren vor allem Frauen beteiligt, einschließlich der beiden Produzentinnen Vania Catani (Bananeira Filmes) und Mayra Faour Auad (Mymama Entertainment). Im Interview mit der Berlinale sagte Neves dazu: „Filme von Frauen sind vielleicht die besten, die unser Land heute zu bieten hat. Als Frauen müssen wir uns viel besser vorbereiten, um einen Platz in einem feindlichen, sehr komplexen Markt zu erkämpfen, der nicht für uns geschaffen wurde. Aber wenn wir die Bedingungen selbst bestimmen können, werden wir ebenfalls brillieren.“ Das ist Neves mit FOGARÉU definitiv gelungen.

Feuer, Rohöl und rote Erde

Andreia Vieira in Mato seco em chamas, Berlinale 2022 (Foto: © Cinco da Norte, Terratreme Filmes)

Bewertung 4 / 5

Die Flammen lodern und züngeln, entzünden Benzinpfützen und Signalkörper, sie werfen bewegte Schatten, spiegeln sich auf Schwarzer Haut und verbrennen am Ende sogar ein gepanzertes Fahrzeug der Militärpolizei. Nicht zu vergessen das Entzünden der unzähligen Zigaretten, die von den Protagonistinnen in diesem Film geraucht werden, tief inhalierend und langsam den Rauch entweichen lassend. Es ist eine wuchtige Bildsprache, die der Regisseur Adirley Queirós und die Co-Regisseurin und Kamerafrau Joana Pimenta in Mato seco em chamas („Trockene Wildnis in Flammen“) geschaffen haben. Bildgewaltig und ungewöhnlich zieht sich die Kombination von Feuer, Rohöl und roter Erde in langen Einstellungen durch den gesamten Film.

Nicht weniger ungewöhnlich ist seine Entstehungsgeschichte: Über einen Zeitraum von drei Jahren drehten Queirós und Pimenta in der Satellitenstadt Ceilândia und in Sol Nascente, der zweitgrößten Favela Brasiliens, beide am Rande der Hauptstadt Brasília. Dort lebt Regisseur Queirós, der eine erstaunliche Karriere vom professionellen Fußballspieler zum professionellen Filmemacher hinter sich hat, bereits seit 50 Jahren. Mit Mato seco em chamas hat er seit 2005 seinen dritten Film in der Region gedreht. Auch Pimenta stand bereits 2017 für Queirós’ Film Era uma Vez Brasília hinter der Kamera und hat für die Dreharbeiten zwei Jahre dort verbracht.

Sechs Frauen aus beiden Städten schlugen Queirós und Pimenta vor, bei der Produktion von Mato seco em chamas zusammenzuarbeiten. Gemeinsam entwickelten sie die Figuren und das Drehbuch: „Mit diesen Frauen – Léa Alves, Joana Darc Furtado, Andreia Vieira, Débora Alencar, Mara Alves und Gleide Firmino – haben wir eine Fiktion geschaffen, die für uns zum Aktionsraum werden konnte. Eine Fiktion, in der die Peripherie zum Zentrum wird. Eine Fiktion, die auch dokumentarisch verstanden werden kann. Zusammen mit den Frauen haben wir Figuren entwickelt, geformt aus gemeinsamen politischen Erinnerungen und einer kollektiven Idee für diese umkämpften Gebiete”, sagten die Regisseur*innen im Interview mit der Berlinale.

Entstanden ist so eine Geschichte mit fantastischen Elementen, die immer ganz hart an der Realität ist. Queirós und Pimenta haben den Schauspielerinnen – der Begriff Laiendarstellerinnen wird ihrem Können nicht gerecht – viel Freiheit gelassen: Es sind ihre Orte, ihre Geschichten und ihre Sprache, das ist deutlich zu spüren. Im Kern geht es um die Bandenchefin Chitara, die auf die gewinnbringende Idee kam, die Erdöl-Pipeline anzuzapfen, die unter ihrem Grundstück verläuft. Sie ist ebenso furchtlos wie ihre Schwester Léa. Gemeinsam mit den anderen Frauen schaffen es die Schwestern problemlos, eine Gang von Motorradkurieren zu dominieren, die ihnen für billiges, selbst raffiniertes Benzin Prozente der Lieferungen zahlen.

Doch gleichzeitig ist es ein hartes Leben: Die Bedrohung durch die Militärpolizei und ihre Überwachungsdrohnen ist ebenso präsent wie die durch andere Gangs und die Politik – das macht eine lange, dokumentarische Szene einer Wahlkampfveranstaltung der Anhänger*innen von Präsident Bolsonaro deutlich. Aber vor allem gibt es die bedrohliche Möglichkeit, jederzeit wieder im Gefängnis zu landen. „Das Verbrechen zieht dich irgendwie rein, dein ganzes Leben”, sagt Chitara in einem nachdenklichen Moment.

Doch die Frauen haben auch eine Menge Spaß, vor allem miteinander. Léa mietet einen Bus mit DJ für eine Party, die Forró-Brega-Band Muleka 100 Calcinha spielt zum Tanz auf und der Wahlkampfwagen der von Andreia Vieira gegründeten Partei PPP (für die Verbesserung der Situation der Gefängnisinsassen und ihrer Familien) verwandelt sich in eine wogende Tanzfläche. Queerness wird in diesen Situationen so selbstverständlich gelebt, als gäbe weder den Konservatismus evangelikaler Kirchen noch Gangster-Machos.

Das alles wirkt authentisch und realistisch, so dass der Anspruch der Regisseur*innen, „eine Form der Ethnografie zu schaffen, die sich aus einer Fiktion heraus entwickelt”, durchaus eingelöst wird. Schwierig ist dabei nur die mehrfach gebrochene, verschlungene Erzählstruktur mit verschiedenen Zeitebenen – selbst wenn diese durchaus den lokalen Erzählmustern entspricht. Da folgt Rückblende auf Rückblende auf Gegenwart und zurück, immer wieder unterbrochen von Erinnerungen an das Gefängnis. Erst ganz zum Schluss erschließt sich, wie alles zusammenhängt. Und das dauert bei einer Filmlänge von 153 Minuten eine ganze Weile.

ALLES NUR „BLABLABLA“

Dasselbe in Grün Auf der COP26 wirbt Brasilien für grünes Wachstumsprogramm (Foto: Wesley Sousa (ASCOM/SEAPC/MCTI) via flickr, CC BY 2.0)

„Jeder würde mit Steinen nach ihm werfen“, so erklärte der brasilianische Vize-Präsident, Hamilton Mourão, kurz vor der Weltklimakonferenz COP26 gegenüber Journalist*innen, wieso der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro nicht persönlich nach Glasgow fliegen werde. Damit beweist Mourão einen besseren Sinn für die Realität als Bolsonaro. Dieser verkündete beim Treffen der Staats- und Regierungschefs am zweiten Tag der COP26 in einer vorab aufgenommenen Videoansprache: „Bei der Bekämpfung des Klimawandels waren wir immer Teil der Lösung, nie des Problems“.

Doch nach fast drei Jahren Anti-Umweltpolitik nimmt niemand Bolsonaros Erzählung von Brasilien als Vorbild beim Klima- und Umweltschutz ernst. Brasilien ist international zunehmend isoliert. Neben der fehlenden Kompetenz des Präsidenten persönliche Beziehungen mit wichtigen internationalen Partnern aufzubauen, hat die mediale Aufmerksamkeit für die Brände im Amazonas im Jahr 2019 inzwischen dort gewirkt, wo es der Regierung Bolsonaro wehtut. Das Europäische Parlament nutzt Brasiliens Anti-Umweltpolitik als Argument, um das EU-Mercosur-Handelsabkommen erst einmal nicht zu ratifizieren. Und eine Gruppe billionenschwerer Investmentgesellschaften drohte Brasilien 2020 mit dem Rückzug, sollte die Regierung keine Korrektur ihres Abholzungskurses im Amazonas vornehmen. Auch in Brasilien selbst wächst seither der Druck auf Bolsonaro, die übermächtige Agrarlobby fürchtet Exporteinbußen. Zu Jahresbeginn bemerkte Frank-*reichs Präsident Emmanuel Macron, wer weiterhin von brasilianischer Soja abhängig sei, dulde die Abholzung des Amazonas.

 

Der Versuch der brasilianischen Diplomatie, dem Rest der Welt einen Kurswechsel zu verkaufen

Der brasilianische Umweltminister Joaquim Leite reiste daher mit dem klaren Auftrag nach Glasgow, Brasiliens internationales Ansehen als Klima- und Umweltschützer wieder herzustellen und wirtschaftliche Schadensbegrenzung zu betreiben. Ende Oktober – kurz vor der COP26 – lancierte die Regierung ihr Nationales Programm für Grünes Wachstum (Programa Nacional de Crescimento Verde). Dieses soll den Waldschutz, das Senken von Emissionen und eine sinnvolle Nutzung natürlicher Ressourcen mit der Schaffung „grüner Arbeitsplätze“ und Wirtschaftswachstum vereinen. Ein interministerieller Ausschuss soll die Durchführung des Programms übernehmen, die finanziellen Mittel kommen von der Entwicklungsbank des Schwellenländerbündnisses BRICS, der brasilianischen Entwicklungsbank (BNDES) und zwei weiteren staatlichen Banken. „Die dem Programm zugrundeliegende Idee ist sehr gut. Wir müssen Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit miteinander in Einklang bringen. Das wird allerdings nur gelingen, wenn wir einen konkreten Plan dafür haben“, kritisiert Flávia Bellaguarda, Juristin und Gründerin von LaClima, einem Netzwerk von Rechtsexpert*innen für Klimaschutz in Lateinamerika, das neue Programm gegenüber LN. Doch nicht nur die recht floskelhafte Ausarbeitung lässt das Programm substanzlos erscheinen: „Die im Programm genannten Punkte werden nicht von der Politik unterstützt, die die Regierung bisher verfolgt hat oder stehen sogar im Widerspruch zu vorgelegten Gesetzesvorschlägen“, so Bellaguarda. Wie Clarissa Lins vom brasilianischen Zentrum für internationale Beziehungen (CEBRI) gegenüber CNN feststellte, bestehe außerdem nur ein Bruchteil der Finanzierung aus neu zur Verfügung gestellten finanziellen Mitteln. Das Programm wirkt daher vor allem als Musterbeispiel für das, was die schwedische Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg jüngst als „Blablabla“ kritisierte. Aus Sicht der indigenen Delegation ist das Programm zudem grundsätzlich der falsche Ansatz, weil eine Lebensweise, die auf ständigem Wachstum basiert, die Klimakrise nicht lösen kann.

Eine Lebensweise, die auf ständigem Wachstum basiert, kann die Klimakrise nicht lösen

Nicht nur fehlende substanzielle Programme, auch die Fakten sprechen gegen das Bild von Brasilien als Klimachampion, das Umweltminister Leite auf der COP26 zu verkaufen versucht: Während im Pandemiejahr 2020 weltweit die Treibhausgasemissionen um 7 Prozentpunkte sanken, verzeichnete Brasilien einen Anstieg von fast 10 Prozentpunkten – der größte Anstieg dieses Wertes seit 2004. Maßgeblich dafür verantwortlich ist die Abholzung des Regenwaldes im Amazonasbecken: zwischen August 2019 und Juli 2020 fast 11.000 Quadratkilometer. Diese Fläche ist größer als der Libanon und 176 Prozent über der Zielmarke für diesen Zeitraum im Nationalen Klimaplan. Ein gutes Beispiel dafür, dass es nichts bringt „die weltweit vollständigste Umweltschutzgesetzgebung zu haben“, wie Bolsonaro im September noch bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York betonte, wenn diese nicht in Regierungshandeln umgesetzt wird.

Laut einer Messung der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) hat sich der südwestliche Teil des Regenwaldes bereits zwischen 2018 und 2020 von einer Kohlenstoffsenke zu einer Kohlestoffdioxid-Quelle gewandelt. Grund dafür sind neben der Abholzung auch die Brände, die zwischen August 2020 und Juli 2021 eine Waldfläche von über 15.000 Quadratkilometern betrafen. Das war noch einmal deutlich mehr als zwischen 2019 und 2020, als der brennende Amazonaswald auf den internationalen Titelseiten zu sehen war.

Dennoch versuchte Umweltminister Leite gemeinsam mit den Mitgliedern der offiziellen brasilianischen Delegation, nach den USA die zweitgrößte der Konferenz, den Industrieländern und der anwesenden Privatwirtschaft einen brasilianischen Gesinnungswandel in den eigenen Reihen zu verkaufen. So verkündete der Chef-Unterhändler des brasilianischen Außenministeriums, Paulino Franco de Carvalho Neto, während der COP26 in einem Interview mit der BBC, man sei innerhalb der Regierung nach sorgfältiger Reflexion zu dem Schluss gekommen, dass man sich stärker engagieren müsse.

Auf der COP26 sind zwei Brasilien vertreten


Jenseits der offiziellen Verhandlungsdelegation zeigt Brasilien auf der COP26 allerdings noch ein ganz anderes Gesicht. Im Konferenzbereich des „Brazil Action Climate Hub“ diskutieren Vertreter*innen indigener und anderer zivilgesellschaftlicher Gruppen, Gouverneure brasilia-*nischer Bundesstaaten und Abgeordnete, wie Klimapolitik in der Zeit nach Bolsonaro wieder aufgebaut werden kann, oder welche Rolle der Kongress beim Kampf gegen den Klimawandel einnehmen könnte. „Es gibt zwei Brasilien auf der COP26, eines vertreten durch die offizielle Delegation und ein zweites, sehr diverses, das vor allem von der Zivilgesellschaft repräsentiert wird. Beide setzen völlig unterschiedliche Schwerpunkte und es gibt keine Verbindung oder Interaktion zwischen diesen beiden Sphären“, berichtet Flávia Bellaguarda von vor Ort. Zu diesem anderen Brasilien gehört auch die indigene Aktivistin Txai Suruí, die – neben dem britischen Premierminister Boris Johnson und dem UN-Generalsekretär Antonio Guterres – die Weltklimakonferenz eröffnete. Die Delegation des landesweiten Zusammenschlusses der indigenen Völker Brasiliens (APIB) mit 40 indigenen Vertreter*innen, in der Mehrzahl Frauen, war in diesem Jahr so groß wie noch nie, ebenso wie die Aufmerksamkeit für ihre Forderungen.

Gleich zu Beginn der COP26 versprachen mehrere Länder, unter anderem Großbritannien und Deutschland, zwischen 2021 und 2025 rund 1,5 Milliarden Euro für den Schutz von Wäldern direkt an indigene und lokale Gemeinschaften auszuzahlen. Bislang haben diese auf weniger als ein Prozent der Finanzierung gegen Abholzung direkten Zugriff, obwohl 85 Prozent der weltweiten Biodiversität in Gebieten indigener und anderer lokaler Gemeinschaften nachgewiesen wurde. Auch an den Verhandlungen sind sie weiterhin nicht direkt beteiligt.

Das offizielle Brasilien enthielt sich indes bei Abkommen zum Kohleausstieg und zur Abkehr vom Verbrennungsmotor, gehört aber zu den inzwischen 138 Ländern, die zusammen rund 91 Prozent der weltweiten Waldfläche abdecken und sich in Glasgow auf ein Ende der Waldzerstörung einigten. Eine ähnliche Erklärung unterzeichneten 40 Staaten bereits 2014 auf der COP in New York. Die damals gesetzte Zielmarke, die Abholzung bis 2020 zu halbieren, wurde nie erreicht. Im Gegenteil: Der Anteil des Waldverlustes lag in den Jahren nach dem Abkommen sogar höher als in den Vorjahren. Wie die – in Glasgow zwar von mehr Staaten mitgetragene aber nur sehr vage gemachte – Zusage in konkrete Schritte überführt wird, scheint, vor allem nach der Erfahrung von 2014, erst einmal schwer vorstellbar.

In New York gehörte Brasilien nicht zu den unterzeichnenden Staaten des Waldschutzabkommens. Jetzt will es der illegalen Abholzung sogar schon 2028 ein Ende setzen, zwei Jahre früher als im Abkommen der COP26 festgehalten. Brasiliens Regierung hat damit vor allem Aussicht auf finanzielle Förderung. Daneben sagte Brasilien gemeinsam mit mehr als 100 Staaten zu, seine Methanemissionen bis 2030 im Vergleich zum Jahr 2020 um 30 Prozent zu verringern. Wissenschaftler*innen erhoffen sich davon eine um 0,2 Grad Celsius geringere Erderwärmung bis 2050.

Ob den jetzt gemachten Zusagen Taten folgen, ließ Umweltminister Leite im Nachgang offen. Auf die Frage, ob er seine Unterstützung gegenüber mehrerer Gesetzesinitiativen zurückziehen werde, die aktuell im Kongress verhandelt werden und den auf der COP26 zugesagten Zielmarken entgegenlaufen, antwortete er auch auf mehrmalige Nachfrage von Journalist*innen nur ausweichend. Wahrscheinlicher ist es, dass die Regierung versuchen wird, sich an die gemachte Selbstverpflichtung zu halten, indem illegale Abholzung einfach weiter legalisiert wird. Die aktuell diskutierte Gesetzesinitiative PL 490/2007, durch die Infrastrukturprojekte in indigenen Territorien ermöglicht und Demarkationsverfahren erschwert werden sollen, versucht genau das.

Kurz vor Abschluss der verlängerten Konferenz sorgte die Verhandlung über den Artikel 6 des Pariser Abkommens für Kontroversen. Über diesen sollen der Handel und die Verringerung von Emissionen geregelt werden, auf Details konnte man sich in Paris und auf den Folgekonferenzen nie abschließend einigen. Brasilien gehörte dabei bislang zu den Staaten, die über eine Doppelzählung von Emissionsreduktionen finanzielle Vorteile erlangen wollten. Am vorletzten Tag der COP26 signalisierte der Umweltminister Leite aber, nicht länger an dieser Position festhalten zu wollen. Das dürfte jedoch kaum ausreichen, um dem Rest der Welt einen Kurswechsel zu verkaufen.

ANTWORTEN AUF DIE KLIMAKRISE

JUDITE BALLERIO GUAJAJARA

arbeitet, nach einem Masterstudium in Staatslehre, Recht und Verfassungsrecht an der Universität von Brasília, als Rechtsanwältin. Sie ist juristische Beraterin der COAPIMA (Koordination der Organisationen und Netzwerke der indigenen Völker im Bundesstaat Maranhão) und Mitglied des Nationalen Verbandes indigener Rechtsanwälte in Brasilien. Sie gehört außerdem zum Berater*innenstab der Abgeordneten Joenia Wapichana (REDE), der ersten indigenen Frau, die in das nationale Parlament gewählt wurde, sowie die erste indigene Juristin Brasiliens. Judite Guajajara engagiert sich vor allem in der Verteidigung von indigenen Führungspersönlichkeiten, die zunehmend kriminalisiert werden.
(Foto: privat)


 

Im Jahr 2019 waren die zahlreichen Feuer in Amazonien und die illegale Entwaldung in den deutschen Medien sehr präsent. In diesem Jahr gilt alle mediale Aufmerksamkeit der Pandemie und der Koalitionsbildung nach den Bundestagswahlen. Berichterstattung über Entwaldung und Brände gibt es kaum. Wie ist die aktuelle Situation in Amazonien?
Dazu möchte ich zuerst einmal sagen, dass die Berichterstattung in Brasilien nicht viel anders ist. Wir befinden uns hier in einem Kampf um Narrative, in dem sehr viele Fake-News verbreitet werden. Und natürlich müssen die indigenen Gemeinden größere Hindernisse überwinden, um Zugang zu Massenmedien zu erhalten, auch wenn sich unser Zugang zu alternativen Medien verbessert hat. All diese Berichterstattung über die Rede von Bolsonaro vor den Vereinten Nationen maskiert nur die Realität. Die Realität ist, dass die Abholzungszahlen zwischen 2020 und 2021 die höchsten in den vergangenen zehn Jahren sind. Amazonien brennt nach wie vor, es wird immer noch entwaldet. Und die indigenen Führungspersönlichkeiten, die an vorderster Front stehen, um die kollektiven Rechte und die Territorien zu verteidigen, werden nach wie vor ermordet und mehr als jemals zuvor kriminalisiert. Brasilien steht unter den Ländern, in denen die meisten Umweltschützer ermordet werden, auf dem vierten Platz. Die meisten davon sind Indigene.

Die Situation in Amazonien hat sich also eher noch verschärft. Warum?
Der Staat schwächt die Institutionen, die für den Schutz des Waldes zuständig wären, sei es um Brände oder um Abholzung zu vermeiden. Er hat die Behörden FUNAI und IBAMA ausgehöhlt, und zwar sowohl finanziell als auch personell. Die Beamten wurden regelrecht politisch verfolgt. Und er schwächt die Institutionen nicht nur, indem er ihnen personelle und finanzielle Ressourcen entzieht. Über den Diskurs von Bolsonaro und seinem Team in den Medien wird zu den Abholzungen und illegalen und kriminellen Waldbränden auch noch ganz direkt ermutigt. Schon vor seiner Wahl hat Bolsonaro sich öffentlich gegen die Demarkierung der indigenen Territorien und für die Aneignung dieser Territorien positioniert. Daneben gibt einen indirekten Diskurs, der im Parlament über Gesetzesinitiativen verläuft. Bolsonaro fördert die Invasion indigener Territorien, sei es durch Goldschürfer oder durch andere. Auch darüber, dass sich niemand für seine illegalen Praktiken verantworten muss. All dies müsste mit viel mehr Vehemenz verfolgt werden, so dass diejenigen, die in Amazonien Verbrechen begehen, nicht straflos davonkommen.

In letzter Zeit gab es viele Berichte darüber, dass illegale Goldschürfer immer weiter in indigene Gebiete vordringen. Eskaliert die Situation?
Ja, es gibt sehr gut bestätigte Informationen darüber, was in den Territorien der Yanomani passiert. Außer der Entwaldung, die direkt durch das Goldschürfen verursacht wird, und der Kontamination der Flüsse, die auch die Bevölkerung vergiftet, gab es direkte Attacken, die nicht strafrechtlich verfolgt wurden. Erst kürzlich gab es Schießereien im Gebiet der Yanomani. Wir haben auch Informationen, dass ein illegales Versorgungsflugzeug der Goldschürfer Yanomani verletzt hat. All dies wurde von den indigenen Organisationen angezeigt, auch von der Abgeordneten Joenia Wapichana, die aus der Region stammt. Und kürzlich ertranken zwei Kinder einer Yanomani-Gemeinde, weil illegale Goldschürfer im Fluss eine Maschine benutzten, die sie unter Wasser zog. Wir stellen täglich fest, in welchem Ausmaß die Goldschürfer in die Region eindringen. Sie kommen bisher unkontaktierten indigenen Gemeinden näher als jemals zuvor und attackieren auch Menschen, die in der Region leben, direkt.

Nach Informationen von Organisationen, die den Landraub in Brasilien beobachten, hat auch die direkte, illegale Landnahme deutlich zugenommen, können Sie das bestätigen?
Ja, der Landraub hat während der Regierung Bolsonaro enorm zugenommen. Das hat natürlich damit zu tun, dass die staatliche Kontrolle so geschwächt ist. Heute haben die Konflikte um Landbesitz in den indigenen Territorien ein absurdes Ausmaß angenommen. Hinzu kommt, dass die Legislative die illegale Landnahme über Gesetzesvorlagen unterstützt, mit denen der Landraub legalisiert werden soll. Es ergibt sich ein sehr klares Szenario, wenn man die verschiedenen Gesetzesvorlagen betrachtet, die zur Lesung im Kongress ausgearbeitet wurden.

Welche Ziele verfolgen die indigenen Netzwerke und Organisationen auf der COP26?
Es wird in diesem Jahr eine sehr große indigene Präsenz und Beteiligung an der COP geben. Das Hauptziel ist es, ein weiteres Mal zu zeigen, dass die indigene Bevölkerung effektiv an der Lösung der Klimakrise beteiligt werden muss. Nicht nur, weil wir die Hüter des Territoriums mit der weltweit größten Biodiversität sind oder weil wir am stärksten vom Klimawandel betroffen sind. Durch unsere Lebensweise wissen wir auch am besten, wie die Menschheit dem Klimawandel begegnen muss.

Welche Vorbereitungen werden getroffen, um diese Ziele zu erreichen?
Gerade heute wurde dazu im nationalen Parlament eine Anhörung durchgeführt und letzte Woche wurden von der COIAB (Zusammenschluss der Indigenen Organisationen im Brasilianischen Amazonas, Anm. d. Red.) fachliche Diskussionen organisiert, um zu entscheiden was die Hauptthemen und Hauptforderungen der indigenen Bewegung auf der COP sein werden. Die verschie- denen Regionalstellen tragen dies gerade zusammen und präsentieren es in Kürze den Medien. Amazonien wird einer der zentralen Punkte in der Diskussion auf der COP26 sein und die indigenen Völker haben sich sehr gut, auch mit fachlicher Expertise, auf die Beteiligung vorbereitet. Denn wir wollen nicht nur, dass unsere Expertise anerkannt wird, sondern dass in die indigenen Völker investiert wird, um die Klimakrise zu bekämpfen.

EXTREM POLARISIERT

Unter Beobachtung: Gesundheitsminister Marcelo Queiroga musste schon dreimal vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss aussagen.Foto: Fabio Rodrigues-Pozzebom / Agência Brasil

Am 10. Februar brach für Silvina Macedo die Welt zusammen. An diesem Tag starb ihr Mann an COVID-19. „Hätte die Bolsonaro-Regierung auf Experten gehört und den Kauf von Impfungen nicht behindert, würde mein Mann vielleicht noch leben“, sagt die kleingewachsene Frau, während sie an der Spitze einer Demonstration in der Stadt Belém marschiert. In der Hand hält sie ein Schild, auf dem ein Foto ihres verstorbenen Mannes zu sehen ist. Macedo war eine von zehntausenden Demonstrant*innen, die am 2. Oktober auf die Straße gingen. In ganz Brasilien fanden Proteste gegen die rechtsradikale Regierung von Präsident Jair Bolsonaro statt.

In Belém, einer Millionenstadt im Mündungsgebiet des Amazonas, kommen die Demonstrant*innen wegen der Hitze schon früh am Morgen zusammen. Der São Brás-Marktplatz verwandelt sich in ein buntes Wirrwarr. Fahnen, Transparente, gereckte Fäuste. Trommelklänge hallen durch die Straßen. Einige vorbeifahrende Autofahrer*innen hupen unterstützend, andere beschimpfen die Demonstrant*innen. Ein junger Mann mit Maske, blauem T-Shirt und Federschmuck auf dem Kopf wuselt durch die Menge, telefoniert, gibt Anweisungen. Es ist Telmiston Guarajara. Der 21-Jährige indigene Jurastudent ist einer der Organisator*innen, bei ihm laufen viele Fäden zusammen. „Wir dürfen nicht bis zur Wahl 2022 warten“, meint er. „Wir müssen Bolsonaro jetzt stürzen.“

Viele machen den ultrarechten Präsidenten für das Chaos im Land verantwortlich. Zwar hat sich die Corona-Lage in den letzten Wochen entspannt. Doch die Pandemie hat das Land schwer gebeutelt, mehr als 600.000 Menschen starben an dem Virus. Wie kaum ein anderer Staatschef leugnete Bolsonaro die Gefahren der Pandemie, ignorierte den Rat von Wissenschaftler*innen und machte Stimmung gegen Impfungen. Zudem soll der selbsterklärte Saubermann von Korruptionsversuchen bei der Beschaffung des indischen Covaxin-Impfstoffes gewusst und nicht eingegriffen haben. Eine parlamentarische Untersuchungskommission (COVID-19 CPI) untersucht seit April Unterlassungen und Fehlverhalten der Regierung während der Pandemie.

In einem extrem ungleichen Land wie Brasilien sind die Nachwirkungen der Corona-Pandemie brutal: Die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordwerte geklettert, zehntausende Obdachlose bevölkern die Straßen der großen Städte, mindestens 19 Millionen Brasilianer*innen hungern. Eine Reportage in der Tageszeitung Extra sorgte Ende September für Aufregung: Sie handelt von Menschen in Rio de Janeiro, die in Fleischabfällen wühlen müssen, um sich ernähren zu können.

„Bolsonaro interessiert sich nicht für das Leid der Bevölkerung“, meint Telmiston Guarajara. Laut dem Aktivisten müsse deshalb nun „eine möglichste breite Front“ gegen die Regierung gebildet werden – auch zusammen mit Konservativen und Rechten. Viele hoffen auf eine Neuauflage der „diretas já“-Kampagne: Im Jahr 1984 gingen Millionen Menschen, getragen von einer Allianz verschiedener politischer Spektren, noch während der Militärdiktatur gemeinsam für eine Wiedereinführung der Direktwahl des Präsidenten auf die Straße. Doch dass es zu einer neuen Kam- pagne über die Parteigrenzen hinweg kommt, ist unwahrscheinlich. Nach turbulenten Jahren ist die brasilianische Gesellschaft extrem polarisiert, die Gräben sind tief. Auf den landesweiten Protesten am Samstag waren fast nur Linke sichtbar, auch in Belém. Deshalb sind die Demonstrationen noch weit davon entfernt, der Regierung wirklich gefährlich zu werden. Es gelingt kaum, Menschen außerhalb der linken Blase zu mobilisieren. Im November sind erneut landesweite Demonstrationen geplant, doch die Organisator*innen wirken bisweilen orientierungslos.

Bolsonaro versteht es wie kein zweiter, Ängste zu schüren


Unklarheit herrscht zum Beispiel darüber, wie genau man agieren soll. Einige setzen darauf, Bolsonaro bei der Wahl 2022 zu schlagen. Andere kämpfen dafür, ihn so bald wie möglich abzusetzen. Bei den Protesten am 2. Oktober war auf vielen Schilder zu lesen: „Impeachment jetzt!“ Dem Präsidenten werden schwere Vergehen im Umgang mit der Pandemie vorgeworfen, die eine Amtsenthebung rechtfertigen könnten. Doch es ist unwahrscheinlich, dass es so weit kommt. Über die Aufnahme des Verfahrens entscheidet der Präsident des Abgeordnetenhauses, Arthur Lira von der rechtskonservativen Partei Progressistas (PP), ein Verbündeter Bolsonaros. Und im Parlament genießt Bolsonaro bisher noch die Unterstützung des centrão, des einflussreichen Mitte-Rechts-Blocks. Außerdem kann sich der Rechtsradikale auf den Rückhalt von rund 25 Pro-zent der Bevölkerung verlassen. Seine teils fanatischen Anhänger*innen verehren den Pöbel-Präsidenten mit fast schon religiösem Eifer und mobilisieren ebenfalls regelmäßig zu Protesten.

Bis zur Wahl im kommenden Jahr wird noch viel passieren. Das Wahlverhalten ist in Brasilien oft unberechenbar und hat viel mit aktuellen Entwicklungen zu tun. Es ist davon auszugehen, dass die Corona-Pandemie bei vielen Wähler*innen bis Anfang Oktober 2022 nicht mehr im Fokus stehen wird. Im krisengeplagten Brasilien versteht es Bolsonaro außerdem wie kein zweiter, Ängste zu schüren. Mit einer populistischen Medienstrategie, infamen Attacken auf Minderheiten und den bisweilen paranoid anmutenden Warnrufen vor einer angeblichen kommunistischen Gender-Diktatur könnte er es erneut schaffen, willige Anhänger*innen zuhauf um sich zu scharen. Auch im Wahlkampf von 2018 fand er mit seinen homophoben und rassistischen Statements viel Anklang. Statt über Inhalte diskutierte das Land seinerzeit wochenlang, ob Bolsonaros Gegenkandidat Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT Babyfläschchen in Penisform an Kitas verteilen ließ.

Eine Kampagne über Parteigrenzen hinweg ist unwahrscheinlich

Auch der politische Analyst und ehemalige Kommunikationsminister Thomas Traumann warnt davor, Bolsonaro abzuschreiben. „Im kommenden Jahr wird die Wirtschaft wieder wachsen und es wird ein neues Sozialprogramm geben, durch das arme Menschen ein bisschen mehr Geld in der Tasche haben werden“, sagte Traumann gegenüber LN. „Bolsonaro wird sich erholen können. Deshalb muss bei der nächsten Wahl auf jeden Fall mit ihm gerechnet werden.“

PANDORA PAPERS BELASTEN POLITIKER MEHRERER LÄNDER

14 ehemalige und amtierende Staats- und Regierungschefs aus Lateinamerika stehen nach der Veröffentlichung der Pandora Papers unter Verdacht, einen Teil ihres Vermögens in Briefkastenfirmen vor der Öffentlichkeit versteckt zu haben. Darunter sind die amtierenden Präsidenten Sebastián Piñera (Chile), Guillermo Lasso (Ecuador) und Luis Abinader (Dominikanische Republik). Auch Regierungsmitglieder anderer Länder sind von den Enthüllungen betroffen, wie der brasilianische Wirtschaftsminister Paulo Guedes oder der mexikanische Staatssekretär für Kommunikation und Transport Jorge Arganis Díaz Leal.

Ein Zusammenschluss von mehr als 600 Journalist*innen aus 117 Ländern hatte in einer geheimen Recherche fast 12 Millionen vertrauliche Dokumente ausgewertet. Die Daten wurde dem International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) von einer anonymen Quelle zugespielt. Am 3. Oktober wurden die Ergebnisse ihrer Analysen unter dem Namen Pandora Papers weltweit veröffentlicht. Namhafte internationale Medien wie BBC, die Washington Post oder El País beteiligten sich an den Analysen und deren Veröffentlichung.

Die vertraulichen Dokumente stammen von 14 sogenannten Offshore-Providern. Diese Firmen helfen ihren Kunden dabei, in Steueroasen Briefkastenfirmen zu gründen. Der Besitz einer Offshore-Firma ist nicht illegal, wird aber häufig zur Geldwäsche oder Steuerhinterziehung genutzt. Gerade bei Regierungsmitgliedern wird der Versuch, dem Staat Steuern zu entziehen, als unethisch betrachtet, oft auch gesetzlich sanktioniert.

Brasilien: Wirtschaftsminister besitzt Briefkastenfirma

Paulo Guedes, seit 2019 „Superminister“ für Wirtschaft und Finanzen und neoliberaler Hardliner, wird von den investigativen Recherchen der Pandora Papers belastet. Er wird als Besitzer der Offshore-Firma Dreadnoughts International Group genannt, die in der Steueroase der Britischen Jungferninseln angesiedelt ist. Die Zeitschrift Piauí berichtete am 3. Oktober 2021, dass die Briefkastenfirma im September 2014 eröffnet wurde. Mitgesellschafterin von Guedes war seine Tochter Paula Drumond Guedes. Beide zahlten insgesamt 8 Millionen US-Dollar auf ein Konto der Crédit Suisse in New York ein, indem sie 50.000 mal den Betrag von 160 US-Dollar überwiesen. Bis August 2015 wurde die Einlage auf 9,5 Millionen US-Dollar erhöht.

Nach Aussagen seiner Anwälte verließ Guedes das Management seiner Offshore-Firma im Dezember 2018, bevor er das Amt als Minister antrat. Seither habe er auf jegliche Beteiligung an den finanziellen Entscheidungen des Unternehmens verzichtet und weder Überweisungen auf, noch Abhebungen von Konten im Ausland getätigt. Durch die Abwertung des Real während seiner Amtszeit stieg sein Vermögen in der Landeswährung allerdings von 35 auf 51 Millionen Reais.

In Brasilien ist der Besitz einer Offshore-Firma – auch in Steueroasen – nicht illegal, solange der Besitz der Steuerbehörde gemeldet wird. Dies ist laut Guedes der Fall. Die Opposition spricht jedoch von einem potenziellen Interessenkonflikt, da sich der Wirtschaftsminister indirekt durch seine Politik bereichert haben könnte. Am 6. Oktober wurde im Parlament entschieden, dass der Finanzminister dazu vor dem Plenum und vor zwei Kommissionen Stellung nehmen muss. Gegenüber Journalist*innen sagte Guedes, er sei „sehr gelassen“ und habe nie privat von seinem Amt profitiert.

Am 7. Oktober fanden vor dem Wirtschaftsministerium mehrere Proteste gegen Guedes statt. Morgens regnete es dort Dollar-Spielgeld mit dem Gesicht des Ministers, am Nachmittag wurde das Gebäude mit Slogans wie „Guedes im Paradies und das Volk in der Hölle“ oder „Guedes verdient am Hunger“ besprüht.

Chile: Transaktionen bedrohen Naturschutzgebiet

In Chile deckten die Pandora Papers neue Details zu Geschäften von Präsident Piñera im Zusammenhang mit der geplanten Eisen- und Kupfermine Minera Dominga auf. Der Milliardär Piñera war zu Beginn seiner ersten Amtszeit Hauptaktionär des Projekts, verkaufte jedoch Ende 2010 seine Anteile für 152 Millionen US-Dollar an seinen Schulfreund Carlos Alberto Délano. Davon wurden 138 Millionen mittels einer Transaktion auf den Britischen Jungferninseln bezahlt, einer Steueroase in der Karibik. Der Betrag sollte in drei Raten bezahlt werden, die letzte Rate war jedoch nur fällig, sofern das für das Projekt vorgesehene Küstengebiet nahe der Stadt La Higuera nicht zu einem Naturschutzgebiet erklärt würde. Darauf hatte Piñera als Präsident maßgeblichen Einfluss.

Die Region um La Higuera gilt als Hotspot der Biodiversität. Dort, wo für die geplante Mine ein eigener Hafen gebaut werden soll, befindet sich ein wichtiges Brutgebiet der vom Aussterben bedrohten Humboldt-Pinguine, auch Wale und Delfine leben dort. Piñera ignorierte jedoch die Umweltbewegung, die letzte der drei Raten wurde bezahlt und im August 2021 genehmigte die zuständige Behörde das Bergbauprojekt.

Der Präsident bestreitet einen Interessenskonflikt und beruft sich darauf, dass seine Beteiligung an dem Projekt bereits im Jahr 2017 Gegenstand von Ermittlungen gewesen sei, die zu seinem Freispruch führten. Da die Bedingung für die Zahlung der dritten Rate damals jedoch nicht untersucht wurde, hat die Staatsanwaltschaft nun die Wiederaufnahme von Ermittlungen beschlossen. Die Oppositionsparteien haben angekündigt, ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten.

Ecuador: Das Geld zieht um

In Ecuador gibt es seit einem Referendum im Februar 2017 ein Gesetz, welches es politischen Funktionsträgern verbietet, Geld in Steueroasen zu haben. Die Pandora Papers weisen dem amtierenden Präsidenten des Landes, Guillermo Lasso, die Nutzung von 14 verschiedenen Offshore-Firmen nach. Etwa drei Monate nach Erlass des genannten Gesetzes wurden im US-amerikanischen Bundesstaat South Dakota zwei Trusts gegründet, auf die die Anteile der meisten von Lasso angeblich aufgelösten Unternehmen überschrieben wurde. Lasso verteidigte sich damit, keinerlei Besitz, Kontrolle, Nutzen oder Interesse an diesen Einrichtungen zu haben und behauptet, sich immer an geltendes ecuadorianisches Recht gehalten zu haben.

Wie die Süddeutsche Zeitung (SZ) am 3. Oktober 2021 berichtete, hatte Lasso für die Konten in South Dakota keine Adresse in Ecuador, sondern in Florida (USA) angegeben. Mit diesem „Umzug“ nach South
Dakota war Lasso laut SZ in gewisser Weise auch Vorreiter für andere, die nach den Enthüllungen Panama Papers ihre Gelder aus Steueroasen in den US-Bundesstaat brachten.

Aus den in den Pandora Papers enthaltenen Dokumenten soll nicht hervorgehen, wer die Begünstigten der Trusts sind. Sollte Lasso allerdings noch immer Verbindungen zu dem Geld haben, könnte es ungemütlich für ihn werden. Die für Steuerfragen zuständige Kommission im ecuadorianischen Parlament kündigte Untersuchungen gegen Lasso an.

Peru: Ex-Präsident Kuczynski kaufte Offshore

Der Name des neoliberalen peruanischen Ex-Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski (2016-2018) taucht ebenfalls in den Pandora Papers auf. Kuczynski (PPK) hatte im Jahr 2004, als er das Amt des Finanzministers unter Alejandro Toledo innehatte, die Offshore-Firma Dorado Asset Management auf den britischen Jungferninseln erworben. Diese soll nicht nur als Holding für Immobilien fungiert haben, sondern auch Finanzberatung zum Ziel gehabt haben, wie das Investigativportal Convoca schreibt.

In die Ermittlungen gegen PPK wegen Geldwäsche im Rahmen von Schmiergeldzahlungen durch das brasilianische Bauunternehmen Odebrecht war Dorado bereits 2019 einbezogen worden. Von Odebrecht als Beratungshonorare getarnte Gelder an PPKs Beraterfirma Westfield Capital sollen von Dorado zum Kauf zweier Immobilien in PPKs Besitz verwendet worden sein. Seit 2019 befindet sich PPK im Hausarrest, die betroffenen Immobilien wurden beschlagnahmt.

Nach Ansicht des zuständigen Staatsanwaltes Domingo Pérez ist das bisher unbekannte Ziel des Unternehmens, die Verschleierung des wahren Zwecks „eindeutig ein Verhalten, das mit Geldwäsche zu tun hat“, wie er gegenüber Convoca angab. Man werde nun weitere Transaktionen von Dorado aus dem Zeitraum von 2004-2014 prüfen. 2014 hatte PPK die Firma unter verändertem Namen nach Peru transferiert.

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