50 Jahre Lateinamerika Nachrichten

„Amerika den Amerikanern“ formulierte der US-amerikanische Präsident James Monroe vor 200 Jahren und meinte doch nur „Lateinamerika den USA“. Der Aufstieg der USA zur neuen Hegemonialmacht in Lateinamerika vollzog sich in wenigen Jahrzehnten, schon Anfang des 20. Jahrhunderts war der Kontinent fest in den Händen der USA.
Auch die Gründung der Lateinamerika Nachrichten vor nunmehr 50 Jahren verdankt sich, zumindest indirekt, dieser Doktrin. Die Rolle der USA bei der wirtschaftlichen Destabilisierung der Unidad Popular-Regierung in Chile und beim Militärputsch gegen Präsident Salvador Allende mag heute längst nicht mehr allen bekannt sein. Für die Aktiven des Komitees „Solidarität mit Chile“, die am 28. Juni 1973 die erste Ausgabe der Chile-Nachrichten (seit Nummer 51: Lateinamerika Nachrichten) produzierten, war der Kampf gegen den US-Imperialismus jedoch ein wichtiges Motiv für ihr politisches und journalistisches Engagement.
Der Diktator ging, die Lateinamerika Nachrichten blieben. Nur mäßig konnte uns zu unserem Silberjubiläum im Jahre 1998 der Abgang von Augusto Pinochet erfreuen: Den Oberbefehl über die chilenischen Streitkräfte tauschte er damals mit einem Senatorenposten auf Lebenszeit. Und auch sonst boten uns eher die Kontinuität der eigenen Arbeit, denn die Verhältnisse in Lateinamerika Anlaß zu Optimismus.
Das waren überhaupt komische Zeiten damals, als sich das Jahrtausend dem Ende zuneigte. Die Zauberworte Neoliberalismus und Globalisierung bestimmten die Regierungspolitik in fast allen Ländern des Kontinents. Fast: Wie ein gallisches Dorf trotzte nur Kuba den Römern, die damals in Washington residierten. Und als ob auch er als Kind in einen Zaubertrank gefallen wäre, zeigte sich Fidel Castro Jahrzehnt um Jahrzehnt unschlagbar: In der westlichen Hemisphäre hält er noch heute den Rekord für die längsten Ansprachen – unterbrechen ließ er sich meist nur, wenn auf der Zuckerinsel mal wieder der Strom abgestellt wurde. Vor Yankees hatte er nur auf dem Baseball-Platz Respekt, die Blockade konnte Kuba nicht in die Knie zwingen (für jüngere LeserInnen: die USA versuchten bis nach der Jahrtausendwende, Kuba durch Wirtschaftsblockade und politische Isolierung in die Knie zu zwingen – was sich ja bekanntlich erst änderte, als vor fünfzehn Jahren die kurz zuvor eingebürgerte Ex-Präsidentin Brasiliens, Benedita da Silva, ins Weiße Haus gewählt wurde).
Lange Zeit war Politik ja eine Angelegenheit korrupter Männer, die mit Militärs kungelten und Phantasie nur zeigten, wenn sie für ihre Wiederwahl mal wieder eine Verfassungsänderung durchsetzten – in Peru durfte damals nur noch zum Präsidenten gewählt werden, wer japanische Vorfahren, und in Argentinien, wer syrische Vorfahren hatte. Brasilien konnte nur regieren, wer Großgrundbesitzer war und ein Soziologie-Diplom sein eigen nannte.
Die Wende in Lateinamerika brachten bekanntlich die ZapatistInnen und die Landlosenbewegung MST. Der erste Präsident mit Skimütze in Mexiko und die Vergabe eines Landtitels an die letzte landlose Bäuerin in Brasilien – das waren bewegende Momente, die auch uns wieder optimistisch in die Zukunft blicken ließen.
Denn während unsere Freunde und Freundinnen in Lateinamerika die Verhältnisse zum Tanzen brachten, wurde es in Deutschland immer eisiger. Die Grünen stritten mal wieder, ob es der Bevölkerung zuzumuten sei, den Benzinpreis um drei Prozent zu erhöhen, während Joschka Fischer als Verteidigungsminister den Parteiausschluß von Jürgen Trittin verlangte, weil der sich noch immer weigerte, an den wöchentlichen öffentlichen Rekrutengelöbnissen vor dem Reichstag teilzunehmen.
Grund zur Freude hatten wir erst wieder, als Jamaica 2006 Fußballweltmeister wurde und Berti Vogts durchsetzte, daß Gras endlich auch in Deutschland legalisiert wird. Die Cannabis-Pflanze statt dem Bundesadler auf der Schwarz-Rot-Goldenen Flagge und „Keine Macht für niemand“ von den Scherben als Nationalhymne – das hat sich vor 25 Jahren niemand in der Redaktion zu träumen gewagt. Auch nach 50 Jahren Lateinamerika Nachrichten – wir machen weiter: „Get up, stand up for your rights“.

Alte Texte neu gelesen – dieses Editorial erschiet in LN 289/290 (Juli/August 1998) und wurde in der Jubiläumsausgabe 588 zu 50 Jahren LN erneut abgedruckt.


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Ein Konzern blamiert sich

VW in São Paulo Druck aus der Zivilgesellschaft (Foto: Ennio Brauns)

Es ist vor allem dem Priester Ricardo Rezende von der Landarbeiterpastoral CPT zu verdanken, dass die skandalösen Verhältnisse auf der Rinderzuchtfarm von VW do Brasil nicht in Vergessenheit gerieten. Er dokumentierte die menschen-unwürdige Be­handlung der Arbeiter*innen bereits in den 1970er und 1980er Jahren, sammelte jahrelang Zeugenaussagen und Beweise und bewirkte bereits Anfang der 1980er Jahre eine polizeiliche Untersuchung. Diese zog allerdings keine weiteren Konse­quenzen nach sich. 2022 war es erneut Rezende, inzwischen Professor für Anthro­pologie und Menschenrechte, der eine Anhörung durchsetzte. Bereits 2019 hatte er dem Arbeitsministerium (MPT) ein detailliertes Dossier ausgehändigt und nach drei­jähriger Auswertung fiel endlich von staatlicher Seite die Entscheidung, dass die auf­geführten Sachverhalte eine nähere Untersuchung rechtfertigen. 2022 griff die brasi­lianische Bundesstaatsanwaltschaft die Ereignisse auf der Farm auf und eröffnete am 19. Mai ein Ermittlungsverfahren gegen Volkswagen, dem am 14. Juni 2022 eine erste Anhörung in Brasília folgte. Diese fand über Brasilien hinaus große Aufmerk­samkeit. In Deutschland berichteten unter anderem der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung und der Weltspiegel der ARD. VW musste zu den Vorwürfen Stellung bezie­hen, die Hoffnung auf eine baldige Einigung bestand. Anklagepunkte waren Sklaven­arbeit, Menschenhandel und systematische Menschenrechtsverletzungen in hunder­ten von Fällen.

Um für das Treffen am 29. März 2023 eine Entscheidung herbeizuführen und eine weitere Verzögerungstaktik von VW zu unterbinden initiierte die Brasilieninitiative Freiburg e.V. Anfang Februar bei campact eine WeAct-Petition: „VW soll Menschen­rechtsverletzungen anerkennen.“ Binnen kurzer Zeit kamen fast 3.000 Unterschriften zusammen. Weder der im VW-Vorstand zuständige Herr Dr. Döss noch die Men­schenrechtsbeauftragte Frau Dr. Waltenberg – 2022 hatte VW die Stelle einer Menschenrechtsbeauftragten eingeführt – standen jedoch für die Annahme zur Verfü­gung, allein der VW-Pressesprecher nahm am 24. März die Petition in Wolfsburg ent­gegen. Auch die zeitgleich geplante Übergabe in São Paulo gestaltete sich anders als erwartet: Vertreterinnen verschiedener NGO waren anwesend, die VW-Delega­tion ging wortlos an ihnen vorüber, eine Annahme der Petition wurde abgelehnt. Das Treffen selbst brachte erneut keine Einigung, im Gegenteil. Vertreter*innen von VW do Brasil verließen den Verhandlungstisch und erklärten nicht weiter an einer Eini­gung interessiert zu sein: VW sei nicht verantwortlich für die Geschehnisse auf der Farm. Der auf dem Tisch liegende Vorschlag der Staatsanwaltschaft über eine Ent­schädigungszahlung von umgerechnet rund 25 Millionen Euro fand keine Beachtung. Diese sollte den bereits identifizierten geschädigten Arbeitern bzw. deren Familien zugutekommen sowie der Einrichtung eines Opferfonds dienen. Der leitende Staats­anwalt Rafael Garcia sagte nach der Begegnung im Gespräch mit der Tageszeitung Folha de São Paulo: „Wir bedauern die Haltung von Volkswagen, welche die Arbeit­nehmer, die mehr als zehn Jahre lang versklavt und in ihrer Würde und Freiheit be­schnitten wurden, nicht respektiert.“

Der Auseinandersetzung um die Entschädigungszahlungen an die Geschädigten auf der VW-Rinderzuchtfarm ist ein jahrzehntelanges Tauziehen um Entschädigungen für die während der Militärdiktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen in den VW-Werken vorangegangen. Es dauerte bis ins 21. Jahrhundert, bis VW sich – notgedrungen – seiner Vergangenheit in Brasilien stellen musste. Anlass war der am 10. Dezember 2014 nach zweijähriger Arbeit überreichte Bericht der bra­silianischen Wahrheitskommission an die damalige Präsidentin Dilma Rousseff. In diesem dreibändigen Bericht wurden die Menschenrechts-verletzungen während der Militärdiktatur 1964 bis 1985 aufgearbeitet.

Der Bericht legte sowohl die Kollaboration mit der Militärdiktatur, die Verfolgung ge­werkschaftlich aktiver Arbeiter im VW-Werk in São Bernardo do Campo, als auch die sklavenähnlichen Verhältnisse auf der VW-Rinderzuchtfarm im Bundesstaat Pará of­fen. Bereits 1983 vorliegende Dokumente, die jedoch damals keine Beachtung fan­den und die von menschenunwürdigen Zuständen berichteten, sollten bestätigt wer­den. Eine Reaktion von VW wurde notwendig und so beauftragte der Konzern 2016 den Historiker Christo­pher Kopper mit der Aufarbeitung der Vorwürfe. Dieser recherchierte so­wohl zur Zusammenarbeit mit der Militär-regierung und der Verfolgung kritischer Ge­werkschafter im Automobilwerk in São Bernado do Campo (Bundesstaat São Paulo), als auch zu den Vorwürfen in Bezug auf die VW-Rinder-zuchtfarm Rio Cristalino in Amazonien. Sein Urteil war eindeutig: „Das Management von VW do Brasil verhielt sich gegenüber der Militärregierung uneingeschränkt loyal und teilte ihre wirtschafts­politischen und innenpolitischen Ziele.“

Was die Vorwürfe gegenüber der Behandlung der Beschäftigen im VW-Werk betraf, erklärte sich VW 2020 schließlich dazu bereit, umgerechnet rund 5,5 Millionen Euro an Ent­schädigung zu bezahlen. Damit erhielten ehemalige Gewerkschafter, die während der Militärdiktatur nachweislich gefan-gen, gefoltert oder verfolgt wurden, eine späte finanzielle Entschädigung; auch ein Opferverband wurde eingerichtet. Für VW war da­mit dieses dunkle Kapitel der Firmengeschichte abge-schlossen.

„Vergessen“ hatte man allerdings die Vorkommnisse auf der VW-Rinderzuchtfarm, die Historiker Kopper ebenfalls in seinem Bericht belegte. VW hatte in den 1970er Jahren beschlossen, nicht nur Autos zu produzieren, sondern sich auch in der Rin­derzucht zu betätigen. 1978 erwarb der Konzern die Fazenda Rio Cristalino mit 139.000 Hektar Land im Bundesstaat Pará, wo sich die Arbeitsbe-dingungen für die nicht festan­gestellten Arbeiter als prekär erweisen sollten. Für das Abholzen, Niederbrennen und Um­zäunen beauftragte das Firmenunternehmen Subunternehmer, die sogenannten gatos (Kater): „Zu den bevorzugten Opfern der gatos gehörten verschuldete Wan­derarbeiter, deren Schulden sie übernahmen. Da von dem Lohn nach Abzug der Ver­pflegung kaum Geld zum Abzahlen der Schulden übrig blieb, gerieten verschuldete Wanderarbeiter in eine längerfristige Schuldknechtschaft.“ Laut Kopper war die Lei­tung der VW-Farm zweifellos mit den Verhältnissen auf dem ländlichen Arbeits­markt vertraut und kannte die ausbeuterischen Praktiken der gatos.

Verfehlungen in der Militärdiktatur – Verantwortung wird bis heute abgelehnt

Die zwischen 600 und 1.200 Männer mussten ihre Unterkunft in Zelten, ihre Verpfle­gung und ihren Transport selbst bezahlen. Damit waren sie von Beginn an hoch ver­schuldet und durften die Farm nie verlassen. Private Sicherheitsdienste hinderten sie daran. In einem Interview mit den Brasilien Nachrichten 1986 bestätigte der ehemali­ge Sicherheitsbeauftragte der VW-Farm, Adão, dass zeitgleich mehrere Subunterneh­men tätig waren und dass es vorkam, dass Menschen flohen. Die Tatsache, dass 90 Prozent der Farmarbeiter Analphabeten gewesen seien, habe den Umgang mit ihnen erleichtert, ihre Rechte hätten sie nicht gekannt. „Auch wenn es sich nicht um wirkli­che Sklaven handelte und VW do Brasil nicht unmittelbar für ihre katastrophalen Ar­beitsbedingungen verantwortlich war, unterließ VW alles, um die Lage der Wander­arbeiter zu verbessern“, stellte Kopper fest. VW do Brasil entschloss sich 1986 schließlich zum Verkauf der Fazenda Rio Cristalino. Zum einen wurde wohl ein Imageschaden befürchtet, zum anderen blieben die erhofften Gewinne aus.

Für den engagierten Vertreter des Arbeitsministeriums, Staatsanwalt Rafael Garcia, gab es nach Sichtung der Unterlagen keine Zweifel, dass „VW immer wusste, was auf der Fazenda geschah, zum einen weil VW der Besitzer war und zum zweiten da der Zugang zur Fazenda und der Verbleib auf ihr unter voller Kontrolle der VW-Ver­waltung stand“, so Garcia gegenüber Agência Brasil. Zur Tatsache des be­waffneten „Sicherheitsdienstes“, der die Arbeiter*innen daran hinderte, die Fazenda zu verlassen, meinte Garcia: „Ein derartiges Verhalten wäre ohne Zustimmung der für die Fazenda Verantwortlichen unmöglich gewesen.“ Es stand und steht für ihn außer Frage, dass VW Verantwortung zu übernehmen hat.

Dagegen lehnt der ehemalige Verant­wortliche der VW-Farm, Brügg, bis heute jede Verantwortung ab. „Die Vorwürfe sind völliger Blödsinn“, sagte er am 22. Mai 2022 im Weltspiegel der ARD. Auch die Konzernleitung von VW weigert sich bis heute, die unhaltbaren Zustände der damaligen Zeit anzuerkennen. Angesichts der nur noch wenigen Überlebenden ist das besonders skandalös. „Statt die Opfer der VW-Sklavenarbeit auf der Rinderzuchtfarm endlich nach all den Jahren zu entschädigen, will Volkswagen auf der am 10. Mai in Berlin anstehenden Jahres­hauptversammlung des Konzerns die Bezüge, Boni und Gehaltszahlungen für den Vorstand erhöhen“, kritisiert Christian Russau, Vorstandsmitglied des Dachverbands der Kritischen Aktionär*innen aus Köln. „In der Summe wären das potentielle Erhö­hungen von 27 Millionen Euro, dies entspricht ziemlich genau der von der Staats­anwaltschaft geforderten Entschädigung. Dieses Geld steht den ehemaligen Skla­venarbeitern zu!“

Nachdem VW do Brasil die Gespräche abgebrochen hat, ist jetzt der Mutterkonzern gefragt. VW sollte schnellstens einer Vereinbarung zustimmen, die Verzö­gerungstaktik aufgeben und endlich dieses düstere Kapitel seiner Firmengeschichte zum Ab­schluss bringen. Eine Stellungnahme des Mutterkonzerns in Wolfsburg auf die Ereignisse in São Pau­lo am 29. März sowie auf die von fast 3.000 Bürger*innen unterzeichnete Petition lag, trotz mehrfacher Nachfrage, bis zum Redaktionsschluss nicht vor.


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„Wir wollten die Gewalt nicht in den Vordergrund stellen“

Ein Film aus der Perspektive der Mütter Das Kurzmusical Ash Wednesday war auf der Berlinale 2023 zu sehen (Foto: Kleber Nascimento)

Wie kam es dazu, dass Sie diesen Film gemacht haben?

João Pedro Prado: Der Film ist ein bisschen wie ein Kammerspiel. Er basiert auf Geschichten und Situationen aus Vierteln in Rio wie der Maré, wo es für Kinder gefährlich ist, zur Schule zu gehen. Die Idee dazu kam mir während der Pandemie und es war von Anfang an klar, dass wir in Deutschland drehen mussten, weil es im Ausland in dieser Zeit gar nicht möglich war. Das bedeutete, dass wir es mit Brasilianer*innen, die hier leben, machen mussten. 90 Prozent der Beteiligten an diesem Film sind aus der deutsch-brasilianischen Community. Einige sind erst seit einem Jahr hier, andere schon seit Jahrzehnten. Bárbara zum Beispiel schon seit 2001. Ich habe sie kontaktiert, weil ich ein Musical machen wollte, aber selbst keine musikalischen Kenntnisse hatte.

Bárbara Santos: Uriara Maciel, unsere Hauptdarstellerin, war meine Theaterschülerin in mehreren Gruppen, die ich geleitet habe. Sie wusste, dass ich viel mit Klang und Rhythmus arbeite und hat mir dieses Projekt vorgestellt, das ich sofort geliebt habe. Das Konzept zum Drehbuch war schon komplett strukturiert, es fehlte nur die Musik, für die ich verantwortlich sein sollte. Ich fand die Idee sensationell, dass eine Frau in ihrem Haus in der Favela ständig von Eindringlingen heimgesucht wird, die verschiedene Formen von Gewalt ausüben. Ich mochte auch, dass der Fokus trotz allem nicht auf der Gewalt, sondern auf ihrer Perspektive lag.

Das Bild der Favelas in Rio wurde außerhalb Brasiliens auch durch andere Filme geprägt: City of God war 2003 ein Riesenerfolg, Tropa de Elite (Elite Squad) hat 2008 die Berlinale gewonnen. War das ein Einfluss für euch oder wolltet ihr einen Kontrast dazu setzen?

João Pedro Prado: Ein Einfluss nur in der Hinsicht, wie wir es nicht machen wollten (lacht).

Bárbara Santos: Wir wollten einen Film machen, in dem die Gewalt nicht im Vordergrund steht. Wir wollten über die Gewalt sprechen, ihre Auswirkungen im täglichen Leben der Menschen zeigen. Aus der Perspektive eben dieser Menschen, die wir nicht entmenschlichen wollten. Durch die Musik wollten wir auch eine Brecht’sche Distanz, eine Verfremdung der Gewalt schaffen. Damit man als Zuschauer*in auch darüber nachdenken kann, was man da sieht. Nicht nur in Schießereien verwickelt zu sein, die Angst zu spüren. Wir wollten Reflexion wie bei Brecht, der sagte, dass man sein Hirn nicht mit dem Hut am Theatereingang abgeben soll.

João Pedro Prado: Es sollte nicht der Blickwinkel wie in Tropa de Elite sein, wo der Protagonist ein Polizist ist. Bei uns ist die Perspektive die einer Mutter, die dort wohnt. Das sieht man nicht so oft, dass eine Frau im Zentrum dieser Filme über Gewalt in der Favela steht, und auch das macht den Film interessant anzusehen. Wir haben an die Mütter gedacht, die 2020 in Rio de Janeiro nach Polizeieinsätzen gebeugt über den Särgen ihrer getöteten Kinder standen. Uns hat interessiert: Was ist mit diesen Müttern passiert? Was war ihre Geschichte davor und danach? Und warum erzählen wir nicht ihre Geschichte?

Seid ihr in Kontakt mit Leuten, die dort wohnen? Wie ist die Situation jetzt? Hat sich in den letzten Jahren etwas verändert oder ist alles mehr oder weniger gleich geblieben?

Bárbara Santos: Die vier Jahre Bolsonaro waren eine Ausnahmesituation für Brasilien. Da hat sich die Situation wirklich verschlechtert. Ich komme aus Rio de Janeiro. Das war dort die Zeit der schlimmsten Gemetzel aller Zeiten in den Favelas. Als der neue Gouverneur Claudio Castro an die Macht kam, gab es in den ersten sechs Monaten seiner Amtszeit unfassbare Massaker. Und in der Pandemie wurde es noch schlimmer. Die Leute waren zu Hause, schutzlos. Es gab da das Beispiel eines Jungen, auf das wir uns mehr oder weniger mit unserem Film bezogen haben. Der ist auf dem Schulweg gestorben, in seiner Schuluniform. Das sollte eigentlich ein Schutzschild für ihn sein, diese Schuluniform. Von den Polizist*innen hört man oft als Rechtfertigung für Erschießungen: „Der sah aus wie ein Verbrecher!“ Das war der endgültige Beweis, dass es nicht so ist.
Es war eine schreckliche Zeit. Jetzt mit der Regierung Lula herrscht eine enorme Erleichterung, dass nicht alles noch schlimmer wird. Alleine darüber sind die Leute schon glücklich. Es wurde in der Zeit vorher immer, immer schlimmer, es hörte nicht auf, nirgendwo. Unglücklicherweise gibt es in Rio keine große Hoffnung, denn der Gouverneur wurde wiedergewählt. Es gibt da eine politische Logik, dass Sicherheitspolitik sich auf Waffen und Gewalt stützt. Wir wollen dazu beitragen, die Ideen zu entmystifizieren, dass man die Gewalt beendet, indem man die Armen wegschafft. Dass man die Armut beendet, indem man die Armen tötet. Und auch unser Film kann dabei helfen, darüber nachzudenken und diese Diskussion zu transportieren. Deshalb brennen wir auch total darauf, ihn in Brasilien zu zeigen. Damit wir Teil der Diskussion dort werden können.

Haben Sie auch selbst in einer Favela in Rio gewohnt?

Bárbara Santos: Nein, nie. Aber ich habe viel mit dem Theater der Unterdrückten in verschiedenen Favelas von Rio gearbeitet, kenne das Umfeld dort also sehr gut.

Die Regierung Bolsonaro stand auch für kulturellen Kahlschlag, speziell was die Filmförderung betrifft. Was erwarten Sie jetzt von der Regierung Lula auf diesem Gebiet?

João Pedro Prado: Ich erwarte, dass der nationale Fördertopf für audiovisuelle Medien zurückkehrt, dass Institutionen, die Kunst und Kino fördern, zurückkehren und geleitet werden von Menschen, denen Kulturförderung wichtig ist. Der große Knackpunkt ist: Etwas aufzubauen dauert sehr lange, um alles kaputtzumachen, braucht es nur wenige Monate. Brasilien hat zwei Jahrzehnte gebraucht, um zu der Kinogröße zu werden, die es am Ende der Regierungen von Dilma Roussef und Lula war. Und nur wenige Monate Bolsonaro haben gereicht, um das komplett zu zerstören. Er hat aus ideologischen Gründen den größten Teil der Finanzierungsmöglichkeiten abgeschafft. Meine Prognose ist deshalb, dass wir erst in zwei bis drei Jahren wieder brasilianische Filme auf internationalen Filmfestivals sehen werden. Das enthüllt auch die Fragilität unserer Demokratie und unserer Institutionen. Diese Institutionen und deren Finanzierung müssten unabhängig von der Regierung existieren, was unglücklicherweise nicht der Fall ist.

Bárbara Santos: Bolsonaro hat nicht nur das Kulturministerium abgeschafft, er hat die ganzen Strukturen zerschmettert. Jetzt muss man eine Struktur wiederaufbauen, die gut organisiert war und die er zerstört hat. Der Effekt von Bolsonaro ist so groß, dass er sich auf die Erinnerung auswirkt. In seiner Regierungszeit wurde nicht nur so viel Regenwald durch Brände zerstört, wie nie zuvor, sondern es haben auch noch nie so viele Museen gebrannt. Da ging ganz viel Erinnerung verloren. Deshalb ist es eine große Sache, dass wir jetzt das Kulturministerium zurückhaben. Denn dafür braucht man ein Kulturministerium: Zur Pflege der Erinnerung ans Kino, an die Künste. Es gibt große Hoffnung, das kann ich sagen. Alleine die Zerstörung gestoppt oder auch nur gebremst zu haben, ist eine Riesenerleichterung. Das mag absurd erscheinen, aber so ist es.


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Dramatische Rhythmen in brasilianischer Favela

© Kleber Nascimento

Das Zischen des Schnellkochtopfs, das erst noch fröhliche Singen der Mutter, dann das Geräusch der Helikopterflügel und der stürmische Ton mehrerer Handynachrichten. So beginnt das Musical Ash Wednesday, das Spielfilmdebütder brasilianischen Regisseur*innen João Pedro Prado und Bárbara Santos. Die Mutter Demétria (Uriara Maciel) wartet am letzten Karnevalstag auf ihre Tochter Cora, die schon längst von der Schule hätte zurück sein sollen. Doch eine brutale Polizeirazzia, vermeintlich gerechtfertigt durch den Kampf gegen Drogenhandel, überfällt die Favela in Rio de Janeiro, den Wohnort der beiden. Einschüchternde Szenen der Polizei gegenüber den Bewohner*innen der Favelas, welche nur abwertend Favelados (Slumdogs) genannt werden, werden vom bunten Szenenbild der Favelas und dramatischen Gesängen getragen, welche die Verzweiflung über Rassismus und soziale Konflikte zum Ausdruck bringen. Zugleich wird durch die Darstellungsform als Musical manchmal Abstand zur Realität genommen und das Musical wirkt teilweise fast wie ein Theaterstück, wodurch die Handschrift der Theaterregisseurin und Aktivistin für Feminismus und gegen Rassismus Bárbara Santos zu bemerken ist. Diese stilistische Kombination trägt dazu bei, den Wunsch nach Ausbruch zu verstehen, aufmerksam zu machen und die Augen dafür zu öffnen, mit welchem Unrecht und diktatorischem Vorgehen gehandelt wird und wie nah doch Freude und Leid beieinander sein können.

Dabei wird auch der innere Konflikt des Glaubens gezeigt, in dem die Mutter einerseits Hilfe sucht und zur Göttin Naña, Beschützerin der Verlorenen, betet. Doch andererseits der Besuch des Pfarrers eher einschüchternd und anklagend wirkt. Angsterfüllte Stimmen der Mütter, die ihre Kinder suchen, werden abwechselnd mit Szenen aus der Pressekonferenz des Gouverneurs gezeigt, der für „Säuberung“, „Funktionsfähigkeit“ und „Krieg gegen Drogen“ wirbt.

Durch die Kameraperspektiven und Lichteinstellungen, welche Demétria zentrieren und die anderen im Hintergrund erscheinen lassen, wirken die Leidensgenossinnen der Mutter und die Göttin, eher wie Traumvorstellungen, welche eine Art Realitätsflucht veranschaulichen. Die Nahaufnahmen der Mutter, die Energie geladenen Soundeffekte und die rhythmischen Tanzbewegungen zeigen ihre innere Zerrissenheit und die Absurdität des Lebens.

Als beeindruckend ist zu benennen, dass das Favela-Setting an der Filmuniversität Babelsberg Konrad-Wolf absolut authentisch nachgebaut worden ist. Der strukturelle Rassismus und die seit Jahrzehnten präsenten sozialen Konflikte in Brasilien, welche durch die Pandemie mehr denn je verstärkt worden sind, werden in einer mitreißenden Art und Weise benannt. Die ausdrucksstarken Szenen vermitteln die damit verbundene Verzweiflung. Dieses Musical ist ein Gewinn für die Sektion Perspektive Deutsches Kino, welche die Sektion für aufregenden Nachwuchs in Deutschland darstellt und durch ungewöhnliche Einblicke die Realität dokumentiert und durch Realitätsflucht vollendet.

LN-Bewertung: 5/5 Lamas


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Steine im Gepäck

Foto: Flora Dias, Juruna Mallon

Der Flughafen Guarulhos in São Paulo ist der größte Airport Lateinamerikas. Sein Bau wurde von der Militärdiktatur beschlossen und 1985 begleitet von Protesten abgeschlossen: Für den Aeroporto Guarulhos musste eines der letzten Schutzgebiete des atlantischen Regenwaldes in Brasilien abgeholzt werden. Die Siedlungen auf dem Gelände wurden zerstört, viele Indigene verloren dadurch ihre Heimat. Einige von ihnen fanden später auf dem Flughafengelände Arbeit.

Der Film O Estranho (Der Fremde) folgt den beiden indigenen Frauen Alê und Sílvia, die in Guarulhos geblieben sind. Alê (Larissa Siqueira) arbeitet in der Gepäckabfertigung, Sílvia (Patrícia Saravi) betreibt ein Nagelstudio. Das läuft aber nicht mehr so richtig und sie plant deshalb, mit ihrer Tochter in die Stadt zu ziehen. Obwohl Sílvia eigentlich gute Gründe hat, zu bleiben: Mit Alê beginnt sie gerade eine Beziehung und außerdem ist sie aktiver Teil der Candomblé-Religionsgemeinschaft in der Nähe. Alê ist dagegen fest entschlossen, zu bleiben. Für sie ist Guarulhos nach wie vor das Land, auf dem sie geboren ist und sich heimisch fühlt. Als kleine Rache klaut sie Passagier*innen Fotos aus dem Reisegepäck im Fundbüro und lässt dafür Steine dort zurück – eine Erinnerung an das indigene Erbe von Guarulhos.

Die Regisseur*innen Flora Dias und Juruna Mallon lassen O Estranho wie eine Dokumentation aussehen, obwohl Charaktere und Handlung fiktional sind. Ihre Figuren wandern über das Flughafengelände und die umliegende Natur und stoßen immer wieder auf Spuren und Hinterlassenschaften der indigenen Geschichte. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Flüsse, früher Lebensadern, heute zubetoniert und verschmutzt. Der Blick schwenkt auch zu den Flughafenarbeiter*innen, die in dünn besetzten Teams arbeiten und für ihre Rechte kämpfen müssen. Und zu den heutigen Indigenen, die sich nicht vertreiben lassen und auf dem Rest des ihnen einst zugewiesenen Gebietes eine neue Siedlung errichten.

Die dokumentarische Herangehensweise – es werden auch Archivmaterial und zu Beginn nicht-chronologische Momentaufnahmen aus der Geschichte von Guarulhos gezeigt – kann ab und zu etwas verwirren. Das gleiche gilt für die Erzählweise: Ein durchgehender Plot ist nicht wirklich auszumachen, stattdessen springt der Film zwischen verschiedenen Personen und Episoden hin und her. Das macht O Estranho vor allem für Zuschauer*innen außerhalb Brasiliens etwas herausfordernd, denn nicht jede*r dürfte beispielsweise mit der indigenen Geschichte des Landes tiefer vertraut sein. Dennoch ist der Film eine weitgehend interessante Lektion über ein Stück brasilianische Geschichte, das bislang noch wenig Aufmerksamkeit bekommen hat.


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Tarantino in Queer

Brasilien 1973: Die Zeiten waren alles andere als fröhlich. Die Militärdiktatur des Präsidenten Emílio Gastarrazu Medici unterdrückte, folterte und ermordete brutal die meist gewaltlose Opposition des Landes und auch die Wirtschaft geriet zunehmend in Schieflage. Überraschenderweise entstand in diesem Jahr in Brasilien aber auch A Rainha Diaba (Übersetzt etwa: Die teuflische Königin), ein hochunterhaltsamer queerer Gangsterfilm, der Maßstäbe setzen sollte und es nun, genau ein halbes Jahrhundert später, digitalisiert ins Klassikerprogramm der Berlinale geschafft hat. Regisseur Antonio Carlos da Fontoura orientierte sich bei der Besetzung der Hauptfigur im Film lose am Leben von João Francisco dos Santos, einem bekannten Kriminellen aus Rio de Janeiro, dessen Leben später auch in Madame Satã (2002) noch einmal verfilmt werden sollte. Bei da Fontoura wird dos Santos zur teuflischen Drag-Queen Rainha Diaba (gespielt von Superstar Milton Gonçalves). Diese kontrolliert von ihrer Wohnung in einem Hinterhof den Drogenhandel im Ausgehviertel Lapa und den umgehenden Favelas. Großartig schon der erste Auftritt der „Königin“ (Rainha, wie sie von ihren Untergebenen ehrfurchtsvoll genannt wird): Ihre Handlanger*innen müssen zum Rapport in ihrem Schlafzimmer antreten, wo ihr Lover ihr währenddessen die Fußnägel lackiert. Die vordergründige Freundlichkeit und der tuckige Akzent der Gangsterbossin sind jedoch nicht nur in dieser Szene trügerisch, denn Fehlverhalten bestraft die Rainha grausam und gnadenlos.

A Rainha Diaba bringt brasilianischen Gangster-Trash aus den Siebzigern zurück auf die Leinwand© José Medeiros

Der Plot des Films entwickelt sich rasch rund um Bereto (Stepan Nercessian), einen gutaussehenden Taugenichts, der seine Freundin schlägt und hofft, durch eine kriminelle Karriere ans schnelle Geld zu kommen. Die Rainha hat ihn zum Opfer auserkoren, da einer ihrer Lieblings-Untergebenen einen Drogendeal vermasselt hat. Nun muss sie der Polizei einen Sündenbock präsentieren, um weiter in Ruhe arbeiten zu können. Ihre rechte Hand Zeca Catitu (herrlich schmierig: Nelson Xavier) wirbt Bereto an, der Raubüberfälle mit der Clique begehen und für diese später ans Messer geliefert werden soll. Zunächst scheint auch alles nach Plan zu laufen. Doch Bereto gibt nicht klein bei und so nehmen die Dinge bald einen Lauf, der die Geschäftsgrundlage der Rainha in Gefahr bringt.

A Rainha Diaba ist bestes Kino-Entertainment im Stile der Gangsterfilme von Quentin Tarantino. Unmöglich, keine Vergleiche mit dessen (weit später gedrehten) Klassikern wie Pulp Fiction oder Reservoir Dogs zu ziehen, in denen teils exzessive Gewaltszenen sich mit geschliffenen Dialogen abwechseln – ohne dabei allzu große Empathie mit den Beteiligten aufkommen zu lassen, wenn sie das Zeitliche segnen. Die bunte Freakshow des großteils offen oder latent queeren Gangster*innen-Ensembles gibt A Rainha Diaba dabei aber eine unverwechselbare Note. Bemerkenswert – vor allem für die Zeit der Entstehung – ist die Natürlichkeit, mit der Drag und Homosexualität in ein machistisch dominiertes Genre implantiert wurden, ohne dass es der Treue zu stilistischen Konventionen Abbruch getan hätte.

© José Medeiros

Als klassisches Popcorn-Movie konzipiert, sollte man A Rainha Diaba allerdings auf keinen Fall zu ernst nehmen. Für reichlich Trash-Faktor und unfreiwillige Komik sorgen unter anderem die lächerlich schlecht choreografierten Kampfszenen und das offensichtlich falsche Kunstblut, das in Strömen fließt. Auch der Ton ist trotz digitalisierter Aufbereitung manchmal undeutlich und die Dialoge deshalb schwer zu verstehen. Das machen die durchdachte und überraschende Handlung, stimmige Charaktere, tolle Schauspieler*innen und die gelungene Inszenierung vor der traumhaft schönen Kulisse Rio de Janeiros aber mehr als wett. Wer im oftmals etwas verkopften und bedeutungsschwangeren Programm der Berlinale nach einer spaß- und actionlastigen Abwechslung sucht, dürfte deshalb an A Rainha Diaba auch 50 Jahre nach Erstveröffentlichung des Films noch große Freude haben.

Triggerwarnung: Explizite Gewaltdarstellungen

LN-Bewertung: 4/5 Lamas


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„UM GANHO PARA ALÉM DO BRASIL“

Für die deutschsprachige Version hier klicken.

No Brasil, mulheres negras são, com 28 % da população, o maior grupo demográfico do país. Porém, depois da última eleição de 2018, elas ocupavam menos de 2% de cadeiras no congresso nacional. A questão da representatividade melhorou depois dessa eleição?
Não tivemos grandes mudanças. Passamos de 2,3% para 2,5%. Então ainda estamos no mesmo patamar. Nessas eleições, apesar de muitas mulheres negras terem sido eleitas, não são todas comprometidas com a agenda anti racista. Muitas vezes são asociadas com partidos de direita, são Bolsonaristas. Isso pode ser explicado com o fato que houve uma mudança na legislação eleitoral para impulsionar essas candidaturas de pessoas negras, os partidos se aproveitarem dessas regras e assim conseguirem mais recursos para o financiamento de campanhas.

Nessa eleição, o Mulheres Negras Decidem apoiou 27 mulheres negras com uma agenda políticaprogressista nas suas candidaturas, uma em cada estado brasileiro e também no Distrito Federal. Essas mulheres conseguiram se eleger?
Tivemos bons resultados, muitas delas receberam muitos votos. Mas das 27, infelizmente só duas foram eleitas, a Laura Sito do PT e a Camila Valadão do PSOL. Como mulher jovem negra, a Laura por exemplo conseguiu mais de 30.000 votos na eleição para a Assembleia Estadual no Rio Grande do Sul, um estado que historicamente tem muitas questões com racismo.

Vocês estão satisfeitas com esse resultado?
Em termos de quantidade de candidatas que foram eleitas é bem abaixo do que era esperado, considerando toda mobilização de centenas de grupos que apoiaram candidaturas negras. Mas as candidatas apoiadas pelos movimentos que se elegerem são pessoas que chegarão na próxima legislatura muito fortalecidas e com um apoio da sociedade civil. Elas vão precisar reverter alguns dos atrasos que foram aprovados em termos de legislação no governo Bolsonaro. Elas chegam muito fortes nesse sentido mesmo se não são tantas como nós queríamos. Nunca existiu uma mobilização tão forte quanto nessas eleições.

Como você se explica que a mobilização foi maior esse ano?
A sociedade brasileira se deu conta de que transformações sociais profundas só são possíveis fazendo política. O jeito com que Bolsonaro lidou com a pandemia mostrou a desigualdade no acesso de direitos que existe no Brasil. Isso mostrou a urgência de ter representantes com um perfil mais popular para atender as demandas da maioria da população.

Porque é necessário apoiar candidaturas de mulheres negras? 
São mulheres que têm perfis políticos muito fora do comum, de movimentos sociais de base, de religiões de matriz africana, mulheres quilombolas. Para essas mulheres não é fácil participar de uma disputa, primeiro dentro dos partidos e depois na campanha política em si. Porque os projetos políticos delas se preocupam com o aprofundamento da democracia e questionam o poder como ele está estabelecido. Então elas são muito atacadas. Ao mesmo tempo, votar nelas é uma coisa boa para todo mundo porque uma vez eleitas, elas produzem políticas públicas que são do interesse de todos.

Você pode dar um exemplo?
Um exemplo seria a recém eleita Deputada Estadual Laura Sito que defende agendas consideradas prioritárias pelos eleitores no Brasil, como a educação. Mas a Laura fala de uma educação inclusiva, anti racista e emancipadora. 

Como você está se sentindo depois do suspense que era o segundo turno da eleição?
Estou menos preocupada do que estava antes do segundo turno. As forças armadas não estão tão dispostas contra a democracia e a constituição como nós imaginávamos. As instituições reconheceram o resultado e os protestos golpistas têm sido condenados não só pelo TSE mas também pelo STF, pelo Congresso e também pelamídia. Vencemos a etapa institucional mas me preocupo com o reconhecimento pela população. Temos uma quantidade significativa de pessoas nas ruas defendendo atos golpistas e antidemocráticos. É uma disputa de mais longo prazo que depende das lideranças democráticas fortes nas assembléias regionais e no Congresso, de movimentos de base fortes para a politização das novas gerações e a recuperação do debate público das questões do dia a dia. 

Isso significa que o Bolsonarismo vai permanecer?
A extrema direita cresceu e se organizou durante o governo Bolsonaro. Mas ela vai bem além do Bolsonaro e da família dele, como também dos seus apoiadores políticos. Essas ideias autoritárias são uma questão global que encontrou um terreno muito fertil no Brasil.

Os governadores que foram eleitos em São Paulo, Minas Gerais e Rio de Janeiro estão bem próximos aBolsonaro. Isso dificulta o trabalho de movimentos e grupos sociais como o Mulheres Negras Decidem?
Nesses estados os movimentos já têm muita força, estrutura e recursos. O nosso desafio continua sendo principalmente em regiões nordestinas, norte e principalmente no Centro Oeste onde as estruturas são mais fragilizadas. 

Como os 51% dos brasileiros que foram votar e votaram no Lula deveriam lidar com os 49% das pessoas que votarem no Bolsonaro?
Isso será um grande desafio. O Presidente eleito Lula tem esse perfil de união e reconciliação, mas ele precisará muito da ajuda dos movimentos sociais para recuperar esse tecido social e promover unidade no Brasil. Quem apoia o Bolsonaro entende a importância da política também. Mas seus eleitores acreditam que existe uma luta do bem contra o mal. A questão agora é trabalhar para que essa compreensão seja desfeita. Trazer essas pessoas de volta para o debate sobre a realidade concreta que é uma dificuldade não só para os 49% mas para todo mundo. A realidade do brasileiro em média é de muita precariedade. Quanto mais cedo a gente conseguir voltar a discutir questões práticas do nosso dia a dia, para melhorar a situação de todo mundo, mais facilmente vamos conseguir lidar com essas diferenças.

O Presidente-eleito Lula precisará do apoio dos movimentos sociais. Vários grupos apoiaram a campanha dele, mas falam que vão virar oposição no momento em que ele tomará posse. Como seu governo poderia dar certo então?
No primeiro ano, os movimentos de base que apoiarem o Lula vão estar muito junto do governo. Vai ser um ano de reconhecimento do tamanho dos estragos que aconteceram e de planejar estratégias para reconstrução. Agora tudo vai depender muito de como vai ficar a configuração desse novo governo. Já saíram críticas sobre a configuração do grupo que está fazendo a transição do governo. Há poucas mulheres, não há pessoas negras. Ainda faltam alguns meses até o Lula anunciar os ministros. Será importante incluir mulheres, negros e indígenas. Isso aumentaria as possibilidades da cooperação entre governo e sociedade civil.

Quais são as suas expectativas para o novo governo Lula?
Essa questão da composição ministerial com muitas mulheres. Em cima disso, será importante, principalmente nos orgãos que cuidam da questão do enfrentamento do racismo, que ele coloque pessoas com perfil alinhado a agenda histórica dos movimentos negros. O Lula tem que escutar essas as sugestões que está recebendo para os cargos de confiança, como por exemplo, a Deputada Erica Malunguinho, uma mulher negra trans, para a Secretaria de Promoção da Igualdade Racial ou para a Fundação Palmares.

Qual foi o papel das mulheres nessas eleições?
Elas tinham um papel principalmente no trabalho de base. O número das abstenções diminui no segundo turno e as mulheres tiveram um papel muito importante nessa decisão de outras pessoas da família irem votar. Graças a elas o Lula também mudou o foco na campanha e falou mais sobre o futuro, oportunidades para os jovens. Esse grupo, entre 18 e 35 anos, estava muito em dúvida se era para votar no Lula ou Bolsonaro, mas votaram no Lula no segundo turno.

Também teve quase um quarto da população com direito a voto que não votou, votou nulo ou branco. Isso sinaliza que a democracia brasileira está em crise?
É um reflexo da crise de representatividade e de confiança nas instituições que está acontecendo pelo menos nos últimos dez anos. Uma parcela grande está desacreditada de qualquer possibilidade de mudança e uma outra é impossibilitada de participar do processo político porque está em situação de grande vulnerabilidade. 

Qual será o efeito dessa eleição no âmbito global?
Com a volta do governo Lula conseguimos recuperar questões que são de política global, especialmente em relação a região amazônica, mas também em saúde, direitos humanos e mediação de conflitos que são agendas que o Brasil liderava. Isso é um ganho para além do Brasil.


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AVANTGARDE DES RÜCKSCHRITTS

Fakten lügen nicht Die politische, sexuelle und psychische Gewalt gegen Frauen hat in Brasilien zugenommen (Foto: Mohamed Hassan)

In den vergangenen Jahren hat Brasiliens Zivilgesellschaft die internationale Gemeinschaft unermüdlich vor der rasanten Zerstörung der brasilianischen Demokratie gewarnt. Da Brasilien eines der am stärksten von COVID-19 betroffenen Länder ist, hat sich die Zivilgesellschaft auf nationaler Ebene unermüdlich dafür eingesetzt, die politischen Entscheidungsträger*innen darauf aufmerksam zu machen, dass die drastischen Folgen der Pandemie – zum Beispiel die Auswirkungen auf das Gesundheitssystem – abgemildert werden könnten. Dafür hätte allerdings die eigene Bundesverfassung und das internationale Engagement, das Brasilien 2015 vorangetrieben hat und das in die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung mündete, respektiert werden müssen.

Leider wurden wir nicht gehört. Und obwohl wir als Zivilgesellschaft wissen, dass die Geschichte unsere Beharrlichkeit anerkennen wird, ist die Realität, dass Brasilien ein dekadentes Land geworden ist, dessen Führung sich weder um die Gegenwart, noch um die Zukunft der Menschen im Land kümmert. Traurigerweise nimmt die Gewalt immer weiter zu und die Ungleichheiten vertiefen sich in einem Ausmaß, das wir uns vor zehn Jahren nicht hätten vorstellen können. Die Folgen der Fehlentscheidungen der politischen Entscheidungsträger lassen sich in der sechsten Ausgabe des Spotlight Reports der Zivilgesellschaft über die Umsetzung der Agenda 2030 in Brasilien gut belegen. Verfasst wurde der Bericht von 101 Expert*innen aus den Bereichen Soziales, Wirtschaft und Umwelt. Er stützt sich auf offizielle Daten von Regierungsinstitutionen und Universitäten. Methodisch wird die nationale Politik anhand von 168 Zielen und rund 230 Indikatoren überprüft, die den brasilianischen Staat beim Schutz der Umwelt, der Förderung des Friedens und der Inklusion leiten sollen.

Die Ziele und Indikatoren wurden nach dem Grad ihrer Umsetzung kategorisiert und zeigen, dass die Ergebnisse alles andere als positiv sind: Brasilien hat nur bei einem der 168 analysierten Ziele zufriedenstellende Fortschritte erzielt. Bei 110 Zielen (65,47 Prozent) zeigten sich Rückschritte, bei 24 Zielen (14,28 Prozent) waren die Fortschritte unzureichend. 11 Ziele (6,54 Prozent) verblieben auf dem Vorjahresniveau oder stagnierten insgesamt, 14 Ziele (8,33 Prozent) sind gefährdet und zu 8 Zielen (4,76 Prozemt) liegen keine Daten vor. Im Vergleich zum Bericht von 2021 stieg die Zahl der Ziele, deren Umsetzung rückläufig ist, von 92 auf 110 und die der Ziele mit unzureichenden Fortschritten von 13 auf 24.

Bolsonaros Regierung war eine Katastrophe mit Ankündigung

Wenn wir hinter diese Daten blicken, sehen wir Leben ohne Hoffnung, eine vergeudete Gegenwart und die Vorstellung einer besseren Zukunft, an die kaum zu glauben ist. Übersetzt in die Realität zeigt der Bericht ein Land, das sich rasch zurückentwickelt und die eingegangenen internationalen Verpflichtungen verleugnet – was dazu geführt hat, dass Brasilien international isoliert ist. In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall, dass Brasilien im Oktober 2022 die gewalttätigsten Wahlen (des Präsidenten der Republik, der Gouverneure der Bundesstaaten und der Parlamente) in der Geschichte des Landes erwartet.

Es gibt sicher keinen Zweifel an den begrenzten intellektuellen Fähigkeiten von Jair Bolsonaro, der nicht in der Lage ist, auch nur ein oberflächliches Gespräch mit führenden Politiker*innen der Welt zu führen. Die analysierten Daten zeigen jedoch, dass er bei der Erfüllung all seiner Wahlversprechen von 2018, die sich vor allem gegen die Rechte der Bevölkerung richten, ziemlich erfolgreich war. Taktisch hat er Allianzen mit rechtsextremen Gruppen, christlichen Pfingstkirchen, der Waffenindustrie und illegalen Extraktivist*innen geschlossen und damit dem organisierten Verbrechen mehr Raum gegeben. Durch die Bestechung politischer Parteien gelang es ihm, Gesetze zu verabschieden, die die zuvor eroberten Rechte wieder einschränkten. Er zerstörte Institutionen und Foren der gesellschaftlichen Partizipation und machte Menschenrechtsverteidi-gerinnen, Nichtregierungsorganisationen und Indigene zu Staatsfeinden.

Während er Budgets, öffentliche Dienstleistungen und Kontrollinstrumente zerstörte, hat Bolsonaro erfolgreich auf einen manichäischen populistischen Diskurs („wir gegen sie“) gesetzt, der typisch für Faschist*innen ist. Damit hat er Sexismus, Rassismus und LGBTI-Phobie in einem Land, das bereits durch Sklaverei und Machismus traumatisiert ist, noch verstärkt. Fakten lügen nicht: Die Zahl der Feminizide an Transgender-Frauen hat im Jahr 2021 zugenommen, ebenso wie die politische, sexuelle und psychische Gewalt, die selbst Frauen im Parlament betrifft. Nach Angaben von UN-Women haben 82 Prozent der brasilianischen Politikerinnen psychische Gewalt erlitten, 45 Prozent wurden bedroht, 25 Prozent wurden im Parlament körperlich angegriffen und 20 Prozent wurden sexuell belästigt. Brasilien liegt heute bei der Beteiligung von Frauen in den Parlamenten auf Platz 143 von 188 Ländern (2015 war es noch Platz 115) und in der Bundesregierung sind nur 8,7 Prozent der Minister*innen Frauen.

Die Regierung spricht sich offen gegen sexuelle und reproduktive Rechte und Gendergerechtigkeit aus, so dass die Sexualerziehung aus dem Nationalen Gemeinsamen Basislehrplan (BNCC) gestrichen wurde. Nur 3 von 26 Bundesstaaten empfehlen den Schulen, Unterricht über Sexualität, Genderfragen, Prävention von Teenagerschwangerschaften und Gewalt anzubieten. Selbst die Bekämpfung von HIV und Aids, in der Brasilien ein internationales Vorbild war, wurde deutlich geschwächt, da die Mittel für Präventionskampagnen in alarmierender Weise gekürzt wurden. Betrug das Budget für HIV/AIDS-Prävention 2015 noch 20,1 Millionen brasilianische Reais, sank es 2020, im zweiten Jahr der Amtszeit von Jair Bolsonaro, auf 3,9 Millionen Reais. 2021 waren es nur noch rund 100.000 Reais.

Die Regierung Bolsonaro war eine angekündigte Katastrophe, aber die Ergebnisse sind deutlich schlimmer, als von der Zivilgesellschaft erwartet. Denn es bestand noch die Hoffnung, dass die demokratischen Institutionen bei der Erfüllung ihres Mandats der Exekutive die richtigen Grenzen setzen würden – was nicht geschah. Und so erscheint Brasilien 2022 erneut auf der Welthungerkarte: Die Anzahl der Hungernden stieg von 19,1 Millionen im Jahr 2020 auf 33,1 Millionen im Jahr 2021; insgesamt 125,2 Millionen Menschen leben in einem gewissen Grad von Ernährungsunsicherheit. Das ist mehr als jede*r Zweite im Land.

Brasilien erwartet die gewalttätigsten Wahlen seiner Geschichte

Bei einer Arbeitslosenquote von 11,2 Prozent fehlt es an wirksamen Maßnahmen, um Arbeitsplätze und Einkommen zu schaffen. Die Agrarreform wurde ausgesetzt und die Zahl der Konflikte auf dem Land ist bis 2021 um 1.100 Prozent gestiegen, während das räuberische Agrobusiness weiter vorrückt und das Leben der Indigenen und Quilombolas zerstört. Das brasilianische Entwicklungsmodell setzt grundsätzlich auf den Primärsektor und ist von geringer Dynamik und hoher Umweltzerstörung gekennzeichnet. Doch die Situation ist außer Kontrolle geraten: Die Entwaldung war im Jahr 2021 um 79 Prozent höher als im Jahr 2020 und erreichte 20 Prozent der Gesamtfläche des Amazonasgebiets, während sie im Trockenwald Cerrado um acht Prozent (8.531 km2) zunahm. Zwischen 2019 und 2021 gingen in den Schutzgebieten 130 Prozent mehr Waldfläche verloren als in den drei Jahren zuvor, und in den indigenen Gebieten war die Entwaldung um 138 Prozent höher.

Das Wirtschaftsteam der Regierung Bolsonaro ist nachweislich inkompetent und theoretisch nicht auf dem neusten Stand, so dass es – selbst wenn es wollte, was nicht der Fall ist – nicht wüsste, wie es mit der schwierigen ökonomischen Situation in Brasilien umgehen soll. Durch seine Arbeit stieg die Inflation, die Preise für Treibstoff, Energie und die Lebenshaltungskosten. Das führte zu einem sprunghaften Anstieg der Anzahl der auf der Straße lebenden Menschen. Die jüngste Volkszählung in der reichen Stadt São Paulo hat ergeben, dass die Zahl der Obdachlosen in den vergangenen zwei Jahren um 31 Prozent gestiegen ist und sich überwiegend aus Frauen, Kindern und ganzen Familien zusammensetzt. Bolsonaro verfolgt jedoch weiter strukturpolitische Maßnahmen, und hat erst vor wenigen Wochen, mit Blick auf die Wahlen, mehr Mittel für soziale Hilfsleistungen bewilligt.

Bei all diesen deprimierenden Kennzahlen zeigt der Spotlight Report aber auch, dass es Lösungen gibt. Die 116 Empfehlungen zeigen, dass es möglich ist, unsere Rechte wieder in den öffentlichen Haushalt aufzunehmen und den Boden zurückzugewinnen, den wir durch Gewalt, Hunger, Armut, Rassismus und geschlechtsspezifische Ungleichheiten verloren haben, die das heutige Brasilien kennzeichnen. Wir müssen unbedingt unsere Kultur der Privilegien beenden. Dazu ist es dringend erforderlich, die Arbeits- und Sozialversicherungsreformen der vergangenen Jahre zu revidieren, und die Gesetze wieder abzuschaffen, die öffentliche Investitionen in Gesundheit, Bildung und andere wichtige Bereiche verhindern. Zum Beispiel die Verfassungsänderung EC 95 der Regierung von Michel Temer, die von den Vereinten Nationen als die weltweit drastischste wirtschaftliche Maßnahme gegen soziale Rechte angesehen wird. Wir brauchen eine Steuerreform, über die effiziente und menschenrechtsorientierte Projekte gefördert werden. Schließlich müssen wir die Steuervermeidung und -hinterziehung sowie die öffentliche Finanzierung von Unternehmen, die nicht auf eine nachhaltige Entwicklung hinarbeiten, beenden. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen werden wir nicht aufgeben, bis diese Regierung und ihre Kumpane im Parlament für ihre Verbrechen vor Gericht gestellt werden. Dafür müssen die Kapazitäten der Zivilgesellschaft und der demokratischen Institutionen gestärkt werden, auch durch eine größere Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft.


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LULA FOR PRESIDENT?

Tintenfisch mit Gurke An der Seite von „Tintenfisch“ Lula tritt Alckmin als Vize an – er hat in der Vergangenheit den Spitznamen chuchu bekommen – ein geschmackloses Gemüse (Foto: www.lula.com.br)

Am 26. Mai veröffentlichte das als sehr zuverlässig geltende Wahlforschungsinstitut Datafolha eine neue Umfrage zu den Präsidentschaftswahlen. Danach liegt Lula mit 48 Prozent deutlich vor Bolsonaro, der lediglich auf 27 Prozent der Stimmen kommt. Ein Wahlsieg von Lula bereits im ersten Wahlgang wäre damit möglich. Die Umfrage bestätigt ein sich immer mehr konsolidierendes Szenario: Die Präsidentschaftswahl läuft auf ein Duell zwischen Lula und Bolsonaro hinaus, alle anderen Kandidat*innen bleiben im einstelligen Bereich. Damit dürften alle Versuche, einen sogenannten „Dritten Weg“ jenseits der bestehenden Polarisierung zu finden, als gescheitert gelten. Im linken Lager wurde das Ergebnis der Umfrage mit großer Erleichterung aufgenommen. Denn in den vorangegangen Umfragen hatte sich der Abstand zwischen Lula und Bolsonaro zusehends verringert, Bolsonaro holte auf. Dieser Trend ist nach den aktuellen Ergebnissen von Datafolha nun anscheinend gebrochen. Es ist schwer zu sagen, worauf dies zurückzuführen ist. Sicher ist, dass die wirtschaftliche Entwicklung den Amtsinhaber nicht begünstigt. Die Wirtschaftskrise hält an, die Inflation steigt unaufhörlich. Die offizielle Inflationsrate liegt nun bei sieben Prozent, aber der Preisindex für Konsumgüter ist um zwölf Prozent gestiegen. Dies trifft insbesondere die Ärmsten, die Verschlechterung der Lebenslage ist spürbar. Traurigster Indikator dafür ist die Wiederkehr des Hungers in Brasilien. Eine neue Studie geht davon aus, dass im Jahr 2020 rund 55 Prozent der brasilianischen Bevölkerung von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, das heißt 116,7 Millionen Menschen. Von diesen 116,7 Millionen sind 19 Millionen, also neun Prozent der Gesamtbevölkerung, von Hunger betroffen und weitere 11,5 Millionen Menschen ohne regelmäßigen und gesicherten Zugang zu Nahrung (siehe LN 563). Dies ist ein Ergebnis der Streichung zahlreicher Sozialprogramme durch die Regierung Bolsonaro. Auf jeden Fall bedeuten die Umfragewerte Rückenwind für die Strategie von Lula und der PT. Anders als bei den letzten Wahlen tritt Lula nun mit einem Wahlbündnis an, das über die üblichen Verdächtigen aus dem linken Lager hinausgeht. Tatsächlich war früh klar, dass die kleineren linken Parteien Lulas Kandidatur unterstützen werden. Auch die sozialistische PSOL wird Lula bereits im ersten Wahlgang unterstützen und keinen eigenen Kandidaten aufstellen. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2018 war sie mit dem populären Guilherme Boulos von der Bewegung der Wohnungslosen MTST angetreten, der nun für das Bundesparlament kandidieren wird.

Alckmins Nominierung als Lulas Vize ist ein Signal an das bürgerliche Lager

Ein überraschender und möglicherweise wahlentscheidender Schachzug gelang Lula und der PT aber mit der Nominierung von Geraldo Alckmin als Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten. Alckmin war in den letzten Jahrzehnten der wichtigste Politiker der PSDB, dem historischen Widersacher der PT. Präsidentschaftswahlen waren in Brasilien lange Zeit ein Duell zwischen den Kandidat*innen der PT und der PSDB; 2006 unterlag Alckmin Lula bei den Präsidentschaftswahlen. Nach dem katastrophalen Abschneiden der PSDB bei den Präsidentschaftswahlen 2018 hat sich die Partei aber in rivalisierende Lager aufgespalten. Alckmin wechselte zur PSB, einer Partei, die zwar den Sozialismus im Namen führt, aber in vielen Bundesstaaten ein Sammelbecken ohne klares politisches Profil bildet. Alckmin ist jeglicher linker Sympathien unverdächtig, seine Nominierung ist genau das Signal an das bürgerliche Lager, das sich Lula und die Mehrheit seiner Partei wünschen: Unser Bündnis umfasst ein weites politisches Spektrum, niemand – außer der Familie Bolsonaros und dem härtesten Kern seiner Anhänger – müsse vor einer Präsidentschaft Lulas Angst haben, so die Botschaft.

Neidisch schaute die Linke Brasiliens nach Kolumbien

Unter den linken Strömungen der PT und in der PSOL wurde die Nominierung Alckmins hingegen mit Misstrauen und offener Ablehnung aufgenommen. „Wir glauben, dass Alckmin keine Stimmen bringt. Er ist ein Neoliberaler, ein Unterstützer des Putsches (gegen Dilma Rousseff, Anm. d. Red.) und er hat unzählige Male die PT und Lula beleidigt“, kritisierte Valter Pomar, prominenter Vertreter der PT-Linken. Neidisch schaute die Linke Brasiliens nach Kolumbien und wünschte der PT den Mut, eine Frau wie Francia Marquéz auszuwählen. Doch es half alles nichts – mit großer Mehrheit bestätigte der Vorstand der PT Anfang Mai die Kandidatur Alckmins. Die Kritiker*innen haben die Entscheidung zähneknirschend akzeptiert und die Unterstützung der Kandidatur Lulas nicht von der Entscheidung der PT für Alckmin abhängig gemacht. Lula com chuchu (Tintenfisch mit Gurke) heißt daher das Motto der Stunde: Alckmin hat in der Vergangenheit den Spitznamen chuchu bekommen, ein als besonders geschmacklos geltendes Gemüse. Auch wenn in den aktuellen Umfragen Bolsonaro klar hinter Lula liegt – er ist und bleibt der einzige Kandidat, der Aussichten hat, Lula zu schlagen. Deshalb wird immer wieder davor gewarnt, Bolsonaro zu unterschätzen und zu siegesgewiss zu sein. Die Tatsache, dass Bolsonaro trotz der desaströsen Bilanz seiner Regierung über ein stabiles Fundament von etwa 30 Prozent der Wähler*innen verfügt, zeigt, dass der Bolsonarismus inzwischen fest in der brasilianischen Gesellschaft verwurzelt ist und wohl auch auch bei einer Niederlage die kommenden Wahlen überleben würde. Die gesellschaftlichen Gruppen, die den Bolsonarismus speisen, sind die extrem konservativen Evangelikalen und alle diejenigen, die sich durch „Genderideologie“, Feminismus, Menschenrechte und Kommunismus bedroht und von der traditionellen Politik verraten fühlen. Die Zustimmung zu Bolsonaro ist bei Männern höher als bei Frauen und steigt parallel zum Einkommen. Auf dieser Basis wird Bolsonaro seinen Wahlkampf als moralischen Kreuzzug gegen das Böse führen und Themen wie die Verteufelung der Entkriminalisierung von Abtreibung, der Rechte von LGBTIQ* aber auch die Verbindungen der PT zu den als „kommunistisch“ bezeichneten Regierungen von Venezuela, Kuba und Nicaragua in den Mittelpunkt stellen. Lula und die PT hingegen werden genau diese Themen meiden und die wirtschaftliche Lage, die Inflation sowie die zunehmende Verelendung thematisieren und immer wieder zeigen, dass unter Lulas Präsidentschaft alles besser war.

„Leute, wir können jetzt nicht über Abtreibung reden!“

Die Frage der Abtreibung zeigt, wieviel von der PT in diesem Wahlkampf zu erwarten ist. Lula hatte im April bei einer Veranstaltung erklärt, Abtreibung solle zu eine Frage der öffentlichen Gesundheitsfürsorge werden. Nach heftigen Reaktionen erklärte er, dass er persönlich gegen Abtreibung sei, und seitdem wird das Thema von der PT vermieden. Symptomatisch ist die Äußerung der populären Schauspielerin und Lula-Unterstützerin Maria Ribeiro, die vor allem durch den Film Tropa de Elite bekannt wurde: „Leute, wir können jetzt nicht über Abtreibung reden. Darüber sprechen wir nächstes Jahr, verstanden? Wir müssen diese Wahl gewinnen.“ Lulas Wahlsieg hängt davon ab, dass es ihm gelingt, das konservative Lager zu spalten und zumindest zum Teil für sich zu gewinnen. Die Konservativen sind die entscheidende Zielgruppe des Wahlkampfes und für sie ist die Nominierung Alckmins das richtige Signal. Die Linke werde ohnehin Lula wählen, zumal wenn die Alternative Bolsonaro lautet – so das Kalkül von Lula und der PT.

Überschattet wird der beginnende Wahlkampf von einer weiteren Frage: Ist der amtierende Präsident überhaupt bereit, ein anderes Wahlergebnis als seinen Sieg zu akzeptieren? Seit Anfang Mai hat Bolsonaro die Angriffe gegen die demokratischen Institutionen verstärkt, insbesondere gegen den Obersten Gerichtshof STF. Er sät immer wieder Zweifel an dem elektronischen Wahlverfahren und beschwört das Gespenst von Wahlfälschungen. Damit ist die Gefahr eines Putsches in der brasilianischen Presse erneut omnipräsent. So bereitet Bolsonaro das Terrain dafür vor, im Falle einer Wahlniederlage den demokratischen Prozess zu delegitimieren. Das alles erinnert natürlich an die Rhetorik von Donald Trump. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied: Bolsonaro hat die Unterstützung (weiter Teile) des Militärs und anderer bewaffneter Gruppen aus Militärpolizei, Sicherheitsdiensten und Milizen. Keine andere gesellschaftliche Gruppe hat so von der Regierung Bolsonaros profitiert wie die Militärs. 6.000 Angehörige der Streitkräfte haben gutbezahlte Posten in der Regierung erhalten, mehr als in den Zeiten der Militärdiktatur. Die Gehälter der Militärs wurden angehoben und in den Wahlkampf wird Bolsonaro wohl mit einem loyalen Militär als Kandidat für die Vizepräsidentschaft gehen. Zudem rühmt er sich, dass unter seiner Regierung der Zugang zu Waffen erleichtert wurde. Im Mai dieses Jahres wiederholte Bolsonaro einen seiner Lieblingssprüche: „Das bewaffnete Volk wird niemals versklavt sein. Die Waffe in der Hand der aufrechten Bürger wird nicht nur die Familie, sondern auch das Vaterland verteidigen.“ Und er fügte hinzu: „Meine Regierung ist radikal gegen Abtreibung, Genderideologie und den Kommunismus, und Gott steht über allen.“ Unter den Menschen Angst zu verbreiten, gehört zu den speziellen Fähigkeiten Bolsonaros. Brasiliens Demokratie steht vor schweren Zeiten.


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“KÖNNEN WIR NOCH WEITERE VIER JAHRE SO LEBEN?”

Foto: Katie Mähler @katie_maehler

Anfang Oktober sind Wahlen in Brasilien. Welche Erwartungen habt ihr mit Blick auf dieses Ereignis?
Alice: Ich hoffe sehr, dass ein anderer Kandidat als Bolsonaro gewinnt. Ich habe natürlich meine Präferenzen und konkrete Vorstellungen für die Zukunft, aber wie heißt es so schön: Das Leben ist kein Wunschkonzert. Auch wenn ein Kandidat erklärt, die indigenen Völker zu unterstützen, bedeutet das nicht unbedingt viel. Wir benötigen konkrete Aktionen. Während der Vorgängerregierungen hatten wir bereits bemerkt, dass es zwischen der indigenen Bewegung und der brasilianischen Politik eine tiefe Spaltung gibt. Und das müssen wir ein für alle Mal verändern. Ich hoffe wirklich sehr, dass die neue Regierung kompromissbereit sein wird und Verantwortung übernimmt. Denn bei Wahlkundgebungen ist es sehr einfach, Unterstützung zu zeigen. Doch sie in die Praxis umzusetzen und das Leben der Indigenen etwas zu erleichtern sowie endlich die Anerkennung der indigenen Territorien umzusetzen, das wäre für uns alle ideal.

Wie sind eure Erfahrungen als indigene Frauen und politische Führungspersönlichkeiten der Pataxó und der Uru Eu Wau Wau?
Tejubi: Bisher ist das eine gute Erfahrung für mich. Es ist zum Beispiel das erste Mal, dass ich als Vertreterin meines Volkes so weit gereist bin. Dass meine Tochter so weit weg ist, macht mir etwas Angst, weil ich oft an die Invasionen in unser Land denke und weiß, dass immer etwas Schlimmes passieren kann. Ich muss aber sagen, dass es nicht immer einfach war, mein Volk zu vertreten, denn ich wurde häufig diskriminiert und habe gehört, dass Frauen diese Aufgaben nicht übernehmen können. Aber ich stehe hier, um zu zeigen, dass wir es doch können.
Alice: Das ist ein extrem komplexes Thema. Wir sprechen von indigenen Völkern, die immer noch vom Patriarchat und gewissermaßen auch vom Machismo dominiert werden. Die Pataxós haben heute eine größere Offenheit, so sehe ich es, da es seit vielen Jahren Frauen gibt, die Führungspersönlichkeiten und Caciques sind. Diese Entwicklung nimmt zu. Heute sehe ich mehr Mädchen, die sich in politischen Räumen beteiligen und ihre Communities vertreten können. Das ist auch für uns sehr wichtig, denn wir bewegen uns von einer Position, in der wir nur als Frauen oder Mütter gesehen werden, zu einer anderen, in der wir eine politische, individuelle Person sein dürfen. Dabei geht es nicht nur um Zugang zur Politik, sondern auch um andere Möglichkeiten, wie zum Beispiel ein Studium. Das stärkt alle indigenen Frauen.

Wie blickt ihr auf die indigenen Kämpfe der letzten Jahre, in denen die Regierung Bolsonaro die territorialen Besetzungen und den Genozid an den indigenen Völkern vorangetrieben hat?
Alice: Der Genozid ist das Hauptmerkmal der Regierung von Bolsonaro. Ich habe noch nie eine solche Gesetzlosigkeit erlebt, sie erstickt die indigene Bevölkerung langsam. Die Suizidrate von Indigenen ist gestiegen, ebenso wie die von LGBT. Die Lage ist chaotisch, vor allem in Bezug auf die Pandemie. Es macht uns extrem traurig – umso mehr, wenn wir daran denken, dass Bolsonaro erneut kandidieren will. Falls er gewinnt, was werden wir tun, um mit seiner Politik umgehen zu können? Denn ehrlich gesagt, ist der Schaden nach vier Jahren seiner Regierung äußerst groß. Ich frage mich, ob wir noch weitere vier Jahre so leben können.
Tejubi: Seit Bolsonaro an der Macht ist, stellen alle fest, dass die Besetzungen in den indigenen Territorien beträchtlich zugenommen haben. Ich denke gerade an eine Geschichte, die bei uns passiert ist. Einige Invasoren sind in unser Land eingedrungen. Meine Verwandten sind zu ihnen gegangen und haben von ihnen gehört: „Das ist ein Befehl von oben. Wichtige Menschen haben uns erlaubt, das Land hier zu besetzen”. Wir Indigene und viele andere Brasilianer haben nur Probleme seit dem Beginn von Bolsonaros Amtszeit. Aber manche nehmen die Katastrophe nicht wahr, denn die Mehrheit seiner Unterstützer besitzen Land und Vieh und befürworten die Abschaffung indigener Territorien völlig.
Alice: Die Regierung Bolsonaro verfolgt eine politische Agenda, die sich gegen die indigenen Völker richtet und gegen die Menschen aus Favelas. Es ist für uns sehr schwer zu akzeptieren, dass das bestehende brasilianische System nur weiße Personen berücksichtigt, die über Privilegien und Ressourcen verfügen. Alle Vorstellungen von Entwicklung, die aktuell von der Regierung vertreten werden, basieren darauf. Auf Geld, auf Entwaldung, kurz: auf allem, was wir bekämpfen und seit langem versuchen zu verändern.

Welche Rolle spielte der digitale Aktivismus in euren politischen Kämpfen?
Alice: Ich arbeite heutzutage mit sozialen Medien. Sie sind ein Werkzeug mit großem Potenzial, das der indigenen Bewegung viel geben kann, denn sie dienen dazu, Menschen, die keinen Zugang zu unseren Communities haben, über unsere Bewegung und unsere Realität zu infor-*mieren. Es gibt eine riesige, nicht nur geographische, Distanz zwischen indigenen Dörfern und den Städten in Brasilien und dies hat natürlich Konsequenzen. Wir müssen aber gut aufpassen, denn dieses Werkzeug hat andererseits auch negative Effekte. Es gibt eine neue Generation, die langsam diesen virtuellen Raum besetzt, der ursprünglich nicht für uns geschaffen worden ist. Hier in Deutschland und Europa ist das Engagement über die sozialen Medien sehr stark, viele zeigen großes Interesse für die indigene Bewegung in Brasilien. Diese Annäherung wurde nur dank des Internets ermöglicht.
Tejubi: Alice ist die Influencerin von uns beiden (Gelächter).
Alice: Ich sehe mich nicht als Influencerin, denn ich beeinflusse Menschen nicht. Vielmehr kläre ich sie auf, denn das interessiert mich. Ich will nicht sagen, was die anderen tun sollten. “Influence” ist ein Begriff, der für die Kommerzialisierung konzipiert wurde und ich denke einfach anders.
Tejubi: Das Internet war für uns von Uru Eu Wau Wau sehr wichtig, denn so konnten wir etwas bekannter werden. Wir haben gelernt, Drohnen und GPS zu nutzen, um ein Harpyie-Nest (seltener, tropischer Greifvogel, der in den höchsten Baumkronen nistet, Anm. d. Red.) zu beobachten. Dies haben wir der FUNAI (Nationale Behörde für Indigene, Anm. d. Red.) gezeigt, um zu dokumentieren, dass dort Entwaldung stattfindet. Obwohl sie dem widersprochen haben – sie wären dort gewesen und hätten nichts gefunden, sagten sie – haben wir angefangen zu posten, was in unserem Territorium geschieht, und hoffen nun, dass uns dies helfen kann.

Wie stellt ihr euch das Engagement der jungen Generationen gegen die Entwaldung und für die Umwelt vor?
Alice: Junge Menschen können etwas tun, auch auf autonome Art und Weise. Mein Großvater hat mir immer gesagt, dass die Jugendlichen von heute die Führungsfiguren von morgen sein werden. In dieser Hinsicht ist unsere Bewegung sehr gewachsen und das ist extrem positiv. Ich hoffe, dass wir mehr Zugang zu Möglichkeiten erhalten sowie weniger Vorurteile und Diskriminierungen erleben werden, denn wir sind dagegen nicht immun. Unsere Jugend braucht auch mehr Engagement der neuen Generationen anderer Länder, um die echten Probleme besser angehen zu können.

In Bezug auf eure Reise nach Europa: Wie schätzt ihr die Möglichkeiten ein, mit internationalen Akteuren zu kooperieren?
Tejubi: Ich hoffe, dass unsere Reise nach Europa positive Folgen haben wird. Mein Volk würde sich sehr darüber freuen, wenn ich mit konkreten Ergebnissen zurückkehren könnte. Ich denke dabei an die Ermordung zweier meiner Onkel, die keine juristischen Konsequenzen hatte. Der eine war Lehrer und Mitglied einer Monitoring-Gruppe, er wurde vor zwei Jahren ermordet. Der andere erst vor drei Monaten, wahrscheinlich von einem Goldgräber in Guajará-Mirim. Wir haben dazu noch nichts erfahren, weder von Seiten der FUNAI, noch der Polizei. Es ist sehr schwierig für mich, wenn mich meine Großmutter fragt, ob ich hier schon etwas erreichen konnte, um die Verbrechen aufzuklären.
Alice: Ich finde es auf jeden Fall positiv und notwendig, die Realität unseres Kampfes in einem internationalen Kontext darstellen zu können. Beispielsweise können durch Kunst unsere Gefühle und andere Aspekte unserer Bewegung sehr effektiv kommuniziert werden. Auch wenn wir in den letzten Jahren mehr Raum in der nationalen wie internationalen Politik einnehmen konnten, kommen wir in vielerlei Hinsicht immer noch zuletzt, was sehr schade ist.


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GEGEN DEN TRANSFEINDLICHEN NORMALZUSTAND

Ein sicherer Ort mit umfassender Betreuung In den Kliniken arbeiten interdisziplinäre Teams an der Hormontherapie (Foto: Renato Araújo/Agência Brasilia (CC BY 2.0))

Wie viele Travestis und trans* Frauen in Lateinamerika hat Brenda ihre Hormontherapie ohne ärztliche Begleitung begonnen. Diane 35, ein für die Behandlung von Akne vorgesehener Testosteronblocker sowie Perlutan, eine für cis Frauen vorgesehene Verhütungsspritze, sind frei in Apotheken verkäuflich. Seit dem Beginn ihrer Behandlung in einem Ambulatório Trans in ihrer Heimatstadt Natal konnte Brenda die Selbstmedikation reduzieren. „Auch wenn einige Hormone wie etwa Diane 35 vom SUS weiterhin nur für cis Frauen verschrieben werden, fühle ich mich bei den Trans-Kliniken gut aufgehoben. Dort werde ich von einer Endokrinologin betreut und kann kostenlos meine Östradiol- und Testosteronwerte kontrollieren lassen“.

Gegen die transfeindliche Politik Jair Bolsonaros ist die Implementierung der Trans-Kliniken ein wichtiger Schritt des Widerstandes. Seit Beginn seiner Amtszeit zieht der rechtsextreme Präsident seine konservative Agenda gegen die sogenannte „Gender-Ideologie“ durch und legitimiert transfeindliche Gewalt – und das in einer ohnehin schon polarisierten Gesellschaft. 2019 schwärmte Damares Alves, damals Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, in einem Video, dass eine neue Ära anbrechen würde, in der „Mädchen rosa und Jungs blau tragen“. 2020 wurde ein Video von Eduardo Bolsonaro verbreitet, Sohn des Präsidenten und Kongressabgeordneter, in dem er während einer „Gender reveal party“ mit einer Waffe auf einen Ballon schießt, um das Geschlecht seines Kindes zu enthüllen. 

Jedes Jahr werden durchschnittlich 123 trans* Personen in Brasilien ermordet

Die Zahlen von Travestiziden und Transfeminiziden sind alarmierend hoch. Laut dem jüngsten Bericht der nationalen Vereinigung für Travestis und Transsexuelle (ANTRA), werden jährlich durchschnittlich 123 trans* Personen ermordet. Damit bleibt Brasilien das dreizehnte Jahr in Folge das Land, in dem weltweit am meisten trans* Personen ermordet werden. Daran hat sich nichts geändert, seit sich bei den Kommunalwahlen 2020 die Anzahl der in politische Ämter gewählten Travestis und trans* Menschen vervierfacht hat. Viele der jetzigen Abgeordneten sind mit anonymen Morddrohungen konfrontiert. Benny Briolly, Stadträtin von Niterói, musste sogar vorrübergehend das Land verlassen.

Trotz dieser brutalen Realität sind in den letzten Jahren eine bedeutende Zahl von Trans-Kliniken entstanden. Politisch ermöglicht hat dies eine 2011 noch unter der Regierung Dilma Rousseffs vom Gesundheitsministerium erlassene Richtlinie. 2013 wurde diese um den Zugang zur Hormontherapie sowie zu operativen geschlechtsangleichenden Maßnahmen für trans* Männer und Travestis erweitert. Die erste Trans-Klinik wurde 2009 in São Paulo eröffnet, mittlerweile finden sie sich in den meisten Hauptstädten des Landes. Manche, etwa diejenige in Salvador, sind nur durch das Engagement von Aktivist*innen wie Mirella Santos zustande gekommen. In ganz Brasilien gibt es momentan 33 Ambulatórios Trans – eine Zahl, die vor wenigen Jahren noch unvorstellbar war.

„Die Trans-Kliniken bieten eine sichere Möglichkeit für die Hormontherapie“, erzählt Brenda. In der Klinik von Natal wird sie die im Laufe ihrer Therapie von einem interdisziplinären Team begleitet, dem auch Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen angehören. Als safe spaces garantieren die Kliniken eine kontinuierliche Behandlung. „In anderen Praxiszentren würden wir nicht so gut behandelt werden, wegen der Stigmatisierung unserer Körper und unserer Leben“ erläutert sie weiter. Diese koordinierte und sichere Möglichkeit zur Hormontherapie gibt es nicht einmal in Berlin. Dort müssen Termine bei verschieden Arztpraxen vereinbart werden. Eine ohne die Unterstützung durch die Community fast unmögliche Aufgabe. Zusätzlich muss die Diagnose einer Störung (F64 ICD 10) von einem*einer psychologischen Gutachter*in vorliegen.

„Die Diagnostizierung solch einer ‘Störung’ sollte verfassungswidrig sein“, meint Porca Flor, eine Travesti aus Brasilien. Sie berichtet, dass am Anfang ihrer Behandlung in der Trans-Klinik in João Pessoa auch eine psychologische Diagnose stand. Das Gespräch mit der Psychologin fand sie „karikaturistisch, aber zugleich interessant“, denn es war das erste Mal, dass sie überhaupt psychologische Beratung machte: „Ganz anders, als mit einer Freundin zu reden“, ergänzt sie. „Dennoch musste ich mich ständig daran erinnern, wer da eigentlich sitzt, und welche Logik der Normativität diese Person ausdrückt. Und dementsprechend habe ich einfach mitgespielt“. Nachdem sie mit dem Gutachten bei einem Psychiater war, konnte sie die Behandlung beginnen. Diese institutionelle Pathologisierung und Diskriminierung findet in vielen Ländern Lateinamerikas, aber auch Europas statt, wie die Organisation Transgender Europe in der Studie „Trans Healthcare Lottery“ kritisiert. „Wäre die Psychologin trans gewesen, oder rassifiziert, dann wär’s vielleicht was. Aber mit einer weißen cis Frau, die keine Ahnung von meinem Leben als Travesti hat, konnte ich nichts anfangen“, fügt Porca hinzu. „Denn es ist doch wünschenswert, dass wir alle eine psychologische Begleitung zu unseren Behandlungen bekommen. Es ist sehr schwer, selbst eine Hormontherapie durchzuführen, ohne zu wissen, wie du dich über die körperlichen Merkmale hinaus veränderst, auch was die sozialen Konsequenzen der Transition betrifft“.

Auch wenn die Trans-Kliniken als eine gegen die strukturelle Transfeindlichkeit gerichtete Organisation gelten, sind sie in ihrer Wirkmächtigkeit limitiert. ANTRA weist auf wichtige politische Herausforderungen hin. Seit der Aktualisierung der WHO-Klassifikation von Krankheiten und verwandten Gesundheitsproblemen (ICD-11) im Jahr 2018 wird „Transsexualität“ als Genderinkongruenz und nicht mehr als psychische Störung gelistet – ein Erfolg, aber die Richtlinien des Gesundheitsministeriums blieben bisher unverändert. „Wir müssen darauf ein Auge haben. Seit der Verfassungsänderung zur Obergrenze für öffentliche Ausgaben sieht die Lage im Gesundheitsministerium nicht gut aus. Es sind keine weiteren Investitionen vorgesehen und die konstanten Angriffe auf die SUS lässt Rückschritte befürchten“. Im Webinar „Transkommunikation im Netz“ von 2021 hat sich Bianca Lopes, Vertreterin von ANTRA in Góias, auch zu territorialen Limitierungen der von den Trans-Kliniken angebotenen Dienste geäußert. „Es fehlt eine ausführliche soziodemographische Dokumentation zu Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen. Ohne dieses Wissen ist der Erweiterung der Angebote auf andere Städte schwierig.“ Außerdem müssten die alltägliche Diskriminierung, die strukturelle Marginalisierung und die Gewalt gegenüber Travestis und trans* Personen in der Diskussion über den gerechten Zugang zur Hormontherapie und weiteren medizinischen Behandlungen eine zentrale Rolle spielen. Erst wenn diese Benachteiligungen vollständig berücksichtigt werden, kann sich die Gesundheitsversorgung entsprechend weiterentwickeln. Dass Brasilien überhaupt in der Lage ist, so einen institutionellen Service zu gewährleisten, ist das Ergebnis von politischem Aktivismus – und von diesem aus muss es sich auch weiterentwickeln.

Die Zukunft der Trans-Kliniken ist auch vom Ausgang der im Herbst anstehenden Wahlen in Brasilien abhängig. Bei einer Wiederwahl Bolsonaros könnte Gewalt gegen Travesti und trans* Personen noch weiter legitimiert werden. Und auch wenn einige der wichtigen Fortschritte für die Community unter den PT-Regierungen zustande kamen, ist fraglich, ob eine zukünftige PT-Regierung in der Lage wäre, sich gemeinsam mit Transaktvist*innen gegen die alarmierende Gewalt einzusetzen und das Fortbestehen der Trans-Kliniken zu garantieren und ihr Angebot zu verbessern.


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IN DER PARANOIDEN PARALLELWELT DES BOLSONARISMUS

Sieht nicht nur faschistisch aus Bolsonaro beim cercadinho (Foto: Niklas Franzen)

Langsam rollt die schwarze Limousine heran und bremst vor einem hüfthohen Gitter. Ein Mann öffnet die hintere Tür des Wagens. Jair Bolsonaro steigt aus, richtet seinen Anzug, grinst. Hinter einer Absperrung stehen rund 30 Menschen, ich bin einer davon. Fast jeden Tag trifft Brasiliens Präsident in der Hauptstadt Brasília seine Anhänger*innen vor dem Palast der Morgenröte, der offiziellen Residenz. Er schüttelt Hände, plaudert, posiert für Selfies. Ein Präsident zum Anfassen.

Ich habe mich als Unterstützer getarnt. Denn Journalist*innen sind hier nicht erwünscht. Kolleg*innen rieten mir ab, am cercadinho, am kleinen Zaun, aufzukreuzen. Viel zu riskant, sagten sie. Und ihre Sorge ist nicht unberechtigt. Journalist*innen wurden hier schon beschimpft, bespuckt, geschlagen. Mittlerweile haben sich Medienvertreter*innen daran gewöhnt, von Pressekonferenzen ausgeladen, durch Online-Kampagnen eingeschüchtert und wüst beschimpft zu werden. Auch der Präsident beteiligt sich höchstpersönlich an der Hetze gegen die vierte Gewalt. Vor dem Palast der Morgenröte brüllte er einmal einem Reporter entgegen, dass er Lust habe, ihm sein Gesicht einzuschlagen. Einem anderen erklärte er vor laufenden Kameras, dass er aussehe wie ein „schrecklicher Homosexueller“.

So ist es nicht verwunderlich, dass die großen Medienhäuser ihre Reporter*innen schon länger nicht mehr zum cercadinho schicken. Doch ich wollte unbedingt eines dieser skurrilen Treffen hautnah miterleben. Denn an kaum einem anderen Ort kommt man dem Präsidenten so nah wie hier. An kaum einem anderen Ort wird Bolsonaro so deutlich in seinen Ansprachen. Und an kaum einem anderen Ort lässt sich besser die fast schon religiöse Hingabe von Bolsonaros Anhänger*innen beobachten.

Es gibt nur zwei Kategorien: Für Bolsonaro oder gegen ihn.

Auch für den Präsidenten sind die Treffen enorm wichtig. Sie sind eine Möglichkeit, Dampf abzulassen und Dinge einzuordnen. Ohne Kritik, ohne Widerspruch, ohne Nachfragen der Presse. Ich versuche es trotzdem und spreche Bolsonaro auf eine Klage von Umweltschützer*innen vor dem Internationalen Strafgerichtshof an. Verärgert schaut er mich an und beginnt, sichtlich genervt über NGOs zu schimpfen. Es wird klar: Bolsonaro will hier nicht über kritische Dinge sprechen. Das ist typisch für seinen autoritären Kurs. Dialog findet kaum noch statt. Politik macht Bolsonaro nur für seine Basis. Dass er an diesem Abend wieder einmal haarsträubende Lügen erzählt, stört hier niemanden.

Aus dem ganzen Land sind die Fans des Präsidenten angereist. Tausende Kilometer für ein kurzes Treffen. Einige haben Freudentränen in den Augen. Ein blonder Mann murmelt immer wieder: „Ein Traum ist wahr geworden, ein Traum ist wahr geworden.“ Bei den meisten Menschen löst ein Treffen mit einem Staatsoberhaupt Ehrfurcht aus. Doch bei Bolsonaro ist es mehr. Es ist eine Verehrung, die schon fast sektenhafte Züge trägt. Woher kommt dieser regelrechte Führerkult? Ist es Bolsonaros Persönlichkeit? Sind es seine politischen Ideen? Oder hat er einfach nur Gefühle freigesetzt, die seit langem in den Brasilianer*innen schwelen?

Vor dem Präsidentenpalast lerne ich Clemerson kennen. 37, braungebrannt, Brasilien-Trikot. Mit seinem Sohn ist er aus dem Soja-Bundesstaat Mato Grosso angereist, um „seinen Präsidenten“ zu treffen. Warum er Bolsonaro unterstütze? „Er ist ehrlich. Ganz anders als der Rest.“ Solche Aussagen hört man häufig. Von seinen Anhänger*innen wird Bolsonaro für seine „authentische Art“ gefeiert. Und in der Tat ist er mehr als der hasserfüllte Provokateur. Der Rechtsradikale versteht es, eine einfache Sprache zu benutzen, was in einem Land mit einem geringen Bildungsniveau nicht ganz unwichtig ist. Er ist sehr direkt, erzählt gerne Anekdoten, macht Witze und nimmt nie ein Blatt vor den Mund. Mit dieser Art gibt er seinen Unterstützer*innen zu verstehen: Seht her, ich bin ein ganz normaler Brasilianer! Einer von euch! So ist es für ihn kein Nachteil, dass er nur ein mittelmäßiger Redner ist und wenig Ausstrahlung hat. Im Gegenteil. Fast alle haben einen Onkel oder Bruder, die ähnlich reden oder auftreten wie Bolsonaro. In Zeiten einer schweren gesellschaftlichen und politischen Krise, in der dem politischen Establishment große Ablehnung entgegenschlägt, wünschen sich viele genau so jemand wie Bolsonaro: Hauptsache kein klassischer Politiker.

Addition von Extremen statt gemeinsamer Mitte

Bolsonaro hat sich immer als Vollstrecker des „wahren Volkswillens“ betrachtet. Jemand, der die vermeintlichen Eliten das Fürchten lehrt. Klassischer Populismus. Doch der Bolsonarismus ist mehr, er hat durchaus ein ideologisches Fundament. Ein tropischer Neofaschismus, sagen einige. Klar ist: Im Bolsonarismus vereinen sich ganz unterschiedliche reaktionäre Ideen. Religiöser Fanatismus, Ultranationalismus, Militarismus, Antikommunismus. Was sie zusammenhält, ist die Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen und eine Haltung, sich hermetisch nach außen abzuschirmen. Zweifel? Gibt es nicht. Kritik? Wird nicht toleriert. Es gibt nur zwei Kategorien: Für Bolsonaro oder gegen ihn. Freund oder Feind. Wir gegen die. Bolsonaro nährt diese Wagenburgmentalität, indem er ständig Konflikte mit den demokratischen Institutionen provoziert.

In der paranoiden Parallelwelt des Bolsonarismus ist das „System“, also die Justiz, der Kongress und die Medien, von einer korrupten Elite infiziert und müsse deshalb gesäubert werden. Richtig ist: Bolsonaro liegt im Dauerclinch mit den Institutionen, weil diese vielen Initiativen der Regierung einen Riegel vorgeschoben haben. Mit seiner Ablehnung der Gewaltenteilung ähnelt Bolsonaro seinen autoritären Zeitgenossen auf der ganzen Welt, die die Parlamente und Justiz entweder zerschlagen haben oder sie frontal angreifen. Diese Schützengrabenlogik hat noch einen weiteren Vorteil: Jegliche Unfähigkeit des Präsidenten lässt sich mit dem Widerstand des „Systems“ erklären. Mehrmals spreche ich Unterstützer*innen von Bolsonaro auf die magere Bilanz ihres Idols an. Die Antwort ist fast immer die gleiche: „Sie lassen den Präsidenten nicht arbeiten.“

Auch die ständigen Eklats und Polemiken haben System. Man hat kaum Zeit, auf einen Zwischenfall einzugehen, schon wird dieser vom nächsten überschattet. Mal gibt Bolsonaro im Fußballtrikot Pressekonferenzen, mal beschimpft er im Kneipenjargon seine politischen Gegner*innen. Dadurch schafft er es, sich ständig in Szene zu setzen, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und von eigenen Fehlern abzulenken. Seine Fans vergöttern ihn für die „unkonventionelle Art“. Seit Bolsonaros fulminantem Wahlsieg im Jahr 2018 ist viel Zeit vergangen. Der Rowdy-Präsident hat die meisten seiner Versprechen nicht eingehalten, das Land an den Rand eines Kollaps geführt. Traumatisiert durch die Pandemie, als Paria im Ausland, zernagt durch die Wirtschaftskrise. Doch obwohl sich viele ehemalige Wähler*innen von Bolsonaro abgewendet haben, kann er sich auf den harten Kern seiner Unterstützer*innen verlassen. Seine Anhänger*innen stehen nicht trotz, sondern wegen seiner ständigen Tabubrüche und Provokationen hinter ihm.

Früher ging es in der Politik einmal darum, so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Doch wenn Bolsonaro eine Sache gelernt hat, dann die: Man muss als Politiker nicht mehr die ganze Bevölkerung ansprechen, auch nicht als Präsident. Heute reicht es, die Gesellschaft zu spalten und kleine Gruppen mit einer Idee anzustecken. „Um eine Mehrheit für sich zu gewinnen, ist es nicht mehr nötig, eine gemeinsame Mitte zu finden, sondern man addiert einfach die Extremen“, schreibt der italienische Journalist Giuliano da Empoli in seinem Buch „Ingenieure des Chaos“. Deshalb sollte man den von den Rechten initiierten Kulturkampf nicht unterschätzen. Es geht primär darum, kleine Gruppen anzustacheln. Und damit sind sie extrem erfolgreich. Ein Teil der Gesellschaft driftet immer weiter in rechtsradikale Paralleluniversen ab. Es ist davon auszugehen, dass sich Teile der brasilianischen Bevölkerung noch weiter radikalisieren. Wie weit sind die bereit zu gehen?

Gerade in Krisenzeiten sucht Bolsonaro immer wieder Zuflucht bei seinen radikalisierten Anhänger*innen. Und er versucht konstant Bilder zu produzieren, die ihn als großen Volkstribun zeigen. Bolsonaro düst im Stile des italienischen Faschisten Benito Mussolini in Motorradparaden über Autobahnen, lässt sich vermeintlich spontan an Stränden blicken und von Badegästen feiern. Warum tut er das? Die Antwort ist simpel: Weil er im Prinzip gar keine andere Möglichkeit hat. Durch seine Politik hat sich Bolsonaro weitestgehend isoliert, er hat keine starke Partei hinter sich, gilt für viele Brasilianer*innen als die Hassfigur schlechthin. Ohne seine radikalisierte Basis hat Bolsonaro nicht viel vorzuweisen. Deshalb ist es für ihn auch nicht möglich, sich zu mäßigen oder sich wie ein normaler Präsident zu verhalten.

Im Oktober 2022 findet die nächste Präsidentschaftswahl in Brasilien statt. Einige haben die Hoffnung, Bolsonaro ließe sich an der Urne abwählen. Das stimmt hoffentlich. Doch es wäre fatal, bereits einen Abgesang anzustimmen. Denn bis zur Wahl wird noch sehr viel passieren. Und es ist ein Fehler, ausschließlich auf Amtszeiten zu blicken. Denn der Bolsonarismus wird sich nicht einfach in Luft auflösen, auch wenn der Namensgeber dieses Phänomens nicht mehr Präsident sein sollte. Er repräsentiert eine Idee und eine neue Art, Politik zu machen, nicht nur auf der großen Bühne der Bundespolitik. Bolsonaros Ideen und sein Politikstil sind gekommen, um zu bleiben.


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GEWÄHLT, ABER NOCH NICHT IM AMT

KAZIKE MARCOS Der Kazike Marcos Luidson de Araújo (43) ist Sohn des Kaziken Chicão, der im Mai 1998 ermordet wurde. Mit 21 Jahren ist er Anführer der Xukuru geworden, ein indigenes Volk von etwa 20.000 Mitgliedern im nordostbrasilianischen Bundesstaat Pernambuco. Marcos Luidson de Araújo ist auch in regionalen und nationalen indigenen Organisationen aktiv und hat sich 2020 zum ersten Mal einer allgemeinen Wahl gestellt. (Foto: Thiago Silva)

Was bedeutete Ihre Wahl für Pesqueira?

In Pesqueira hat immer eine bestimmte Elite regiert, es gab nie einen Bürgermeister, der nicht zu dieser traditionellen Elite gehörte. Im Jahr 2000, als ich Kazike wurde, haben wir eine Umfrage in Auftrag gegeben zu den Einstellungen gegenüber Indigenen in Pesqueira. 70 Prozent der Bevölkerung hatten negative Einstellungen und Vorurteile gegenüber uns Xukuru. In den über 20 Jahren seither hat sich einiges verbessert, so dass ich mit einer Mehrheit zum Bürgermeister gewählt werden konnte. Das ist ein wichtiger Schritt für Pesqueira.

Ihre Wahl fiel unerwartet klar aus und das bereits im ersten Wahlgang. Warum konnten Sie trotzdem bis heute als Bürgermeister ihr Amt nicht antreten?

Gleich nach den Wahlen hat die unterlegene Seite Klage erhoben mit der Begründung, dass ich im Jahr 2003 – nach einem Anschlag auf mich, bei dem zwei meiner indigenen Begleiter erschossen wurden – Teil einer Gruppe war, die Eigentum der Angreifer zerstört hätte. Nach brasilianischem Gesetz kann niemand ein öffentliches Amt bekleiden, dem Zerstörung öffentlichen Eigentums vorgeworfen wird. Obwohl damals 2003 privates Eigentum wie Autos und Teile von Immobilien zerstört wurden, behandelte das Gericht dies wie öffentliches Eigentum. Das fechten wir jetzt an. Wir warten auf das abschließende Urteil der höchsten richterlichen Instanz in Brasília (TSE).

Wie fiel denn das ursprüngliche Urteil aus?

Nach dem Anschlag auf mich und der Sachbeschädigung haben die Polizei und Staatsanwaltschaft bestimmte Dinge nicht untersucht. Ich habe bei dem Anschlag einen Streifschuss abbekommen, weshalb ich mich im Krankenhaus behandeln ließ. Dies wurde nie überprüft. Mit mir wurden von insgesamt 50 Angeklagten 35 verurteilt − ich zu zehn Jahren und vier Monaten. Ich bin ganz ruhig. Wir haben schon viel erreicht. Egal wie das Urteil ausfällt, werde ich mich weiter für die Xukuru und meine Stadt einsetzen, so wie ich das auch heute mache. Ich sitze ja nicht zu Hause herum, sondern arbeite bereits im Bürgermeisteramt. Der Interimsbürgermeister hat mich zum sogenannten Regierungssekretär ernannt. Ich bin für die Koordination und Planung von Projekten der Stadtverwaltung zuständig.

Wie hat Ihre Familie und Ihr Umfeld auf Ihre Entscheidung reagiert, sich als Bürgermeisterkandidat aufstellen zu lassen?

Meine Mutter hatte zwei Einwände: Erstens, Pesqueira sei chaotisch, es wird schwer sein, etwas zu erreichen und deshalb viele Angriffe auf mich geben. Zweitens, es gab viele Unregelmäßigkeiten in den letzten 30 Jahren. Wenn man daran rüttele, sei es möglich, dass ich so ende wie mein Vater, der ermordet wurde.

Was haben Sie den Einwänden Ihrer Mutter entgegnet?

Meine Mission war immer, die Xukuru und unser Territorium zu verteidigen. Viele von uns leben aber in Pesqueira, die Anstrengungen für die Xukuru und für die Stadt gehen ineinander über und beeinflussen sich. Die Probleme der Stadt sind nicht in vier Jahren zu lösen, aber man kann wenigstens davon träumen, etwas zum Besseren zu verändern. Trotzdem habe ich über ein Jahr lang überlegt, ob ich den Schritt in die Politik wirklich wagen soll. Pesqueira ist Teil unseres ursprünglichen Landes und um etwas verändern zu können, geht kein Weg an politischer Teilhabe vorbei. Ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich dafür bereit bin. Meine Mutter weinte, umarmte mich und wünschte mir viel Glück.

Wie ist dann der Wahlkampf verlaufen?

Es war uns klar, dass es eine harte Auseinandersetzung werden würde. Es gab eine Kampagne gegen mich, um mich zu isolieren. Gerade in sozialen Medien wurde gegen mich agitiert. Man hat gesagt, ein Indio kann doch nicht eine solche Aufgabe übernehmen oder man hat sich darüber mokiert, dass ich ein Handy benutze. Die Kampagne war sehr persönlich und verletzend. Die Strategie war, mein Image zu zerstören.

Was haben Sie dem entgegengesetzt?

Ich habe versucht, in den Peripherien der Stadt, unser politisches Projekt zu erklären. Ich wollte in persönlichen Gesprächen Vertrauen schaffen. Während der Kampagne habe ich nichts versprochen, das ich nicht halten kann, keine Infrastrukturprojekte, keine Jobs. Ich habe auch gesagt, dass vier Jahre nicht reichen, aber dass jetzt ein neuer Moment sei für positive Veränderung. Jeder soll teilhaben können und sich dadurch auch mehr verantwortlich fühlen.

Ihr Vater fiel einem Attentat zum Opfer, wie hat sich Ihr Leben dadurch verändert?

Als ich 19 Jahre alt war, wurde mein Vater ermordet und ich von einer Versammlung der Xukuru zum Kazike bestimmt. Das Amt habe ich Anfang 2000 mit 21 Jahren übernommen. Das war natürlich so nicht mein Lebensplan. Ich hätte mir gewünscht, von meinem Vater mehr lernen zu können und das Amt ungefähr in einem Alter, in dem ich jetzt bin, also Anfang 40, zu übernehmen. Ermutigt vom Beispiel meines Vaters, habe ich mich erstmal darum bemüht, unsere indigenen Strukturen zu stärken. Aber von Anfang an gab es auch immer Spannungen mit denen, die das uns zustehende Land besetzt hatten. Ich erhielt umgehend Morddrohungen, die mich stark getroffen haben.

Wie kann man sich die indigenen Strukturen vorstellen?

Seit 2001 organisieren wir regelmäßig eine große Zusammenkunft der Xukuru, um über Probleme und Lösungen zu diskutieren. Das hat mit der Zeit das Interesse von anderen geweckt, die mittlerweile auch an diesen Versammlungen teilhaben. Alle können teilnehmen. Wir haben damit ein anderes politisches Projekt als Alternative gezeigt, einen anderen Weg, in Form einer kollektiven Arbeit. Wir als Xukuru verstecken uns nicht. Jedes Jahr am 20. Mai, dem Todestag meines Vaters, organisieren wir eine Demonstration, zu der wir auch an den Ort gehen, an dem er ermordet wurde. Mit dieser Vorarbeit und Form der Organisation konnten wir dann auch die Macht in der Stadt brechen.

Sie sind für die republikanische Partei REP angetreten, die nicht gerade zum progressiven und minderheitenfreundlichen politischen Lager gehört. Warum diese Partei?

Wir haben es mit einer Stadt im Landesinneren von Pernambuco zu tun, die lange Zeit von konservativen Agrar-Oligarchien beherrscht wurde. Eine konservative Partei hat es deshalb in so einem Umfeld leichter, in weiteren Kreisen akzeptiert zu werden. Trotzdem war ich zu Beginn monatelang allein unterwegs, nur mit zwei Xukuru-Stadtratsmitgliedern. Nach und nach gewannen wir an Sichtbarkeit, die Kandidatur gewann an Stärke und das Verhältnis zu den politischen Kräften veränderte sich. Die Arbeiterpartei (PT) hat nach langem Zögern unsere Kandidatur unterstützt. Aber über die politischen Parteien hinaus haben wir auf eine breite Basis an Unterstützenden gesetzt. Es gab einen Dialog mit den Gewerkschaften, mit der Zivilgesellschaft. Im Kommunalen hängt sehr viel von den zwischenmenschlichen Beziehungen ab. Wir haben deshalb versucht, so viele Kreise wie möglich zu erreichen.

Wie hat sich das Leben der Xukuru in der Zeit Ihrer Anführerschaft verändert?

In den letzten 20 Jahren hat sich die Lebenssituation und -qualität der Xukuru deutlich verbessert. Davor waren viele in sklavenähnlichen Anstellungsverhältnissen in der Landwirtschaft tätig.

In welchen Berufen arbeiten die Xukuru heute?

Viele leben von traditionellen Formen der Landwirtschaft und Fischerei, vor allem in den indigenen Dörfern rund um Pesqueira, von denen es 24 gibt. Einige arbeiten mittlerweile auch in der Stadt, in Geschäften, Supermärkten oder Imbissen. Eine immer wichtigere Rolle spielen aber heute unsere indigenen Erziehungsstrukturen. Wir haben 37 Schulen für Xukuru Kinder, in denen 200 Lehrende arbeiten, die für etwa 3.000 Schulpflichtige zuständig sind. Diese Schulen werden von der Regierung des Bundesstaates Pernambuco finanziert. Da wir Xukuru leider unsere ursprüngliche Sprache verloren haben, ist der Unterricht ausschließlich auf Portugiesisch.

Wie sehen Sie die Rolle der Funai, der Nationalen Stiftung für Indigene, bei der Verteidigung indigener Rechte?

Die Funai ist ein notwendiges Übel. Man braucht eine Institution, die sich um die Territorien und die Anliegen der Indigenen kümmert. Das große Problem sind die dort Tätigen. Leider gibt es wenig Kontinuität und es finden sich dort Personen, die von Indigenen keine Ahnung haben und sich weder für uns interessieren, noch sich für unsere Belange einsetzen. Das Ziel der jetzigen Regierung ist es, die Funai zu schwächen.

Was haben die Xukuru in den letzten Jahrzehnten trotz dieser geringen staatlichen Unterstützung erreicht?

Vor allem seit den 1980er Jahren gibt es eine andauernde Bemühung um die Demarkation unseres Territoriums, in der mein Vater eine wichtige Rolle spielte. Es geht um die Rückeroberung physischer Orte. Seitdem haben wir viel erreicht. An die 50 Territorien konnten demarkiert werden.

Nach über 20 Jahren politischer Auseinandersetzung fühlen Sie sich heute als Indigener von Nicht-Indigenen als gleichwertig akzeptiert?

Es ist schwierig zu sagen, dass ich als Indigener schon als gleichwertig akzeptiert werde. Leider ist das Wissen über Indigene sehr gering, Vorurteile halten sich deshalb. Dies kann nur durch Bildung und das Erziehungssystem geändert werden. Zur Zeit wird der plurinationale Charakter Brasiliens nicht gelehrt. Wir als Indigene können über mehr Sichtbarkeit zu einer positiven Veränderung beitragen. Aber das ist noch ein langer Weg, den wir als Indigene und Brasilien vor uns haben.


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„WENN WIR NICHT AUFSCHREIEN, WIRD ES GENAUSO ABLAUFEN WIE GEPLANT“

Zu Wasser und zu Land Aktivist*innen wollen den Bau der industriellen Wasserstraße verhindern (Foto: Claudia Horn)

Um fünf Uhr im Morgengrauen legt das Boot von der Flussgemeinde Igarapé-Miri im brasilianischen Amazonasgebiet ab. Die Passagiere haben im Boot oder in der Gemeinde in Hängematten geschlafen. Nun treiben wir an den Anlegestellen der Häuser auf Stelzen und den Fischerbooten aus Holz vorbei, bis sich der Fluss verbreitert und die Sonne aufgeht. Im Boot riecht es nach Kaffee und Butter. Die Mitglieder der Karawane begrüßen und umarmen sich und warten auf die Morgenrunde, bei der die Tagesroute, Agenda und Aufgaben angekündigt, neue Mitglieder begrüßt und Lieder gesungen werden. Es ist Tag zwei der sechstägigen Karawane. Auf dem Tagesprogramm steht heute der Besuch von zwei weiteren Fischergemeinden entlang des Flusses Tocantins. Zusammen mit einem Videoteam teilen die etwa dreißig Aktivist*innen während der sechs Tage nicht nur den engen Raum auf dem Boot, sondern auch Erfahrungen und alltägliche Aufgaben wie Putzen, Kochen und die Vorbereitung der Versammlungen in den Gemeinden.

In jeder Gemeinde stellen sich die Aktivist*innen vor, berichten von dem Bauprojekt und hören die Gemeindemitglieder an. Beim ersten Halt im Dorf Itupanema versammeln sich nur wenige Anwohner*innen. Am Rande der Versammlung, vor dem Hintergrund des massiven Industriehafens Porto de Vila do Conde, erzählt einer der Koordinatoren der Karawane, Iury Paulino, von der Bewegung der von Staudämmen Betroffenen (MAB). „Die Karawane soll nicht nur die Situation anprangern, sondern auch die Betroffenen zusammenführen und ihnen eine reale Vorstellung von den Problemen vermitteln, welche die Wasserstraße mit sich bringen kann. Es geht um die Bildung einer Organisation, die den kollektiven Widerstand ermöglicht.“

Mit einer Länge von mehr als 2.000 Kilometern ist der Tocantins der zweitgrößte Fluss Brasiliens. Er beginnt im Bundestaat Goiás und durchquert die Amazonas-Bundesstaaten Tocantins und Maranhão, bis er bei Belém im Bundesstaat Pará ins Meer mündet. Das Tocantins-Araguaia-Becken, das zwischen dem Norden und dem Landeszentrum liegt und insgesamt 409 Gemeinden umfasst, ist das größte vollständig auf brasilianischem Gebiet liegende Flussbecken. Entlang des Flusses leben indigene und traditionelle Gemeinden sowie Quilombola-Gemeinden, die von entflohenen Sklaven gegründet wurden, dazu kommen Fischer*innen und Bauernfamilien. Zusammen bilden sie die lokale Wirtschaft. Ihr Lebensunterhalt hängt vom Fluss ab.

Von Barcarena bis Itupiranga Die Route der Karawane auf dem Fluss Tocantins in Pará (Grafik: Martin Schäfer)

Die geplante Wasserstraße ist Teil des so genannten Nordbogen-Korridors, der Eisenbahnstrecken, Autobahnen und Wasserwege in Brasiliens zentraler Sojaproduktionsregion miteinander verbindet. Vom Hafen Vila de Conde in Barcarena aus erreichen die Güter den Ozean und globale Märkte. Nach Angaben der Nationalen Agentur für Wassertransport werden hauptsächlich Kraftstoffe und Minerale, Sojabohnen und Mais befördert. Die geplanten Bauarbeiten am Tocantins zielen darauf ab, die Wasserstraße ganzjährig schiffbar zu machen. Dazu sollen die Flussabschnitte auf beiden Seiten des Stausees am Wasserkraftwerk Tucuruí im Bundestaat Pará auf einer Länge von insgesamt 212 Kilometern ausgebaggert werden, um Bodenmaterial, natürliche Sedimente und Felsen vom Grund des Gewässers zu entfernen, einschließlich der Sprengung von 35 Kilometern der Felsenformation Pedral do Lourenção.

Die Diskussionen über die Wasserstraße begannen bereits in den 1960er Jahren und wurden in den 1980er Jahren wieder aufgenommen. Das laufende Genehmigungsverfahren durch die brasilianische Umweltbehörde IBAMA verletzt die internationalen und nationalen Konventionen, die eine Beratung mit den betroffenen traditionellen Gemeinschaften genauso vorsehen, wie deren vorherige und informierte Zustimmung. Obwohl die Gemeinschaften nicht über ihre Rechte informiert wurden, ist eine Genehmigung der industriellen Wasserstraße in den nächsten Wochen zu erwarten. Dass es jetzt so schnell geht, liegt vor allem daran, dass die Bolsonaro-Regierung die Umweltregulierung in den letzten vier Jahren stark geschwächt hat.

Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung werden ignoriert

Carmen Foro, Leiterin der Karawane und Generalsekretärin der brasilianischen Gewerkschaftszentrale (CUT) ist selbst am Tocantins aufgewachsen. In der Flussgemeinde Paquetá erklärt sie einem großen Publikum aus Kindern und Erwachsenen, dass die Karawane die sozial-ökologischen Schäden der Wasserstraße aufzeigen soll. „Multinationalen Unternehmen verursachen große Schäden, aber machen sehr wenig für das lokale Leben. Sie versprechen Arbeitsplätze, Investitionen in Struktur und Bildung, ohne sie später einzulösen.“ Auf der Rückfahrt im Bus erinnert sich Carmen, dass bereits beim Bau des Tucuruí-Staudamms in den späten 1970er Jahren die Bedürfnisse von Fischer*innen, Bauernfamilien und Flussbewohner*innen ignoriert wurden. „Jahrelange Mobilisierung war notwendig, um Strom für die Gemeinden zu erreichen, während deren Fischereierträge bereits zurückgingen.“

Studien der Universität von Pará zeigen, dass die Wasserstraße zu einem noch größeren Verlust von Fischarten führen wird und auch Fischer*innen selbst sagen, dass der Bau den Fluss tötet, weil er zum Verlust der Wasserqualität, der biologischen Vielfalt, der Bodenfruchtbarkeit, der Fischereimöglichkeiten und damit der Lebensgrundlage der Gemeinden führt. Die industrielle Nutzung bringt außerdem Verschmutzung durch Pestizide und Industrieabfälle und droht Wälder und Kleinbäuerinnen und -bauern durch Monokulturen zu ersetzen.

In einer der Gemeinden am Rande des Tocantins spreche ich während des gemeinsamen Mittagessens mit Antonio Dias, Mitglied der Karawane von MAB und Direktor der Vereinigung der Flussanwohner*innen von Cametá. Antonio berichtet, dass die Bewohner*innen bereits seit 38 Jahren mit den negativen Auswirkungen des Tucuruí-Staudamms leben. „Wir haben allein über 40 Fischarten verloren.” Die Fischer*innen wissen um das Ausmaß dieser Einflüsse und trotzdem, so Dias, „ist die Wasserstraße für uns immer noch eine unbekannte Sache, ein Phantom.”

Schon bei unserem Gespräch in Barcarena machte Iury Paulinho vom MAB auf ein weiteres Problem des Staudamms aufmerksam. Die katastrophalen Dammbrüche von Brumadinho und Mariana haben gezeigt, dass es in Brasilien keine Sicherheitspolitik für die Strukturen dieser Staudämme und für die betroffenen Menschen gibt. Tausende von Menschen leben in gefährdeten Gebieten und es gibt keine Strategie, sie umzusiedeln oder zu retten. Ein Beispiel ist eine 300 Familien große Gemeinde in Marabá, die unterhalb des Rückhaltebeckens lebt. Im Falle eines Dammbruchs würden ihre Häuser innerhalb von drei Minuten überflutet. Paulinho erklärt: „Dort hörst du Berichte von Menschen, die gesehen haben, was in Mariana passiert ist und die nicht mehr schlafen können, sogar die Kinder.”

Das Projekt der Wasserstraße wird kaum in der Öffentlichkeit diskutiert, als hätte es geringe Auswirkungen auf die Gesellschaft. Am Rande einer Veranstaltung, auf dem Gras sitzend, berichtet Marcia De São de Martins von der Quilombola-Gemeinde Igarapé Preto in Baião, dass sich der Bau auch auf die Städte auswirke. „Wenn Landwirt*innen und Landarbeiter*innen nicht produzieren und essen können, ziehen sie in der Regel an den Stadtrand, wo prekäre Bedingungen und soziale Probleme, insbesondere für Frauen, vorherrschend sind.“

Die Karawane hat einen tiefen gesellschaftlichen Konflikt aufgezeigt, denn vorher wusste niemand, was die lokale Bevölkerung dachte. „Nun haben sich drei Interessengruppen gebildet”, erzählt Carmen Foro. Wochen nach der Karawane sitzen wir in ihrem Büro in Belém. „Die Karawane und deren Verbündete sind die, die das Projekt in Frage stellen, die Wasserstraße nicht wollen und über Alternativen nachdenken, um den Fluss nicht zu zerstören. Es gibt eine andere Gruppe, vor allem große Landwirte, die finanzielle Entschädigungen will und versucht, die traditionellen Gemeinden für sich zu gewinnen. Und die Gruppe der Bürgermeister*innen will Arbeitsplätze in den Städten schaffen und ihre Wiederwahl garantieren.“

Für Iury Paulinho sind die Entschädigungsversprechen eine Falle. „Ich sage immer, zeig’ mir einen Fall, wo sich die Bedingungen der Gemeinschaft erfüllt haben. Wenn es einen solchen Fall gibt, bin ich offen dafür, einen Vorschlag dieser Art zu diskutieren und zu akzeptieren.” Tatsächlich gibt es keine nationale Politik, die die Rechte der Betroffenen definiert. Die MAB definiert „betroffen” als finanzielle, kulturelle und soziale Frage. „Umsiedlung und Wiedergutmachung sind unterschiedliche Dinge. Eine Lehrerin, die in einer Gemeinde unterrichtet und aufgrund des Baus ihre Stelle verliert, wird nicht umgesiedelt, doch sie sollte entschädigt werden,” so Paulinho. Formal gelten in Pará nur indigene Völker als traditionelle Bevölkerung, das schließt die traditionellen Quilombola-Gemeinschaften und andere Flussbewohner*innen aus.

Die industrielle Wasserstraße tötet den Fluss

„Der Amazonas wurde und wird weiterhin ausgebeutet, genau wie im 14. Jahrhundert“, erklärt Carmen Foro, zurück in Belém. Die Protestbewegung richtet sich nicht gegen Entwicklung, sondern gegen die Ausbeutung der Region. Die CUT hat daher auch grundlegende Forderungen für Alternativen. Alle Gemeinden bis nach Barcarena sollen als Betroffene anerkannt werden. Außerdem fordert die CUT ein Programm, um die Auswirkungen von Infrastrukturprojekten zu verringern. Dieses sieht fünf Maßnahmen vor: Erstens die Regulierung der Landtitel der Quilombolas und der indigenen Bevölkerung am Flussufer. Zweitens die Verbesserung der lokalen Infrastruktur, der Straßen und Häfen. Drittens die Förderung der landwirtschaftlichen Produktion der traditionellen Gemeinden. Viertens ein Programm zur Wiederherstellung der Umwelt, des Flusses und der Auenwälder. Der fünfte Punkt betrifft die öffentlichen Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung, berufliche Qualifikation und Forschung. Kurzum, ein Programm für nachhaltige Entwicklung zum Wohle der lokalen Bevölkerung.

Die Aktivist*innen wollen eine Audienz beim Gouverneur und eine öffentliche Anhörung im brasilianischen Senat, um den Bau aufzuhalten und die Rechte der Bevölkerung zu verteidigen. Dieses Jahr sind Präsidentschaftswahlen, doch unabhängig von ihrem Ausgang spürt die Amazonasregion jederzeit, dass Großunternehmen das Sagen haben. Bei unserem Treffen in Belém sagt Carmen Foro: „Wenn wir nicht aufschreien, wird es genauso ablaufen wie geplant. Wenn wir aufschreien, ist es möglich, dass der Bau trotzdem stattfindet, aber wir werden versuchen, den Schaden zu begrenzen.” Es gibt bereits Erfolge. Bei der feierlichen Eröffnung der Fangsaison im März sprachen sich Fischer öffentlich gegen die Wasserstraße aus und zeigten das Banner „Nein zur Wasserstraße!” Foro erzählt dies mit Tränen in den Augen.

Die MAB ist sowohl in ländlichen als auch in städtischen Gebieten aktiv, doch erreicht die Bewegung nicht einmal einen von zehn der von Staudämmen betroffenen Menschen in Brasilien. Die Karawane hält Iury Paulinho von grundlegender Bedeutung für die Mobilisierung der Anwohner*innen, weil sie verschiedene Sektoren verbindet: Gewerkschaften, Quilombola-Bewegung und die Kirche. Auch Jandyra, die Menschenrechtsreferentin der CUT meint in ihrer Ansprache vor der Flussgemeinde von Paquetá: „Es ist kein einfacher Kampf, wie alle Kämpfe des brasilianischen Volkes, aber gerade dieser richtet sich gegen mächtige Interessen − die des Großkapitals, des Bergbaus und der Agrarindustrie. Der Aufbau einer wirklichen Einheit zwischen den betroffenen Gemeinden und sozialen Bewegungen ist daher in diesem Kampf grundlegend.”


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ABSURD IST ANSICHTSSACHE


Isabella Pereira, Pedro Ribeiro, Jonata Vieira in Três Tigres Tristes (Foto: © Cris Lyra)

Bewertung: 4/5

Mit der Corona-Pandemie kreativ umzugehen, fällt vielen Filmemacher*innen auch zwei Jahre nach ihrem Beginn nicht leicht. COVID wird im Kino weitgehend ignoriert, selbst Masken sind auf der großen Leinwand kaum zu sehen. Umso interessanter, wenn jemand den Mut hat, den Elefanten im Raum – also das Virus – nicht nur zu thematisieren, sondern sogar für sein Anliegen zu nutzen. Dem brasilianischen Filmemacher Gustavo Vinagre ist das mit seinem queeren Tagtraum Três Tigres Tristes (Drei traurige Tiger) gelungen und er hatte offensichtlich auch noch großen Spaß daran. Belohnt wurde er dafür auf der Berlinale 2022 mit dem Teddy Award für den besten queeren Spielfilm.

Gustavo Vinagre ist erst 35 Jahre alt, kann aber schon auf einen beeindruckenden cineastischen Output verweisen. Die meisten seiner zwölf Filme beschäftigen sich mit queerem Leben und Lifestyle in und um São Paulo. Auch Três Tigres Tristes spielt in der brasilianischen Megastadt. Seine Protagonist*innen sind Pedro, Jonata und Isabella, die einen Tag durch deren Außenbezirke streifen und dabei allerhand Alltägliches und Absurdes erleben. Was genau dabei normal ist und was nicht, bleibt dem Urteil der Zuschauer*innen überlassen – die Drei nehmen die Dinge meist gelassen und mit einer Prise Humor. Anders geht es vermutlich auch gar nicht, denn die Stadt und ganz Brasilien befinden sich mitten in einer Pandemie. Allerdings geht es hier nicht um das, wonach es aussieht. Denn die Virusinfektion im Film ist zwar nicht weniger tödlich als COVID-19, führt aber im Gegensatz dazu zu massivem Gedächtnisverlust. Und so muss sich Jonata jedes Mal neu am Empfang anmelden, wenn er das Gebäude seines (gleichaltrigen) Onkels Pedro betritt. Und Ghosting (Kontaktabbruch ohne Ankündigung) beim Daten bekommt eine ganz neue Dimension, wenn das Gegenüber sich gar nicht mehr erinnern kann, wer man eigentlich ist.

Neben dem eleganten Umgang mit dem Thema Corona spielt Três Tigres Tristes auch geschickt mit den Konzepten Normalität und Außenseitertum. Der Sexarbeiter Pedro, die Drag Queen Jonata und die trans* Frau Isabella leben nicht nur an der Peripherie der Großstadt, sondern auch der Gesellschaft. Doch sie halten zusammen und treffen bei ihrem Spaziergang auf Verbündete: eine Sammlerin, die mit ihren Objekten sprechen kann („Den Namen hat mir dein Rucksack verraten!“), ein haarloses Meerschweinchen, eine YouTuberin, die nach Models für ihr Makeup sucht. Heiße Eisen wie Diskriminierung, HIV (Jonata ist positiv) oder Einsamkeit im Alter packt Três Tigres Tristes dabei angenehm beiläufig an, ohne sie zu sehr zu problematisieren. Vinagre benutzt dafür oft (Galgen-)Humor, der auch mal ins Absurde rutschen kann – wenn es so etwas wie Absurdität überhaupt gibt in einer Welt, in der jede*r ein Päckchen zu tragen hat oder irgendeinen Spleen versteckt oder offen auslebt. Lange Zeit funktioniert der unterhaltsame Stadtspaziergang, der gar nicht so traurigen Drei so wirklich hervorragend. Erst gegen Ende übertreibt es der Film mit etwas zu ausgedehnt-freakigen Performances, die nicht unbedingt nötig gewesen wären. Dennoch ist Três Tigres Tristes ein vergnüglich-melancholischer Trip durch das queere São Paulo geworden, der Gelassenheit in harten Zeiten verströmt.


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