ALLE AUF DIE STRASSE

“Kampf um das Leben” Die Protestcamps haben eine lange Tradition im indigenen Widerstand (Fotos: Fabio Rodrigues Pozzebom, Agência Brasil)

„Während wir unsere Dörfer, unsere Territorien, unsere Gemeinden verlassen, sind wir Indigenen uns alle darüber im Klaren, dass Bolsonaro schlimmer ist als der Virus. Denn er ermordet nicht nur indigene Körper, er ermordet auch den Geist, das Gedächtnis und den Widerstand derjenigen, die es fortsetzen möchten, Leben über die Erde zu verbreiten“, sagte die Anthropologin und Kunstpädagogin Tai Kariri zu Beginn des Protestcamps „Kampf um das Leben“, das vom 22. August bis 2. September 2021 stattfand. Die Protestcamps in der Hauptstadt Brasília − in zwei Kilometern Entfernung von Kongress, Präsidentenpalast und Oberstem Gerichtshof − sind inzwischen eine 16-jährige Tradition des indigenen Widerstandes in Brasilien.

Die diesjährige Mobilisierung gegen den marco temporal, unter dem Motto „Unsere Geschichte begann nicht 1988“, wird von dem nationalen Zusammenschluss der indigenen Völker Brasiliens (Apib) in ihrem Ausmaß aber als historisch bezeichnet. Der Protest wird vom 7. bis zum 11. September mit dem Marsch der indigenen Frauen fortgesetzt und soll bis Ende 2021 als Dauerbesetzung bestehen – neben der Mobilisierung in den sozialen Netzwerken und den indigenen Territorien. Dabei versteht sich die indigene Bewegung als Teil der globalen Bewegung für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen und der brasilianischen Demokratiebewegung.

Der Prozess des Obersten Gerichtshofes (STF) über eine Stichtagsregelung für die Anerkennung indigener Territorien begann am 26. August. In der ersten Woche wurden mehr als 30 Organisationen und Institutionen zum marco temporal angehört, darunter auch Vertreter*innen der Agro-Industrie, der Großgrundbesitzer*innen sowie der Generalstaatsanwaltschaften. Insgesamt gibt es – 33 Jahre nach Inkrafttreten der Verfassung von 1988, die die juristische Anerkennung von indigenen Territorien ausdrücklich vorsieht – noch immer 300 offene Prozesse um indigenes Land. Wird die Stichtagsregelung zum Gesetz, droht tausenden von indigenen Gemeinschaften die Vertreibung aus dem Gebiet, das sie bewohnen oder das für sie große spirituelle oder kulturelle Bedeutung hat. Andere könnten voraussichtlich ihre legitimen Ansprüche auf ein bestimmtes Territorium niemals juristisch durchsetzen. Insofern wurde die Entscheidung des Richters und Berichterstatters des STF, Edson Fachin, gegen die Stichtagsregelung vom Marsch der indigenen Frauen am 9. September mit großer Freude und Erleichterung aufgenommen – auch wenn der Prozess damit noch nicht entschieden ist. Sonia Bone Guajajara, indigene Führungspersönlichkeit und eine der Koordinatorinnen von Apib, twitterte: „Der erste Sieg der indigenen Völker in diesem Gerichtsverfahren, das für das Schicksal der Indigenen in ganz Brasilien so entscheidend ist.“

Neben der indigenen Mobilisierung erlebt Brasilien eine Welle von Protesten auf der Straße. Präsident Bolsonaro hatte seine Anhänger*innen dazu aufgerufen, am 7. September, dem brasilianischen Unabhängigkeitstag, massenhaft an Demonstrationen für die Regierungspolitik teilzunehmen. Gewerkschaften, soziale Bewegungen und linke Parteien mobilisierten daraufhin zu Gegenprotesten, oft gemeinsam mit dem traditionellen „Grito dos excluídos“ (Aufschrei der Ausgegrenzten). In insgesamt 160 Städten fanden Kundgebungen und Demonstrationen statt, die die Absetzung Bolsonaros und Sozialprogramme forderten. Verschärft durch die Pandemie, bleibt die Anzahl der Arbeitslosen in Brasilien auf einer Rekordhöhe von fast 15 Millionen Menschen, während bereits 40 Millionen Brasilianer*innen an Hunger leiden und mindestens weitere 85 Millionen von Ernährungsunsicherheit bedroht sind. Obwohl viele Gegner*innen von Bolsonaro den Aufrufen folgten, blieb die Mobilisierung der Opposition hinter der der Anhänger*innen des Präsidenten zurück. So versammelten sich in São Paulo rund 250.000 Anhänger*innen von Bolsonaro – deutlich weniger als die angekündigten zwei bis drei Millionen, aber dennoch deutlich mehr als die der Opposition.

Bolsonaro selbst sprach am 7. September auf Kundgebungen in Brasília und São Paulo. Er forderte den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, Luiz Fux, ultimativ auf, einen der STF-Richter, Alexandre de Moraes, zu entfernen. Er kündigte außerdem an, keine weiteren juristischen Entscheidungen von Moraes zu akzeptieren. Seine Reden lösten ein kleines Erdbeben im politischen Establishment aus, da es sich überdeutlich um einen Versuch handelte, die Unabhängigkeit der Justiz zu beenden. Bolsonaro, der sich ebenso wie seine Söhne juristisch in mehreren Fällen verantworten muss, versucht in seiner Anhängerschaft einen Diskurs zu etablieren, in dem jede Einschränkung der Macht des Präsidenten als „undemokratisch“ kritisiert wird. Dies ist ihm bereits weitgehend gelungen und ließ sich an den Plakaten der Demonstrationen ebenso deutlich ablesen, wie die Forderung nach einer Machtübernahme des Militärs.

Mit den öffentlichen Angriffen gegen das STF scheint Bolsonaro jedoch eine Grenze überschritten zu haben: Mehrere Parteien, darunter die mit Bolsonaro verbündete PSDB und die 18 Parteien des demokratischen Bündnisses Direitas Já – Fórum pela Democracia, kündigten erstmals an, ein Amtsenthebungsverfahren zu prüfen und seine Gesetzesvorhaben im Parlament nicht mehr zu unterstützen. Inzwischen liegen mehr als 120 Anträge auf Amtsenthebungsverfahren von Bolsonaro im Kongress vor, die der Parlamentspräsident Arthur Lira bisher nicht auf die Tagesordnung setzte. Der drohende Entzug der Unterstützung muss so deutlich gewesen sein, dass Bolsonaro unmittelbar zurückruderte. Am 9. September veröffentlichte er einen Brief – dem Vernehmen nach von seinem Vorgänger Michel Temer diktiert – in dem er seine demokratischen Grundüberzeugungen beteuert. Ein sehr durchsichtiges Manöver, das unter anderem von seinem Vorbild Trump bekannt ist. Eine Fortsetzung seiner Attacken auf die Justiz wird erwartet.

OFFENSIVE GEGEN INDIGENE

Gegen den marco temporal Protest vor dem Bundesgerichtshof (Foto: Fabio Rodrigues-Pozzebom, Agência Brasil)

Das Gesetzesvorhaben marco temporal steht im Fokus der aktuellen Auseinandersetzungen zwischen der brasilianischen Regierung und den Interessenvertretungen der indigenen Völker. Dabei geht es um die Einführung einer Stichtagsregelung, nach der die juristische Anerkennung jedes indigenen Territoriums von dem Nachweis seiner Nutzung am 5. Oktober 1988, dem Tag der Verkündung der heute gültigen Verfassung Brasiliens, abhängen soll. Die indigene Gemeinschaft, die Anspruch auf ein bestimmtes Gebiet erhebt, müsse am Stichtag auf diesem Land gelebt, sich in einem gerichtlichen Streit um das Land oder in einem direkten Konflikt mit Eindringlingen befunden haben. Für die Indigenen ist klar: So sollen mit einem Handstreich 500 Jahre kolonialer Ausbeutung und Landraub legalisiert werden. Der nationale Zusammenschluss der indigenen Völker (APIB) sieht deshalb den marco temporal als verfassungswidrig an, da dieser die Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und die Gewalt, die Angehörige verschiedener indigener Gemeinschaften vor 1988 erlitten haben, als Grundlagen des neuen Gesetzes anerkennt. Darüber hinaus werde die Tatsache ignoriert, dass es bis zum Inkrafttreten der Verfassung von 1988 für Indigene gar keine rechtliche Grundlage gab, um eigenständig ihre Rechte vor Gericht einzufordern. Hinzu kommt, dass der Nachweis der Nutzung eines Gebiets am 5.Oktober 1988 für viele indigene Gemeinschaften schwierig ist. In ihrer besonderen Beziehung zu ihrem Territorium ist nicht nur das Land identitätsstiftend, auf dem sie tatsächlich leben, sondern auch Gebiete, die eine kulturelle und spirituelle Bedeutung haben, aber nicht bewohnt werden.

Bereits im Wahlkampf hatte Jair Bolsonaro erklärt, dass unter seiner Präsidentschaft für indigene Gemeinschaften kein Zentimeter Land zusätzlich als Schutzgebiet ausgewiesen („demarkiert“) werden würde. Dieses Ziel hat er bisher umgesetzt: Unter seiner Regierung sind die Demarkationen indigener Territorien auf Null zurückgegangen. Die ausstehende juristische Entscheidung zum marco temporal diente der Regierung und einem Teil der Justiz als Rechtfertigung für die Lähmung der Demarkationspolitik. Ohne die juristische Anerkennung ihrer Territorien droht den Menschen dort die Vertreibung aus ihrer traditionellen Heimat, die untrennbar mit ihrer Kultur und ihren Lebensgrundlagen verwoben ist. Die möglichen Zwangsräumungen würden zur Auslöschung vieler indigener Gemeinschaften führen.

Legislative greift indigene Territorien an

Dabei schwelt der juristische Streit um die Stichtagsregelung schon länger. 2009 hatte der Oberste Gerichtshof (STF) bereits einmal über den marco temporal entschieden, als das indigene Territorium Raposa Serra do Sol anerkannt wurde. Das 1,7 Millionen Hektar große Gebiet in der nördlichen Hälfte des Bundesstaates Roraima ist die Heimat der Macuxi. Es ist das größte Schutzgebiet Brasiliens und eines der größten der Welt. Das 2009 erlassene Urteil wurde einerseits mit großer Erleichterung aufgenommen. Denn das Gericht erkannte an, dass die rechtliche Absicherung der indigenen Gebiete ein nationales Gebot ist – auch aufgrund der historischen Schuld gegenüber den indigenen Völkern. Anderseits führte das Urteil in seiner Begründung auch die bewiesene Besiedlung des Gebiets im Jahre 1988 an, berief sich also auf den Stichtag. Dies löste seinerzeit Befürchtungen aus, dass in diesem eigentlich positiven Urteil eine Zeitbombe versteckt sei. 2013 entschied der Oberste Gerichtshof in einem weiteren Verfahren, dass das Urteil von 2009 über das Gebiet Raposa Serra do Sol nur für diesen konkreten Fall gelte. Seitdem steht ein Grundsatzurteil zur Stichtagsregelung aus. Offen blieb damals auch, inwieweit ein Gesetz, wie zum Beispiel die Gesetzesinitiative PL 490 im Jahr 2007, den marco temporal etablieren könne. Damit war klar, dass Brasiliens Agrobusiness und die Agrarlobby der ruralistas wegen der Stichtagsregelung wieder vor Gericht ziehen würden. Dies geschah nun Anfang September dieses Jahres mit der Enteignungsklage der Regierung des Bundesstaates von Santa Catarina gegen das indigene Volk der Xokleng in Bezug auf deren Territorium Birama-Laklãnõ. Dieser Prozess führte nicht nur zu Protesten der Indigenen, sondern auch zu einer großen Mobilisierung des Agrarbusiness, das einhellig für eine Stichtagsregelung eintritt.

Der aktuelle Versuch, den marco temporal zu etablieren, ist nicht der einzige Angriff auf die Rechte der indigenen Völker. So hat Bolsonaro im Jahr 2020 die Gesetzesinitiative PL 191 den beiden Kammern des Nationalkongresses zur Entscheidung vorgelegt, die Bergbau und Wasserkraft in indigenen Territorien erlauben soll. Dies ist tragischerweise nicht durch die Verfassung ausgeschlossen. Die Legalisierung und Regulierung des Bergbaus wird damit zu einer zentralen Frage für die Zukunft der indigenen Völker in Brasilien.

Auch hier ist zu befürchten, dass die Mehrheitsfraktionen der Landwirtschaftslobby und der Bergbaulobby sich durchsetzen könnten. 280 der insgesamt 513 Mitglieder der Abgeordnetenkammer des brasilianischen Nationalkongresses sind Mitglieder der sogenannten „Ruralistas“-Fraktion, also des parteiübergreifenden Zusammenschlusses der Landwirtschaftslobby, der Frente Parlamentar da Agropecuária (FPA). Laut Recherchen der Nichtregierungsorganisation De Olho nos Ruralistas ging die mehrmalige Vertagung der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes über die Stichtagsregelung auf den politischen Druck der FPA zurück. Die FPA verfolge damit das Ziel, zunächst in der Abgeordnetenkammer die Gesetzesinitiative PL 490/2007 durchzubringen. Dieser Gesetzentwurf soll maßgeblich Infrastrukturprojekte in indigenen Territorien gestatten, wenn es dem „relevanten öffentlichen Interesse des Bundes“ diene. Außerdem würde dieser Gesetzentwurf in der Praxis noch nicht abgeschlossene Demarkationsverfahren erheblich erschweren; die Anerkennung neuer Gebiete wäre praktisch unmöglich und darüber hinaus könnten sogar bereits bestehende Demarkationen rückgängig gemacht werden. Auch könnte mit indigenen Gruppen in freiwilliger Isolation leichter ein Kontakt erzwungen werden, was für diese Gemeinschaften lebensbedrohlich ist. Falls dieser Gesetzentwurf in Kraft tritt, wird sich die Lage der indigenen Völker Brasiliens weiter zuspitzen, Landraub und Konflikte sowie Entwaldung und Brandrodung werden zunehmen. Am 23. Juni dieses Jahres war der Gesetzesentwurf PL 490/2007 im zuständigen Ausschuss des brasilianischen Abgeordnetenhauses verabschiedet worden und muss nun im Parlamentsplenum beschlossen werden, bevor es dem Senat zur Entscheidung vorgelegt wird. Bereits im Juni hatten fast 1.000 indigene Repräsentant*innen vor dem Kongress in Brasília protestiert und die Gefahr von Landraub durch das Gesetz 490 sowie den darin ebenfalls enthaltenen Passus zum marco temporal wütend kritisiert.

Stichtagsregelung marco temporal

Weitere Gesetzesinitiativen sind zwei auch als „Landraubgesetze“ (PL da grilagem) bekannte Gesetzesvorhaben: eines im Nationalkongress (PL2633/2020), das andere im Senat (PL 510/2021), die beide unter anderem die illegale Aneignung von Land nachträglich legalisieren sollen.

Eine weitere zentrale Konfliktlinie ist die Zustimmung Brasiliens zur Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz indigener Völker. Die Frente Parlamentar da Agropecuária hat am 12. August dieses Jahres ein Dokument veröffentlicht, in der sie den Austritt aus der ILO 169 fordert. Dort argumentiert das Agrobusiness, die ILO 169 beschneide Brasilien in den „Befugnissen zur Gesetzgebung, Verwaltung, Ausarbeitung und Bewertung nationaler und regionaler Entwicklungspläne und -programme, zum Bau von Straßen, Wasserkraftwerken und anderen Infrastrukturmaßnahmen – kurzum, zu souveränen Entscheidungen über das, was für den Fortschritt und die Entwicklung des Landes am nötigsten“ sei. Daher fordert die FPA, dass Brasilien zum nächstmöglichen Zeitpunkt aus der ILO 169 austreten solle. Nach den Regularien der ILO kann dies alle zehn Jahre geschehen. Da Brasilien die ILO-Konvention 169 im Jahr 2002 unterzeichnet hat, könne dieser Schritt bis zum 5. September 2022 vollzogen werden, so die Agrarlobby. Dies deckt sich mit Bolsonaros Vorstellungen. Denn auch er hatte bereits kurz nach seinem Amtsantritt geäußert, der Austritt Brasiliens aus der ILO 169 sei dringend notwendig, um die Entwicklung des Landes nicht weiter zu behindern. Ein Austritt Brasiliens aus der ILO 169 würde dem Trend hierzulande entgegenlaufen: Deutschland hat 2021 nach jahrzehntelanger zivilgesellschaftlicher Kampagne die ILO 169 endlich ratifiziert. Diese Ratifizierung sollte auch ein internationales Signal der Unterstützung der ILO 169 sein.
Brasilien ist für Deutschland der einzige sogenannte „strategische Partner“ in Südamerika und im Spätherbst stehen erneut hochrangige Regierungskonsultationen beider Partner-Länder an. Es bleibt zu hoffen, dass bei den Konsultationen jenseits von Dialog und gegenseitiger Partnerschafts-Beteuerung endlich auch einmal klare rote Linien gezogen werden: Ein drohender Austritt Brasiliens aus der ILO 169 sollte so eine rote Linie sein.

Die aktuellen Konflikte zeigen, dass der brasilianische Präsident jenseits aller rechtsradikalen Skurrilität eine konsistente Agenda verfolgt: Die Kampagne gegen die Rechte indigener Völker und traditioneller Gemeinschaften war bereits im Wahlkampf ein zentrales Thema Bolsonaros. Und die aktuelle Offensive geschieht mit der expliziten Unterstützung des mächtigen Agrobusiness und dessen massiver Präsenz im Parlament. Eine Kooperation mit dieser Regierung wird immer problematischer und unverständlicher.

RECHTER KULTURKAMPF

Am 11. Juni kündigte der Präsident der Fundação Cultural Palmares, Sérgio Camargo, an, rund 9.000 Werke aus Literatur und politischer Theorie aus dem Archiv der Einrichtung zu entfernen. Laut einer internen Analyse der staatlichen Stiftung zur Förderung der afrobrasilianischen Kultur seien nur fünf Prozent aller Titel konform mit dem institutionellen Auftrag. Unter den beanstandeten Publikationen gehören viele zum brasilianischen Bildungskanon, wie die des afrobra-*silianischen Schriftstellers Machado de Assis (1839-1908) oder des Anthropologen und Folkloreforschers Luís da Câmara Cascudo (1898-1986). Auch international Anerkanntes, zum Beispiel Werke von H. G. Wells, der Frankfurter Schule und alle Bücher von oder über Karl Marx, sollten aussortiert werden.

In der Analyse namens Darstellung der Sammlung – drei Jahrzehnte der marxistischen Vorherrschaft in der Stiftung Fundação Cultural Palmares hat das Institut 14 Kategorien angewandt, um den „kulturellen Marxismus“ zu beenden. Sie lesen sich wie das ABC der Kampagnen der Neuen Rechten: „Sexualisierung von Kindern“, „jugendliche Straftäter“, „Techniken der Viktimisierung“, „obsolete Werke“.

Inzwischen hat das zuständige Gericht in Rio de Janeiro der Stiftung untersagt, die indizierten Werke aus dem Archiv auszuschließen. Der Vorgang ist dennoch höchst relevant, weil er der jüngste Versuch der brasilianischen Neuen Rechten ist, die Freiheit von Forschung, Bildung, Kunst und Meinungsäußerung zu beschränken. Mit der Verschwörungstheorie hinter dem Kampfbegriff „kultureller Marxismus“ werden erfolgreich ideologische Umdeutungen in der Öffentlichkeit verbreitet. Im Kern geht es darum, Begriffe wie Vaterland, Familie oder Erziehung in ihrer konservativen Deutung als „unideologisch“ und „natürlich“ zu definieren, während andere Definitionen als „ideologisch“ gebrandmarkt werden, zum Beispiel als „Gender-Ideologie“.

Die Diktatur darf in Schulbüchern nicht mehr Diktatur heißen

Unter Präsident Jair Bolsonaro werden staatliche Mittel so umgeleitet, dass dieser Diskurs unterstützt wird. Das betrifft nicht nur die finanziell ausgebluteten Umweltbehörden, was erheblich zu den gestiegenen Waldrodungen beiträgt, sondern auch Universitäten und (Schulbuch-)Verlage. Welche Verschiebung dort gerade stattfindet, lässt sich an der Weisung des Bildungsministeriums ablesen, nach der die brasilianische Militärdiktatur in den Geschichtsbüchern nicht mehr als Diktatur bezeichnet werden darf (siehe Artikel auf der nächsten Seite).

Eine der ersten erfolgreichen Kampagnen der Neuen Rechten ist die escola sem partido, in etwa „Schule ohne Partei(nahme)“. 2004 gegründet vertritt sie angeblich Eltern und Schüler*innen, die sich gegen die „ideologische Indoktrinierung“ der Linken in den Schulen wehren. Im Fokus der Kritik steht immer wieder der international anerkannte brasilianische Pädagoge Paulo Freire (siehe Artikel auf Seite 53), dessen egalitäre Pädagogik schon 1964 von der Militärdiktatur geächtet wurde. Heute wird er von offiziellen Amtsträgern, wie Bolsonaro und seinen Bildungsministern, diffamiert.

Auch wenn die „kritische Öffentlichkeit“ und die Justiz in vielen Fällen Angriffe abwehren konnten, sind Aktionen gegen einzelne Kunstwerke oder Veröffentlichungen weiter zu erwarten.

KUNSTSCHAFFENDE ALS ERKLÄRTE FEINDE

Nicht mehr für den Unterricht Bücher über Schwarzen Widerstand während der Kolonialzeit (Foto: Bahoe Books)

Als der brasilianische Präsident und Pandemieleugner Jair Bolsonaro im Juni 2020 dazu aufrief, Krankenhäuser zu stürmen, die Covid-Patienten behandelten, erschien im Blog des Journalisten Ricardo Noblat eine Karikatur des Zeichners Renato Aroeira. Diese zeigte Bolsonaro mit Farbtopf und Pinsel in der Hand, mit denen er das Rote Kreuz – als Symbol für medizinische Hilfe – zum Hakenkreuz verändert hatte. Nach der Veröffentlichung leitete das Justizministerium ein Ermittlungsverfahren gegen Zeichner und Blogbetreiber wegen Verleumdung des Präsidenten ein – in Brasilien kann das bis zu vier Jahre Gefängnis bedeuten. Medienschaffende und Intellektuelle reagierten empört: Unter dem Hashtag #somostodosaroeira (#wirsindallearoeira) wurden Hunderte von Zeichner*innen aktiv.

Unter ihnen war auch Carol Ito, die in ihrem Beitrag den Hashtag-Slogan um die weibliche Endung von „alle“ ergänzte: „Somos todos – e todas! – Aroeira“. Ito ist Journalistin und Cartoonistin, Autorin des Comicstrips Quarentiras und betreibt den Cartoon-Blog Salsicha em Conserva, dabei engagiert sie sich für die Sichtbarkeit von Frauen und trans Personen. Ihre Kritik geht daher über die Kampagne hinaus. Im Gespräch mit LN sagte sie dazu: „Es kommt nicht von ungefähr, dass der Diskurs über die freie Meinungsäußerung zumeist von weißen Männern geführt wird – die sich nämlich befähigt fühlen, über alles zu sprechen und zu urteilen.“ Frauen nähmen sich noch viel zu selten diesen Raum und von ihnen würden auch eher „weibliche“ Themen erwartet. Um dies aufzubrechen, gründete Carol Ito 2017 mit einigen Mitstreiter*innen im Web Políticas, eine Plattform für politische Karikaturen aus der Feder von Frauen. Das Echo war jedoch bescheidener als erwartet.

Die Hetze gegen Künstler*innen schätzt sie so ein: „Frauen werden weniger eine Zielscheibe von Repressionen oder Zensur, sie werden gar nicht erst groß beachtet.“ Sie selbst sei noch nicht öffentlich angegriffen worden, was aber wenig verwunderlich sei, denn wie so viele Frauen publiziere sie vorwiegend selbst „im Web, wo einen die Leserschaft aufsucht und meist derselben Meinung ist.“

Kritische Kunst erfährt Zensur

Dennoch sei heute die Angst der Kolleg*innen, einen Prozess angehängt zu bekommen, real, so Ito. Es gäbe Gewalt, doch nicht die Attacke auf konkrete Künstler*innen sei dabei das Hauptziel, sondern durch moralische Feldzüge gegen diese die eigene Anhängerschaft zu bedienen oder auszuweiten. Beispielsweise sei mit der Kampagne „Escola sem Partido“ (Schule ohne Partei) eine Linie vorgegeben worden, die es verbiete, im Unterricht Diversität zu thematisieren: „Wir erleben eine diskursive Verdrehung, wenn es heißt, die Schwulen respektieren die Familie nicht.“ Dass „Kunstschaffende zum erklärten Feind gemacht“ werden, ist ihrer Ansicht nach symptomatisch für die Polarisierung der brasilianischen Gesellschaft.

Rogério de Campos von Veneta, einem Independent-Verlag aus São Paulo, thematisiert eine andere ideologische Kampagne der Rechten: „Bolsonaro lässt aus den Lehrbüchern für Geschichte das Wort Diktatur streichen“. Als Verleger kritischer Werke kennt de Campos die Folgen. Kulturelle Angebote seien in Brasilien ohnehin Luxus, der Buchmarkt nicht gerade stark, doch „in Brasilien ist der Staat ein wichtiger Abnehmer für die Verlage, er kauft ihre Bücher, so sie als didaktisch wertvoll erachtet werden, für Schulen und Bibliotheken.“ Es sei großartig gewesen, dass die 2014 und 2017 erschienenen Bücher des Autors Marcelo D’Salete über Schwarzen Widerstand während der Kolonialzeit, Cumbe und Angola Janga, für den Geschichtsunterricht angeschafft worden seien. Heute aber könne jeder Titel Probleme bringen, der auch nur den Anschein hat, nicht mit der Linie Bolsonaros konform zu sein, und zwar lange, bevor diese gesetzlich vorgegeben oder institutionell durchgesetzt sei: „Die Drohgebärden, die aggressiven Ansagen reichen aus und die Menschen trauen sich nichts mehr“.

Zu Verfechter*innen der öffentlichen Moral zwischen zwei Buchdeckeln würden auch Einzelpersonen, berichtet der Verleger weiter. So verhinderten etwa besonders verantwortungsbewusste Bibliothekar*innen oder Buchhändler*innen, dass Bücher an ihr Ziel fänden, ebenso im Vertrieb arbeitende Anhänger*innen evangelikaler Kirchen. Im Fall von Veneta war es der beauftragte Logistiker, der im Januar 2020 den Transport von Belegexemplaren an den Lizenzgeber in Frankreich verweigerte, wegen „nicht erlaubten Inhalts“ – auf dem Cover war eine Frau abgebildet, die ihre Bluse öffnet, die Brustwarzen sichtbar.

Verbote steigern die Auflage

Jede solcher restriktiven Aktionen bringe jedoch auch medialen Wirbel und damit die Chance, sich in der Debatte zu positionieren, so de Campos. Sehr viel mediale Beachtung erhielt zum Beispiel der Marvel-Comic Avengers: Der Kreuzzug der Kinder. In einem Panel werden zwei sich küssende Männer gezeigt. 2019 ließ der Bürgermeister von Rio de Janeiro, Marcelo Crivella, während der Buchmesse Bienal do Livro do Rio eigenmächtig die Bände der Neuauflage von den Messetischen entfernen. Er begründete dies mit moralischen Bedenken, falls das unversiegelte Buch Minderjährigen in die Hände falle. Es folgte eine gerichtliche Auseinandersetzung, begleitet von einer hitzigen öffentlichen Diskussion, mit dem Ergebnis, dass ein Bürgermeister zu so etwas nicht befugt ist, selbst bei jugendgefährdendem Inhalt. Der positive Nebeneffekt: Die Auflage war im Nu vergriffen. Von etlichen Fällen, gerade von Selbstzensur aus Angst vor Rufmord und Repressalien, dringt jedoch gar nicht erst etwas nach außen.

Die Debatte lässt sich nutzen

Im Fall des Ermittlungsverfahrens gegen Renato Aroeira ging der Zensurversuch nach hinten los: Gemeinsam mit mehr als 100 Zeichner*innen der Solidaritätskampagne erhielt Aroreira Ende 2020 den Vladimir-Herzog-Sonderpreis für Journalismus für Menschenrechte. Eine Auszeichnung, die in Brasilien sehr wichtig ist, so Paulo Ramos, Comicforscher an der Universidade Federal de São Paulo. Sie war verknüpft mit einem „Dialog verschiedener Sektoren der Gesellschaft“, weit über die Künstlerszene hinaus. Und dieser breiten „kollektiven Reaktion auf einen klaren Versuch von Zensur und Einschüchterung folgten weitere“, schildert Ramos, dessen Buch über Zensur von Comics und Cartoons in Brasilien bald erscheint. So hätten sich viele Anwält*innen bereit erklärt, sich kostenfrei für Opfer von Einschüchterungsversuchen durch die Regierung einzusetzen.

Denn es mangelt nicht an Fällen von Zensur: Das Observatório de Censura à Arte (Beobachtungsstelle zur Zensur von Kunst) stellte seit 2017 in Brasilien rund 60 Fälle von – nicht nur durch die Regierung – zensierter Kunst fest. Dort werden jedoch nicht alle Angriffe auf die Meinungsfreiheit registriert. So fehlt zum Beispiel der Fall der in der Zeitung Folha de São Paulo erschienenen Cartoons, in denen ein von der Polizei verübtes Massaker an Teilnehmenden einer öffentlichen Funk-Party in einer Favela kritisiert wurde. Im September 2019 wurden vier der Cartoonist*innen, u.a. Alberto Benett, dafür abgemahnt.

Für Renato Aroeira und den Blogbetreiber Ricardo Noblat ging es am Ende gut aus – im März dieses Jahres wurde das Verfahren eingestellt. Auch dazu stellt Comicforscher Ramos fest: „Der Inhalt des Zensierten bekommt mit einem Mal eine viel größere Reichweite. Und es gibt inzwischen die kollektive Wahrnehmung, dass wir in Zeiten einer echten Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats leben. Seit Jahrzehnten habe ich in diesem Land nicht mehr so viele Autoren gesehen, die sich äußern wollen, sei es in Zeitungen oder in sozialen Netzwerken.“

„ZURÜCK IN EINE GRAUENHAFTE ZEIT“

Bruno Langeani ist Jurist und Experte für öffentliche Sicherheit und Gewaltprävention. Seit 2012 arbeitet er als Projektleiter für die NGO Instituto Sou da Paz mit Sitz in São Paulo zu den Themen öffentliche Sicherheit und Gewaltprävention.
(Foto: Gabriel Mayor)


Am 12. Februar veröffentlichte die brasilianische Regierung vier neue Dekrete zur Waffengesetz­gebung – welche sind die wichtigsten Neuerungen?
Die Erlasse des Präsidenten vereinfachen sowohl den Kauf als auch das Tragen von Waffen. Nach der Gesetzgebung von 2003 dürfen nur Angehörige der Polizei oder des Militärs Waffen tragen, Bürger erhalten dieses Recht nur in Ausnahmefällen, die sie begründen müssen. Mit den neuen Dekreten kehrt Bolsonaro diese Logik um. Jetzt muss die Polizei begründen, warum sie den Bürger*innen das Tragen einer Waffe nicht erlaubt. Sportschützen können jetzt 60 Waffen besitzen, vorher waren es 16. Und auch der Besitz von automatischen Waffen ist jetzt zulässig. Nach Bolsonaros Dekreten gilt ein Waffenschein nicht mehr nur für eine bestimmte, sondern für jede Handfeuerwaffe, die eine Person besitzt und auch die örtliche Begrenzung ist aufgehoben. Mit den jüngsten Änderungen ist ein Waffenschein in ganz Brasilien gültig. Zuvor war außerdem für Gruppen, wie Sportschützen, eindeutig geregelt, dass sie ihre Waffe nur auf direktem Weg von ihrem Zuhause zum Ort der Benutzung mit sich führen dürfen. Das ist jetzt nicht mehr klar geregelt. Zwischen den Zeilen erlaubt Bolsonaro mit dem Erlass das ständige Tragen einer Waffe. Da das offensichtlich der bestehenden Gesetzgebung widerspricht, steht das so ausdrücklich natürlich nirgendwo.

Viele fürchten auch den zukünftig möglichen Einsatz von „Phantom-Munition“ (munição fantasma). Was hat es damit auf sich?
Bisher registrierte das Militär die Hersteller, Verkäufer und Käufer von Munition sowie die Maschinen zur Herstellung. Munition aus Fabriken erhält einen Code, eine Chargennnummer. So hat der Staat eine gewisse Kontrolle über Produkte, die vor allem im kriminellen Milieu benutzt werden, und es besteht die Möglichkeit der Rückverfolgung. Erlaubt man jedoch die private Herstellung von Munition, hat der Staat keinerlei Information über Hersteller, Verkäufer und Käufer oder die produzierte Menge.

Wer profitiert davon, wenn der Staat hier den Überblick verliert?
Das organisierte Verbrechen und Kriminelle im Allgemeinen. Zum einen, weil bei den endlosen Schusswechseln – wie zum Beispiel in Rio de Janeiro zwischen Drogenkartellen, Polizei und Milizen – die Versorgung mit Munition zukünftig möglich sein wird, ohne weite Lieferwege zurückzulegen. Bei diesen besteht immer das Risiko, von der Polizei gefasst zu werden. Man muss Munition nicht mehr von São Paulo nach Rio de Janeiro transportieren, sondern produziert einfach dort, wo die Munition auch zum Einsatz kommt. Zum anderen führt nicht-registrierte Munition dazu, dass Verbrechen noch seltener aufgeklärt werden können. Das ist bereits ein großes Problem in Brasilien. Man verwandelt einen möglichen Beweis für die Verbrechensaufklärung in etwas, das keine Spuren mehr liefert, weil die Munition schon illegal und ohne Kontrolle hergestellt wurde. Kriminelle profitieren auch von der gestiegenen Anzahl an Waffen, die eine einzelne Person nun besitzen darf. Eine Person wird rekrutiert und erhält die Erlaubnis, 60 Waffen zu kaufen, die sie danach verteilt. Das wird zu einem Riesenproblem für die öffentliche Sicherheit.

Zwischen 2019 und 2020 ist die Zahl der Sportschützenvereine von 151 auf 1.345 gestiegen. Im vergangenen Jahr wurden rund 180.000 neue Waffen in Brasilien registriert, ein Anstieg von über 90 Prozent zu 2019. Wie erklären Sie sich das?
Besonders auffällig war der Anstieg der Registrierung von Waffen für Zivilisten, die beispielsweise im Schießsport, als Waffensammler oder in der Jagd aktiv sind. Diese Gruppe von Waffenbesitzern ist in Brasilien historisch gesehen immer sehr klein gewesen. Bei uns gibt es im Gegensatz zu anderen Ländern keine ausgeprägte Jagdtradition, nur bestimmte invasive Arten dürfen überhaupt gejagt werden. Da für diese Gruppe die Möglichkeit des Waffenbesitzes aber immer weiter gelockert wurde, wuchs sie sprunghaft an. Inzwischen zählen ungefähr 400.000 Waffenbesitzer zu dieser Gruppe. Die privaten Waffenkäufe nahmen auch in allen anderen Gruppen zu, zum Beispiel bei Personen, die Polizei und Feuerwehr angehören und die vor allem im Norden Brasiliens, aber auch in Rio de Janeiro, einen Großteil der Milizen stellen.

Lassen sich bereits Folgen dieser Entwicklungen erkennen?
Es gibt konkrete Zahlen, dass häusliche Gewalt gegen Frauen gestiegen ist. Da mehr Menschen erlaubt wurde, zu Hause eine Waffe zu lagern, sehen wir hier einen Zusammenhang. Aber diese Entwicklungen sind sehr neu und müssen noch genauer analysiert werden. Gewalt ist ein multikausales Phänomen.
Auffällig ist allerdings, dass die Mordrate in Brasilien während der Pandemie gestiegen ist, obwohl es weniger gewöhnliche Verbrechen, wie Diebstähle und Raubüberfälle, gab. Liegt das daran, dass die Polizei während der Pandemie anderen Aufgaben nachgehen musste? Diese und andere Entwicklungen müssen wir erst genau untersuchen, um zu verstehen, wie es dazu kommt.

Präsident Bolsonaro versprach in seiner Wahlkampagne, dass er die öffentliche Sicherheit in Brasilien verbessern wolle. Wie unterscheidet sich die Politik seiner Regierung von der seiner Vorgänger*innen?
Während der Regierungen von Lula da Silva, Dilma Rousseff und Michel Temer gab es ein gutes Waffengesetz und es haperte an der Umsetzung. Unter Lula passierte viel im Bereich der Gewaltprävention und unter Temer wurde das Einheitliche System für die Öffentliche Sicherheit (Lei da SUSP) geschaffen. Was wir jetzt erleben, ist die Zerstörung eines an sich guten Gesetzes. Was den Bereich der öffentlichen Sicherheit angeht, hat die Regierung Bolsonaro keine Projekte auf den Weg gebracht. Es gibt mit „Vorwärts Brasilien” ein kleines Projekt zur Verringerung der Mordrate in fünf Städten, in denen zusammengenommen drei Prozent der Morde in Brasilien passieren. Nach zwei Jahren befindet sich dieses Projekt immer noch in der Pilotphase. Es gibt diesen Diskurs, dass man hart vorgehen wolle, aber umgesetzt wird nichts. Um wenigstens einen positiven Punkt zu benennen: Bolsonaro hat die personellen Kapazitäten der Bundes- und Verkehrspolizei aufgestockt. Das war dringend nötig.

Welchen Einfluss hat die Liberalisierung des Waffengesetzes unter Bolsonaro auf die Land­konflikte?
Auf dem Land ist es noch schlimmer. Die einzige Änderung, die Bolsonaro bisher durch das Parlament gebracht hat, die also per Gesetz und nicht nur per Dekret festgehalten wurde, besteht darin, dass Landbesitzer ihre Waffe jetzt auf ihrem gesamten Grundstück mit sich führen dürfen und nicht mehr nur in ihrem Haus. Bereits in der Vergangenheit war die Zahl der Ermordungen im Zusammenhang mit Landkonflikten sehr hoch. Jetzt wird es nun noch einfacher: Die Großgrundbesitzer und ihre Angestellten müssen ihre Waffen nicht einmal mehr verstecken.

Eine Umfrage von Datafolha aus dem Jahr 2019 zeigt, dass zwei Drittel der Brasilianer*innen gegen die Liberalisierung des Waffengesetzes sind. Außerdem ist die Zustimmung für den Präsidenten zwischen Oktober 2020 und Februar 2021 von 41 Prozent auf 33 Prozent gesunken. Warum weicht Bolsonaro ausgerechnet jetzt die Waffengesetzgebung weiter auf?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen zieht sich die Regierung Bolsonaros immer in ihren Komfortbereich zurück, wenn sie in der öffentlichen Meinung schlecht dasteht. So kann sie ihre Basis aktivieren, die zumindest in den sozialen Medien sehr laut ist. Zum anderen ist der Präsident ein großer Waffenfanatiker. Anfangs begründete Bolsonaro seine Absicht, den Zugang der Bevölkerung zu Waffen zu erleichtern, mit dem Argument, dass die Bevölkerung sich gegen die vielen Kriminellen und die starke Gewalt verteidigen müsste. Seit der Veröffentlichung des Videos der Ministerkonferenz im April 2019 ist klar, dass Bolsonaro andere Absichten verfolgt, die er seither auch immer deutlicher öffentlich ausspricht: Er will die Bevölkerung bewaffnen, damit sie seine persönlichen Feinde angreifen. Seine Rhetorik ist der von Donald Trump sehr ähnlich. In Brasilien verbietet es die Verfassung, bewaffnet an Demonstrationen teilzunehmen. Aber am Ende ist es das, was Bolsonaro will – eine bewaffnete Bevölkerung, die auf die Straße geht. Weltweit war er einer der wenigen Staatschefs, die den Sturm auf das Kapitol in den USA nicht verurteilt haben. Er sprach sogar davon, dass es sein kann, dass in Brasilien bei den nächsten Präsidentschaftswahlen das Gleiche passieren wird.

Wollen Sie damit andeuten, dass Präsident Bolsonaro mit der Lockerung der Waffengesetz­gebung bereits jetzt seinen Machterhalt nach 2022 vorbereitet?
Wir denken, er verfolgt aktuell das Ziel, eine Basis aus Unterstützern aufzubauen, die bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im Falle einer Niederlage für große Instabilität sorgt, während er gleichzeitig von Wahlbetrug spricht. Bolsonaro hat das bereits öffentlich verkündet. Die Strategie besteht darin, vier Jahre lang den Wahlprozess zu delegitimieren und gleichzeitig diese bewaffnete Basis von Unterstützern aufzubauen. Das ist Teil eines autoritären Projekts, das Brasiliens Demokratie gefährdet. Deshalb brauchen wir jetzt eine institutionelle Vollbremsung durch den Obersten Gerichtshof, wo aktuell gleich mehrere Verfahren laufen. Die Chancen, dass es zu so einer Vollbremsung kommt, sind nicht gering, denn die Regierung versucht per Dekret die Gesetzgebung zu verändern und übersteigt damit ihre Kompetenzen. In seinen ersten zwei Jahren im Amt hat Bolsonaro die Waffengesetzgebung bereits mit mehr als 30 Bestimmungen gelockert. Er wird damit in den nächsten zwei Jahren weitermachen, wenn das niemand verhindert. In den 1990er-Jahren ist die Mordrate explodiert, nachdem das das Kaufen und Tragen von Waffen erleichtert wurde. Wir brauchen also keine großen Prognosen – wir befinden uns bereits auf dem Weg zurück in eine grauenhafte Zeit.

MIT „BUM BUM TAM TAM“ FÜR DIE IMPFUNG

Fast keine Impfstoffe bestellt Impfung in Manaus Ende Januar 2021 (Foto: Valdo Leão / Semcom, Fotos Públicas, CC BY-NC 2.0)

Am 1. Januar jährte sich der Amtsantritt von Brasiliens rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro zum zweiten Mal. Seine Bilanz ist katastrophal: Mit fast neun Millionen COVID-19-Infizierten steht Brasilien direkt hinter den USA und Indien an dritter Stelle in der weltweiten Rangliste. Trotz eines vergleichsweise guten öffentlichen Gesundheitssystems starben bis Ende Januar nach offiziellen Zahlen rund 220.000 Menschen an dem Virus. Die hohen Infektionszahlen der ersten Welle der Pandemie im August 2020 sind in Brasilien längst wieder erreicht. In fast allen Bundesstaaten steigt die Zahl der Infizierten und Toten steil an. Gleichzeitig sind die Betten in den Intensivstatio­nen in den meisten Bundesstaaten zu fast 100 Prozent ausgelastet. Auf die Planung einer Impfkampagne für die mehr als 210 Millionen Brasilianer*innen verzichteten Bolsonaro und sein Gesundheitsminister General Eduardo Pazuello bisher, auch auf dem internationalen Markt wurden keine Impfstoffe bestellt.

Doch die Regierung Bolsonaro versagt nicht nur bei der Bekämpfung der Pandemie, sondern auch bei der ihrer Folgen. 13 Millionen Menschen leiden Hunger, 14 Millionen sind arbeitslos, die Anzahl der informell Beschäftigten ist auf fast 50 Prozent aller Erwerbstätigen gestiegen. Die Steuereinnahmen sanken 2020 um 6,9 Prozent – und erreichten damit den niedrigsten Wert in zehn Jahren. Der neoliberale Wirtschaftsminister Paulo Guedes bewertete dies als „milden“ Rückgang und „angesichts der Pandemie exzellentes Ergebnis“. Inmitten all dieser Notwendigkeiten staatlichen Handelns bekräftigte Bolsonaro am 26. Januar noch einmal, dass die Deckelung der staatlichen Ausgaben nach dem seit 2016 gültigen Verfassungszusatz Nr. 95 unbedingt einzuhalten sei.

62 Anträge auf Amtsenthebung

Es ist also nicht verwunderlich, dass inzwischen 62 Anträge auf Amtsenthebung von Präsident Bolsonaro gestellt worden sind. Rodrigo Maia, bis Ende Januar Präsident der Abgeordnetenkammer, behandelte diese bisher nicht im Parlament, da man „nicht gleichzeitig eine Pandemie bekämpfen und den Präsidenten absetzen“ könne. Es ist zu befürchten, dass sich bei der Neuwahl der Präsident*innen beider Parlamentskammern zumindest einer der beiden Kandidaten von Bolsonaro durchsetzen wird – im Senat mit Unterstützung der Arbeiterpartei PT.

In den vergangen zwei Wochen haben Zivilgesellschaft und parlamentarische Opposition intensive Anstrengungen unternommen, um ein Amtsenthebungsverfahren gegen Bolsonaro in Gang zu setzen. Der weiterhin bestehende Mangel an medizinischem Sauerstoff in der Millionenstadt Manaus, durch den mindestens 31 Patient*innen erstickten, scheint langsam auch bei der bürgerlichen Opposition zu der Erkenntnis zu führen, dass sich Brasilien in einem nationalen Notstand befindet. Inzwischen wurde bekannt, dass die Regierung seit Anfang Januar darüber informiert war, dass sich die Sauerstoffreserven in Manaus ihrem Ende näherten, und dennoch nicht reagierte. Damit hat der Vorwurf des crime de responsablidade (etwa: Verletzung der ordnungsgemäßen Amtsführung), der direkt zu einem Amtsenthebungsverfahren führen könnte, weitere Beweiskraft erhalten. Maia stellte angesichts der Situation in Manaus Mitte Januar zumindest in Aussicht, die Anträge auf Amtsenthebung an die zuständige parlamentarische Kommission zu überstellen – allerdings erst nach den Parlamentsferien und damit nach Ablauf seines Mandats. Am 26. Januar wurde ein weiterer Antrag auf Amtsenthebung eingereicht, der dafür spricht, dass die Opposition gegen Bolsonaro wächst: 370 religiöse Amtsträger*innen der katholischen, lutherischen, presbyterianischen, baptistischen und weiterer Kirchen forderten ein sofortiges Impeachment.

Im Februar läuft die staatliche Nothilfe aus

Auch auf den Straßen wurde der Protest gegen Bolsonaro wieder aufgenommen. Am Wochenende vom 15. Januar protestierten Brasilianer*innen in vielen Städten lautstark mit panelaços (öffentliches Topfschlagen aus dem Fenster). In São Paulo hieß es dabei in meterhohen Bildprojektionen an Hochhäusern „Ohne Sauerstoff – Ohne Impfstoff – Ohne Regierung“ oder „Sofortige Amtsenthebung“. Am 23. Januar protestierten – je nach Stadt und berichtendem Medium – Hunderte oder Tausende in Fahrzeugkonvois gegen die Regierung. Mobilisiert hatten viele zivilgesellschaftliche Organisationen, darunter der Gewerkschaftsdachverband CUT und die linke Partei PSOL, aber auch rechte bürgerliche Bewegungen wie das Movimento Brasil Livre (MBL) und Vem pra Rua.

Es wird erwartet, dass die Proteste im Februar zunehmen werden, wenn die staatliche Nothilfe von 600 Reais (rund 100 Euro) ausläuft. Eine Entscheidung über die Fortsetzung der Hilfszahlungen wurde bisher nicht gefällt. Bolsonaro sprach sich jedoch dagegen aus und begründete seine Haltung damit, dass „ein Notfall kein Dauerzustand“ sei. Wirtschaftsminister Guedes zeigte sich hingegen gesprächsbereit, wenn an anderer Stelle – zum Beispiel in der Bildung – die geplanten Mehrausgaben gestrichen würden. Im Februar sind im öffentlichen Nahverkehr und anderen Bereichen gleichzeitig die regelmäßigen Anpassungen an die Inflationsrate zu erwarten, was Geringverdienende ohnehin hart trifft.

Alle für die Impfungen Social-Media-Kampagne von Wissenschaft und Zivilgesellschaft (Illustration: Carlos Latuff)

Wenigstens das wochenlange Tauziehen um die Lieferungen von Impfdosen und Grundstoffen für deren Produktion aus Indien und China wurde Ende Januar beendet. Die Regierung des Bundesstaates São Paulo und das biomedizinische Forschungszentrum Instituto Butantan kündigten an, dass das chinesische Unternehmen Sinovac am 3. Februar 5.400 Liter „aktiver pharmazeutischer Stoffe“ liefern werde. Damit kann das Instituto Butantan rund 8,6 Millionen Dosen des Impfstoffes CoronaVac produzieren, die ab dem 23. Februar zur Verfügung stehen sollen. Auch die Stiftung Osvaldo Cruz (Fiocruz) in Rio de Janeiro, neben dem Instituto Butantan das wichtigste Zentrum für medizinische Forschung und Impfstoffproduktion, soll Grundstoffe aus China erhalten, um den Impfstoff Oxford/AstraZeneca herzustellen. Die Einrichtungen sollen außerdem zwei Millionen gebrauchsfertige Impfdosen Oxford/AstraZeneca aus Indien und eine noch unbekannte Menge CoronaVac aus China erhalten. Beide Impfstoffe haben eine Notfallzulassung der zuständigen brasilianischen Behörde ANVISA erhalten. Weitere Zulassungen erteilte ANVISA bisher nicht.

Auch wenn diese Aussichten seit langer Zeit die ersten positiven Meldungen zum Thema Covid-19 aus Brasilien sind, gleicht die Menge der voraussichtlich im Februar verfügbaren Impfdosen bei einer Bevölkerung von mehr als 210 Millionen Menschen dem berühmten Tropfen auf den heißen Stein. Fachleute schätzen, dass damit nicht einmal das gesamte medizinische Personal und die besonders gefährdete Bevölkerung geimpft werden könne. Zu dieser gehört auch die indigene Bevölkerung in Amazonien. Dort sind die Infektions- und Todeszahlen besonders hoch und medizinische Versorgung schwer erreichbar. Die einzigen Intensivstationen für die 62 Gemeinden des Bundesstaates, der 4,5-mal größer als Deutschland ist, befinden sich in Manaus, oft hunderte Kilometer entfernt und nur per Boot oder Flugzeug zu erreichen. Tragischerweise wurden die Impfungen in Amazonien bereits kurz nach Beginn wieder eingestellt, da es zu „Unregelmäßigkeiten“ gekommen sei. Quellen aus dem Gesundheitssektor sprechen von 65.000 Impfdosen, die in Manaus verschwunden seien. Zusätzlich wird berichtet, dass zahlreiche Menschen geimpft wurden, die nicht zu den priorisierten Gruppen der Impfliste gehört hätten. Während die gefährliche Amazonas-Mutation des Virus bereits in anderen Bundesstaaten nachgewiesen wurde, prüft man in Manaus nun erst einmal die bisherige Impfpraxis.

Bolsonaro macht sich über Impfstoff lustig

Der Gouverneur von São Paulo, João Doria von der wirtschaftsnahen, rechtsliberalen PSDB, bestätigte jüngst öffentlichkeitswirksam die Impflieferung aus China: vor dem Regierungspalast und mit einer Live-Videobotschaft des chinesischen Botschafters in Brasilien, Yang Wanming. Doria, der für die nächsten Präsidentschaftswahlen 2022 als einer der möglichen und gefährlichsten Konkurrenten für Bolsonaro gilt, hat seit Monaten im Alleingang mit China über mögliche Lieferungen von Impfstoff verhandelt. Bolsonaro machte sich über den chinesischen Impfstoff immer wieder öffentlich lustig. Erst im Dezember sagte er bei einer Veranstaltung im Bundesstaat Bahia, dass er bei CoronaVac für nichts garantieren könne: „Wenn sie sich in ein Krokodil verwandeln, ist das ihr Problem!“

Wurde Gesundheitsminister Pazuello im Dezember noch untersagt, einen Vertrag mit dem Instituto Butantan über den Kauf von CoronaVac zu unterzeichnen, änderte Bolsonaro nach der medizinischen Krise in Manaus seine Strategie. Als nach einer Bestellung durch Doria am 15. Januar sechs Millionen Dosen CoronaVac für den Bundesstaat São Paulo aus China eintrafen, versuchte Pazuello diese in die Hauptstadt Brasília umzuleiten. Nach mühsamen Verhandlungen erreichte Doria den Verbleib von 1,5 Millionen Impfdosen in São Paulo. Die übrigen 4,5 Millionen Dosen wurden an andere Bundesstaaten verteilt. Auch die chinesische Zusage der Lieferung für den 3. Februar deklarierte Bolsonaro via Twitter umgehend als Verhandlungserfolg seiner Regierung. Doria konterte, ebenfalls über Twitter: „Ohne die Anstrengungen von São Paulo und die exzellenten Beziehungen, die wir mit China als dem wichtigsten Handelspartner Brasiliens unterhalten, hätten wir mit der Impfung der brasilianischen Bevölkerung nicht einmal begonnen.“

Gezielte Desinformationspolitik und Androhungen eines Militärputsches

Anders als auf bundesstaatlicher Ebene ist die Beziehung zwischen der Regierung Bolsonaro und China angespannt. Laut The Intercept Brasil herrscht zwischen Außenminister Ernesto Araújo, neben Familienministerin Damares Alves und Bildungsminister Abraham Weintraub das ideologisch fanatischste Kabinettsmitglied, und seinem chinesischen Gegenüber Wang Yi seit März 2020 Funkstille. Zu Beginn der Pandemie hatte Präsidentensohn Eduardo Bolsonaro eine diplomatische Krise ausgelöst, indem er China die Schuld für die globale Ausbreitung des Virus zuwies. Ende November legte er nach und beschuldigte die Kommunistische Partei Chinas, den Ausbau der 5G-Technologie nutzen zu wollen, um Brasilien auszuspionieren. Damit unterstützte er Donald Trumps Feldzug gegen das chinesische Unternehmen Huawei. Mit der offenen Parteinahme Bolsonaros und seiner Mitstreiter für Donald Trump hat sich Brasilien außenpolitisch isoliert (siehe LN 559).

Inmitten all dieser Krisen setzen sich sowohl die gezielte Desinformationspolitik der Bolsonaristas als auch die Androhungen eines Militärputsches weiter fort. Seit Beginn der Pandemie wirbt Bolsonaro für das Malariamedikament Chloroquin. Obwohl wissenschaftlich längst erwiesen ist, dass Chloroquin kein geeignetes Mittel gegen eine Infektion mit dem Coronavirus ist, bewarb das Gesundheitsministerium noch im Januar die „präventive Behandlung“ mit einem „COVID-Set“, das verschiedene Medikamente aus (Hydro-)Chloroquin enthielt. Chloroquin wird in Brasilien vom chemisch-pharmazeutischen Labor des Heeres (LQFEx) produziert, das allein von Ende Februar bis Mitte Mai 2020 über eine Million Tabletten und damit das 80-Fache der bisherigen Produktionsmenge herstellte. Bei einem Stückpreis von umgerechnet drei Cent pro Tablette potenziell ein gutes Geschäft. Auch die USA schickten Ende Mai zwei Millionen Dosen Hydrochloroquin nach Brasilien.

Nun untersucht der brasilianische Rechnungshof Ausgaben des Gesundheitsministeriums von mehr als 100 Millionen Reais (rund 15 Millionen Euro) für Hydrochloroquin und andere Medikamente, die von der zuständigen Behörde ANVISA für unwirksam erklärt wurden. Eine Ausgabe der Medikamente über das nationale Gesundheitssystems SUS ist ohne Freigabe der ANVISA jedoch unzulässig.

Angesichts der Untätigkeit der Regierung überrascht es nicht, dass Bolsonaro sich öffentlich gegen Impfungen ausspricht. Er selbst werde „sich keinesfalls impfen lassen“ und auch bei seiner Mutter würde er „sehr überlegen“, wie jetzt aus einem Videomitschnitt bekannt wurde. Immer mehr kritische Stimmen in Brasilien bezeichnen Bolsonaros Vorgehen deshalb als „Genozid“ und den Präsidenten selbst als „Nekropolitiker“. Also als einen Politiker, der soziale und politische Macht nutzt, um zu bestimmen, wie manche Menschen leben und manche sterben müssen. Das passt zu einem Präsidenten, dessen Markenzeichen während des Wahlkampfs die aus Daumen und Zeigefinger geformte Waffe war.

Die Wissenschaft jedenfalls organisiert sich immer besser, um in der Gesellschaft Gehör zu finden. Unter dem Slogan Todos pelas Vacinas („Alle für Impfungen“) haben sich 14 medizinische Forschungseinrichtungen zusammengeschlossen und am 21. Januar gemeinsam mit Influencer*innen eine interaktive Kampagne gestartet. Der bekannteste Unterstützer ist der Rapper MC Fioti, der mit „Bum Bum Tam Tam“ und 1,5 Milliarden Aufrufen auf Youtube 2017 einen Megahit landete. Jetzt hat er mit „Vacina Butantan“ (Impfstoff Butantan) einen Remix gemacht, der bereits zur Hymne der Impfkampagne erklärt wurde und auf Youtube sieben Millionen Klicks in einer Woche erhielt. Das ist mehr als Bolsonaro Follower auf Twitter hat.

 

GEMEINSAM GEGEN TRANSFEINDLICHKEIT

Wir sind erschöpft, aber wir kämpfen weiter Plakat zum internationalen Frauentag am 8. März

Illustration: Denise Silva, @ise_camaleoa

Der aktuellste Bericht der Nationalen Vereinigung von Travestis und Transsexuellen (ANTRA), der am 31. August 2020 veröffentlicht wurde, zählt in den ersten acht Monaten des Jahres insgesamt 129 Morde an trans Personen. Dies entspricht einem Anstieg der Mordfälle um 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, also in der Zeit, in der die rechtsextreme Partei von Jair Bolsonaro die Präsidentschaft des Landes übernahm. Die Mordopfer waren alle trans Frauen oder Travestis (Travesti ist ein Eigenbegriff, der eine lateinamerikanische politische Identität von transfem transgender Personen beschreibt. Zur ausführlicheren Besprechung dieses Begriffs siehe LN 525, Anm. d. Red.).

In den letzten Jahren gab es grundlegende rechtliche Fortschritte in Brasilien, wie den Beschluss des Bundesgerichts vom 1. März 2018. Darin wurde das Recht von transgender Personen auf eine selbstbestimmte Berichtigung ihres Namens und Geschlechts, ohne eine vorherige Beurteilung durch medizinisches Personal oder eine Operation, anerkannt. Dennoch ist die trans Comunity in Brasilien weiterhin von starker struktureller Transfeindlichkeit betroffen. Trans Personen erfahren besonders beim Zugang zu grundlegenden sozialen Sicherungssystemen wie Bildung und Gesundheit oder dem Zugang zum Arbeitsmarkt, eine starke Diskriminierung. Als Folge dessen finden die meisten nur informalisierte Beschäftigungen, insbesondere im Bereich der Sexarbeit, und sind Ziel von Beleidigungen, Drohungen, Gewalttaten und Morden. Das Verhältnis der brasilianischen Gesellschaft zu trans Frauen und Travestis, überhaupt zu Personen, die sich nicht in die binäre Geschlechterordnung einordnen lassen, setzt sich aus einer Mischung von fetischisierender Faszination und Abneigung zusammen. Das spiegelt sich unter anderem im Markt für Pornographie wider, in dem Pornos mit trans Körpern einen großen Stellenwert einnehmen. Auch die öffentlichen Medien tragen ihren Teil zur Stereotypisierung von trans Personen bei, indem sie durch die Darstellung in der Presse oder auch in fiktiven Werken trans Personen entmenschlichen, sexualisieren und diskriminierende Geschlechterklischees reproduzieren.

Die NGO TransGender Europe (TGEU), die Daten über die Morde an trans Personen sammelt, stellt eine Verschränkung von Rassismus und Klassismus fest. Die Gewalt gegen Menschen aus von Rassismus betroffenen Gruppen und den unteren sozioökonomischen Klassen wird somit verstärkt. TGEU zeigt auf, dass Brasilien seit 2008 die Liste der Länder mit der höchsten absoluten Anzahl von Morden an trans Personen anführt. Zwischen Oktober 2018 und September 2019 wurden von weltweit insgesamt 331 Mordfällen 130 allein in Brasilien registriert. Bei 61 Prozent der Ermordeten handelte es sich um Sexarbeiter*innen.

Gemäß des Artikels II der Konvention der Vereinten Nationen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords kann die Ermordung von trans Personen angesichts der Zahl der Fälle sowie der historisch und kulturell verankerten Diskriminierung als Völkermord definiert werden. Da die Mehrheit der Opfer dieses trans Genozids in Brasilien Frauen und Travestis sind, wird auch von Transfeminiziden gesprochen. Dahinter steckt eine systematische Geschlechtergewalt, die von der gleichen Logik der ehelichen Gewalt wie bei Partner*innen in einer heteronormativen Beziehung durchdrungen ist. Hinzu kommt, dass den Betroffenen in nicht funktionierenden sozialen Unterstützungseinrichtungen wenig Glaubwürdigkeit zugesprochen wird. Für Transfeminizide ist der Staat durch Vernachlässigung oder stillschweigende Duldung mit verantwortlich. Ein Beispiel hierfür war die Ermordung von Dandara Kettley am 15. Februar 2017 in der nordöstlichen Stadt Fortaleza. Kettley wurde am helllichten Tag auf offener Straße von einer Gruppe Männer zusammengeschlagen, gesteinigt und zweimal in den Kopf geschossen. Dabei gab es mehrere Zeug*innen. Der Fall wurde international bekannt, da 16 Tage nach ihrer Ermordung zwei Videos des Vorfalls im Internet veröffentlicht wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte keine brasilianische Behörde das Ereignis untersucht.

Als Bolsonaro am 1. Januar 2019 als Präsident vereidigt wurde, war Brasilien bereits das Land mit den meisten Transfeminiziden weltweit. Bolsonaros LGBTIQ*-feindlichen Äußerungen haben zusätzliche Menschenrechtsverletzungen hervorgebracht, auch ein Anstieg der Selbstmordrate unter trans Personen war zu verzeichnen. In der ersten Jahreshälfte 2020 gab es 16 Selbstmorde von trans Personen, das ist ein Anstieg von 34 Prozent zum Vorjahr. Am 13. Juni 2019 sprach sich Bolsonaro öffentlich gegen den Beschluss des Bundesgerichts aus, Homo- und Transfeindlichkeit, genauso wie Rassismus als Verbrechen einzustufen. Hintergrund dazu war, dass der Nationalkongress, welcher in dieser Frage hätte gesetzgeberisch tätig werden müssen, seiner Pflicht nicht nachkam. Der Kongress wird derzeit von fundamentalistischen evangelikalen Abgeordneten angeführt, die die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität als von der Meinungsfreiheit gedeckte Äußerung betrachten.

Der transfeministische Diskurs verbindet die Bewegungen

Das neue Coronavirus erreichte Brasilien inmitten dieser drastischen politischen Konjunktur, die die Vorurteile einer Gesellschaft verstärkt hat, die durch Jahrhunderte des Völkermordes an der indigenen Bevölkerung und der Versklavung von Afrikaner*innen sowie ihren Nachkommen geprägt ist. Die sozialen Auswirkungen der Pandemie verläuft in ähnlichen Dynamiken wie die der HIV-Epidemie. So führte die Covid-19-Pandemie in verschiedenen Teilen der Welt zur Verstärkung der stereotypen homo- und transfeindlichen Diskurse. Besonders in Brasilien, wo religiöse Führer*innen und Meinungsbildner*innen immer noch unwidersprochen ihre Auffassung verteidigen, Aids sei eine Krankheit, die mit sexuellen Beziehungen außerhalb der Cis-Heteronormativität zusammenhänge.

Angesichts der Ermordung von trans Personen in Brasilien setzt die betroffene Bevölkerung ihre Selbstorganisation fort, die ihr seit Jahrhunderten ein Minimum an physischer und psychischer Sicherheit garantiert. Außerdem schloss sie seit der Redemokratisierung des Landes in den 1980er Jahren Bündnisse mit anderen sozialen Bewegungen und einigen fortschrittlichen Regierungen.

Die Popularisierung des transfeministischen Denkens trägt zu einem immer offeneren Dialog zwischen trans Personen und von cisgender Frauen getragenen Bewegungen bei. Mit dem Austausch sollen Wissen und Strategien für eine Garantie des Rechts auf Leben und für die konkrete Einbeziehung von trans Personen in alle Bereiche der Gesellschaft entwickelt werden. Auch soll der abwertende Blick überwunden werden, dem trans Personen gewöhnlich auch von Verbündeten ausgesetzt sind. So sind trans Personen in Brasilien zunehmend kollektiv organisiert und nutzen digitale Ressourcen auf kreative und kraftvolle Weise, um sich der Objektifizierung ihrer Körper und dem Versuch, ihre Gedanken und ihr Begehren auszulöschen, entgegenzusetzen.

AUSSENPOLITISCHE ISOLATION


Maria Luísa Mendonça ist Geografin und hat an der Universität von São Paulo (USP) promoviert. Sie ist Ko-Direktorin des Netzwerks für Soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte (Rede Social de Justiça e Direitos Humanos), das seit 2000 jährlich einen Bericht zur Menschenrechtslage in Brasilien veröffentlicht (www.social.org.br). Zur Zeit lebt sie in den USA und forscht am Center for Place, Culture and Politics, CUNY Graduate Center. Zuletzt erschien von ihr Economia Política do Agronegócio / Political Economy of Agribusiness (Annablume, Sāo Paulo, 2018). In den USA vernetzt sie verschiedene internationale Kampagnen zu Brasilien, unter anderem mit FIAN International, zu Investitionen US-amerikanischer und deutscher Pensionsfonds in die Landspekulation in Brasilien. (Foto: privat)


Präsident Bolsonaro gilt international als einer der engsten Verbündeten von Donald Trump. Was bedeutet die Abwahl des US-Präsidenten für Bolsonaro? Wird er eine wichtige Säule seiner Macht verlieren?
Ja, ich denke schon. Denn Bolsonaro ist bereits international isoliert. Er vertritt eine Außenpolitik, die sehr an der Politik der USA ausgerichtet ist. Er hat während der Wahlkampagne von Trump zu dessen Gunsten Kommentare gemacht. Das ist eigentlich undenkbar in der brasilianischen Außenpolitik. Brasilien hat eine diplomatische Tradition der „Nichteinmischung” und setzt auf Multilateralismus. Bolsonaro hat dies radikal verändert und ich denke, mit einem Präsidenten Biden wird er noch isolierter sein.

Was erwarten Sie von der neuen US-ameri­kanischen Regierung?
Wir hoffen sehr, dass Joe Biden eine Haltung einnimmt, die den Kampf der sozialen Bewegungen unterstützt, zum Beispiel im Umweltschutz. APIB, die Vereinigung der indigenen Völker Brasiliens, fordert einen Boykott der vier landwirtschaftlichen Rohstoffe Soja, Eukalyptus, Fleisch und Zuckerrohr, die den Ökosystemen am meisten schaden. Hier können die USA, ebenso wie die EU, Einfluss ausüben. Denn die einzige Möglichkeit, der brasilianischen Regierung Schranken zu setzen, ist irgendeine Form von internationalen Sanktionen. Dass die Verhandlungen der EU mit Brasilien über die Freihandelszone Mercosur bereits gestoppt wurden, finde ich positiv. Denn die Freihandelszone nutzt nur der Agroindustrie, nicht der brasilianischen Gesellschaft. Wir haben die höchste Konzentration von Landbesitz weltweit, es gab nie eine Landreform, und die Agroindustrie ist für die Gewalt in den ländlichen Regionen verantwortlich. Wir brauchen internationale Solidarität, um unser System der Agrarproduktion zu verändern. Denn es hat einen enormen Einfluss auf die Umwelt und auch auf den Klimawandel.

Anfang Juli 2020 gab es ein Treffen von CEOs internationaler Firmen mit Vizepräsident Hamilton Mourão zum Thema illegaler Ab­holzung im Amazonasgebiet, aus dem sehr viel Hoffnung entstand, dass die Abholzung zukünftig sanktioniert wird. Ist der Druck internationaler Firmen tatsächlich ein gangbarer Weg, um Amazonien zu retten?
Ich denke, der einzige Weg geht über die internationale Handelspolitik. Bolsonaro glaubt nicht an Klimawandel, er hat überhaupt kein Interesse daran, die indigenen Völker zu verteidigen. Im Gegenteil, er ermutigt dazu, sie zu attackieren, er ermutigt die illegale Abholzung. Die einzige Botschaft, die Bolsonaro versteht, kommt aus der Wirtschaft. Ich halte einen individuellen Boykott dieser brasilianischen Rohstoffe, die ich bereits erwähnt hatte, für schwierig, weil die Konsument*innen nicht wissen, worin diese Rohstoffe stecken. Aber es ist für sie möglich, ihre eigenen Regierungen und Parlamente unter Druck zu setzen, damit sie Sanktionen gegen Brasilien aussprechen oder die Importsteuern auf diese Handelswaren erhöhen. Denn die brasilianische Agroindustrie besteht zu großen Teilen aus internationalen Firmen.

Wird Bolsonaro ohne Trump innenpolitisch geschwächt?
Das ist schwierig zu beantworten. Die Massenmedien in Brasilien sind politisch von den USA beeinflusst, ebenso wie der konservative Sektor der brasilianischen Gesellschaft. Dieser sieht die USA als Vorbild, insofern kann eine andere US-amerikanische Politik auch in Brasilien Einfluss ausüben. Aber es ist wichtig, daran zu erinnern, dass Bolsonaro das Ergebnis des parlamentarischen Putsches gegen Präsidentin Dilma Rousseff ist. Damals haben die USA die Regierung von Dilmas Nachfolger Temer anerkannt, und nicht nur die USA, sondern die Mehrheit der Staaten weltweit. Sie haben die brasilianische Demokratie nicht verteidigt. Heute sind die demokratischen Institutionen, wie die Justiz und die Legislative, geschwächt, wir müssten die brasilianische Demokratie erst einmal rekonfigurieren.

Sehen sie in der Destabilisierung der Demokratie, ihrer Institutionen und Regeln, Parallelen zwischen den Entwicklungen in den USA und Brasilien?
Ja, hier sehe ich starke Parallelen, und ich halte dies nicht für einen Zufall. Es gibt sehr ähnliche Diskurse in den USA und in Brasilien, um zum Beispiel in der Bevölkerung die Idee zu erzeugen, dass man der Politik nicht glauben darf, um eine zynische Haltung gegenüber der Politik zu fördern. Das ist sehr gefährlich, weil es einen Kontext herstellt, der den Autoritarismus begünstigt. Trump wie auch Bolsonaro sind Teil der internationalen extremen Rechten, die überall eine sehr ähnliche Politik macht, zum Beispiel die Deregulierung von Umweltschutzmaßnahmen oder der Rechte von Frauen. Sie versuchen in vielen Ländern, den Staat zu schwächen. Und es gibt direkte persönliche Verbindungen, zum Beispiel zu Trumps ehemaligem Chefstrategen Steve Bannon. Das zeigen Fotos von ihm und den Söhnen von Bolsonaro, die in Brasilien als Repräsentanten der extremen Rechten auftreten. Nicht zu vergessen, dass Cambridge Analytica auch dabei geholfen hat, die Wahlen in Brasilien zugunsten Bolsonaros zu beeinflussen. Ich denke, es gibt hier eine Form von internationaler Koordination, auch wenn die genauen Verbindungen nicht bekannt sind.

Die Graswurzelbewegungen und Basisgruppen, die eine massenhafte Neuregistrierung von Wähler*innen erreicht haben, waren bei den Präsidentschaftswahlen in den USA ein Schlüsselfaktor für den Erfolg von Joe Biden. Könnte diese erfolgreiche Mobilisierung ein Modell für Brasilien sein, um den Bolsonarismus zu überwinden?
Es ist fundamental wichtig, dass die Linke die Arbeit an der Basis der Gesellschaft wieder aufnimmt. Denn der Erfolg von Bolsonaro ist auch eine Folge der Arbeit der evangelikalen Kirchen, die überall Räume besetzten. Ein großer Unterschied zu den Wahlen in den USA vor vier Jahren war, dass die Linke in der Demokratischen Partei, vor allem die soziale Bewegung der Jugendlichen, die sich um Bernie Sanders herum organisierte, dieses Mal aktiv die Wahl von Joe Biden unterstützt hat. Für die Kampagne von Hillary Clinton haben sie sich kaum engagiert. Hinzu kam die große Mobilisierung der Schwarzen Bewegung mit wichtigen Basisgruppen, die sich engagierten, um eine breite Wahlbeteiligung zu garantieren.

Eine Einheit der Linken gegen die Regierung Bolsonaro scheint in weiter Ferne – Brasiliens Linke wirkt immer noch sehr gespalten, auch wenn es kürzlich zu einer „offiziellen Versöhnung“ zwischen Lula da Silva und Ciro Gomes kam.
Ich denke, es gibt wenig Klarheit darüber, wie sich eine Einheit der Linken herstellen lässt. Ich fand es hier in den USA sehr interessant, dass Biden mit Bernie Sanders verhandelt hat und sich verpflichtete, einige grundsätzliche Forderungen der Linken umzusetzen, zum Beispiel im Gesundheitswesen, im Umweltschutz und in der Bildung. Ich finde das einen interessanten Prozess, um mit einigen Themen tatsächlich voranzukommen. Auch in Bezug auf die Corona-Pandemie, wo sich schon absehen lässt, dass Biden eine grundsätzlich andere Haltung einnehmen wird als Trump.

Bolsonaro gehört international zu den Corona-Leugnern und alles sieht danach aus, dass die brasilianische Bundesregierung keine wirksamen Maßnahmen mehr ergreifen wird, um die Pandemie einzudämmen. Sehen Sie noch Chancen, dass sich dies ändern wird, zum Beispiel, wenn es einen Impfstoff gibt?
Vor ein paar Tagen erschien die Meldung, dass das Haltbarkeitsdatum von fast sieben Millionen Coronatests im Dezember oder Januar abläuft, weil die Regierung Bolsonaro die Tests nicht an die Städte und Gemeinden verteilt hat. Aber viele Regierungen der Bundesstaaten haben eigene Maßnahmen ergriffen, auch wenn die Gouverneure sich damit in Opposition zu Bolsonaro begeben haben.
Was die Impfungen angeht: Brasilien hat traditionell ein sehr gutes, sehr solides Impfsystem. Bisher werden alle Impfstoffe über das Gesund­heitssystem Sistema Único de Saúde, das SUS, kostenlos an die gesamte Bevölkerung verteilt. Die Haltung der Regierung Bolsonaro macht es allerdings unmöglich, mit der Vorbereitung der Corona-Impfungen voranzukommen. Wie Trump ist Bolsonaro aus der WHO ausgetreten. Das bringt Brasilien Nachteile, denn die Verteilung des Impfstoffes über eine internationale Organisation erfolgt ganz anders als über private Unternehmen. Doch wenn die Verteilung der Corona-Impfungen in anderen Ländern beginnt, wird es sehr schwierig für die brasilianische Regierung werden, dies nicht auch zu machen. Bolsonaro kann verfügen, dass die Impfung nicht verpflichtend ist, oder er kann die Impfdosen nicht über das SUS verteilen lassen. Obwohl die Entscheidungen von wissenschaftlichen Erkenntnissen geleitet werden sollten, wird er versuchen, die Corona-Impfung politisch zu instrumentalisieren.

MITTE-RECHTS SIEGT

Der Traum vieler Linker platzte, als die Ergebnisse der Stichwahl in São Paulo im Fernsehen übertragen wurden. Guilherme Boulos, Stratege der Wohnungslosenbewegung MTST, hatte für die sozialistische PSOL gegen den amtierenden Bürgermeister Bruno Covas von der rechten PSDB die Stichwahl erreicht. Am Ende gewann jedoch Covas deutlich mit fast 60 Prozent der Stimmen. In der Finanzmetropole São Paulo hatte eine konservative Allianz aus bürgerlichen Parteien, Medien und der Unternehmerschaft für den Amtsinhaber geworben und Boulos’ Aktivismus immer wieder als „kriminell“ und „radikal“ bezeichnet.

Brasiliens Linke hat nichts zu feiern

Die beiden Kandidaten lieferten sich ein hartes, aber zivilisiertes Wahlduell. Boulos, der mit der legendären 86-jährigen Ex-Bürgermeisterin Luiza Erundina als Vize antrat, warf Covas Versagen im Umgang mit der Corona-Pandemie und der sozialen Ungleichheit vor. Soziale Bewegungen und viele prominente Künstler*innen unterstützten den Linken. Seine Kampagne und ein Online-Auftritt, mit dem er allen anderen Kandidat*innen um Lichtjahre voraus war, begeisterten Jungwähler*innen. So gelang es ihm, ein breites Bündnis zu schmieden. Boulos holte in vielen armen Stadtteilen die Mehrheit – dort, wo die Linke zuletzt Schwierigkeiten hatte. Der charismatische 38-jährige Sozialist gilt auch als aussichtsreicher Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2022.

Die Kommunalwahlen waren jedoch alles andere als ein Grund zum Feiern für Brasiliens Linke. Insbesondere die traditionellen Mitte-Rechts-Parteien waren erfolgreich – also jene Kräfte, die bei der Präsidentschaftswahl 2018 abgestürzt waren. In Rio de Janeiro gewann der neoliberale Ex-Bürgermeister Eduardo Paes deutlich vor dem Amtsinhaber Marcelo Crivella. Der ultrarechte Pastor Crivella wurde von Präsident Jair Bolsonaro unterstützt. Insgesamt gewannen Bolsonaro nahe Kandidat*innen in nur fünf Stichwahlen. Die Kommunalwahlen sind allerdings nur in begrenztem Maße ein Gradmesser für die Präsidentschaftswahl 2022. Dafür ist das Parteiensystem in Brasilien zu komplex und Wahlentscheidungen zu personalisiert. So ist es kein Widerspruch, dass Präsident Bolsonaro gleichzeitig Rekordumfragewerte verzeichnet.

Kein Gradmesser für die Präsidentschaftswahl

Die Arbeiterpartei (PT) gewann zum ersten Mal seit der Re-Demokratisierung 1985 in keiner der 26 Landeshauptstädte. Und die Wahl hatte noch mehr Verlierer*innen: Frauen. In nur einer Landeshauptstadt konnte sich eine Frau durchsetzen, nur 12 Prozent der 5.565 Bürgermeister*innen sind Frauen. Allerdings gelang es vielen Schwarzen, LGBTIQ und Indigenen, sich ihren Platz in der Politik zu erkämpfen. In Rio de Janeiro wird Monica Benício, Witwe der ermordeten Politikerin Marielle Franco, künftig im Stadtparlament sitzen, in São Paulo wurde die Schwarze trans Frau Erika Hilton gewählt. Beide sind Mitglied der PSOL. Die sozialistische Partei läuft der Arbeiterpartei (PT) immer mehr den Rang ab. Früher eine Partei der intellektuellen Mittelschicht, ist es ihr bei dieser Wahl besser gelungen, auch ärmere Wähler*innen zu mobilisieren.

„WIR SIND GEMACHT AUS MUT UND ZÄRTLICHKEIT“

25. Juli Internationaler Tag der Schwarzen Frauen aus Lateinamerika und der Karibik

Illustration: Denise Silva, @ise_camaleoa


EIN BISSCHEN BRASILIEN

Sie war zehn Jahre alt. Sie hatte weder Mutter, noch Vater. Sie wohnte bei ihrer Großmutter und ihrem Onkel. Ihre Mutter war tot und wo ihr Vater war, wusste man nicht. Immer dann, wenn sich ihm die Gelegenheit bot, vergewaltigte ihr Onkel sie. Seit sie sechs Jahre alt war. In ihrem Körper, der sich selbst erst noch entwickelte, wuchs ein Kind aus der Gewalt eines 32-jährigen Mannes. Ein Schmerz im Unterleib ließ sie zum Arzt gehen. Dort gab es den schmerzhaftesten und unwiderlegbarsten Beweis für die dem Mädchen angetane Gewalt: Sie war schwanger.

Das Mädchen weinte und schrie, sie wollte dieses Baby nicht. Die Schwangerschaft musste in der 24. Woche unterbrochen werden. Das Gesetz gibt ihr dieses Recht. Aber Unterstützer des Präsidenten Jair Bolsonaro und katholische und evangelikale Fundamentalist*innen stellten sich vor das Krankenhaus, in dem der Schwangerschaftsabbruch durchgeführt werden sollte. Sie beschimpften sie als Mörderin. Sie nannten sie ein Monster. Sie, ein Mädchen, das die Schlimmste aller Gewalttaten erleiden musste, und das an seinem Körper und seiner Seele Verletzungen hatte, die sehr lange brauchen werden, um zu vernarben.

Ich wartete darauf, im Fernsehen Bilder des Onkels zu sehen, der verhaftet wurde. Ein Schwarzer Mann. Sie war Schwarz. Sie war ein verfügbarer Körper. Sie trug an ihm das Stigma der Unterwürfigkeit: Ihr Schwarzsein. Die Farbe ihrer Haut erklärt auch, warum sich so viele Gläubige im Recht sahen, ihr zu sagen, dass diese Abtreibung ein Verbrechen wäre. In Bezug auf einen entmenschlichten Körper ist alles erlaubt. Sie war Schwarz.

Sechs Jugendliche spielten Computerspiele in einem Haus in der Favela Morro do Salgueiro, in São Gonçalo im Bundesstaat von Rio de Janeiro. Sie waren gemeinsam in Quarantäne. Sie befolgten die Empfehlungen der WHO und die Regeln ihrer Mütter. Ihrer Schwarzen Mütter, die wissen, dass Schwarzsein in einer Favela genug ist, um verdächtigt zu werden. Und – als Konsequenz – um getötet zu werden.

Sie waren zu sechst im Wohnzimmer. Wie in einem Hollywood-Film stürmten bewaffnete Polizisten das Haus. Schüsse fielen. Schreie. Weinen. Alle auf dem Boden. João Pedro versucht, sich vor den Schüssen zu schützen und wird in den Bauch getroffen. João Pedro war vierzehn Jahre alt. Es waren 70 Schüsse. João Pedro wollte Rechtsanwalt werden.

João Pedros Familie sucht ihn, um ihn zu retten. Die Polizei sagt, sie hätten ihn mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen. Seine Eltern suchen die Krankenhäuser von São Gonçalo und Rio de Janeiro ab, aber sie finden ihn nicht. Am Morgen des Folgetages wird João Pedros Leiche im forensischen Institut identifiziert. João Pedro wurde von der Polizei erschossen, während er sich an die Quarantäneregeln hielt und mit seinen Cousins Videospiele spielte. Die Polizei sagt, es sei ein Haus der Drogenmafia gewesen. Sechs Jugendliche spielten Videospiele. João Pedro war 14 Jahre alt und wollte Rechtsanwalt werden. Er war ein Schwarzer Jugendlicher.

Mirtes ist Hausangestellte und kann sich soziale Distanz zum Schutz vor einer Covid-19-Infektion nicht leisten. Sie und ihre Mutter arbeiten für die Familie des Bürgermeisters. Wegen der Pandemie hat der Hort geschlossen, in dem Mirtes normalerweise den fünfjährigen Miguel abgibt. Ihren Neguinho, wie sie ihn liebevoll nannte. Mirtes nahm ihn mit zur Arbeit, wo sie auch auf die Tochter und den Hund der Frau des Bürgermeisters aufpasste.

Miguel war ein lebhafter Junge, sprach viel, er war aufgeweckt. Er stellte seine Wünsche über alles andere, drängte sich auf mit der ganzen Großartigkeit eines Schwarzen Jungen aus der Favela, fünf Jahre alt, der Polizist werden wollte. An jenem Tag war Miguel mit seiner Mutter in der Wohnanlage in Recife, Hauptstadt des Bundesstaats Pernambuco. Mirtes ging mit dem Hund raus und ließ Miguel in der Obhut der Hausherrin.
Als Mirtes nach 20 Minuten das Gebäude betrat, hörte sie einen Krach und den Schrei eines Mannes. Es war der Portier, er versuchte jemandem zu helfen, der auf dem Boden lag. Es war Miguel. Er war neun Stockwerke in die Tiefe gestürzt. Die weiße Hausherrin hatte auf ihn aufpassen sollen. Sie lackierte gerade ihre Nägel. Miguel wollte zu seiner Mutter, sie verlor die Geduld. Sie brachte ihn zum Fahrstuhl und drückte auf den Knopf. Miguel drückte auf weitere Knöpfe und stieg im neunten Stockwerk aus. Er kletterte an einem Geländer hoch und fiel. Der kleine Miguel starb in den Armen seiner Mutter im Krankenhaus. Die Anwälte der Hausherrin werfen Miguel vor, seinen Tod selbst verschuldet zu haben. Miguel war fünf Jahre alt. Er wollte zu seiner Mutter. Träumte davon, Polizist zu werden. Er war ein Schwarzer Junge.

Lass sie tragen, was sie will!
Illustration: Denise Silva, @ise_camaleoa


RASSISMUS ALS RÜCKGRAT BRASILIENS

Diese Geschichten sind alltägliche Ereignisse im Leben Schwarzer Familien aus den brasilianischen Vorstädten. Die Entmenschlichung Schwarzer Körper in Brasilien ist Ausdruck des Rassismus, der die Gesellschaft strukturiert und die Gewalt auf allen Ebenen schürt und legitimiert.

Brasilien ist ein Land, das in seiner DNA den Kolonialismus trägt. Es hat seinen Reichtum auf der Versklavung Schwarzer Körper aufgebaut. Mit dem Ende der Sklaverei wurde europäische Einwanderung gefördert, um Brasilien zu einem weißen Land zu machen. Es gab viele Bestrebungen, die Schwarze Bevölkerung auszurotten. Auch eine Politik der Massensterilisation Schwarzer Frauen gehörte dazu. Die Vernichtungspolitik von damals wird heute auf konsequente und institutionelle Weise fortgesetzt. Das, was sich als struktureller Rassismus festgesetzt hat, ist das Rückgrat im Aufbau Brasiliens. Rassismus ist Teil der Gesetze und der Polizeipraktiken, die nach der Sklaverei entstanden sind. Er liegt in der Abwertung des Wissens, das mit den versklavten afrikanischen Menschen kam, in der Gewalt gegen afro-religiöse Räume, darin festzulegen, dass bestimmte Körper für Gewalt und Tod zur Verfügung stehen.

Alle 23 Minuten wird in Brasilien ein junger Schwarzer Mann ermordet, stellt der Atlas der Gewalt 2020, ein Bericht des Instituts für angewandte Wirtschaftsforschung (IPEA) und des brasilianischen Forums für öffentliche Sicherheit, fest. Die von 2008 bis 2018 erhobenen Daten der Studie zeigen auch, dass 75,7 Prozent aller Mordopfer Schwarz sind. Polizeigewalt ist die Hauptursache für den Genozid an Schwarzen Jugendlichen, die Militärpolizei funktioniert dabei als bewaffneter Arm des Staates. Es sind die Mütter, die den Kampf für Gerechtigkeit für die ihren aufnehmen.

Die Gewalt gegen Frauen, insbesondere gegen Schwarze Frauen, nimmt im Kontext der Corona-Pandemie rapide zu. Zuhause eingesperrt mit ihren Aggressoren, können sie keine Anzeige erstatten oder dem Ort entkommen, an dem ihnen die schlimmsten Straftaten angetan werden. Laut Atlas der Gewalt 2020 wird in Brasilien alle zwei Stunden eine Schwarze Frau ermordet. Im Jahr 2018 waren 68 Prozent der ermordeten Frauen Schwarz. Wenn wir über Schwarze Frauen sprechen, sprechen wir über Menschen, die doppelt diskriminiert werden: weil sie Frauen sind und weil sie Schwarz sind. In Brasilien steht die Schwarze Frau an unterster Stelle. Sie verdient am wenigsten und ist doch diejenige, die Haushalt und Kinder versorgt. Diese Logik ist ein Erbe aus der Zeit der Versklavung, die die soziale und politische Struktur in Brasilien bis heute aufrechterhält. Schwarzsein bedeutet für die Behörden eine totale Entmenschlichung. Das hält Schwarze Frauen davon ab, Unterstützung bei den Institutionen zu suchen, die sie schützen sollten. Stattdessen werden sie kriminalisiert, wenn sie Gewalterfahrungen machen. Bei der Polizei, zum Beispiel. Es gibt spezielle Dienststellen, die Frauen in Gewaltsituationen aufnehmen. Diese sind Montag bis Freitag von 8.00 bis 18.00 Uhr geöffnet, an Wochenenden geschlossen. An den Wochenenden, wenn die meisten Männer zu Hause sind, wissen diese also, dass sie nicht gestoppt werden. Die Behandlung weißer Frauen auf Polizeistationen unterscheidet sich stark von der Behandlung Schwarzer Frauen. Weiße Frauen werden als verletzlich angesehen, umsorgt, mit Menschlichkeit behandelt und sogar ermutigt, ihre Aggressoren anzuzeigen. Schwarze Frauen, die dieselbe Unterstützung suchen, werden so behandelt, als würden sie die Wut ihres Aggressors provozieren und seien letztlich selbst für die erlittene Gewalt verantwortlich.

Gewalt gegen trans Frauen, Lesben und Travestis wird unsichtbar gemacht, was eine weitere Form der Gewalt darstellt. Der Bundesverband der Transgender und Transsexuellen ANTRA hat Zahlen zur Gewalt gegen den „von der Norm abweichenden” Körper untersucht, um entsprechende politische Maßnahmen des Staates zu fordern: 82 Prozent der ermordeten trans Frauen und Travestis waren Schwarz. Der Bericht, der sich auf die Monate Januar bis August 2020 bezieht, zeigt einen Anstieg der Todesfälle um 70 Prozent verglichen mit dem gleichen Zeitraum im Vorjahr. Die Mehrheit der Trans und Travesti, die von Sexarbeit lebt, ist Schwarz (Travesti ist ein Eigenbegriff, der eine lateinamerikanische politische Identität von transfem transgender Personen beschreibt. Zur ausführlicheren Besprechung dieses Begriffs siehe LN Nr. 525, Anm. d. Red.). Trotz Maßnahmen zur sozialen Isolation während der Pandemie mussten sie weiterhin auf der Straße arbeiten. Weniger belebte Straßen jedoch führen dazu, dass sie neben dem Virus auch der Gewalt der Männer ausgesetzt sind, die gewalttätig und grausam handeln und wissen, dass sie dafür nicht bestraft werden.

São Paulo ist der brasilianische Staat, der die meisten trans Frauen, Travestis und Lesben im Land tötet. Die Initiative des Zentrums für soziale Eingliederung (NIS) und die Organisation „Wir: Feministische Dissidenzen“ erhebt auf der Grundlage von Zeitungsberichten Daten zum „Lesbozid“. Die Daten zeigen, dass auch dieses Thema unsichtbar gemacht wird und es schwierig ist, Rechte von lesbischen Frauen zu verteidigen. Oft ist es den Medien nicht wichtig genug zu berichten und wenn, dann berichten sie über weiße Opfer. Die brasilianischen Medien spielen sich nicht nur als Richter auf, sie entscheiden auch, welche Körper Aufmerksamkeit verdienen. LBTT-Körper, insbesondere Schwarze Körper, stehen im Zentrum der Gewalt und am Rand der öffentlichen Politik. Gewalt gegen weiße Frauen führt zu gesellschaftlicher Empörung und wird zu einer Nachricht in den Medien. Gewalt gegen Schwarze Frauen taucht nur in den Mordstatistiken auf. Sie werden unsichtbar gemacht und ihre Schmerzen entmenschlicht.

Die Gegenwart ist feministisch
Illustration: Valeria Araya, @onreivni


FRAUEN IN BEWEGUNG: MARSCH DER SCHWARZEN FRAUEN VON SãO PAULO

Angesichts der Vergewaltigung unserer Mädchen, des Missbrauchs und der Gewalt an unseren Körpern, im Kampf um das Recht auf Leben unserer Schwarzen Jungen und Jugendlichen, für das Recht auf Leben von trans Frauen, Travestis und Lesben demonstrieren wir für uns, für uns alle, für das Gute Leben. 2015 marschierten 50.000 Frauen in die Hauptstadt Brasília, wo sie mit Schüssen und Tränengas empfangen wurden. Frauen aus ganz Brasilien eint der Wunsch zu leben und leben zu lassen.

Am Ende des gemeinsamen bundesweiten Marsches der Schwarzen Frauen 2015 organisierten die Gruppen, die sich für den Marsch gebildet hatten, weiter Aktionen in den Bundesstaaten. In São Paulo erkannte die Kerngruppe, die den Aufbruch der Paulistas nach Brasília organisiert hatte, das dort vorhandene politische Potenzial und die konkreten Möglichkeiten eines sozialen Wandels unter effektiver Beteiligung der Frauen. Seit dem 25. Juli 2016, dem Tag der afro-lateinamerikanischen und karibischen Frauen, marschieren wir jedes Jahr gegen alle Formen von Gewalt, Diskriminierung, gegen Faschismus und Kapitalismus, gegen den Genozid an den Schwarzen Jugendlichen, für das Leben.

Die Pandemie hat das Szenario verändert, aber nicht das Ziel. Mit einem virtuellen Protestmarsch haben wir zehn Stunden lang ununterbrochen Inhalte in unseren sozialen Netzwerken gesendet. Unser Ziel waren zwanzigtausend Zuschauer*innen und wir haben eine Million erreicht. Nicht einmal Covid-19 hält uns davon ab, anzuklagen und zu kämpfen.

Um gegen eine Regierung zu kämpfen, die den grausamen Plan eines Genozids in die Tat umsetzt, hilft nur der Zusammenschluss der Protestbewegungen. Dies gilt auch für den Marsch der Schwarzen Frauen in São Paulo. Vereint in den Forderungen für das Gute Leben, bleiben wir in Bewegung. Unter dem Motto „Keinen Knast, keine Schießerei, kein Covid: Schwarze Körper sollen leben! Schwarze und Indigene Frauen! Für uns, für uns alle, für das Gute Leben!” arbeiten wir in Netzwerken und werden den Kampf fortsetzen, den wir seit Generationen kämpfen, der unser ist, der für uns ist.

Wir sind Schwarze cis Frauen, Indigene, lesbisch, bisexuell, trans, wir sind Travestis, Quilombolas, Aktivistinnen und Netzaktivistinnen, Selbstständige, Sexarbeiterinnen, jung, alt, studentisch, Erzieherinnen, Hausfrauen, Künstlerinnen, Arbeitslose, Angestellte im öffentlichen Dienst, Lehrerinnen, Wertstoffsammlerinnen, Gesundheitspersonal, Menschenrechtsverteidigerinnen, Parlamentarierinnen, Journalistinnen, wir sind katholisch, protestantisch, aus afrobrasilianischen Religionen, ohne Religion, aber mit Glauben an die Kraft jeder einzelnen von uns. Unsere Vielfalt ist unsere Stärke. Wir sind gemacht aus Kampf, Mut, Widerstand, Kühnheit und Zärtlichkeit.

KONSEQUENZLOSE BESORGNIS

G20 Gipfel in Japan 2019 Pressekonferent zum EU-Mercosur-Abkommen, Foto: Pálacio do Planalto via Flickr (CC BY 2.0)

Nein, Jair Bolsonaro hat in Deutschland wirklich keine gute Presse. Der brasilianische Präsident gilt als Tropentrump, als Zündler am Amazonaswald und obskurer Waffenfanatiker. Seit den wiederholten Bränden im Regenwald sind auch verharmlosende Stimmen, nach dem Motto „Alles wird nicht so heiß gegessen…“, weitgehend verstummt. Aber hat das auch Konsequenzen? Wie mit dem Brasilien Bolsonaros umgehen? Diese Frage muss sich sowohl die deutsche Wirtschaft wie die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) stellen. Denn Brasilien ist nichts weniger als strategischer Partner, für das BMZ gilt Brasilien als „globaler Entwicklungspartner“ und „Gestaltungsmacht“.

Schaut man auf die Zahlen, hat sich nicht viel verändert. Zwar sind die Exporte aus Brasilien in die EU und nach Deutschland leicht zurückgegangen. Dafür haben sich aber die Importe aus der EU und Deutschland erhöht. Nach wie vor bleibt Brasilien der wichtigste Wirtschaftspartner in Lateinamerika und der Bundesverband der deutschen Industrie betont: „Heute sind in Brasilien über 1.600 deutsche Unternehmen aktiv. Sie erwirtschaften ca. zehn Prozent der industriellen Wertschöpfung. Allein in São Paulo befinden sich über 800 deutsche Unternehmen, die mehr als 250.000 Arbeitsplätze geschaffen haben. São Paulo ist damit der größte deutsche Industriestandort außerhalb Deutschlands.“

Bekannt ist inzwischen, dass Vertreter*innen der deutschen Industrie den Wahlsieg Bolsonaros geradezu enthusiastisch begrüßten. Die Töne sind leiser geworden, aber grundsätzlich hat sich nichts geändert. Das wurde auf den Deutsch-Brasilianischen Wirtschaftstagen, die im September 2019 in Natal stattfanden, nur allzu deutlich. Dort erklärte der VW-Vertreter Andreas Renschler: „Die Agenda von Brasiliens Wirtschaftsminister Paulo Guedes scheint in die richtige Richtung zu gehen: Dringend benötigte Reformen wie im Rentensystem werden angegangen, die Infrastruktur soll modernisiert, der Markt sukzessive geöffnet und der Staat entbürokratisiert werden. All das fordern wir als deutsche Wirtschaft seit Jahrzehnten. Wenn mehr Marktwirtschaft gewagt wird, kann nachhaltiges Wachstum entstehen. Davon werden nicht nur die deutschen Unternehmen profitieren, sondern auch die Brasilianer selbst.“ Damit wird ein Grundsatz in der Bewertung durch die deutsche Wirtschaft zum Ausdruck gebracht: Die Absetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik als „vernünftig“ von den Verrücktheiten des Präsidenten.

Die Bundesregierung hält am EU-Mercosur-Abkommen fest

Einen bemerkenswerten Auftritt auf der Tagung hatte übrigens Eduardo Bolsonaro, einer der Söhne des Präsidenten, als er verkündete: „Die besten Pistolen stellt nun mal Deutschland her.“ Man kann sich vorstellen, wie die Wirtschaftsbosse zusammenzuckten. Denn über Waffengeschäfte redet man so nicht, gedeihen sie doch am besten außerhalb der Scheinwerfer der Öffentlichkeit. Und da gibt es keinen Grund zu klagen. Im März 2020 erhielt ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) den Zuschlag für vier Korvetten für die brasilianische Marine. Wert des Deals: 1,8 Milliarden Euro.

Die schlechten Meldungen aus Brasilien mögen für die Wirtschaft zwar ein Imageproblem schaffen, haben aber den Beziehungen bisher nicht geschadet. Vor diesem Hintergrund muss wohl die überraschende Unterzeichnung des EU-Mercosur-Abkommens im Jahre 2019 gesehen werden. Weder die EU noch die Bundesregierung schreckten davor zurück, mit der Regierung Bolsonaros das Abkommen auszuhandeln. Seitdem ist das EU-Mercosur-Abkommen in die Kritik geraten und Kampagnen dagegen zeigen Wirkung.

Dennoch hält die Bundesregierung an dem Abkommen fest, wie in der Antwort auf eine Anfrage von Mitgliedern der Grünen-Bundestagsfraktion im September 2020 deutlich wird: „Die Bundesregierung unterstützt Geist und Intention des EU-MERCOSUR-Abkommens weiterhin, da es nach ihrer Ansicht aufgrund seiner politischen Bedeutung, seiner wirtschaftlichen Relevanz und auch seiner verbindlichen Nachhaltigkeitsbestimmungen mit entsprechenden Überprüfungs-, Beschwerde- und Reaktionsmechanismen – unter anderem zur wirksamen Umsetzung des Pariser Klimaabkommens, zur nachhaltigen Forstwirtschaft und zum Vorgehen gegen illegale Entwaldung – grundsätzlich im Interesse Deutschlands und der EU ist.“ Zwar räumt sie danach ihre Besorgnis wegen des Amazonas ein – aber was muss denn noch passieren, damit Besorgnis Konsequenzen hat?

Solch konsequenzenlose Besorgnis ist das Leitmotiv. Die Regierung kann schlecht behaupten, dass ihr nicht bekannt sei, was in den Medien mit Quellen dokumentiert ist. Aber symptomatisch ist, wie auf die Frage nach der Gefährdung der Demokratie geantwortet wird: „Die Föderative Republik Brasilien verfügt über ein mit zahlreichen Kompetenzen ausgestattetes Parlament, aufgeteilt in Abgeordnetenhaus und Senat, sowie über eine unabhängige Justiz. Derzeit bestehen aus Sicht der Bundesregierung keine Gründe, an der Funktionsfähigkeit der Gewaltenteilung zu zweifeln.“

Aber die Frage zielte gar nicht auf die Gewaltenteilung ab, die Regierung drückt sich vor der Antwort. Noch klarer wird das beim nächsten Punkt der Anfrage: „Kennt und wie bewertet die Bundesregierung Analysen, in denen Expertinnen und Experten die zunehmende Gefahr einer Außerkraftsetzung demokratisch-parlamentarischer Rechte sowie eine Militarisierung von Politik und Gesellschaft in Brasilien diagnostizieren?“
Antwort: „Die Bundesregierung nimmt Analysen Dritter zur Kenntnis.“ Dabei war doch ausdrücklich auch nach der Bewertung gefragt.

In vielen Teilen zeugt das Dokument von Chuzpe, die Fragen einfach zu ignorieren oder nur teilweise zu beantworten. Aber das hat wohl System. Deutlich wird auch, dass die Bundesregierung auch an der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) mit Brasilien festhalten will. Hier wird es nun aber brenzlig. Denn Schwerpunkt der EZ mit Brasilien war und ist der Umweltbereich und insbesondere der Schutz Amazoniens. Es ist aber nicht zu leugnen, dass unter Umweltminister Ricardo Salles eine systematische Demontage des Umweltbereichs stattgefunden hat. Das betraf auch die internationale Kooperation direkt: Einseitig hat Salles den milliardenschweren Amazonasfonds suspendiert, nur bereits bewilligte Projekte werden noch weitergeführt. Verbunden ist dies mit verbalen Ausfällen gegen NGOs, die wichtige Partnerinnen des Amazonasfonds und der internationalen Kooperation waren und sind. Bolsonaro bezeichnete diese jüngst als Krebsgeschwür.

Brasilien bleibt Deutschlands wichtigster Wirtschaftspartner in Lateinamerika

Hier helfen nun auch Verharmlosungen nicht mehr weiter, mit diesem Umweltministerium ist keine Kooperation möglich. Stattdessen baut die Bundesregierung die Kooperation mit einzelnen Bundesstaaten und mit dem Agrarministerium aus. Letzteres ist besonders bedenklich. Das Agrarministerium ist in Brasilien eindeutig die Interessenvertretung des Agrobusiness und wird von einer Vertreterin desselben, Tereza Cristina, geleitet.

Mit selbiger Tereza Cristina hat nun die deutsche Landwirtschaftsminsterin Julia Klöckner die Einrichtung des Kooperationsvorhabens Deutsch-Brasilianischer Agrarpolitischer Dialog (APO) vereinbart. Das Treffen dazu fand während der Grünen Woche 2020 in Berlin statt. „Die Landwirtschaftssektoren von Brasilien und Deutschland rücken näher zusammen“, kommentierte die brasilianische Presse. Diesem neuen Honeymoon mit dem brasilianischen Agrobusiness liegt eine strategische Bewertung zugrunde: Dass nämlich so verantwortlichere, nachhaltigere Methoden der Landwirtschaft zu fördern seien. Das Agrobusiness nachhaltiger zu gestalten, scheint die Absicht zu sein, nachhaltige Lieferketten und auch Bioökonomie sind die Schlagwörter. Hier wird aber völlig von der politischen Bedeutung des Agrobusiness abstrahiert. Es ist ein treuer Unterstützer der Regierung Bolsonaro und profitiert letztendlich vom Abbau der Umweltgesetzgebung in Brasilien. Jenseits der Sinnhaftigkeit einzelner Projekte – diese Kooperation ist politisch ein fatales Signal, nur vergleichbar mit einem Projekt zum Müllrecycling mit der Mafia.

Aber was tun? Die Forderung, unter den gegebenen Umständen den EU-Mercosur-Vertrag nicht zu ratifizieren, ist in der Zivilgesellschaft weitgehend Konsens. Sie zielt auch anders als etwa offene Briefe von Investor*innen, mit der Aufforderung die Entwaldung in Amazonien zu stoppen, auf klare Konsequenzen ab. Tatsächlich wäre die Nicht-Ratifizierung ein deutliches und wahrnehmbares Signal.

Aber eine Forderung, die gesamte Entwicklungszusammenarbeit mit Brasilien einzustellen, ist es nicht – das wird auch von der brasilianischen Zivilgesellschaft nicht gefordert. Immer noch besteht die Hoffnung, dass über existierende Programme auch Sinnvolles gefördert werden kann und etwa der Amazonasfonds wiederbelebt werden könnte – und damit auch die Unterstützung indigener Völker. Auch schließt die Förderung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Gelder für die kirchlichen Hilfswerke, die politischen Stiftungen und zahlreiche NGOs ein, die mit der brasilianischen Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Diese Förderung will, gerade in finsteren Zeiten, niemand einstellen. Die Frage ist eher, inwiefern Unterstützung der brasilianischen Zivilgesellschaft in Zukunft überhaupt noch möglich sein wird. Die Meldungen über bürokratische Hürden und Schikanen häufen sich. Eine Forderung könnte deshalb sein, unter der Präsidentschaft Bolsonaro keine weiteren Kooperationen mit der brasilianischen Bundesregierung und insbesondere nicht mit dem brasilianischen Agrarministerium einzugehen.

LYRIK AUS LATEINAMERIKA

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

 

Posso vislumbrar meu futuro
num mundo de caricatos moribundos
Sou o anterior e assim sendo
mais belo, mais eu, mais puro
Era apenas uma sombra
hoje, sobra luz agonizante
como pás de cal em cima do assunto
Monólogo: monótono proparoxítona
ou seja, me sentas na sílaba fraca
A palavra mata.
A palavra mesmo morta mata.
Olho ao redor e pressinto
labirintos em espirais coloridos
longe do arco-íris; perto de ti
tão perto que te confunde
A roda emperra na areia da frase solta
e eu guardo meu riso de escárnio
para usá-lo na presença
de apenas uma testemunha:
O meu retrovisor.

 

Ich sehe den Schimmer meiner Zukunft
in einer Welt grotesker Moribunder
Der Vorige bin ich und darum
schöner, selbster, reiner
Kaum mehr als ein Schatten war ich
heute, verbleichendes Licht überflüssig
wie die Schippe Kalk aufs begrabene Thema
Monolog: monotones Proparoxytonon
das heißt, du setzt mich auf die schwache Silbe
Das Wort tötet.
Selbst das tote Wort tötet.
Ich sehe mich um und spüre
bunte Labyrinthe in Spiralen
fern dem Regenbogen; nah bei dir
so nah, dass es dich verwirrt
Das Rad blockiert im Sand des losen Satzes
und ich hebe mir mein höhnisches Lachen auf
zur Benutzung
vor nur einem Zeugen:
Meinem Rückspiegel.

POESIE UM MITTERNACHT

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Valdemilton Alfredo de França – überall França genannt – wurde 1955 in der Stadt Cabo de Santo Agostinho im brasilianischen Bundesstaat Pernambuco geboren und starb 2007 mit nur 52 Jahren. Er begann sein künstlerisches Leben zu Beginn der 1980er Jahre, als sich Brasilien noch immer in einer Phase von Militärdiktatur und Unterdrückung der Kultur befand. Auf den Korridoren der staatlichen Universität in Recife lässt sich França mit den Studenten der darstellenden Künste ein und beginnt über das Theater Gedichte zu schreiben. Seine Lyrik ist scharf wie ein doppelschneidiges Messer, seine Gedichte sind stark, ihre Poesie ein unterdrückter Schrei.

Als erstgeborener Sohn der Dona Jandira und des Seu Manuel, hin- und hergezogen zwischen Olinda und Cabo, zwischen dem Haus der Eltern und dem Haus der Großmutter, ein 14-jähriger Poet und schon Jugendpastor in der Kirche, arbeitet er in einer Fabrik und geht noch dazu in die Schule. Mit 17 Jahren wurde ihm die Kirche zu klein, genau wie die Fabrik, und er setzt sein Leben in einem Land fort, das die Schwarzen verleugnet und sie von jeder Sozialpolitik ausschließt. Brasilien ist ein Betrug an seinem Volk, Brasilien behandelt seine Kinder schlecht. Und in dieser Vorverurteilung, mit der man schon zur Sklaverei verdammt geboren wird, hebt sich França hervor, der Psychologie studiert, Ökonomie und schließlich einen Abschluss in den darstellenden Künsten macht. Seine Hingabe gilt auch der Capoeira Angola.

In den 1990er Jahren gründet França in Olinda die Bar „Gesellschaft der lebenden Dichter”, deren Name ein Antagonismus zum Film Der Club der toten Dichter ist. Die Bar verwandelt sich in einen Treffpunkt der Dichter, Intellektuellen und Marginalisierten der Gesellschaft. Dort entstehen die ersten Recitais, öffentliche Vorträge von Lyrik. Nach sechs Jahren schließt die Bar ihre Türen. Alkoholvorräte und Kasse ertrugen die Schulden der Poeten nicht, die nie gezahlt wurden. França trägt die Lyrik auf die Straßen, nimmt die Poesie mit dorthin, wo das Volk sich herumtreibt, und beginnt so mit seinem Sarau durch die Viertel von Olinda zu ziehen, wo Betrunkene, Taxifahrer, Straßenkinder, Prostituierte, Musiker und Leute aus allen Bereichen sich zum Ausdruck bringen und ihre Gedichte rezitieren, die sie manchmal auf Toilettenpapier geschrieben mitbringen. Die Uhrzeit war sehr speziell: Der Sarau begann immer an einem Donnerstag um Mitternacht.

França war eine Quelle der Inspiration, nicht nur für die von Kreativität überbordende Jugend, sondern auch für das ältere Publikum. Der Sarau wächst und wächst, es gibt viele Teilnehmende und so beginnt eine wöchentliche Tournee von Haus zu Haus, unter der Wirkung von Wein und Cachaça. Die Poesie ist Schmerz, die Poesie ist eine Waffe gegen die Repression, die Poesie transformiert.

Der Sarau wird von França mit dem Namen Bewegung Ich Umherirrender Dichter getauft. Die Poesie wandert wie die Sandkörner am Strand unter dem Hauch des Windes und so gibt ihr der Dichter Form, gibt ihr Kontext, verleiht der Wortkunst Leben. Für França war die Poesie etwas, das in Bewegung ist, das sich immer in ständiger Veränderung befindet. Er war ein Meister der Interpretationskunst, seine Poesie war immer eine der Gestik, er verkörperte die Lyrik, und schuf so eine sehr spezielle Form der Vermittlung.

„Das Meer hat so viele Muscheln, und ich bin hier, um Schiffe zu sehen”, deklamierte der Poet seinen Schmerz, während er Fülle und Überfluss im Widerspruch zur Armut kritisierte. „Das Wort tötet, selbst das tote Wort tötet.”

BIGOTTERIE STATT BEFREIUNG

Stimmen wie seine fehlen Oscar Romero war einer der wichtigsten Befreiungstheologen (Foto: Alison McKellar (CC-BY-2.0), Flickr)

Ein juristisch legaler Schwangerschaftsabbruch aufgrund der Vergewaltigung eines zehnjährigen Mädchens zeigte Mitte August erneut die ungebrochene Macht konservativer Kreise in Politik und Kirche Brasiliens. Seit ihrem sechsten Lebensjahr hatte der Onkel das Mädchen missbraucht und obwohl das brasilianische Gesetz einen Schwangerschaftsabbruch nach einer Vergewaltigung und bei Gefahr für das Leben der Mutter erlaubt, wurde dieser Vorfall in den sozialen Medien skandalisiert. Abbruch, ja oder nein? Evangelikale und die katholische Amtskirche vereinten sich in einem bedenklichen Schulterschluss. Walmor Oliveira de Azevedo, Erzbischof von Recife und Olinda sowie Vorsitzender der brasilianischen Bischofskonferenz, bezeichnete den Abbruch als Verbrechen. „Die Kirche verteidigt das Leben“, kommentierte er in einem Video. Gemeinsam mit Vertreter*innen der Evangelikalen wurde Stimmung gegen die Abtreibung gemacht.

Die evangelikale Familienministerin Damares Alves nutzte den Fall für eine politische Kampagne. Sie übte Druck auf das Mädchen und seine Familie aus, indem sie öffentlich versprach, nach der Geburt „zu helfen“, und schickte „Abgesandte“ in die Kleinstadt São Mateus im Bundesstaat Espírito Santo. Mit Erfolg: Die eigentlich zuständige Klinik weigerte sich, die Abtreibung durchzuführen, der Fall musste vor Gericht und das Mädchen nach Recife reisen, um zu seinem Recht zu kommen. Evangelikale Kreise veröffentlichten den Namen des Kindes und den der Klinik, in der die Abtreibung durchgeführt wurde. In Protesten vor dem Krankenhaus versuchten sie, sich dort gewaltsam Einlass zu verschaffen und griffen das Klinikpersonal und Frauenorganisationen an, die für die Rechte des Opfers demonstrierten.

Entstanden ist diese theologische Richtung in Reaktion auf die politischen Situation der 1960er und 1970er-Jahre in Lateinamerika

Vertreter*innen innerhalb der katholischen Kirche mit einer anderen Sichtweise hielten sich bedeckt. Nur der Befreiungstheologe Leonardo Boff sprach offen davon, dass es gelte, das Leben des Mädchens zu retten. Und Theolog*innen wie Boff werden in Brasilien immer weniger. Nur wenige Tage vor dem skandalisierten  Schwangerschaftsabbruch starb mit Pedro Casaldáliga eine der letzten und wichtigsten Stimmen der Befreiungstheologie.

Entstanden ist diese theologische Richtung in Reaktion auf die politischen Situation der 1960er und 1970er-Jahre in Lateinamerika, gekennzeichnet durch Militärdiktaturen und die Unterdrückung weiter Teile der Bevölkerung. Ausgehend von einem Treffen progressiver Bischöfe in Medellín im Jahre 1968 gelangte man zu einer Neuinterpretation der Bibel. Angesichts der herrschenden sozialen und politischen Verhältnisse habe die Kirche die Aufgabe, die „Stimme der Armen“ zu sein. Theologie müsse die Lebenswirklichkeiten anerkennen und sich eindeutig auf der Seite der Armen gegen jegliche Form von Unterdrückung stellen: „Option für die Armen“ lautete das Schlagwort.

Die in Medellín formulierte Sichtweise der lateinamerikanischen Kirche basierte zum einen auf den bereits in den 1950er-Jahren entstandenen Basisgemeinden, denen die urchristliche Gemeinschaft als Vorbild diente. Ein weiterer Impuls war das Zweite Vatikanische Konzil von 1962 bis 1965. Hier wurde die Erneuerung der Kirche propagiert. Der brasilianische Bischof von Recife, Dom Helder Camâra, war im „Katakombenpakt“ – benannt nach einem Treffen von 40 Bischöfen in der Domitilla-Katakombe – bereits sehr aktiv und bereitete das Terrain für eine lateinamerikanische, nicht mehr eurozentristische Sichtweise in der Theologie.

Nach Medellín gewann die Befreiungstheologie viele Anhänger*innen. Der peruanische Theologe Gustavo Gutiérrez gab ihr mit seinem Buch Teología de la Liberación 1971 einen Namen, Vertreter*innen wie Ernesto Cardenal in Nicaragua oder Jon Sobrino in El Salvador versuchten die Umsetzung. Manch ein Priester, wie Camilo Torres in Kolumbien, schloss sich dem bewaffneten Widerstand an. Die Mehrzahl der Befreiungstheolog*innen vertrat aber eine Veränderung mit friedlichen Mitteln: Tausende sozialpolitisch engagierte Basisgemeinden entstanden und die Forderung nach strukturellen Veränderungen wurde lauter.

Was Casaldáliga damals schrieb, hat bis heute nichts an Bedeutung verloren


Die herrschenden Militärdiktaturen verfolgten beide Richtungen in der Befreiungstheologie. Der Mord am befreiungstheologisch ausgerichteten Erzbischof von San Salvador, Oscar Romero, im Jahre 1980 erregte internationale Aufmerksamkeit. Auch Pedro Casaldáliga wurde als Kommunist beschimpft und erhielt bis ins hohe Alter immer wieder Morddrohungen. Als er 1971 zum Bischof ernannt wurde, veröffentlichte er gleich zu Beginn ein Dokument, in dem er die Machenschaften der Großgrundbesitzer*innen im Zusammenspiel mit den Militärs anprangerte: „Eine amazonische Kirche im Konflikt mit dem Großgrundbesitz und der sozialen Marginalisierung“. Er analysierte die dramatische Situation der Kleinbauern und -bäuerinnen und Indigenen, stellte sich eindeutig auf deren Seite, prangerte die Großgrundbesitzer*innen und die Agrarindustrie an und forderte eine grundlegende Agrarreform.

Was Casaldáliga damals schrieb, hat bis heute nichts an Bedeutung verloren. Dies zeigen nicht zuletzt die jährlich veröffentlichten Statistiken zu Landkonflikten und deren Opfern, herausgeben von der 1975 gegründeten Landarbeiterpastorale CPT, aus der 1985 die Landlosenbewegung MST hervorging. Die CPT war ebenso ein Ergebnis des Einsatzes von Pedro Casaldáliga wie der 1972 entstandene Indigenenmissionsrat CIMI. Dieser erhebt immer wieder deutlich die Stimme gegen die rechtsgerichtete Regierung Bolsonaro. Ein Einhalt des Eindringens in Indigenengebiete, Schutzmaßnahmen für die Indigenen – zuletzt gegen die Corona-Pandemie – und eine Anerkennung indigener Rechte sind ständig wiederkehrende Forderungen.

Sowohl Pedro Casaldáliga als auch andere Befreiungstheolog*innen sahen sich nach Medellín nicht nur von politischen Kreisen, sondern auch von der Amtskirche Kritik und nicht selten Verfolgung ausgesetzt. Der Vorwurf lautete Vernachlässigung der pastoralen Aufgaben sowie Verwendung marxistischer Terminologie. Die international bekanntesten Beispiele sind der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff, dem unter dem damaligen Papst Johannes Paul II. ein „Bußschweigen“ auferlegt wurde, sowie Ernesto Cardenal, der seines Priesteramtes enthoben wurde. Dom Pedro konnte dank des Rückhalts durch die brasilianische Bischofskonferenz weiter arbeiten. Vielen ging er jedoch, obwohl er immer für gewaltfreien Widerstand plädierte, in seinen Aussagen zu weit.

Mit dem Amtsantritt des Papstes Franziskus schöpften die Anhänger der Befreiungstheologie neue Hoffnung

Bereits in den Jahren der Amtszeit von Johannes Paul II. war spürbar, nicht zuletzt durch dessen Politik der Bischofsernennungen, dass die konservative Strömung wieder zunahm und die Bedeutung der Basisgemeinden schwand. Dennoch gibt es die Basisgemeinden noch in Brasilien. Nicht selten sind es einzelne Padres wie José im Maranhão oder Romulo in Paraíba, die das Anliegen der Befreiungstheologie weiterverbreiten, dabei jedoch von ihren Bischöfen in der Regel keine Unterstützung erfahren. Wo sie tätig sind, gelingt das Vordringen evangelikaler Gemeinden seltener. Das Eingehen auf die Lebenswirklichkeit und das Suchen nach gemeinsamen Lösungen verhindert die Abwanderung zu den Evangelikalen. Diese haben in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt deshalb einen solchen Aufschwung genommen, weil sich viele Menschen – gerade in unterprivilegierten Stadtteilen und Regionen – von ihnen angenommen fühlen. Laut dem staatlichen Statistikinstitut IBGE bekannten sich 1940 noch 95 Prozent der brasilianischen Bevölkerung zum Katholizismus. Mittlerweile liegt der Wert bei 45 Prozent mit stetig abnehmender Tendenz.

Mit dem Amtsantritt des derzeitigen Papstes Franziskus im Jahr 2013, seinen kapitalismuskritischen Äußerungen und einigen von ihm veranlassten Maßnahmen schöpften die Anhänger der Befreiungstheologie neue Hoffnung: Oscar Romero wurde zum Heiligen erklärt, Dom Helder Camâra bekam den Rang eines Seligen, mit Leonardo Boff erfolgte die Versöhnung. Die „Option für die Armen“ erhielt auf der Amazonassynode 2019 erneut Bedeutung. Dennoch: Skepsis ist angebracht, nicht zuletzt, da die Machtstrukturen im Vatikan fest zementiert scheinen. Es ist offen, ob die befreiungstheologische Strömung in der Praxis wieder einen sichtbaren Aufschwung nimmt und die noch bestehenden Basisgemeinden davon womöglich profitieren können.

Im brasilianischen Alltag unter Präsident Bolsonaro bedarf es mehr Menschen wie des Theologen Leonardo Boff, die in der Öffentlichkeit Stellung beziehen. Die eindeutig konservative Mehrheit innerhalb der katholischen Kirche scheint bei dem Thema Schwangerschaftsabbruch einer Meinung mit den Evangelikalen zu sein. Die katholische Kirche schwimmt – entgegen mancher päpstlicher Verlautbarung – weiter fest im konservativen Wasser. Eine notwendige öffentliche Hinterfragung von menschenrechtsverletzenden Sichtweisen und eine Befreiung von verkrusteten Strukturen findet zumindest derzeit nicht statt.

DIE DEMOKRATIE NIE AKZEPTIERT

Pedro Teixeirense
ist Historiker und Autor des Buches Die Erfindung des Feindes: Geschichte und Erinnerung in den Dossiers und Kontra-Dossiers der brasilianischen Militärdiktatur (1964 – 2001). Für die gleichnamige Doktorarbeit an der Universidade Federal do Rio de Janeiro (UFRJ) erhielt er 2018 den Forschungspreis Memórias Reveladas des Nationalarchivs. Er forschte u.a. für die brasilianische Wahrheitskommission (CNV) und verschiedene internationale Organisationen. 2016 erhielt er ein Stipendium und war Assistenzprofessor an der Ruhr-Universität Bochum.
(Foto: Privat)


Warum befürchten so viele Beobachter der brasilianischen Politik einen erneuten Militärputsch?
Als der Kandidat Bolsonaro Mitte 2018 bekannter wurde, ist vielen klar geworden, dass weder sein Profil noch seine Geschichte politisch mit einer Demokratie kompatibel sind. So entstand die Angst vor einem Militärputsch. Das Militär hat außerdem die Kandidatur von Bolsonaro sehr aktiv unterstützt, er war der Kandidat der sogenannten „Familie des Militärs“. Diese schließt auch die Feuerwehr und die Polizeikräfte der Bundesstaaten, vor allem die Militärpolizei, mit ein. Gleichzeitig ist die brasilianische Demokratie nicht gefestigt, die Institutionen sind relativ instabil. Aber de facto hat dieser Putsch bisher nicht stattgefunden.

Dennoch ist die Beteiligung der Militärs an der Regierung Bolsonaro sehr hoch. Wie interpretieren Sie das?
Meiner Meinung nach haben wir heute keine Militärregierung, wie es einige Beobachter wegen der massiven Präsenz von Militärs in der Regierung behaupten. Es gibt mindestens 3.000 Militärs auf politischen Posten in der Regierung, viele der wichtigsten Regierungsämter sind mit Militärs besetzt. Einige interpretieren das so, dass dieser Einfluss einen Putsch unnötig gemacht habe. Ich halte diese Erklärung eher für kontraproduktiv. Denn was Bolsonaros Präsidentschaft wirklich bedeutet, ist die Zerschlagung von demokratischen Strukturen und Errungenschaften seit dem Ende der Diktatur. Seitdem er sein Amt angetreten hat, verletzt er eine ganze Reihe von neuen demokratischen Traditionen. Zum Beispiel nominierte er einen Militär für die Leitung der Casa Civil (Anm. d. Red.: Wichtigstes Ministerium, in der Funktion vergleichbar mit dem deutschen Bundeskanzleramt). Das letzte Mal war ein Militär dort Minister unter der Präsidentschaft von General João Figueiredo, kurz bevor die Diktatur endete.

Gibt es Parallelen zwischen der Situation 1964 und der heute oder – besser gesagt – zur Situation 2018?
Der Putsch 1964 und die Diktatur, die von da an etabliert wurde, sind die politischen Ereignisse, die die Entwicklung dieses Landes am stärksten geprägt haben. In den letzten 35 Jahren konnte Brasilien eine demokratische Erfahrung machen. In dem Augenblick, in dem eine Figur wie Bolsonaro auf der politischen Bildfläche erscheint, wird all das wieder bedroht. Da sich Bolsonaro aktiv mit der Militärdiktatur identifiziert, liegt der Vergleich mit 1964 nahe, ist aber aus meiner Sicht historisch durch nichts begründet. Das Land war anders und die Welt auch, diese unterschiedlichen Szenarien kann man nicht vergleichen.

Warum hat die „Familie des Militärs“ Bolsonaro dann aktiv unterstützt?
Bolsonaro repräsentiert die Frustration einer Gruppe von Militärs, die mit der Gründung eines demokratischen Staates im Jahr 1985 unzufrieden waren. Bolsonaro war sehr lange eine folkloristische Figur in der nationalen Politik, er wurde nicht sehr ernst genommen. Der politische Aktivismus der Streitkräfte 2018 zeigt eigentlich ihre mangelnde Bereitschaft, mit einem demokratischen System zu leben. Unter den lateinamerikanischen Staaten, die in den sechziger und siebziger Jahren Erfahrungen mit diktatorischen Regimes gemacht haben, ist Brasilien das einzige Land, das nach der Diktatur nicht einen einzigen Mechanismus vorsah, um die bewaffneten Streitkräfte zu bestrafen. Obwohl sie Menschenrechtsverletzungen begangen hatten, während sie an der Macht waren. Das Amnestiegesetz von 1979 erlaubte es den Streitkräften weiter so zu bestehen, als wäre nichts passiert. Es gab lediglich einen Wechsel der politischen Führung, keine Reform des Militärs.

Wie ist das aktuelle Verhältnis zwischen dem Militär und Bolsonaro?
Die aktive Partizipation an der Kampagne von Bolsonaro, die seinen Sieg möglich gemacht hat, und die massive Präsenz in der Regierung Bolsonaro hat eine symbiotische Beziehung etabliert. An beidem war und ist vor allem das Heer beteiligt. Deutlich wird die Symbiose einmal mehr daran, dass Bolsonaro mitten in der Tragödie der Pandemie alle Spezialisten aus dem Gesundheitswesen entließ, weil sie seine politisch motivierten Maßnahmen nicht mittragen wollten. Das Gesundheitsministerium leitet nun ein General im aktiven Dienst, der kein fachliches Wissen hat, das in der Pandemie nötig wäre. Es ist momentan sehr schwierig, die Streitkräfte von der Figur Bolsonaros zu trennen – obwohl das Militär dies praktisch täglich versucht, indem es behauptet, sowohl die aktiven Militärs wie die Reservisten in der Regierung würden als Individuen agieren und nicht als Teil der Institution.

Warum versuchen die Militärs, sich von der Regierung Bolsonaro zu distanzieren?
Ich denke, es gibt beim Heer, aber auch allgemein bei den Streitkräften, ein Bewusstsein, dass das Militär keine aktive politische Rolle übernehmen oder bestimmte ideologische Positionen favorisieren sollte. Deshalb versuchen sie, den Anschein einer funktionierenden staatlichen Institution aufrecht zu erhalten.

In Wirklichkeit hat das Militär aber seit 2018 eine sehr aktive politische Rolle bei der Unterstützung von Bolsonaro übernommen. Ein deutliches Beispiel dafür ist die Erklärung des aktiven Generals Villa Bôas, als der Oberste Gerichtshof, der STF, das Habeas-Corpus-Verfahren des ehemaligen Präsidenten Lula verhandelt hat. Wäre Lula nicht in Haft geblieben, hätte er im Präsidentschaftswahlkampf den PT-Kandidaten unterstützen können. General Villa Bôas hat dazu medienwirksam getwittert und das STF vor seiner Entscheidungsfindung bedroht. Am folgenden Tag hat nur einer der Richter des STF, der Dekan José Celso de Mello, diese Drohung kommentiert und die Einmischung des Generals zurückgewiesen. Ein weiteres Beispiel ist die praktische Unterstützung während des Wahlkampfes: Bolsonaro erhielt zwei Millionen Kontakte von aktiven Militärs für seine WhatsApp-Kampagnen.

Der Politologe João Roberto Martins Filho sieht einen Konflikt zwischen dem zivilen Bolsonarismus und den Generälen, die den Wahlsieg von Bolsonaro unterstützt haben – stimmen Sie damit überein?
Ja. Als diese Gruppe an die Macht kam, repräsentierte sie keinen einheitlich hegemonialen Block. Gleich im ersten Jahr der Präsidentschaft von Bolsonaro bestand ein Interessenkonflikt zwischen Militärs, die wie General dos Santos Cruz den Wahlkampf aktiv unterstützt hatten, und dem, was wir den zivilen Bolsonarismus nennen. Ich glaube, dass die Militärs zu Beginn die Illusion hatten, dass sie Bolsonaro kontrollieren können. Dieser war sich aber bewusst, dass er die Grenzen der militärischen Intervention in seiner Regierung deutlich machen musste. Gewisser­maßen als Kraftprobe entließ er in den ersten Monaten im Amt General dos Santos Cruz als Minister – ein eindeutiges Signal des Präsidenten, dass er derjenige ist, der befiehlt, und er nicht von den Militärs bevormundet wird.

Dos Santos Cruz war zuvor mit einem von Bolsonaros Söhnen in Konflikt geraten. Der Einfluss, den die Söhne um Bolsonaro herum ausüben, ist etwas völlig neues. Sie sind eine starke Gruppe innerhalb des zivilen Bolsonarismus, mit viel Einfluss über die sozialen Medien. Hinzu kommen Figuren wie der aktuelle Außenminister, Ernesto Araújo. Der Konflikt zwischen ihnen und der militärischen Führung führte zur Stärkung des zivilen Bolsonarismus, der tatsächlich viel konservativer ist als die Militärs. In der Regierung verblieben die Generäle, die dem zivilen Bolsonarismus ideologisch am nächsten stehen und gleichzeitig die konservativsten Sektoren des Militärs repräsentieren. Wie General Heleno, der in der Diktatur zu den Hardlinern gehörte, die sich gegen die Demokratisierung wehrten. Heute gehört er zu den “Negationisten”, die die Gefahr von COVID-19 leugnen und Verschwörungstheorien zu China verbreiten.

Warum führten diese Machtverschiebungen nicht zu Konflikten innerhalb des Militärs?
Ich glaube, dass die Strukturen innerhalb der Streitkräfte auf komplexe Weise funktionieren. Sie repräsentieren keine homogene Macht. Eine weitere Tatsache wird häufig übersehen, spielt aber vielleicht im Kalkül der Generäle eine wichtige Rolle: Heute genießt der Bolsonarismus hohes Ansehen bei den Polizeikräften der Bundesstaaten, in den kleinen Streitkräften der Militärpolizei. In der Corona-Krise wurde dies sehr deutlich. Anders als in Deutschland, gab es in Brasilien einen Konflikt zwischen den Gouverneuren der Bundesstaaten, die sich an den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation orien­tierten, und der Regierung Bolsonaro, die diese unterminierten. Die Militärpolizei von São Paulo machte sehr deutlich, dass sie die Maßnahmen des Gouverneurs nicht unterstützt, obwohl sie unter seinem Kommando steht. Denn ideologisch ist die Militärpolizei mit der Regierung Bolsonaro verbunden. Das Kommando des Heeres hat möglicherweise verstanden, dass ein Bruch mit Bolsonaro Brasilien vielleicht in einen Bürgerkrieg treiben würde. Falls die Heeresleitung ihm ihre Unterstützung entzieht, würde Bolsonaro vielleicht die Unterstützung der Militärpolizei suchen. Und über diese hat die Heeresleitung keine Befehlsgewalt.

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