IM PATRIARCHALEN HINTERLAND

Bárbara Colen in Fogaréu, Berlinale 2022 (Foto: © Bananeira Filmes)

Bewertung 5 / 5

Es fällt schwer, diesen Film nicht in Superlativen zu loben: Fantastische Hauptdarstellerin, exzellente Besetzung bis in die Nebenrollen, außergewöhnlich gelungenes Drehbuch, immer neue, ungewöhnlichen Wendungen und eindrucksvolle Landschaftsbilder aus dem Agrarstaat Goiás mit seinen gigantischen Feldern und Weiden. Nicht zu vergessen die gelungene Einbeziehung des politischen Grauens Brasiliens in eine Familiengeschichte, die Regisseurin Flávia Neves in großen Teilen selbst erlebt hat.

Fernanda (gespielt von der überragenden Bárbara Colen) kehrt nach vielen Jahren zum ersten Mal in das koloniale Städtchen Goiás Velho zurück, das sie als Kind mit ihrer Mutter verlassen hat. Bei ihrer Ankunft platzt sie unangekündigt in einen kleinen Empfang im Haus ihres Onkels Antônio (Eucir de Souza), dessen erneute Kandidatur zum Bürgermeister gefeiert wird. Und obwohl Fernanda von ihrer Tante Arlette (Fernanda Vianna) bemüht freundlich empfangen wird, ist die Atmosphäre sofort geprägt von unterschwelligen Aggressionen, die sich im Laufe des Films langsam entfalten und verdichten, um dann zu eskalieren.

Bereits die Dialoge der ersten Filmszenen sind brillant geschrieben und inszeniert – deutlich ist zu spüren, dass hier Welten aufeinandertreffen: das moderne, aufgeklärte Brasilien, verkörpert durch Fernanda, und das konservative, rückwärtsgewandte, unterschwellig bis offen brutale Brasilien des weiten Hinterlandes. Immer wieder stößt sich Fernanda an der Sprache ihrer Familie. Mittels dieser werden tiefgreifende Unterschiede zwischen ihren Werten und Sichtweisen auf die Welt markiert und die zahlreichen Lügen maskiert, die sich ebenso auf die Vergangenheit wie auf die Gegenwart beziehen.

Doch Fernanda ist nicht zurückgekommen, um sich mit der offiziellen Geschichte abspeisen zu lassen. Sie will die Wahrheit hinter den zahlreichen Familiengeheimnissen entdecken und ist dabei unerschrocken und rücksichtslos, auch sich selbst gegenüber – bis hin zur Gefahr für Leib und Leben. Eine so mutige, offensive Frau kann im patriarchalen Raum des Hinterlandes nicht geduldet werden. Dabei verschränkt sich die persönliche Geschichte mit der politischen Dimension der Handlung. „Für mein Vaterland! Für meine Familie!“, grölten die Hinterbänkler, die im April 2016 die brasilianische Präsidentin Dima Rousseff absetzten, bei der Stimmabgabe in die Mikrophone. FOGARÉU entlarvt diesen Konservatismus: Die vorgeblichen Ideale des Patriotismus und der Familie schützen nur den rücksichtslosen Machterhalt einer weißen Elite von Landbesitzern, denen die Rechte von Frauen, Hausangestellten und Indigenen herzlich egal sind.

Regisseurin Flávia Neves, die auch gemeinsam mit Melanie Dimantas das Drehbuch geschrieben hat, inszeniert die Erschütterung der lokalen Macht durch eine Gruppe sehr unterschiedlicher Frauen, die sich gegenseitig unterstützen. Dabei kommt keine ohne Schmerzen und Verluste davon. Dass es am Ende ein bisschen Magie braucht, um das Böse zu zerstören, ist angesichts der Situation im brasilianischen Hinterland vielleicht die realistischste Option.

FOGARÉU ist der erste abendfüllende Spielfilm der Brasilianerin Flávia Neves, die mit 16 Jahren ihren ersten Kurzfilm drehte und seither im Bereich Film arbeitet. An der Produktion von FOGARÉU waren vor allem Frauen beteiligt, einschließlich der beiden Produzentinnen Vania Catani (Bananeira Filmes) und Mayra Faour Auad (Mymama Entertainment). Im Interview mit der Berlinale sagte Neves dazu: „Filme von Frauen sind vielleicht die besten, die unser Land heute zu bieten hat. Als Frauen müssen wir uns viel besser vorbereiten, um einen Platz in einem feindlichen, sehr komplexen Markt zu erkämpfen, der nicht für uns geschaffen wurde. Aber wenn wir die Bedingungen selbst bestimmen können, werden wir ebenfalls brillieren.“ Das ist Neves mit FOGARÉU definitiv gelungen.


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Feuer, Rohöl und rote Erde

Andreia Vieira in Mato seco em chamas, Berlinale 2022 (Foto: © Cinco da Norte, Terratreme Filmes)

Bewertung 4 / 5

Die Flammen lodern und züngeln, entzünden Benzinpfützen und Signalkörper, sie werfen bewegte Schatten, spiegeln sich auf Schwarzer Haut und verbrennen am Ende sogar ein gepanzertes Fahrzeug der Militärpolizei. Nicht zu vergessen das Entzünden der unzähligen Zigaretten, die von den Protagonistinnen in diesem Film geraucht werden, tief inhalierend und langsam den Rauch entweichen lassend. Es ist eine wuchtige Bildsprache, die der Regisseur Adirley Queirós und die Co-Regisseurin und Kamerafrau Joana Pimenta in Mato seco em chamas („Trockene Wildnis in Flammen“) geschaffen haben. Bildgewaltig und ungewöhnlich zieht sich die Kombination von Feuer, Rohöl und roter Erde in langen Einstellungen durch den gesamten Film.

Nicht weniger ungewöhnlich ist seine Entstehungsgeschichte: Über einen Zeitraum von drei Jahren drehten Queirós und Pimenta in der Satellitenstadt Ceilândia und in Sol Nascente, der zweitgrößten Favela Brasiliens, beide am Rande der Hauptstadt Brasília. Dort lebt Regisseur Queirós, der eine erstaunliche Karriere vom professionellen Fußballspieler zum professionellen Filmemacher hinter sich hat, bereits seit 50 Jahren. Mit Mato seco em chamas hat er seit 2005 seinen dritten Film in der Region gedreht. Auch Pimenta stand bereits 2017 für Queirós’ Film Era uma Vez Brasília hinter der Kamera und hat für die Dreharbeiten zwei Jahre dort verbracht.

Sechs Frauen aus beiden Städten schlugen Queirós und Pimenta vor, bei der Produktion von Mato seco em chamas zusammenzuarbeiten. Gemeinsam entwickelten sie die Figuren und das Drehbuch: „Mit diesen Frauen – Léa Alves, Joana Darc Furtado, Andreia Vieira, Débora Alencar, Mara Alves und Gleide Firmino – haben wir eine Fiktion geschaffen, die für uns zum Aktionsraum werden konnte. Eine Fiktion, in der die Peripherie zum Zentrum wird. Eine Fiktion, die auch dokumentarisch verstanden werden kann. Zusammen mit den Frauen haben wir Figuren entwickelt, geformt aus gemeinsamen politischen Erinnerungen und einer kollektiven Idee für diese umkämpften Gebiete”, sagten die Regisseur*innen im Interview mit der Berlinale.

Entstanden ist so eine Geschichte mit fantastischen Elementen, die immer ganz hart an der Realität ist. Queirós und Pimenta haben den Schauspielerinnen – der Begriff Laiendarstellerinnen wird ihrem Können nicht gerecht – viel Freiheit gelassen: Es sind ihre Orte, ihre Geschichten und ihre Sprache, das ist deutlich zu spüren. Im Kern geht es um die Bandenchefin Chitara, die auf die gewinnbringende Idee kam, die Erdöl-Pipeline anzuzapfen, die unter ihrem Grundstück verläuft. Sie ist ebenso furchtlos wie ihre Schwester Léa. Gemeinsam mit den anderen Frauen schaffen es die Schwestern problemlos, eine Gang von Motorradkurieren zu dominieren, die ihnen für billiges, selbst raffiniertes Benzin Prozente der Lieferungen zahlen.

Doch gleichzeitig ist es ein hartes Leben: Die Bedrohung durch die Militärpolizei und ihre Überwachungsdrohnen ist ebenso präsent wie die durch andere Gangs und die Politik – das macht eine lange, dokumentarische Szene einer Wahlkampfveranstaltung der Anhänger*innen von Präsident Bolsonaro deutlich. Aber vor allem gibt es die bedrohliche Möglichkeit, jederzeit wieder im Gefängnis zu landen. „Das Verbrechen zieht dich irgendwie rein, dein ganzes Leben”, sagt Chitara in einem nachdenklichen Moment.

Doch die Frauen haben auch eine Menge Spaß, vor allem miteinander. Léa mietet einen Bus mit DJ für eine Party, die Forró-Brega-Band Muleka 100 Calcinha spielt zum Tanz auf und der Wahlkampfwagen der von Andreia Vieira gegründeten Partei PPP (für die Verbesserung der Situation der Gefängnisinsassen und ihrer Familien) verwandelt sich in eine wogende Tanzfläche. Queerness wird in diesen Situationen so selbstverständlich gelebt, als gäbe weder den Konservatismus evangelikaler Kirchen noch Gangster-Machos.

Das alles wirkt authentisch und realistisch, so dass der Anspruch der Regisseur*innen, „eine Form der Ethnografie zu schaffen, die sich aus einer Fiktion heraus entwickelt”, durchaus eingelöst wird. Schwierig ist dabei nur die mehrfach gebrochene, verschlungene Erzählstruktur mit verschiedenen Zeitebenen – selbst wenn diese durchaus den lokalen Erzählmustern entspricht. Da folgt Rückblende auf Rückblende auf Gegenwart und zurück, immer wieder unterbrochen von Erinnerungen an das Gefängnis. Erst ganz zum Schluss erschließt sich, wie alles zusammenhängt. Und das dauert bei einer Filmlänge von 153 Minuten eine ganze Weile.


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ALLES NUR „BLABLABLA“

Dasselbe in Grün Auf der COP26 wirbt Brasilien für grünes Wachstumsprogramm (Foto: Wesley Sousa (ASCOM/SEAPC/MCTI) via flickr, CC BY 2.0)

„Jeder würde mit Steinen nach ihm werfen“, so erklärte der brasilianische Vize-Präsident, Hamilton Mourão, kurz vor der Weltklimakonferenz COP26 gegenüber Journalist*innen, wieso der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro nicht persönlich nach Glasgow fliegen werde. Damit beweist Mourão einen besseren Sinn für die Realität als Bolsonaro. Dieser verkündete beim Treffen der Staats- und Regierungschefs am zweiten Tag der COP26 in einer vorab aufgenommenen Videoansprache: „Bei der Bekämpfung des Klimawandels waren wir immer Teil der Lösung, nie des Problems“.

Doch nach fast drei Jahren Anti-Umweltpolitik nimmt niemand Bolsonaros Erzählung von Brasilien als Vorbild beim Klima- und Umweltschutz ernst. Brasilien ist international zunehmend isoliert. Neben der fehlenden Kompetenz des Präsidenten persönliche Beziehungen mit wichtigen internationalen Partnern aufzubauen, hat die mediale Aufmerksamkeit für die Brände im Amazonas im Jahr 2019 inzwischen dort gewirkt, wo es der Regierung Bolsonaro wehtut. Das Europäische Parlament nutzt Brasiliens Anti-Umweltpolitik als Argument, um das EU-Mercosur-Handelsabkommen erst einmal nicht zu ratifizieren. Und eine Gruppe billionenschwerer Investmentgesellschaften drohte Brasilien 2020 mit dem Rückzug, sollte die Regierung keine Korrektur ihres Abholzungskurses im Amazonas vornehmen. Auch in Brasilien selbst wächst seither der Druck auf Bolsonaro, die übermächtige Agrarlobby fürchtet Exporteinbußen. Zu Jahresbeginn bemerkte Frank-*reichs Präsident Emmanuel Macron, wer weiterhin von brasilianischer Soja abhängig sei, dulde die Abholzung des Amazonas.

 

Der Versuch der brasilianischen Diplomatie, dem Rest der Welt einen Kurswechsel zu verkaufen

Der brasilianische Umweltminister Joaquim Leite reiste daher mit dem klaren Auftrag nach Glasgow, Brasiliens internationales Ansehen als Klima- und Umweltschützer wieder herzustellen und wirtschaftliche Schadensbegrenzung zu betreiben. Ende Oktober – kurz vor der COP26 – lancierte die Regierung ihr Nationales Programm für Grünes Wachstum (Programa Nacional de Crescimento Verde). Dieses soll den Waldschutz, das Senken von Emissionen und eine sinnvolle Nutzung natürlicher Ressourcen mit der Schaffung „grüner Arbeitsplätze“ und Wirtschaftswachstum vereinen. Ein interministerieller Ausschuss soll die Durchführung des Programms übernehmen, die finanziellen Mittel kommen von der Entwicklungsbank des Schwellenländerbündnisses BRICS, der brasilianischen Entwicklungsbank (BNDES) und zwei weiteren staatlichen Banken. „Die dem Programm zugrundeliegende Idee ist sehr gut. Wir müssen Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit miteinander in Einklang bringen. Das wird allerdings nur gelingen, wenn wir einen konkreten Plan dafür haben“, kritisiert Flávia Bellaguarda, Juristin und Gründerin von LaClima, einem Netzwerk von Rechtsexpert*innen für Klimaschutz in Lateinamerika, das neue Programm gegenüber LN. Doch nicht nur die recht floskelhafte Ausarbeitung lässt das Programm substanzlos erscheinen: „Die im Programm genannten Punkte werden nicht von der Politik unterstützt, die die Regierung bisher verfolgt hat oder stehen sogar im Widerspruch zu vorgelegten Gesetzesvorschlägen“, so Bellaguarda. Wie Clarissa Lins vom brasilianischen Zentrum für internationale Beziehungen (CEBRI) gegenüber CNN feststellte, bestehe außerdem nur ein Bruchteil der Finanzierung aus neu zur Verfügung gestellten finanziellen Mitteln. Das Programm wirkt daher vor allem als Musterbeispiel für das, was die schwedische Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg jüngst als „Blablabla“ kritisierte. Aus Sicht der indigenen Delegation ist das Programm zudem grundsätzlich der falsche Ansatz, weil eine Lebensweise, die auf ständigem Wachstum basiert, die Klimakrise nicht lösen kann.

Eine Lebensweise, die auf ständigem Wachstum basiert, kann die Klimakrise nicht lösen

Nicht nur fehlende substanzielle Programme, auch die Fakten sprechen gegen das Bild von Brasilien als Klimachampion, das Umweltminister Leite auf der COP26 zu verkaufen versucht: Während im Pandemiejahr 2020 weltweit die Treibhausgasemissionen um 7 Prozentpunkte sanken, verzeichnete Brasilien einen Anstieg von fast 10 Prozentpunkten – der größte Anstieg dieses Wertes seit 2004. Maßgeblich dafür verantwortlich ist die Abholzung des Regenwaldes im Amazonasbecken: zwischen August 2019 und Juli 2020 fast 11.000 Quadratkilometer. Diese Fläche ist größer als der Libanon und 176 Prozent über der Zielmarke für diesen Zeitraum im Nationalen Klimaplan. Ein gutes Beispiel dafür, dass es nichts bringt „die weltweit vollständigste Umweltschutzgesetzgebung zu haben“, wie Bolsonaro im September noch bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York betonte, wenn diese nicht in Regierungshandeln umgesetzt wird.

Laut einer Messung der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) hat sich der südwestliche Teil des Regenwaldes bereits zwischen 2018 und 2020 von einer Kohlenstoffsenke zu einer Kohlestoffdioxid-Quelle gewandelt. Grund dafür sind neben der Abholzung auch die Brände, die zwischen August 2020 und Juli 2021 eine Waldfläche von über 15.000 Quadratkilometern betrafen. Das war noch einmal deutlich mehr als zwischen 2019 und 2020, als der brennende Amazonaswald auf den internationalen Titelseiten zu sehen war.

Dennoch versuchte Umweltminister Leite gemeinsam mit den Mitgliedern der offiziellen brasilianischen Delegation, nach den USA die zweitgrößte der Konferenz, den Industrieländern und der anwesenden Privatwirtschaft einen brasilianischen Gesinnungswandel in den eigenen Reihen zu verkaufen. So verkündete der Chef-Unterhändler des brasilianischen Außenministeriums, Paulino Franco de Carvalho Neto, während der COP26 in einem Interview mit der BBC, man sei innerhalb der Regierung nach sorgfältiger Reflexion zu dem Schluss gekommen, dass man sich stärker engagieren müsse.

Auf der COP26 sind zwei Brasilien vertreten


Jenseits der offiziellen Verhandlungsdelegation zeigt Brasilien auf der COP26 allerdings noch ein ganz anderes Gesicht. Im Konferenzbereich des „Brazil Action Climate Hub“ diskutieren Vertreter*innen indigener und anderer zivilgesellschaftlicher Gruppen, Gouverneure brasilia-*nischer Bundesstaaten und Abgeordnete, wie Klimapolitik in der Zeit nach Bolsonaro wieder aufgebaut werden kann, oder welche Rolle der Kongress beim Kampf gegen den Klimawandel einnehmen könnte. „Es gibt zwei Brasilien auf der COP26, eines vertreten durch die offizielle Delegation und ein zweites, sehr diverses, das vor allem von der Zivilgesellschaft repräsentiert wird. Beide setzen völlig unterschiedliche Schwerpunkte und es gibt keine Verbindung oder Interaktion zwischen diesen beiden Sphären“, berichtet Flávia Bellaguarda von vor Ort. Zu diesem anderen Brasilien gehört auch die indigene Aktivistin Txai Suruí, die – neben dem britischen Premierminister Boris Johnson und dem UN-Generalsekretär Antonio Guterres – die Weltklimakonferenz eröffnete. Die Delegation des landesweiten Zusammenschlusses der indigenen Völker Brasiliens (APIB) mit 40 indigenen Vertreter*innen, in der Mehrzahl Frauen, war in diesem Jahr so groß wie noch nie, ebenso wie die Aufmerksamkeit für ihre Forderungen.

Gleich zu Beginn der COP26 versprachen mehrere Länder, unter anderem Großbritannien und Deutschland, zwischen 2021 und 2025 rund 1,5 Milliarden Euro für den Schutz von Wäldern direkt an indigene und lokale Gemeinschaften auszuzahlen. Bislang haben diese auf weniger als ein Prozent der Finanzierung gegen Abholzung direkten Zugriff, obwohl 85 Prozent der weltweiten Biodiversität in Gebieten indigener und anderer lokaler Gemeinschaften nachgewiesen wurde. Auch an den Verhandlungen sind sie weiterhin nicht direkt beteiligt.

Das offizielle Brasilien enthielt sich indes bei Abkommen zum Kohleausstieg und zur Abkehr vom Verbrennungsmotor, gehört aber zu den inzwischen 138 Ländern, die zusammen rund 91 Prozent der weltweiten Waldfläche abdecken und sich in Glasgow auf ein Ende der Waldzerstörung einigten. Eine ähnliche Erklärung unterzeichneten 40 Staaten bereits 2014 auf der COP in New York. Die damals gesetzte Zielmarke, die Abholzung bis 2020 zu halbieren, wurde nie erreicht. Im Gegenteil: Der Anteil des Waldverlustes lag in den Jahren nach dem Abkommen sogar höher als in den Vorjahren. Wie die – in Glasgow zwar von mehr Staaten mitgetragene aber nur sehr vage gemachte – Zusage in konkrete Schritte überführt wird, scheint, vor allem nach der Erfahrung von 2014, erst einmal schwer vorstellbar.

In New York gehörte Brasilien nicht zu den unterzeichnenden Staaten des Waldschutzabkommens. Jetzt will es der illegalen Abholzung sogar schon 2028 ein Ende setzen, zwei Jahre früher als im Abkommen der COP26 festgehalten. Brasiliens Regierung hat damit vor allem Aussicht auf finanzielle Förderung. Daneben sagte Brasilien gemeinsam mit mehr als 100 Staaten zu, seine Methanemissionen bis 2030 im Vergleich zum Jahr 2020 um 30 Prozent zu verringern. Wissenschaftler*innen erhoffen sich davon eine um 0,2 Grad Celsius geringere Erderwärmung bis 2050.

Ob den jetzt gemachten Zusagen Taten folgen, ließ Umweltminister Leite im Nachgang offen. Auf die Frage, ob er seine Unterstützung gegenüber mehrerer Gesetzesinitiativen zurückziehen werde, die aktuell im Kongress verhandelt werden und den auf der COP26 zugesagten Zielmarken entgegenlaufen, antwortete er auch auf mehrmalige Nachfrage von Journalist*innen nur ausweichend. Wahrscheinlicher ist es, dass die Regierung versuchen wird, sich an die gemachte Selbstverpflichtung zu halten, indem illegale Abholzung einfach weiter legalisiert wird. Die aktuell diskutierte Gesetzesinitiative PL 490/2007, durch die Infrastrukturprojekte in indigenen Territorien ermöglicht und Demarkationsverfahren erschwert werden sollen, versucht genau das.

Kurz vor Abschluss der verlängerten Konferenz sorgte die Verhandlung über den Artikel 6 des Pariser Abkommens für Kontroversen. Über diesen sollen der Handel und die Verringerung von Emissionen geregelt werden, auf Details konnte man sich in Paris und auf den Folgekonferenzen nie abschließend einigen. Brasilien gehörte dabei bislang zu den Staaten, die über eine Doppelzählung von Emissionsreduktionen finanzielle Vorteile erlangen wollten. Am vorletzten Tag der COP26 signalisierte der Umweltminister Leite aber, nicht länger an dieser Position festhalten zu wollen. Das dürfte jedoch kaum ausreichen, um dem Rest der Welt einen Kurswechsel zu verkaufen.


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ANTWORTEN AUF DIE KLIMAKRISE

JUDITE BALLERIO GUAJAJARA

arbeitet, nach einem Masterstudium in Staatslehre, Recht und Verfassungsrecht an der Universität von Brasília, als Rechtsanwältin. Sie ist juristische Beraterin der COAPIMA (Koordination der Organisationen und Netzwerke der indigenen Völker im Bundesstaat Maranhão) und Mitglied des Nationalen Verbandes indigener Rechtsanwälte in Brasilien. Sie gehört außerdem zum Berater*innenstab der Abgeordneten Joenia Wapichana (REDE), der ersten indigenen Frau, die in das nationale Parlament gewählt wurde, sowie die erste indigene Juristin Brasiliens. Judite Guajajara engagiert sich vor allem in der Verteidigung von indigenen Führungspersönlichkeiten, die zunehmend kriminalisiert werden.
(Foto: privat)


 

Im Jahr 2019 waren die zahlreichen Feuer in Amazonien und die illegale Entwaldung in den deutschen Medien sehr präsent. In diesem Jahr gilt alle mediale Aufmerksamkeit der Pandemie und der Koalitionsbildung nach den Bundestagswahlen. Berichterstattung über Entwaldung und Brände gibt es kaum. Wie ist die aktuelle Situation in Amazonien?
Dazu möchte ich zuerst einmal sagen, dass die Berichterstattung in Brasilien nicht viel anders ist. Wir befinden uns hier in einem Kampf um Narrative, in dem sehr viele Fake-News verbreitet werden. Und natürlich müssen die indigenen Gemeinden größere Hindernisse überwinden, um Zugang zu Massenmedien zu erhalten, auch wenn sich unser Zugang zu alternativen Medien verbessert hat. All diese Berichterstattung über die Rede von Bolsonaro vor den Vereinten Nationen maskiert nur die Realität. Die Realität ist, dass die Abholzungszahlen zwischen 2020 und 2021 die höchsten in den vergangenen zehn Jahren sind. Amazonien brennt nach wie vor, es wird immer noch entwaldet. Und die indigenen Führungspersönlichkeiten, die an vorderster Front stehen, um die kollektiven Rechte und die Territorien zu verteidigen, werden nach wie vor ermordet und mehr als jemals zuvor kriminalisiert. Brasilien steht unter den Ländern, in denen die meisten Umweltschützer ermordet werden, auf dem vierten Platz. Die meisten davon sind Indigene.

Die Situation in Amazonien hat sich also eher noch verschärft. Warum?
Der Staat schwächt die Institutionen, die für den Schutz des Waldes zuständig wären, sei es um Brände oder um Abholzung zu vermeiden. Er hat die Behörden FUNAI und IBAMA ausgehöhlt, und zwar sowohl finanziell als auch personell. Die Beamten wurden regelrecht politisch verfolgt. Und er schwächt die Institutionen nicht nur, indem er ihnen personelle und finanzielle Ressourcen entzieht. Über den Diskurs von Bolsonaro und seinem Team in den Medien wird zu den Abholzungen und illegalen und kriminellen Waldbränden auch noch ganz direkt ermutigt. Schon vor seiner Wahl hat Bolsonaro sich öffentlich gegen die Demarkierung der indigenen Territorien und für die Aneignung dieser Territorien positioniert. Daneben gibt einen indirekten Diskurs, der im Parlament über Gesetzesinitiativen verläuft. Bolsonaro fördert die Invasion indigener Territorien, sei es durch Goldschürfer oder durch andere. Auch darüber, dass sich niemand für seine illegalen Praktiken verantworten muss. All dies müsste mit viel mehr Vehemenz verfolgt werden, so dass diejenigen, die in Amazonien Verbrechen begehen, nicht straflos davonkommen.

In letzter Zeit gab es viele Berichte darüber, dass illegale Goldschürfer immer weiter in indigene Gebiete vordringen. Eskaliert die Situation?
Ja, es gibt sehr gut bestätigte Informationen darüber, was in den Territorien der Yanomani passiert. Außer der Entwaldung, die direkt durch das Goldschürfen verursacht wird, und der Kontamination der Flüsse, die auch die Bevölkerung vergiftet, gab es direkte Attacken, die nicht strafrechtlich verfolgt wurden. Erst kürzlich gab es Schießereien im Gebiet der Yanomani. Wir haben auch Informationen, dass ein illegales Versorgungsflugzeug der Goldschürfer Yanomani verletzt hat. All dies wurde von den indigenen Organisationen angezeigt, auch von der Abgeordneten Joenia Wapichana, die aus der Region stammt. Und kürzlich ertranken zwei Kinder einer Yanomani-Gemeinde, weil illegale Goldschürfer im Fluss eine Maschine benutzten, die sie unter Wasser zog. Wir stellen täglich fest, in welchem Ausmaß die Goldschürfer in die Region eindringen. Sie kommen bisher unkontaktierten indigenen Gemeinden näher als jemals zuvor und attackieren auch Menschen, die in der Region leben, direkt.

Nach Informationen von Organisationen, die den Landraub in Brasilien beobachten, hat auch die direkte, illegale Landnahme deutlich zugenommen, können Sie das bestätigen?
Ja, der Landraub hat während der Regierung Bolsonaro enorm zugenommen. Das hat natürlich damit zu tun, dass die staatliche Kontrolle so geschwächt ist. Heute haben die Konflikte um Landbesitz in den indigenen Territorien ein absurdes Ausmaß angenommen. Hinzu kommt, dass die Legislative die illegale Landnahme über Gesetzesvorlagen unterstützt, mit denen der Landraub legalisiert werden soll. Es ergibt sich ein sehr klares Szenario, wenn man die verschiedenen Gesetzesvorlagen betrachtet, die zur Lesung im Kongress ausgearbeitet wurden.

Welche Ziele verfolgen die indigenen Netzwerke und Organisationen auf der COP26?
Es wird in diesem Jahr eine sehr große indigene Präsenz und Beteiligung an der COP geben. Das Hauptziel ist es, ein weiteres Mal zu zeigen, dass die indigene Bevölkerung effektiv an der Lösung der Klimakrise beteiligt werden muss. Nicht nur, weil wir die Hüter des Territoriums mit der weltweit größten Biodiversität sind oder weil wir am stärksten vom Klimawandel betroffen sind. Durch unsere Lebensweise wissen wir auch am besten, wie die Menschheit dem Klimawandel begegnen muss.

Welche Vorbereitungen werden getroffen, um diese Ziele zu erreichen?
Gerade heute wurde dazu im nationalen Parlament eine Anhörung durchgeführt und letzte Woche wurden von der COIAB (Zusammenschluss der Indigenen Organisationen im Brasilianischen Amazonas, Anm. d. Red.) fachliche Diskussionen organisiert, um zu entscheiden was die Hauptthemen und Hauptforderungen der indigenen Bewegung auf der COP sein werden. Die verschie- denen Regionalstellen tragen dies gerade zusammen und präsentieren es in Kürze den Medien. Amazonien wird einer der zentralen Punkte in der Diskussion auf der COP26 sein und die indigenen Völker haben sich sehr gut, auch mit fachlicher Expertise, auf die Beteiligung vorbereitet. Denn wir wollen nicht nur, dass unsere Expertise anerkannt wird, sondern dass in die indigenen Völker investiert wird, um die Klimakrise zu bekämpfen.


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EXTREM POLARISIERT

Unter Beobachtung: Gesundheitsminister Marcelo Queiroga musste schon dreimal vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss aussagen.Foto: Fabio Rodrigues-Pozzebom / Agência Brasil

Am 10. Februar brach für Silvina Macedo die Welt zusammen. An diesem Tag starb ihr Mann an COVID-19. „Hätte die Bolsonaro-Regierung auf Experten gehört und den Kauf von Impfungen nicht behindert, würde mein Mann vielleicht noch leben“, sagt die kleingewachsene Frau, während sie an der Spitze einer Demonstration in der Stadt Belém marschiert. In der Hand hält sie ein Schild, auf dem ein Foto ihres verstorbenen Mannes zu sehen ist. Macedo war eine von zehntausenden Demonstrant*innen, die am 2. Oktober auf die Straße gingen. In ganz Brasilien fanden Proteste gegen die rechtsradikale Regierung von Präsident Jair Bolsonaro statt.

In Belém, einer Millionenstadt im Mündungsgebiet des Amazonas, kommen die Demonstrant*innen wegen der Hitze schon früh am Morgen zusammen. Der São Brás-Marktplatz verwandelt sich in ein buntes Wirrwarr. Fahnen, Transparente, gereckte Fäuste. Trommelklänge hallen durch die Straßen. Einige vorbeifahrende Autofahrer*innen hupen unterstützend, andere beschimpfen die Demonstrant*innen. Ein junger Mann mit Maske, blauem T-Shirt und Federschmuck auf dem Kopf wuselt durch die Menge, telefoniert, gibt Anweisungen. Es ist Telmiston Guarajara. Der 21-Jährige indigene Jurastudent ist einer der Organisator*innen, bei ihm laufen viele Fäden zusammen. „Wir dürfen nicht bis zur Wahl 2022 warten“, meint er. „Wir müssen Bolsonaro jetzt stürzen.“

Viele machen den ultrarechten Präsidenten für das Chaos im Land verantwortlich. Zwar hat sich die Corona-Lage in den letzten Wochen entspannt. Doch die Pandemie hat das Land schwer gebeutelt, mehr als 600.000 Menschen starben an dem Virus. Wie kaum ein anderer Staatschef leugnete Bolsonaro die Gefahren der Pandemie, ignorierte den Rat von Wissenschaftler*innen und machte Stimmung gegen Impfungen. Zudem soll der selbsterklärte Saubermann von Korruptionsversuchen bei der Beschaffung des indischen Covaxin-Impfstoffes gewusst und nicht eingegriffen haben. Eine parlamentarische Untersuchungskommission (COVID-19 CPI) untersucht seit April Unterlassungen und Fehlverhalten der Regierung während der Pandemie.

In einem extrem ungleichen Land wie Brasilien sind die Nachwirkungen der Corona-Pandemie brutal: Die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordwerte geklettert, zehntausende Obdachlose bevölkern die Straßen der großen Städte, mindestens 19 Millionen Brasilianer*innen hungern. Eine Reportage in der Tageszeitung Extra sorgte Ende September für Aufregung: Sie handelt von Menschen in Rio de Janeiro, die in Fleischabfällen wühlen müssen, um sich ernähren zu können.

„Bolsonaro interessiert sich nicht für das Leid der Bevölkerung“, meint Telmiston Guarajara. Laut dem Aktivisten müsse deshalb nun „eine möglichste breite Front“ gegen die Regierung gebildet werden – auch zusammen mit Konservativen und Rechten. Viele hoffen auf eine Neuauflage der „diretas já“-Kampagne: Im Jahr 1984 gingen Millionen Menschen, getragen von einer Allianz verschiedener politischer Spektren, noch während der Militärdiktatur gemeinsam für eine Wiedereinführung der Direktwahl des Präsidenten auf die Straße. Doch dass es zu einer neuen Kam- pagne über die Parteigrenzen hinweg kommt, ist unwahrscheinlich. Nach turbulenten Jahren ist die brasilianische Gesellschaft extrem polarisiert, die Gräben sind tief. Auf den landesweiten Protesten am Samstag waren fast nur Linke sichtbar, auch in Belém. Deshalb sind die Demonstrationen noch weit davon entfernt, der Regierung wirklich gefährlich zu werden. Es gelingt kaum, Menschen außerhalb der linken Blase zu mobilisieren. Im November sind erneut landesweite Demonstrationen geplant, doch die Organisator*innen wirken bisweilen orientierungslos.

Bolsonaro versteht es wie kein zweiter, Ängste zu schüren


Unklarheit herrscht zum Beispiel darüber, wie genau man agieren soll. Einige setzen darauf, Bolsonaro bei der Wahl 2022 zu schlagen. Andere kämpfen dafür, ihn so bald wie möglich abzusetzen. Bei den Protesten am 2. Oktober war auf vielen Schilder zu lesen: „Impeachment jetzt!“ Dem Präsidenten werden schwere Vergehen im Umgang mit der Pandemie vorgeworfen, die eine Amtsenthebung rechtfertigen könnten. Doch es ist unwahrscheinlich, dass es so weit kommt. Über die Aufnahme des Verfahrens entscheidet der Präsident des Abgeordnetenhauses, Arthur Lira von der rechtskonservativen Partei Progressistas (PP), ein Verbündeter Bolsonaros. Und im Parlament genießt Bolsonaro bisher noch die Unterstützung des centrão, des einflussreichen Mitte-Rechts-Blocks. Außerdem kann sich der Rechtsradikale auf den Rückhalt von rund 25 Pro-zent der Bevölkerung verlassen. Seine teils fanatischen Anhänger*innen verehren den Pöbel-Präsidenten mit fast schon religiösem Eifer und mobilisieren ebenfalls regelmäßig zu Protesten.

Bis zur Wahl im kommenden Jahr wird noch viel passieren. Das Wahlverhalten ist in Brasilien oft unberechenbar und hat viel mit aktuellen Entwicklungen zu tun. Es ist davon auszugehen, dass die Corona-Pandemie bei vielen Wähler*innen bis Anfang Oktober 2022 nicht mehr im Fokus stehen wird. Im krisengeplagten Brasilien versteht es Bolsonaro außerdem wie kein zweiter, Ängste zu schüren. Mit einer populistischen Medienstrategie, infamen Attacken auf Minderheiten und den bisweilen paranoid anmutenden Warnrufen vor einer angeblichen kommunistischen Gender-Diktatur könnte er es erneut schaffen, willige Anhänger*innen zuhauf um sich zu scharen. Auch im Wahlkampf von 2018 fand er mit seinen homophoben und rassistischen Statements viel Anklang. Statt über Inhalte diskutierte das Land seinerzeit wochenlang, ob Bolsonaros Gegenkandidat Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT Babyfläschchen in Penisform an Kitas verteilen ließ.

Eine Kampagne über Parteigrenzen hinweg ist unwahrscheinlich

Auch der politische Analyst und ehemalige Kommunikationsminister Thomas Traumann warnt davor, Bolsonaro abzuschreiben. „Im kommenden Jahr wird die Wirtschaft wieder wachsen und es wird ein neues Sozialprogramm geben, durch das arme Menschen ein bisschen mehr Geld in der Tasche haben werden“, sagte Traumann gegenüber LN. „Bolsonaro wird sich erholen können. Deshalb muss bei der nächsten Wahl auf jeden Fall mit ihm gerechnet werden.“


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PANDORA PAPERS BELASTEN POLITIKER MEHRERER LÄNDER

14 ehemalige und amtierende Staats- und Regierungschefs aus Lateinamerika stehen nach der Veröffentlichung der Pandora Papers unter Verdacht, einen Teil ihres Vermögens in Briefkastenfirmen vor der Öffentlichkeit versteckt zu haben. Darunter sind die amtierenden Präsidenten Sebastián Piñera (Chile), Guillermo Lasso (Ecuador) und Luis Abinader (Dominikanische Republik). Auch Regierungsmitglieder anderer Länder sind von den Enthüllungen betroffen, wie der brasilianische Wirtschaftsminister Paulo Guedes oder der mexikanische Staatssekretär für Kommunikation und Transport Jorge Arganis Díaz Leal.

Ein Zusammenschluss von mehr als 600 Journalist*innen aus 117 Ländern hatte in einer geheimen Recherche fast 12 Millionen vertrauliche Dokumente ausgewertet. Die Daten wurde dem International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) von einer anonymen Quelle zugespielt. Am 3. Oktober wurden die Ergebnisse ihrer Analysen unter dem Namen Pandora Papers weltweit veröffentlicht. Namhafte internationale Medien wie BBC, die Washington Post oder El País beteiligten sich an den Analysen und deren Veröffentlichung.

Die vertraulichen Dokumente stammen von 14 sogenannten Offshore-Providern. Diese Firmen helfen ihren Kunden dabei, in Steueroasen Briefkastenfirmen zu gründen. Der Besitz einer Offshore-Firma ist nicht illegal, wird aber häufig zur Geldwäsche oder Steuerhinterziehung genutzt. Gerade bei Regierungsmitgliedern wird der Versuch, dem Staat Steuern zu entziehen, als unethisch betrachtet, oft auch gesetzlich sanktioniert.

Brasilien: Wirtschaftsminister besitzt Briefkastenfirma

Paulo Guedes, seit 2019 „Superminister“ für Wirtschaft und Finanzen und neoliberaler Hardliner, wird von den investigativen Recherchen der Pandora Papers belastet. Er wird als Besitzer der Offshore-Firma Dreadnoughts International Group genannt, die in der Steueroase der Britischen Jungferninseln angesiedelt ist. Die Zeitschrift Piauí berichtete am 3. Oktober 2021, dass die Briefkastenfirma im September 2014 eröffnet wurde. Mitgesellschafterin von Guedes war seine Tochter Paula Drumond Guedes. Beide zahlten insgesamt 8 Millionen US-Dollar auf ein Konto der Crédit Suisse in New York ein, indem sie 50.000 mal den Betrag von 160 US-Dollar überwiesen. Bis August 2015 wurde die Einlage auf 9,5 Millionen US-Dollar erhöht.

Nach Aussagen seiner Anwälte verließ Guedes das Management seiner Offshore-Firma im Dezember 2018, bevor er das Amt als Minister antrat. Seither habe er auf jegliche Beteiligung an den finanziellen Entscheidungen des Unternehmens verzichtet und weder Überweisungen auf, noch Abhebungen von Konten im Ausland getätigt. Durch die Abwertung des Real während seiner Amtszeit stieg sein Vermögen in der Landeswährung allerdings von 35 auf 51 Millionen Reais.

In Brasilien ist der Besitz einer Offshore-Firma – auch in Steueroasen – nicht illegal, solange der Besitz der Steuerbehörde gemeldet wird. Dies ist laut Guedes der Fall. Die Opposition spricht jedoch von einem potenziellen Interessenkonflikt, da sich der Wirtschaftsminister indirekt durch seine Politik bereichert haben könnte. Am 6. Oktober wurde im Parlament entschieden, dass der Finanzminister dazu vor dem Plenum und vor zwei Kommissionen Stellung nehmen muss. Gegenüber Journalist*innen sagte Guedes, er sei „sehr gelassen“ und habe nie privat von seinem Amt profitiert.

Am 7. Oktober fanden vor dem Wirtschaftsministerium mehrere Proteste gegen Guedes statt. Morgens regnete es dort Dollar-Spielgeld mit dem Gesicht des Ministers, am Nachmittag wurde das Gebäude mit Slogans wie „Guedes im Paradies und das Volk in der Hölle“ oder „Guedes verdient am Hunger“ besprüht.

Chile: Transaktionen bedrohen Naturschutzgebiet

In Chile deckten die Pandora Papers neue Details zu Geschäften von Präsident Piñera im Zusammenhang mit der geplanten Eisen- und Kupfermine Minera Dominga auf. Der Milliardär Piñera war zu Beginn seiner ersten Amtszeit Hauptaktionär des Projekts, verkaufte jedoch Ende 2010 seine Anteile für 152 Millionen US-Dollar an seinen Schulfreund Carlos Alberto Délano. Davon wurden 138 Millionen mittels einer Transaktion auf den Britischen Jungferninseln bezahlt, einer Steueroase in der Karibik. Der Betrag sollte in drei Raten bezahlt werden, die letzte Rate war jedoch nur fällig, sofern das für das Projekt vorgesehene Küstengebiet nahe der Stadt La Higuera nicht zu einem Naturschutzgebiet erklärt würde. Darauf hatte Piñera als Präsident maßgeblichen Einfluss.

Die Region um La Higuera gilt als Hotspot der Biodiversität. Dort, wo für die geplante Mine ein eigener Hafen gebaut werden soll, befindet sich ein wichtiges Brutgebiet der vom Aussterben bedrohten Humboldt-Pinguine, auch Wale und Delfine leben dort. Piñera ignorierte jedoch die Umweltbewegung, die letzte der drei Raten wurde bezahlt und im August 2021 genehmigte die zuständige Behörde das Bergbauprojekt.

Der Präsident bestreitet einen Interessenskonflikt und beruft sich darauf, dass seine Beteiligung an dem Projekt bereits im Jahr 2017 Gegenstand von Ermittlungen gewesen sei, die zu seinem Freispruch führten. Da die Bedingung für die Zahlung der dritten Rate damals jedoch nicht untersucht wurde, hat die Staatsanwaltschaft nun die Wiederaufnahme von Ermittlungen beschlossen. Die Oppositionsparteien haben angekündigt, ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten.

Ecuador: Das Geld zieht um

In Ecuador gibt es seit einem Referendum im Februar 2017 ein Gesetz, welches es politischen Funktionsträgern verbietet, Geld in Steueroasen zu haben. Die Pandora Papers weisen dem amtierenden Präsidenten des Landes, Guillermo Lasso, die Nutzung von 14 verschiedenen Offshore-Firmen nach. Etwa drei Monate nach Erlass des genannten Gesetzes wurden im US-amerikanischen Bundesstaat South Dakota zwei Trusts gegründet, auf die die Anteile der meisten von Lasso angeblich aufgelösten Unternehmen überschrieben wurde. Lasso verteidigte sich damit, keinerlei Besitz, Kontrolle, Nutzen oder Interesse an diesen Einrichtungen zu haben und behauptet, sich immer an geltendes ecuadorianisches Recht gehalten zu haben.

Wie die Süddeutsche Zeitung (SZ) am 3. Oktober 2021 berichtete, hatte Lasso für die Konten in South Dakota keine Adresse in Ecuador, sondern in Florida (USA) angegeben. Mit diesem „Umzug“ nach South
Dakota war Lasso laut SZ in gewisser Weise auch Vorreiter für andere, die nach den Enthüllungen Panama Papers ihre Gelder aus Steueroasen in den US-Bundesstaat brachten.

Aus den in den Pandora Papers enthaltenen Dokumenten soll nicht hervorgehen, wer die Begünstigten der Trusts sind. Sollte Lasso allerdings noch immer Verbindungen zu dem Geld haben, könnte es ungemütlich für ihn werden. Die für Steuerfragen zuständige Kommission im ecuadorianischen Parlament kündigte Untersuchungen gegen Lasso an.

Peru: Ex-Präsident Kuczynski kaufte Offshore

Der Name des neoliberalen peruanischen Ex-Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski (2016-2018) taucht ebenfalls in den Pandora Papers auf. Kuczynski (PPK) hatte im Jahr 2004, als er das Amt des Finanzministers unter Alejandro Toledo innehatte, die Offshore-Firma Dorado Asset Management auf den britischen Jungferninseln erworben. Diese soll nicht nur als Holding für Immobilien fungiert haben, sondern auch Finanzberatung zum Ziel gehabt haben, wie das Investigativportal Convoca schreibt.

In die Ermittlungen gegen PPK wegen Geldwäsche im Rahmen von Schmiergeldzahlungen durch das brasilianische Bauunternehmen Odebrecht war Dorado bereits 2019 einbezogen worden. Von Odebrecht als Beratungshonorare getarnte Gelder an PPKs Beraterfirma Westfield Capital sollen von Dorado zum Kauf zweier Immobilien in PPKs Besitz verwendet worden sein. Seit 2019 befindet sich PPK im Hausarrest, die betroffenen Immobilien wurden beschlagnahmt.

Nach Ansicht des zuständigen Staatsanwaltes Domingo Pérez ist das bisher unbekannte Ziel des Unternehmens, die Verschleierung des wahren Zwecks „eindeutig ein Verhalten, das mit Geldwäsche zu tun hat“, wie er gegenüber Convoca angab. Man werde nun weitere Transaktionen von Dorado aus dem Zeitraum von 2004-2014 prüfen. 2014 hatte PPK die Firma unter verändertem Namen nach Peru transferiert.


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ALLE AUF DIE STRASSE

“Kampf um das Leben” Die Protestcamps haben eine lange Tradition im indigenen Widerstand (Fotos: Fabio Rodrigues Pozzebom, Agência Brasil)

„Während wir unsere Dörfer, unsere Territorien, unsere Gemeinden verlassen, sind wir Indigenen uns alle darüber im Klaren, dass Bolsonaro schlimmer ist als der Virus. Denn er ermordet nicht nur indigene Körper, er ermordet auch den Geist, das Gedächtnis und den Widerstand derjenigen, die es fortsetzen möchten, Leben über die Erde zu verbreiten“, sagte die Anthropologin und Kunstpädagogin Tai Kariri zu Beginn des Protestcamps „Kampf um das Leben“, das vom 22. August bis 2. September 2021 stattfand. Die Protestcamps in der Hauptstadt Brasília − in zwei Kilometern Entfernung von Kongress, Präsidentenpalast und Oberstem Gerichtshof − sind inzwischen eine 16-jährige Tradition des indigenen Widerstandes in Brasilien.

Die diesjährige Mobilisierung gegen den marco temporal, unter dem Motto „Unsere Geschichte begann nicht 1988“, wird von dem nationalen Zusammenschluss der indigenen Völker Brasiliens (Apib) in ihrem Ausmaß aber als historisch bezeichnet. Der Protest wird vom 7. bis zum 11. September mit dem Marsch der indigenen Frauen fortgesetzt und soll bis Ende 2021 als Dauerbesetzung bestehen – neben der Mobilisierung in den sozialen Netzwerken und den indigenen Territorien. Dabei versteht sich die indigene Bewegung als Teil der globalen Bewegung für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen und der brasilianischen Demokratiebewegung.

Der Prozess des Obersten Gerichtshofes (STF) über eine Stichtagsregelung für die Anerkennung indigener Territorien begann am 26. August. In der ersten Woche wurden mehr als 30 Organisationen und Institutionen zum marco temporal angehört, darunter auch Vertreter*innen der Agro-Industrie, der Großgrundbesitzer*innen sowie der Generalstaatsanwaltschaften. Insgesamt gibt es – 33 Jahre nach Inkrafttreten der Verfassung von 1988, die die juristische Anerkennung von indigenen Territorien ausdrücklich vorsieht – noch immer 300 offene Prozesse um indigenes Land. Wird die Stichtagsregelung zum Gesetz, droht tausenden von indigenen Gemeinschaften die Vertreibung aus dem Gebiet, das sie bewohnen oder das für sie große spirituelle oder kulturelle Bedeutung hat. Andere könnten voraussichtlich ihre legitimen Ansprüche auf ein bestimmtes Territorium niemals juristisch durchsetzen. Insofern wurde die Entscheidung des Richters und Berichterstatters des STF, Edson Fachin, gegen die Stichtagsregelung vom Marsch der indigenen Frauen am 9. September mit großer Freude und Erleichterung aufgenommen – auch wenn der Prozess damit noch nicht entschieden ist. Sonia Bone Guajajara, indigene Führungspersönlichkeit und eine der Koordinatorinnen von Apib, twitterte: „Der erste Sieg der indigenen Völker in diesem Gerichtsverfahren, das für das Schicksal der Indigenen in ganz Brasilien so entscheidend ist.“

Neben der indigenen Mobilisierung erlebt Brasilien eine Welle von Protesten auf der Straße. Präsident Bolsonaro hatte seine Anhänger*innen dazu aufgerufen, am 7. September, dem brasilianischen Unabhängigkeitstag, massenhaft an Demonstrationen für die Regierungspolitik teilzunehmen. Gewerkschaften, soziale Bewegungen und linke Parteien mobilisierten daraufhin zu Gegenprotesten, oft gemeinsam mit dem traditionellen „Grito dos excluídos“ (Aufschrei der Ausgegrenzten). In insgesamt 160 Städten fanden Kundgebungen und Demonstrationen statt, die die Absetzung Bolsonaros und Sozialprogramme forderten. Verschärft durch die Pandemie, bleibt die Anzahl der Arbeitslosen in Brasilien auf einer Rekordhöhe von fast 15 Millionen Menschen, während bereits 40 Millionen Brasilianer*innen an Hunger leiden und mindestens weitere 85 Millionen von Ernährungsunsicherheit bedroht sind. Obwohl viele Gegner*innen von Bolsonaro den Aufrufen folgten, blieb die Mobilisierung der Opposition hinter der der Anhänger*innen des Präsidenten zurück. So versammelten sich in São Paulo rund 250.000 Anhänger*innen von Bolsonaro – deutlich weniger als die angekündigten zwei bis drei Millionen, aber dennoch deutlich mehr als die der Opposition.

Bolsonaro selbst sprach am 7. September auf Kundgebungen in Brasília und São Paulo. Er forderte den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, Luiz Fux, ultimativ auf, einen der STF-Richter, Alexandre de Moraes, zu entfernen. Er kündigte außerdem an, keine weiteren juristischen Entscheidungen von Moraes zu akzeptieren. Seine Reden lösten ein kleines Erdbeben im politischen Establishment aus, da es sich überdeutlich um einen Versuch handelte, die Unabhängigkeit der Justiz zu beenden. Bolsonaro, der sich ebenso wie seine Söhne juristisch in mehreren Fällen verantworten muss, versucht in seiner Anhängerschaft einen Diskurs zu etablieren, in dem jede Einschränkung der Macht des Präsidenten als „undemokratisch“ kritisiert wird. Dies ist ihm bereits weitgehend gelungen und ließ sich an den Plakaten der Demonstrationen ebenso deutlich ablesen, wie die Forderung nach einer Machtübernahme des Militärs.

Mit den öffentlichen Angriffen gegen das STF scheint Bolsonaro jedoch eine Grenze überschritten zu haben: Mehrere Parteien, darunter die mit Bolsonaro verbündete PSDB und die 18 Parteien des demokratischen Bündnisses Direitas Já – Fórum pela Democracia, kündigten erstmals an, ein Amtsenthebungsverfahren zu prüfen und seine Gesetzesvorhaben im Parlament nicht mehr zu unterstützen. Inzwischen liegen mehr als 120 Anträge auf Amtsenthebungsverfahren von Bolsonaro im Kongress vor, die der Parlamentspräsident Arthur Lira bisher nicht auf die Tagesordnung setzte. Der drohende Entzug der Unterstützung muss so deutlich gewesen sein, dass Bolsonaro unmittelbar zurückruderte. Am 9. September veröffentlichte er einen Brief – dem Vernehmen nach von seinem Vorgänger Michel Temer diktiert – in dem er seine demokratischen Grundüberzeugungen beteuert. Ein sehr durchsichtiges Manöver, das unter anderem von seinem Vorbild Trump bekannt ist. Eine Fortsetzung seiner Attacken auf die Justiz wird erwartet.


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OFFENSIVE GEGEN INDIGENE

Gegen den marco temporal Protest vor dem Bundesgerichtshof (Foto: Fabio Rodrigues-Pozzebom, Agência Brasil)

Das Gesetzesvorhaben marco temporal steht im Fokus der aktuellen Auseinandersetzungen zwischen der brasilianischen Regierung und den Interessenvertretungen der indigenen Völker. Dabei geht es um die Einführung einer Stichtagsregelung, nach der die juristische Anerkennung jedes indigenen Territoriums von dem Nachweis seiner Nutzung am 5. Oktober 1988, dem Tag der Verkündung der heute gültigen Verfassung Brasiliens, abhängen soll. Die indigene Gemeinschaft, die Anspruch auf ein bestimmtes Gebiet erhebt, müsse am Stichtag auf diesem Land gelebt, sich in einem gerichtlichen Streit um das Land oder in einem direkten Konflikt mit Eindringlingen befunden haben. Für die Indigenen ist klar: So sollen mit einem Handstreich 500 Jahre kolonialer Ausbeutung und Landraub legalisiert werden. Der nationale Zusammenschluss der indigenen Völker (APIB) sieht deshalb den marco temporal als verfassungswidrig an, da dieser die Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und die Gewalt, die Angehörige verschiedener indigener Gemeinschaften vor 1988 erlitten haben, als Grundlagen des neuen Gesetzes anerkennt. Darüber hinaus werde die Tatsache ignoriert, dass es bis zum Inkrafttreten der Verfassung von 1988 für Indigene gar keine rechtliche Grundlage gab, um eigenständig ihre Rechte vor Gericht einzufordern. Hinzu kommt, dass der Nachweis der Nutzung eines Gebiets am 5.Oktober 1988 für viele indigene Gemeinschaften schwierig ist. In ihrer besonderen Beziehung zu ihrem Territorium ist nicht nur das Land identitätsstiftend, auf dem sie tatsächlich leben, sondern auch Gebiete, die eine kulturelle und spirituelle Bedeutung haben, aber nicht bewohnt werden.

Bereits im Wahlkampf hatte Jair Bolsonaro erklärt, dass unter seiner Präsidentschaft für indigene Gemeinschaften kein Zentimeter Land zusätzlich als Schutzgebiet ausgewiesen („demarkiert“) werden würde. Dieses Ziel hat er bisher umgesetzt: Unter seiner Regierung sind die Demarkationen indigener Territorien auf Null zurückgegangen. Die ausstehende juristische Entscheidung zum marco temporal diente der Regierung und einem Teil der Justiz als Rechtfertigung für die Lähmung der Demarkationspolitik. Ohne die juristische Anerkennung ihrer Territorien droht den Menschen dort die Vertreibung aus ihrer traditionellen Heimat, die untrennbar mit ihrer Kultur und ihren Lebensgrundlagen verwoben ist. Die möglichen Zwangsräumungen würden zur Auslöschung vieler indigener Gemeinschaften führen.

Legislative greift indigene Territorien an

Dabei schwelt der juristische Streit um die Stichtagsregelung schon länger. 2009 hatte der Oberste Gerichtshof (STF) bereits einmal über den marco temporal entschieden, als das indigene Territorium Raposa Serra do Sol anerkannt wurde. Das 1,7 Millionen Hektar große Gebiet in der nördlichen Hälfte des Bundesstaates Roraima ist die Heimat der Macuxi. Es ist das größte Schutzgebiet Brasiliens und eines der größten der Welt. Das 2009 erlassene Urteil wurde einerseits mit großer Erleichterung aufgenommen. Denn das Gericht erkannte an, dass die rechtliche Absicherung der indigenen Gebiete ein nationales Gebot ist – auch aufgrund der historischen Schuld gegenüber den indigenen Völkern. Anderseits führte das Urteil in seiner Begründung auch die bewiesene Besiedlung des Gebiets im Jahre 1988 an, berief sich also auf den Stichtag. Dies löste seinerzeit Befürchtungen aus, dass in diesem eigentlich positiven Urteil eine Zeitbombe versteckt sei. 2013 entschied der Oberste Gerichtshof in einem weiteren Verfahren, dass das Urteil von 2009 über das Gebiet Raposa Serra do Sol nur für diesen konkreten Fall gelte. Seitdem steht ein Grundsatzurteil zur Stichtagsregelung aus. Offen blieb damals auch, inwieweit ein Gesetz, wie zum Beispiel die Gesetzesinitiative PL 490 im Jahr 2007, den marco temporal etablieren könne. Damit war klar, dass Brasiliens Agrobusiness und die Agrarlobby der ruralistas wegen der Stichtagsregelung wieder vor Gericht ziehen würden. Dies geschah nun Anfang September dieses Jahres mit der Enteignungsklage der Regierung des Bundesstaates von Santa Catarina gegen das indigene Volk der Xokleng in Bezug auf deren Territorium Birama-Laklãnõ. Dieser Prozess führte nicht nur zu Protesten der Indigenen, sondern auch zu einer großen Mobilisierung des Agrarbusiness, das einhellig für eine Stichtagsregelung eintritt.

Der aktuelle Versuch, den marco temporal zu etablieren, ist nicht der einzige Angriff auf die Rechte der indigenen Völker. So hat Bolsonaro im Jahr 2020 die Gesetzesinitiative PL 191 den beiden Kammern des Nationalkongresses zur Entscheidung vorgelegt, die Bergbau und Wasserkraft in indigenen Territorien erlauben soll. Dies ist tragischerweise nicht durch die Verfassung ausgeschlossen. Die Legalisierung und Regulierung des Bergbaus wird damit zu einer zentralen Frage für die Zukunft der indigenen Völker in Brasilien.

Auch hier ist zu befürchten, dass die Mehrheitsfraktionen der Landwirtschaftslobby und der Bergbaulobby sich durchsetzen könnten. 280 der insgesamt 513 Mitglieder der Abgeordnetenkammer des brasilianischen Nationalkongresses sind Mitglieder der sogenannten „Ruralistas“-Fraktion, also des parteiübergreifenden Zusammenschlusses der Landwirtschaftslobby, der Frente Parlamentar da Agropecuária (FPA). Laut Recherchen der Nichtregierungsorganisation De Olho nos Ruralistas ging die mehrmalige Vertagung der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes über die Stichtagsregelung auf den politischen Druck der FPA zurück. Die FPA verfolge damit das Ziel, zunächst in der Abgeordnetenkammer die Gesetzesinitiative PL 490/2007 durchzubringen. Dieser Gesetzentwurf soll maßgeblich Infrastrukturprojekte in indigenen Territorien gestatten, wenn es dem „relevanten öffentlichen Interesse des Bundes“ diene. Außerdem würde dieser Gesetzentwurf in der Praxis noch nicht abgeschlossene Demarkationsverfahren erheblich erschweren; die Anerkennung neuer Gebiete wäre praktisch unmöglich und darüber hinaus könnten sogar bereits bestehende Demarkationen rückgängig gemacht werden. Auch könnte mit indigenen Gruppen in freiwilliger Isolation leichter ein Kontakt erzwungen werden, was für diese Gemeinschaften lebensbedrohlich ist. Falls dieser Gesetzentwurf in Kraft tritt, wird sich die Lage der indigenen Völker Brasiliens weiter zuspitzen, Landraub und Konflikte sowie Entwaldung und Brandrodung werden zunehmen. Am 23. Juni dieses Jahres war der Gesetzesentwurf PL 490/2007 im zuständigen Ausschuss des brasilianischen Abgeordnetenhauses verabschiedet worden und muss nun im Parlamentsplenum beschlossen werden, bevor es dem Senat zur Entscheidung vorgelegt wird. Bereits im Juni hatten fast 1.000 indigene Repräsentant*innen vor dem Kongress in Brasília protestiert und die Gefahr von Landraub durch das Gesetz 490 sowie den darin ebenfalls enthaltenen Passus zum marco temporal wütend kritisiert.

Stichtagsregelung marco temporal

Weitere Gesetzesinitiativen sind zwei auch als „Landraubgesetze“ (PL da grilagem) bekannte Gesetzesvorhaben: eines im Nationalkongress (PL2633/2020), das andere im Senat (PL 510/2021), die beide unter anderem die illegale Aneignung von Land nachträglich legalisieren sollen.

Eine weitere zentrale Konfliktlinie ist die Zustimmung Brasiliens zur Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz indigener Völker. Die Frente Parlamentar da Agropecuária hat am 12. August dieses Jahres ein Dokument veröffentlicht, in der sie den Austritt aus der ILO 169 fordert. Dort argumentiert das Agrobusiness, die ILO 169 beschneide Brasilien in den „Befugnissen zur Gesetzgebung, Verwaltung, Ausarbeitung und Bewertung nationaler und regionaler Entwicklungspläne und -programme, zum Bau von Straßen, Wasserkraftwerken und anderen Infrastrukturmaßnahmen – kurzum, zu souveränen Entscheidungen über das, was für den Fortschritt und die Entwicklung des Landes am nötigsten“ sei. Daher fordert die FPA, dass Brasilien zum nächstmöglichen Zeitpunkt aus der ILO 169 austreten solle. Nach den Regularien der ILO kann dies alle zehn Jahre geschehen. Da Brasilien die ILO-Konvention 169 im Jahr 2002 unterzeichnet hat, könne dieser Schritt bis zum 5. September 2022 vollzogen werden, so die Agrarlobby. Dies deckt sich mit Bolsonaros Vorstellungen. Denn auch er hatte bereits kurz nach seinem Amtsantritt geäußert, der Austritt Brasiliens aus der ILO 169 sei dringend notwendig, um die Entwicklung des Landes nicht weiter zu behindern. Ein Austritt Brasiliens aus der ILO 169 würde dem Trend hierzulande entgegenlaufen: Deutschland hat 2021 nach jahrzehntelanger zivilgesellschaftlicher Kampagne die ILO 169 endlich ratifiziert. Diese Ratifizierung sollte auch ein internationales Signal der Unterstützung der ILO 169 sein.
Brasilien ist für Deutschland der einzige sogenannte „strategische Partner“ in Südamerika und im Spätherbst stehen erneut hochrangige Regierungskonsultationen beider Partner-Länder an. Es bleibt zu hoffen, dass bei den Konsultationen jenseits von Dialog und gegenseitiger Partnerschafts-Beteuerung endlich auch einmal klare rote Linien gezogen werden: Ein drohender Austritt Brasiliens aus der ILO 169 sollte so eine rote Linie sein.

Die aktuellen Konflikte zeigen, dass der brasilianische Präsident jenseits aller rechtsradikalen Skurrilität eine konsistente Agenda verfolgt: Die Kampagne gegen die Rechte indigener Völker und traditioneller Gemeinschaften war bereits im Wahlkampf ein zentrales Thema Bolsonaros. Und die aktuelle Offensive geschieht mit der expliziten Unterstützung des mächtigen Agrobusiness und dessen massiver Präsenz im Parlament. Eine Kooperation mit dieser Regierung wird immer problematischer und unverständlicher.


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RECHTER KULTURKAMPF

Am 11. Juni kündigte der Präsident der Fundação Cultural Palmares, Sérgio Camargo, an, rund 9.000 Werke aus Literatur und politischer Theorie aus dem Archiv der Einrichtung zu entfernen. Laut einer internen Analyse der staatlichen Stiftung zur Förderung der afrobrasilianischen Kultur seien nur fünf Prozent aller Titel konform mit dem institutionellen Auftrag. Unter den beanstandeten Publikationen gehören viele zum brasilianischen Bildungskanon, wie die des afrobra-*silianischen Schriftstellers Machado de Assis (1839-1908) oder des Anthropologen und Folkloreforschers Luís da Câmara Cascudo (1898-1986). Auch international Anerkanntes, zum Beispiel Werke von H. G. Wells, der Frankfurter Schule und alle Bücher von oder über Karl Marx, sollten aussortiert werden.

In der Analyse namens Darstellung der Sammlung – drei Jahrzehnte der marxistischen Vorherrschaft in der Stiftung Fundação Cultural Palmares hat das Institut 14 Kategorien angewandt, um den „kulturellen Marxismus“ zu beenden. Sie lesen sich wie das ABC der Kampagnen der Neuen Rechten: „Sexualisierung von Kindern“, „jugendliche Straftäter“, „Techniken der Viktimisierung“, „obsolete Werke“.

Inzwischen hat das zuständige Gericht in Rio de Janeiro der Stiftung untersagt, die indizierten Werke aus dem Archiv auszuschließen. Der Vorgang ist dennoch höchst relevant, weil er der jüngste Versuch der brasilianischen Neuen Rechten ist, die Freiheit von Forschung, Bildung, Kunst und Meinungsäußerung zu beschränken. Mit der Verschwörungstheorie hinter dem Kampfbegriff „kultureller Marxismus“ werden erfolgreich ideologische Umdeutungen in der Öffentlichkeit verbreitet. Im Kern geht es darum, Begriffe wie Vaterland, Familie oder Erziehung in ihrer konservativen Deutung als „unideologisch“ und „natürlich“ zu definieren, während andere Definitionen als „ideologisch“ gebrandmarkt werden, zum Beispiel als „Gender-Ideologie“.

Die Diktatur darf in Schulbüchern nicht mehr Diktatur heißen

Unter Präsident Jair Bolsonaro werden staatliche Mittel so umgeleitet, dass dieser Diskurs unterstützt wird. Das betrifft nicht nur die finanziell ausgebluteten Umweltbehörden, was erheblich zu den gestiegenen Waldrodungen beiträgt, sondern auch Universitäten und (Schulbuch-)Verlage. Welche Verschiebung dort gerade stattfindet, lässt sich an der Weisung des Bildungsministeriums ablesen, nach der die brasilianische Militärdiktatur in den Geschichtsbüchern nicht mehr als Diktatur bezeichnet werden darf (siehe Artikel auf der nächsten Seite).

Eine der ersten erfolgreichen Kampagnen der Neuen Rechten ist die escola sem partido, in etwa „Schule ohne Partei(nahme)“. 2004 gegründet vertritt sie angeblich Eltern und Schüler*innen, die sich gegen die „ideologische Indoktrinierung“ der Linken in den Schulen wehren. Im Fokus der Kritik steht immer wieder der international anerkannte brasilianische Pädagoge Paulo Freire (siehe Artikel auf Seite 53), dessen egalitäre Pädagogik schon 1964 von der Militärdiktatur geächtet wurde. Heute wird er von offiziellen Amtsträgern, wie Bolsonaro und seinen Bildungsministern, diffamiert.

Auch wenn die „kritische Öffentlichkeit“ und die Justiz in vielen Fällen Angriffe abwehren konnten, sind Aktionen gegen einzelne Kunstwerke oder Veröffentlichungen weiter zu erwarten.


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KUNSTSCHAFFENDE ALS ERKLÄRTE FEINDE

Nicht mehr für den Unterricht Bücher über Schwarzen Widerstand während der Kolonialzeit (Foto: Bahoe Books)

Als der brasilianische Präsident und Pandemieleugner Jair Bolsonaro im Juni 2020 dazu aufrief, Krankenhäuser zu stürmen, die Covid-Patienten behandelten, erschien im Blog des Journalisten Ricardo Noblat eine Karikatur des Zeichners Renato Aroeira. Diese zeigte Bolsonaro mit Farbtopf und Pinsel in der Hand, mit denen er das Rote Kreuz – als Symbol für medizinische Hilfe – zum Hakenkreuz verändert hatte. Nach der Veröffentlichung leitete das Justizministerium ein Ermittlungsverfahren gegen Zeichner und Blogbetreiber wegen Verleumdung des Präsidenten ein – in Brasilien kann das bis zu vier Jahre Gefängnis bedeuten. Medienschaffende und Intellektuelle reagierten empört: Unter dem Hashtag #somostodosaroeira (#wirsindallearoeira) wurden Hunderte von Zeichner*innen aktiv.

Unter ihnen war auch Carol Ito, die in ihrem Beitrag den Hashtag-Slogan um die weibliche Endung von „alle“ ergänzte: „Somos todos – e todas! – Aroeira“. Ito ist Journalistin und Cartoonistin, Autorin des Comicstrips Quarentiras und betreibt den Cartoon-Blog Salsicha em Conserva, dabei engagiert sie sich für die Sichtbarkeit von Frauen und trans Personen. Ihre Kritik geht daher über die Kampagne hinaus. Im Gespräch mit LN sagte sie dazu: „Es kommt nicht von ungefähr, dass der Diskurs über die freie Meinungsäußerung zumeist von weißen Männern geführt wird – die sich nämlich befähigt fühlen, über alles zu sprechen und zu urteilen.“ Frauen nähmen sich noch viel zu selten diesen Raum und von ihnen würden auch eher „weibliche“ Themen erwartet. Um dies aufzubrechen, gründete Carol Ito 2017 mit einigen Mitstreiter*innen im Web Políticas, eine Plattform für politische Karikaturen aus der Feder von Frauen. Das Echo war jedoch bescheidener als erwartet.

Die Hetze gegen Künstler*innen schätzt sie so ein: „Frauen werden weniger eine Zielscheibe von Repressionen oder Zensur, sie werden gar nicht erst groß beachtet.“ Sie selbst sei noch nicht öffentlich angegriffen worden, was aber wenig verwunderlich sei, denn wie so viele Frauen publiziere sie vorwiegend selbst „im Web, wo einen die Leserschaft aufsucht und meist derselben Meinung ist.“

Kritische Kunst erfährt Zensur

Dennoch sei heute die Angst der Kolleg*innen, einen Prozess angehängt zu bekommen, real, so Ito. Es gäbe Gewalt, doch nicht die Attacke auf konkrete Künstler*innen sei dabei das Hauptziel, sondern durch moralische Feldzüge gegen diese die eigene Anhängerschaft zu bedienen oder auszuweiten. Beispielsweise sei mit der Kampagne „Escola sem Partido“ (Schule ohne Partei) eine Linie vorgegeben worden, die es verbiete, im Unterricht Diversität zu thematisieren: „Wir erleben eine diskursive Verdrehung, wenn es heißt, die Schwulen respektieren die Familie nicht.“ Dass „Kunstschaffende zum erklärten Feind gemacht“ werden, ist ihrer Ansicht nach symptomatisch für die Polarisierung der brasilianischen Gesellschaft.

Rogério de Campos von Veneta, einem Independent-Verlag aus São Paulo, thematisiert eine andere ideologische Kampagne der Rechten: „Bolsonaro lässt aus den Lehrbüchern für Geschichte das Wort Diktatur streichen“. Als Verleger kritischer Werke kennt de Campos die Folgen. Kulturelle Angebote seien in Brasilien ohnehin Luxus, der Buchmarkt nicht gerade stark, doch „in Brasilien ist der Staat ein wichtiger Abnehmer für die Verlage, er kauft ihre Bücher, so sie als didaktisch wertvoll erachtet werden, für Schulen und Bibliotheken.“ Es sei großartig gewesen, dass die 2014 und 2017 erschienenen Bücher des Autors Marcelo D’Salete über Schwarzen Widerstand während der Kolonialzeit, Cumbe und Angola Janga, für den Geschichtsunterricht angeschafft worden seien. Heute aber könne jeder Titel Probleme bringen, der auch nur den Anschein hat, nicht mit der Linie Bolsonaros konform zu sein, und zwar lange, bevor diese gesetzlich vorgegeben oder institutionell durchgesetzt sei: „Die Drohgebärden, die aggressiven Ansagen reichen aus und die Menschen trauen sich nichts mehr“.

Zu Verfechter*innen der öffentlichen Moral zwischen zwei Buchdeckeln würden auch Einzelpersonen, berichtet der Verleger weiter. So verhinderten etwa besonders verantwortungsbewusste Bibliothekar*innen oder Buchhändler*innen, dass Bücher an ihr Ziel fänden, ebenso im Vertrieb arbeitende Anhänger*innen evangelikaler Kirchen. Im Fall von Veneta war es der beauftragte Logistiker, der im Januar 2020 den Transport von Belegexemplaren an den Lizenzgeber in Frankreich verweigerte, wegen „nicht erlaubten Inhalts“ – auf dem Cover war eine Frau abgebildet, die ihre Bluse öffnet, die Brustwarzen sichtbar.

Verbote steigern die Auflage

Jede solcher restriktiven Aktionen bringe jedoch auch medialen Wirbel und damit die Chance, sich in der Debatte zu positionieren, so de Campos. Sehr viel mediale Beachtung erhielt zum Beispiel der Marvel-Comic Avengers: Der Kreuzzug der Kinder. In einem Panel werden zwei sich küssende Männer gezeigt. 2019 ließ der Bürgermeister von Rio de Janeiro, Marcelo Crivella, während der Buchmesse Bienal do Livro do Rio eigenmächtig die Bände der Neuauflage von den Messetischen entfernen. Er begründete dies mit moralischen Bedenken, falls das unversiegelte Buch Minderjährigen in die Hände falle. Es folgte eine gerichtliche Auseinandersetzung, begleitet von einer hitzigen öffentlichen Diskussion, mit dem Ergebnis, dass ein Bürgermeister zu so etwas nicht befugt ist, selbst bei jugendgefährdendem Inhalt. Der positive Nebeneffekt: Die Auflage war im Nu vergriffen. Von etlichen Fällen, gerade von Selbstzensur aus Angst vor Rufmord und Repressalien, dringt jedoch gar nicht erst etwas nach außen.

Die Debatte lässt sich nutzen

Im Fall des Ermittlungsverfahrens gegen Renato Aroeira ging der Zensurversuch nach hinten los: Gemeinsam mit mehr als 100 Zeichner*innen der Solidaritätskampagne erhielt Aroreira Ende 2020 den Vladimir-Herzog-Sonderpreis für Journalismus für Menschenrechte. Eine Auszeichnung, die in Brasilien sehr wichtig ist, so Paulo Ramos, Comicforscher an der Universidade Federal de São Paulo. Sie war verknüpft mit einem „Dialog verschiedener Sektoren der Gesellschaft“, weit über die Künstlerszene hinaus. Und dieser breiten „kollektiven Reaktion auf einen klaren Versuch von Zensur und Einschüchterung folgten weitere“, schildert Ramos, dessen Buch über Zensur von Comics und Cartoons in Brasilien bald erscheint. So hätten sich viele Anwält*innen bereit erklärt, sich kostenfrei für Opfer von Einschüchterungsversuchen durch die Regierung einzusetzen.

Denn es mangelt nicht an Fällen von Zensur: Das Observatório de Censura à Arte (Beobachtungsstelle zur Zensur von Kunst) stellte seit 2017 in Brasilien rund 60 Fälle von – nicht nur durch die Regierung – zensierter Kunst fest. Dort werden jedoch nicht alle Angriffe auf die Meinungsfreiheit registriert. So fehlt zum Beispiel der Fall der in der Zeitung Folha de São Paulo erschienenen Cartoons, in denen ein von der Polizei verübtes Massaker an Teilnehmenden einer öffentlichen Funk-Party in einer Favela kritisiert wurde. Im September 2019 wurden vier der Cartoonist*innen, u.a. Alberto Benett, dafür abgemahnt.

Für Renato Aroeira und den Blogbetreiber Ricardo Noblat ging es am Ende gut aus – im März dieses Jahres wurde das Verfahren eingestellt. Auch dazu stellt Comicforscher Ramos fest: „Der Inhalt des Zensierten bekommt mit einem Mal eine viel größere Reichweite. Und es gibt inzwischen die kollektive Wahrnehmung, dass wir in Zeiten einer echten Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats leben. Seit Jahrzehnten habe ich in diesem Land nicht mehr so viele Autoren gesehen, die sich äußern wollen, sei es in Zeitungen oder in sozialen Netzwerken.“


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„ZURÜCK IN EINE GRAUENHAFTE ZEIT“

Bruno Langeani ist Jurist und Experte für öffentliche Sicherheit und Gewaltprävention. Seit 2012 arbeitet er als Projektleiter für die NGO Instituto Sou da Paz mit Sitz in São Paulo zu den Themen öffentliche Sicherheit und Gewaltprävention.
(Foto: Gabriel Mayor)


Am 12. Februar veröffentlichte die brasilianische Regierung vier neue Dekrete zur Waffengesetz­gebung – welche sind die wichtigsten Neuerungen?
Die Erlasse des Präsidenten vereinfachen sowohl den Kauf als auch das Tragen von Waffen. Nach der Gesetzgebung von 2003 dürfen nur Angehörige der Polizei oder des Militärs Waffen tragen, Bürger erhalten dieses Recht nur in Ausnahmefällen, die sie begründen müssen. Mit den neuen Dekreten kehrt Bolsonaro diese Logik um. Jetzt muss die Polizei begründen, warum sie den Bürger*innen das Tragen einer Waffe nicht erlaubt. Sportschützen können jetzt 60 Waffen besitzen, vorher waren es 16. Und auch der Besitz von automatischen Waffen ist jetzt zulässig. Nach Bolsonaros Dekreten gilt ein Waffenschein nicht mehr nur für eine bestimmte, sondern für jede Handfeuerwaffe, die eine Person besitzt und auch die örtliche Begrenzung ist aufgehoben. Mit den jüngsten Änderungen ist ein Waffenschein in ganz Brasilien gültig. Zuvor war außerdem für Gruppen, wie Sportschützen, eindeutig geregelt, dass sie ihre Waffe nur auf direktem Weg von ihrem Zuhause zum Ort der Benutzung mit sich führen dürfen. Das ist jetzt nicht mehr klar geregelt. Zwischen den Zeilen erlaubt Bolsonaro mit dem Erlass das ständige Tragen einer Waffe. Da das offensichtlich der bestehenden Gesetzgebung widerspricht, steht das so ausdrücklich natürlich nirgendwo.

Viele fürchten auch den zukünftig möglichen Einsatz von „Phantom-Munition“ (munição fantasma). Was hat es damit auf sich?
Bisher registrierte das Militär die Hersteller, Verkäufer und Käufer von Munition sowie die Maschinen zur Herstellung. Munition aus Fabriken erhält einen Code, eine Chargennnummer. So hat der Staat eine gewisse Kontrolle über Produkte, die vor allem im kriminellen Milieu benutzt werden, und es besteht die Möglichkeit der Rückverfolgung. Erlaubt man jedoch die private Herstellung von Munition, hat der Staat keinerlei Information über Hersteller, Verkäufer und Käufer oder die produzierte Menge.

Wer profitiert davon, wenn der Staat hier den Überblick verliert?
Das organisierte Verbrechen und Kriminelle im Allgemeinen. Zum einen, weil bei den endlosen Schusswechseln – wie zum Beispiel in Rio de Janeiro zwischen Drogenkartellen, Polizei und Milizen – die Versorgung mit Munition zukünftig möglich sein wird, ohne weite Lieferwege zurückzulegen. Bei diesen besteht immer das Risiko, von der Polizei gefasst zu werden. Man muss Munition nicht mehr von São Paulo nach Rio de Janeiro transportieren, sondern produziert einfach dort, wo die Munition auch zum Einsatz kommt. Zum anderen führt nicht-registrierte Munition dazu, dass Verbrechen noch seltener aufgeklärt werden können. Das ist bereits ein großes Problem in Brasilien. Man verwandelt einen möglichen Beweis für die Verbrechensaufklärung in etwas, das keine Spuren mehr liefert, weil die Munition schon illegal und ohne Kontrolle hergestellt wurde. Kriminelle profitieren auch von der gestiegenen Anzahl an Waffen, die eine einzelne Person nun besitzen darf. Eine Person wird rekrutiert und erhält die Erlaubnis, 60 Waffen zu kaufen, die sie danach verteilt. Das wird zu einem Riesenproblem für die öffentliche Sicherheit.

Zwischen 2019 und 2020 ist die Zahl der Sportschützenvereine von 151 auf 1.345 gestiegen. Im vergangenen Jahr wurden rund 180.000 neue Waffen in Brasilien registriert, ein Anstieg von über 90 Prozent zu 2019. Wie erklären Sie sich das?
Besonders auffällig war der Anstieg der Registrierung von Waffen für Zivilisten, die beispielsweise im Schießsport, als Waffensammler oder in der Jagd aktiv sind. Diese Gruppe von Waffenbesitzern ist in Brasilien historisch gesehen immer sehr klein gewesen. Bei uns gibt es im Gegensatz zu anderen Ländern keine ausgeprägte Jagdtradition, nur bestimmte invasive Arten dürfen überhaupt gejagt werden. Da für diese Gruppe die Möglichkeit des Waffenbesitzes aber immer weiter gelockert wurde, wuchs sie sprunghaft an. Inzwischen zählen ungefähr 400.000 Waffenbesitzer zu dieser Gruppe. Die privaten Waffenkäufe nahmen auch in allen anderen Gruppen zu, zum Beispiel bei Personen, die Polizei und Feuerwehr angehören und die vor allem im Norden Brasiliens, aber auch in Rio de Janeiro, einen Großteil der Milizen stellen.

Lassen sich bereits Folgen dieser Entwicklungen erkennen?
Es gibt konkrete Zahlen, dass häusliche Gewalt gegen Frauen gestiegen ist. Da mehr Menschen erlaubt wurde, zu Hause eine Waffe zu lagern, sehen wir hier einen Zusammenhang. Aber diese Entwicklungen sind sehr neu und müssen noch genauer analysiert werden. Gewalt ist ein multikausales Phänomen.
Auffällig ist allerdings, dass die Mordrate in Brasilien während der Pandemie gestiegen ist, obwohl es weniger gewöhnliche Verbrechen, wie Diebstähle und Raubüberfälle, gab. Liegt das daran, dass die Polizei während der Pandemie anderen Aufgaben nachgehen musste? Diese und andere Entwicklungen müssen wir erst genau untersuchen, um zu verstehen, wie es dazu kommt.

Präsident Bolsonaro versprach in seiner Wahlkampagne, dass er die öffentliche Sicherheit in Brasilien verbessern wolle. Wie unterscheidet sich die Politik seiner Regierung von der seiner Vorgänger*innen?
Während der Regierungen von Lula da Silva, Dilma Rousseff und Michel Temer gab es ein gutes Waffengesetz und es haperte an der Umsetzung. Unter Lula passierte viel im Bereich der Gewaltprävention und unter Temer wurde das Einheitliche System für die Öffentliche Sicherheit (Lei da SUSP) geschaffen. Was wir jetzt erleben, ist die Zerstörung eines an sich guten Gesetzes. Was den Bereich der öffentlichen Sicherheit angeht, hat die Regierung Bolsonaro keine Projekte auf den Weg gebracht. Es gibt mit „Vorwärts Brasilien” ein kleines Projekt zur Verringerung der Mordrate in fünf Städten, in denen zusammengenommen drei Prozent der Morde in Brasilien passieren. Nach zwei Jahren befindet sich dieses Projekt immer noch in der Pilotphase. Es gibt diesen Diskurs, dass man hart vorgehen wolle, aber umgesetzt wird nichts. Um wenigstens einen positiven Punkt zu benennen: Bolsonaro hat die personellen Kapazitäten der Bundes- und Verkehrspolizei aufgestockt. Das war dringend nötig.

Welchen Einfluss hat die Liberalisierung des Waffengesetzes unter Bolsonaro auf die Land­konflikte?
Auf dem Land ist es noch schlimmer. Die einzige Änderung, die Bolsonaro bisher durch das Parlament gebracht hat, die also per Gesetz und nicht nur per Dekret festgehalten wurde, besteht darin, dass Landbesitzer ihre Waffe jetzt auf ihrem gesamten Grundstück mit sich führen dürfen und nicht mehr nur in ihrem Haus. Bereits in der Vergangenheit war die Zahl der Ermordungen im Zusammenhang mit Landkonflikten sehr hoch. Jetzt wird es nun noch einfacher: Die Großgrundbesitzer und ihre Angestellten müssen ihre Waffen nicht einmal mehr verstecken.

Eine Umfrage von Datafolha aus dem Jahr 2019 zeigt, dass zwei Drittel der Brasilianer*innen gegen die Liberalisierung des Waffengesetzes sind. Außerdem ist die Zustimmung für den Präsidenten zwischen Oktober 2020 und Februar 2021 von 41 Prozent auf 33 Prozent gesunken. Warum weicht Bolsonaro ausgerechnet jetzt die Waffengesetzgebung weiter auf?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen zieht sich die Regierung Bolsonaros immer in ihren Komfortbereich zurück, wenn sie in der öffentlichen Meinung schlecht dasteht. So kann sie ihre Basis aktivieren, die zumindest in den sozialen Medien sehr laut ist. Zum anderen ist der Präsident ein großer Waffenfanatiker. Anfangs begründete Bolsonaro seine Absicht, den Zugang der Bevölkerung zu Waffen zu erleichtern, mit dem Argument, dass die Bevölkerung sich gegen die vielen Kriminellen und die starke Gewalt verteidigen müsste. Seit der Veröffentlichung des Videos der Ministerkonferenz im April 2019 ist klar, dass Bolsonaro andere Absichten verfolgt, die er seither auch immer deutlicher öffentlich ausspricht: Er will die Bevölkerung bewaffnen, damit sie seine persönlichen Feinde angreifen. Seine Rhetorik ist der von Donald Trump sehr ähnlich. In Brasilien verbietet es die Verfassung, bewaffnet an Demonstrationen teilzunehmen. Aber am Ende ist es das, was Bolsonaro will – eine bewaffnete Bevölkerung, die auf die Straße geht. Weltweit war er einer der wenigen Staatschefs, die den Sturm auf das Kapitol in den USA nicht verurteilt haben. Er sprach sogar davon, dass es sein kann, dass in Brasilien bei den nächsten Präsidentschaftswahlen das Gleiche passieren wird.

Wollen Sie damit andeuten, dass Präsident Bolsonaro mit der Lockerung der Waffengesetz­gebung bereits jetzt seinen Machterhalt nach 2022 vorbereitet?
Wir denken, er verfolgt aktuell das Ziel, eine Basis aus Unterstützern aufzubauen, die bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im Falle einer Niederlage für große Instabilität sorgt, während er gleichzeitig von Wahlbetrug spricht. Bolsonaro hat das bereits öffentlich verkündet. Die Strategie besteht darin, vier Jahre lang den Wahlprozess zu delegitimieren und gleichzeitig diese bewaffnete Basis von Unterstützern aufzubauen. Das ist Teil eines autoritären Projekts, das Brasiliens Demokratie gefährdet. Deshalb brauchen wir jetzt eine institutionelle Vollbremsung durch den Obersten Gerichtshof, wo aktuell gleich mehrere Verfahren laufen. Die Chancen, dass es zu so einer Vollbremsung kommt, sind nicht gering, denn die Regierung versucht per Dekret die Gesetzgebung zu verändern und übersteigt damit ihre Kompetenzen. In seinen ersten zwei Jahren im Amt hat Bolsonaro die Waffengesetzgebung bereits mit mehr als 30 Bestimmungen gelockert. Er wird damit in den nächsten zwei Jahren weitermachen, wenn das niemand verhindert. In den 1990er-Jahren ist die Mordrate explodiert, nachdem das das Kaufen und Tragen von Waffen erleichtert wurde. Wir brauchen also keine großen Prognosen – wir befinden uns bereits auf dem Weg zurück in eine grauenhafte Zeit.


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MIT „BUM BUM TAM TAM“ FÜR DIE IMPFUNG

Fast keine Impfstoffe bestellt Impfung in Manaus Ende Januar 2021 (Foto: Valdo Leão / Semcom, Fotos Públicas, CC BY-NC 2.0)

Am 1. Januar jährte sich der Amtsantritt von Brasiliens rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro zum zweiten Mal. Seine Bilanz ist katastrophal: Mit fast neun Millionen COVID-19-Infizierten steht Brasilien direkt hinter den USA und Indien an dritter Stelle in der weltweiten Rangliste. Trotz eines vergleichsweise guten öffentlichen Gesundheitssystems starben bis Ende Januar nach offiziellen Zahlen rund 220.000 Menschen an dem Virus. Die hohen Infektionszahlen der ersten Welle der Pandemie im August 2020 sind in Brasilien längst wieder erreicht. In fast allen Bundesstaaten steigt die Zahl der Infizierten und Toten steil an. Gleichzeitig sind die Betten in den Intensivstatio­nen in den meisten Bundesstaaten zu fast 100 Prozent ausgelastet. Auf die Planung einer Impfkampagne für die mehr als 210 Millionen Brasilianer*innen verzichteten Bolsonaro und sein Gesundheitsminister General Eduardo Pazuello bisher, auch auf dem internationalen Markt wurden keine Impfstoffe bestellt.

Doch die Regierung Bolsonaro versagt nicht nur bei der Bekämpfung der Pandemie, sondern auch bei der ihrer Folgen. 13 Millionen Menschen leiden Hunger, 14 Millionen sind arbeitslos, die Anzahl der informell Beschäftigten ist auf fast 50 Prozent aller Erwerbstätigen gestiegen. Die Steuereinnahmen sanken 2020 um 6,9 Prozent – und erreichten damit den niedrigsten Wert in zehn Jahren. Der neoliberale Wirtschaftsminister Paulo Guedes bewertete dies als „milden“ Rückgang und „angesichts der Pandemie exzellentes Ergebnis“. Inmitten all dieser Notwendigkeiten staatlichen Handelns bekräftigte Bolsonaro am 26. Januar noch einmal, dass die Deckelung der staatlichen Ausgaben nach dem seit 2016 gültigen Verfassungszusatz Nr. 95 unbedingt einzuhalten sei.

62 Anträge auf Amtsenthebung

Es ist also nicht verwunderlich, dass inzwischen 62 Anträge auf Amtsenthebung von Präsident Bolsonaro gestellt worden sind. Rodrigo Maia, bis Ende Januar Präsident der Abgeordnetenkammer, behandelte diese bisher nicht im Parlament, da man „nicht gleichzeitig eine Pandemie bekämpfen und den Präsidenten absetzen“ könne. Es ist zu befürchten, dass sich bei der Neuwahl der Präsident*innen beider Parlamentskammern zumindest einer der beiden Kandidaten von Bolsonaro durchsetzen wird – im Senat mit Unterstützung der Arbeiterpartei PT.

In den vergangen zwei Wochen haben Zivilgesellschaft und parlamentarische Opposition intensive Anstrengungen unternommen, um ein Amtsenthebungsverfahren gegen Bolsonaro in Gang zu setzen. Der weiterhin bestehende Mangel an medizinischem Sauerstoff in der Millionenstadt Manaus, durch den mindestens 31 Patient*innen erstickten, scheint langsam auch bei der bürgerlichen Opposition zu der Erkenntnis zu führen, dass sich Brasilien in einem nationalen Notstand befindet. Inzwischen wurde bekannt, dass die Regierung seit Anfang Januar darüber informiert war, dass sich die Sauerstoffreserven in Manaus ihrem Ende näherten, und dennoch nicht reagierte. Damit hat der Vorwurf des crime de responsablidade (etwa: Verletzung der ordnungsgemäßen Amtsführung), der direkt zu einem Amtsenthebungsverfahren führen könnte, weitere Beweiskraft erhalten. Maia stellte angesichts der Situation in Manaus Mitte Januar zumindest in Aussicht, die Anträge auf Amtsenthebung an die zuständige parlamentarische Kommission zu überstellen – allerdings erst nach den Parlamentsferien und damit nach Ablauf seines Mandats. Am 26. Januar wurde ein weiterer Antrag auf Amtsenthebung eingereicht, der dafür spricht, dass die Opposition gegen Bolsonaro wächst: 370 religiöse Amtsträger*innen der katholischen, lutherischen, presbyterianischen, baptistischen und weiterer Kirchen forderten ein sofortiges Impeachment.

Im Februar läuft die staatliche Nothilfe aus

Auch auf den Straßen wurde der Protest gegen Bolsonaro wieder aufgenommen. Am Wochenende vom 15. Januar protestierten Brasilianer*innen in vielen Städten lautstark mit panelaços (öffentliches Topfschlagen aus dem Fenster). In São Paulo hieß es dabei in meterhohen Bildprojektionen an Hochhäusern „Ohne Sauerstoff – Ohne Impfstoff – Ohne Regierung“ oder „Sofortige Amtsenthebung“. Am 23. Januar protestierten – je nach Stadt und berichtendem Medium – Hunderte oder Tausende in Fahrzeugkonvois gegen die Regierung. Mobilisiert hatten viele zivilgesellschaftliche Organisationen, darunter der Gewerkschaftsdachverband CUT und die linke Partei PSOL, aber auch rechte bürgerliche Bewegungen wie das Movimento Brasil Livre (MBL) und Vem pra Rua.

Es wird erwartet, dass die Proteste im Februar zunehmen werden, wenn die staatliche Nothilfe von 600 Reais (rund 100 Euro) ausläuft. Eine Entscheidung über die Fortsetzung der Hilfszahlungen wurde bisher nicht gefällt. Bolsonaro sprach sich jedoch dagegen aus und begründete seine Haltung damit, dass „ein Notfall kein Dauerzustand“ sei. Wirtschaftsminister Guedes zeigte sich hingegen gesprächsbereit, wenn an anderer Stelle – zum Beispiel in der Bildung – die geplanten Mehrausgaben gestrichen würden. Im Februar sind im öffentlichen Nahverkehr und anderen Bereichen gleichzeitig die regelmäßigen Anpassungen an die Inflationsrate zu erwarten, was Geringverdienende ohnehin hart trifft.

Alle für die Impfungen Social-Media-Kampagne von Wissenschaft und Zivilgesellschaft (Illustration: Carlos Latuff)

Wenigstens das wochenlange Tauziehen um die Lieferungen von Impfdosen und Grundstoffen für deren Produktion aus Indien und China wurde Ende Januar beendet. Die Regierung des Bundesstaates São Paulo und das biomedizinische Forschungszentrum Instituto Butantan kündigten an, dass das chinesische Unternehmen Sinovac am 3. Februar 5.400 Liter „aktiver pharmazeutischer Stoffe“ liefern werde. Damit kann das Instituto Butantan rund 8,6 Millionen Dosen des Impfstoffes CoronaVac produzieren, die ab dem 23. Februar zur Verfügung stehen sollen. Auch die Stiftung Osvaldo Cruz (Fiocruz) in Rio de Janeiro, neben dem Instituto Butantan das wichtigste Zentrum für medizinische Forschung und Impfstoffproduktion, soll Grundstoffe aus China erhalten, um den Impfstoff Oxford/AstraZeneca herzustellen. Die Einrichtungen sollen außerdem zwei Millionen gebrauchsfertige Impfdosen Oxford/AstraZeneca aus Indien und eine noch unbekannte Menge CoronaVac aus China erhalten. Beide Impfstoffe haben eine Notfallzulassung der zuständigen brasilianischen Behörde ANVISA erhalten. Weitere Zulassungen erteilte ANVISA bisher nicht.

Auch wenn diese Aussichten seit langer Zeit die ersten positiven Meldungen zum Thema Covid-19 aus Brasilien sind, gleicht die Menge der voraussichtlich im Februar verfügbaren Impfdosen bei einer Bevölkerung von mehr als 210 Millionen Menschen dem berühmten Tropfen auf den heißen Stein. Fachleute schätzen, dass damit nicht einmal das gesamte medizinische Personal und die besonders gefährdete Bevölkerung geimpft werden könne. Zu dieser gehört auch die indigene Bevölkerung in Amazonien. Dort sind die Infektions- und Todeszahlen besonders hoch und medizinische Versorgung schwer erreichbar. Die einzigen Intensivstationen für die 62 Gemeinden des Bundesstaates, der 4,5-mal größer als Deutschland ist, befinden sich in Manaus, oft hunderte Kilometer entfernt und nur per Boot oder Flugzeug zu erreichen. Tragischerweise wurden die Impfungen in Amazonien bereits kurz nach Beginn wieder eingestellt, da es zu „Unregelmäßigkeiten“ gekommen sei. Quellen aus dem Gesundheitssektor sprechen von 65.000 Impfdosen, die in Manaus verschwunden seien. Zusätzlich wird berichtet, dass zahlreiche Menschen geimpft wurden, die nicht zu den priorisierten Gruppen der Impfliste gehört hätten. Während die gefährliche Amazonas-Mutation des Virus bereits in anderen Bundesstaaten nachgewiesen wurde, prüft man in Manaus nun erst einmal die bisherige Impfpraxis.

Bolsonaro macht sich über Impfstoff lustig

Der Gouverneur von São Paulo, João Doria von der wirtschaftsnahen, rechtsliberalen PSDB, bestätigte jüngst öffentlichkeitswirksam die Impflieferung aus China: vor dem Regierungspalast und mit einer Live-Videobotschaft des chinesischen Botschafters in Brasilien, Yang Wanming. Doria, der für die nächsten Präsidentschaftswahlen 2022 als einer der möglichen und gefährlichsten Konkurrenten für Bolsonaro gilt, hat seit Monaten im Alleingang mit China über mögliche Lieferungen von Impfstoff verhandelt. Bolsonaro machte sich über den chinesischen Impfstoff immer wieder öffentlich lustig. Erst im Dezember sagte er bei einer Veranstaltung im Bundesstaat Bahia, dass er bei CoronaVac für nichts garantieren könne: „Wenn sie sich in ein Krokodil verwandeln, ist das ihr Problem!“

Wurde Gesundheitsminister Pazuello im Dezember noch untersagt, einen Vertrag mit dem Instituto Butantan über den Kauf von CoronaVac zu unterzeichnen, änderte Bolsonaro nach der medizinischen Krise in Manaus seine Strategie. Als nach einer Bestellung durch Doria am 15. Januar sechs Millionen Dosen CoronaVac für den Bundesstaat São Paulo aus China eintrafen, versuchte Pazuello diese in die Hauptstadt Brasília umzuleiten. Nach mühsamen Verhandlungen erreichte Doria den Verbleib von 1,5 Millionen Impfdosen in São Paulo. Die übrigen 4,5 Millionen Dosen wurden an andere Bundesstaaten verteilt. Auch die chinesische Zusage der Lieferung für den 3. Februar deklarierte Bolsonaro via Twitter umgehend als Verhandlungserfolg seiner Regierung. Doria konterte, ebenfalls über Twitter: „Ohne die Anstrengungen von São Paulo und die exzellenten Beziehungen, die wir mit China als dem wichtigsten Handelspartner Brasiliens unterhalten, hätten wir mit der Impfung der brasilianischen Bevölkerung nicht einmal begonnen.“

Gezielte Desinformationspolitik und Androhungen eines Militärputsches

Anders als auf bundesstaatlicher Ebene ist die Beziehung zwischen der Regierung Bolsonaro und China angespannt. Laut The Intercept Brasil herrscht zwischen Außenminister Ernesto Araújo, neben Familienministerin Damares Alves und Bildungsminister Abraham Weintraub das ideologisch fanatischste Kabinettsmitglied, und seinem chinesischen Gegenüber Wang Yi seit März 2020 Funkstille. Zu Beginn der Pandemie hatte Präsidentensohn Eduardo Bolsonaro eine diplomatische Krise ausgelöst, indem er China die Schuld für die globale Ausbreitung des Virus zuwies. Ende November legte er nach und beschuldigte die Kommunistische Partei Chinas, den Ausbau der 5G-Technologie nutzen zu wollen, um Brasilien auszuspionieren. Damit unterstützte er Donald Trumps Feldzug gegen das chinesische Unternehmen Huawei. Mit der offenen Parteinahme Bolsonaros und seiner Mitstreiter für Donald Trump hat sich Brasilien außenpolitisch isoliert (siehe LN 559).

Inmitten all dieser Krisen setzen sich sowohl die gezielte Desinformationspolitik der Bolsonaristas als auch die Androhungen eines Militärputsches weiter fort. Seit Beginn der Pandemie wirbt Bolsonaro für das Malariamedikament Chloroquin. Obwohl wissenschaftlich längst erwiesen ist, dass Chloroquin kein geeignetes Mittel gegen eine Infektion mit dem Coronavirus ist, bewarb das Gesundheitsministerium noch im Januar die „präventive Behandlung“ mit einem „COVID-Set“, das verschiedene Medikamente aus (Hydro-)Chloroquin enthielt. Chloroquin wird in Brasilien vom chemisch-pharmazeutischen Labor des Heeres (LQFEx) produziert, das allein von Ende Februar bis Mitte Mai 2020 über eine Million Tabletten und damit das 80-Fache der bisherigen Produktionsmenge herstellte. Bei einem Stückpreis von umgerechnet drei Cent pro Tablette potenziell ein gutes Geschäft. Auch die USA schickten Ende Mai zwei Millionen Dosen Hydrochloroquin nach Brasilien.

Nun untersucht der brasilianische Rechnungshof Ausgaben des Gesundheitsministeriums von mehr als 100 Millionen Reais (rund 15 Millionen Euro) für Hydrochloroquin und andere Medikamente, die von der zuständigen Behörde ANVISA für unwirksam erklärt wurden. Eine Ausgabe der Medikamente über das nationale Gesundheitssystems SUS ist ohne Freigabe der ANVISA jedoch unzulässig.

Angesichts der Untätigkeit der Regierung überrascht es nicht, dass Bolsonaro sich öffentlich gegen Impfungen ausspricht. Er selbst werde „sich keinesfalls impfen lassen“ und auch bei seiner Mutter würde er „sehr überlegen“, wie jetzt aus einem Videomitschnitt bekannt wurde. Immer mehr kritische Stimmen in Brasilien bezeichnen Bolsonaros Vorgehen deshalb als „Genozid“ und den Präsidenten selbst als „Nekropolitiker“. Also als einen Politiker, der soziale und politische Macht nutzt, um zu bestimmen, wie manche Menschen leben und manche sterben müssen. Das passt zu einem Präsidenten, dessen Markenzeichen während des Wahlkampfs die aus Daumen und Zeigefinger geformte Waffe war.

Die Wissenschaft jedenfalls organisiert sich immer besser, um in der Gesellschaft Gehör zu finden. Unter dem Slogan Todos pelas Vacinas („Alle für Impfungen“) haben sich 14 medizinische Forschungseinrichtungen zusammengeschlossen und am 21. Januar gemeinsam mit Influencer*innen eine interaktive Kampagne gestartet. Der bekannteste Unterstützer ist der Rapper MC Fioti, der mit „Bum Bum Tam Tam“ und 1,5 Milliarden Aufrufen auf Youtube 2017 einen Megahit landete. Jetzt hat er mit „Vacina Butantan“ (Impfstoff Butantan) einen Remix gemacht, der bereits zur Hymne der Impfkampagne erklärt wurde und auf Youtube sieben Millionen Klicks in einer Woche erhielt. Das ist mehr als Bolsonaro Follower auf Twitter hat.

 


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GEMEINSAM GEGEN TRANSFEINDLICHKEIT

Wir sind erschöpft, aber wir kämpfen weiter Plakat zum internationalen Frauentag am 8. März

Illustration: Denise Silva, @ise_camaleoa

Der aktuellste Bericht der Nationalen Vereinigung von Travestis und Transsexuellen (ANTRA), der am 31. August 2020 veröffentlicht wurde, zählt in den ersten acht Monaten des Jahres insgesamt 129 Morde an trans Personen. Dies entspricht einem Anstieg der Mordfälle um 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, also in der Zeit, in der die rechtsextreme Partei von Jair Bolsonaro die Präsidentschaft des Landes übernahm. Die Mordopfer waren alle trans Frauen oder Travestis (Travesti ist ein Eigenbegriff, der eine lateinamerikanische politische Identität von transfem transgender Personen beschreibt. Zur ausführlicheren Besprechung dieses Begriffs siehe LN 525, Anm. d. Red.).

In den letzten Jahren gab es grundlegende rechtliche Fortschritte in Brasilien, wie den Beschluss des Bundesgerichts vom 1. März 2018. Darin wurde das Recht von transgender Personen auf eine selbstbestimmte Berichtigung ihres Namens und Geschlechts, ohne eine vorherige Beurteilung durch medizinisches Personal oder eine Operation, anerkannt. Dennoch ist die trans Comunity in Brasilien weiterhin von starker struktureller Transfeindlichkeit betroffen. Trans Personen erfahren besonders beim Zugang zu grundlegenden sozialen Sicherungssystemen wie Bildung und Gesundheit oder dem Zugang zum Arbeitsmarkt, eine starke Diskriminierung. Als Folge dessen finden die meisten nur informalisierte Beschäftigungen, insbesondere im Bereich der Sexarbeit, und sind Ziel von Beleidigungen, Drohungen, Gewalttaten und Morden. Das Verhältnis der brasilianischen Gesellschaft zu trans Frauen und Travestis, überhaupt zu Personen, die sich nicht in die binäre Geschlechterordnung einordnen lassen, setzt sich aus einer Mischung von fetischisierender Faszination und Abneigung zusammen. Das spiegelt sich unter anderem im Markt für Pornographie wider, in dem Pornos mit trans Körpern einen großen Stellenwert einnehmen. Auch die öffentlichen Medien tragen ihren Teil zur Stereotypisierung von trans Personen bei, indem sie durch die Darstellung in der Presse oder auch in fiktiven Werken trans Personen entmenschlichen, sexualisieren und diskriminierende Geschlechterklischees reproduzieren.

Die NGO TransGender Europe (TGEU), die Daten über die Morde an trans Personen sammelt, stellt eine Verschränkung von Rassismus und Klassismus fest. Die Gewalt gegen Menschen aus von Rassismus betroffenen Gruppen und den unteren sozioökonomischen Klassen wird somit verstärkt. TGEU zeigt auf, dass Brasilien seit 2008 die Liste der Länder mit der höchsten absoluten Anzahl von Morden an trans Personen anführt. Zwischen Oktober 2018 und September 2019 wurden von weltweit insgesamt 331 Mordfällen 130 allein in Brasilien registriert. Bei 61 Prozent der Ermordeten handelte es sich um Sexarbeiter*innen.

Gemäß des Artikels II der Konvention der Vereinten Nationen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords kann die Ermordung von trans Personen angesichts der Zahl der Fälle sowie der historisch und kulturell verankerten Diskriminierung als Völkermord definiert werden. Da die Mehrheit der Opfer dieses trans Genozids in Brasilien Frauen und Travestis sind, wird auch von Transfeminiziden gesprochen. Dahinter steckt eine systematische Geschlechtergewalt, die von der gleichen Logik der ehelichen Gewalt wie bei Partner*innen in einer heteronormativen Beziehung durchdrungen ist. Hinzu kommt, dass den Betroffenen in nicht funktionierenden sozialen Unterstützungseinrichtungen wenig Glaubwürdigkeit zugesprochen wird. Für Transfeminizide ist der Staat durch Vernachlässigung oder stillschweigende Duldung mit verantwortlich. Ein Beispiel hierfür war die Ermordung von Dandara Kettley am 15. Februar 2017 in der nordöstlichen Stadt Fortaleza. Kettley wurde am helllichten Tag auf offener Straße von einer Gruppe Männer zusammengeschlagen, gesteinigt und zweimal in den Kopf geschossen. Dabei gab es mehrere Zeug*innen. Der Fall wurde international bekannt, da 16 Tage nach ihrer Ermordung zwei Videos des Vorfalls im Internet veröffentlicht wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte keine brasilianische Behörde das Ereignis untersucht.

Als Bolsonaro am 1. Januar 2019 als Präsident vereidigt wurde, war Brasilien bereits das Land mit den meisten Transfeminiziden weltweit. Bolsonaros LGBTIQ*-feindlichen Äußerungen haben zusätzliche Menschenrechtsverletzungen hervorgebracht, auch ein Anstieg der Selbstmordrate unter trans Personen war zu verzeichnen. In der ersten Jahreshälfte 2020 gab es 16 Selbstmorde von trans Personen, das ist ein Anstieg von 34 Prozent zum Vorjahr. Am 13. Juni 2019 sprach sich Bolsonaro öffentlich gegen den Beschluss des Bundesgerichts aus, Homo- und Transfeindlichkeit, genauso wie Rassismus als Verbrechen einzustufen. Hintergrund dazu war, dass der Nationalkongress, welcher in dieser Frage hätte gesetzgeberisch tätig werden müssen, seiner Pflicht nicht nachkam. Der Kongress wird derzeit von fundamentalistischen evangelikalen Abgeordneten angeführt, die die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität als von der Meinungsfreiheit gedeckte Äußerung betrachten.

Der transfeministische Diskurs verbindet die Bewegungen

Das neue Coronavirus erreichte Brasilien inmitten dieser drastischen politischen Konjunktur, die die Vorurteile einer Gesellschaft verstärkt hat, die durch Jahrhunderte des Völkermordes an der indigenen Bevölkerung und der Versklavung von Afrikaner*innen sowie ihren Nachkommen geprägt ist. Die sozialen Auswirkungen der Pandemie verläuft in ähnlichen Dynamiken wie die der HIV-Epidemie. So führte die Covid-19-Pandemie in verschiedenen Teilen der Welt zur Verstärkung der stereotypen homo- und transfeindlichen Diskurse. Besonders in Brasilien, wo religiöse Führer*innen und Meinungsbildner*innen immer noch unwidersprochen ihre Auffassung verteidigen, Aids sei eine Krankheit, die mit sexuellen Beziehungen außerhalb der Cis-Heteronormativität zusammenhänge.

Angesichts der Ermordung von trans Personen in Brasilien setzt die betroffene Bevölkerung ihre Selbstorganisation fort, die ihr seit Jahrhunderten ein Minimum an physischer und psychischer Sicherheit garantiert. Außerdem schloss sie seit der Redemokratisierung des Landes in den 1980er Jahren Bündnisse mit anderen sozialen Bewegungen und einigen fortschrittlichen Regierungen.

Die Popularisierung des transfeministischen Denkens trägt zu einem immer offeneren Dialog zwischen trans Personen und von cisgender Frauen getragenen Bewegungen bei. Mit dem Austausch sollen Wissen und Strategien für eine Garantie des Rechts auf Leben und für die konkrete Einbeziehung von trans Personen in alle Bereiche der Gesellschaft entwickelt werden. Auch soll der abwertende Blick überwunden werden, dem trans Personen gewöhnlich auch von Verbündeten ausgesetzt sind. So sind trans Personen in Brasilien zunehmend kollektiv organisiert und nutzen digitale Ressourcen auf kreative und kraftvolle Weise, um sich der Objektifizierung ihrer Körper und dem Versuch, ihre Gedanken und ihr Begehren auszulöschen, entgegenzusetzen.


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AUSSENPOLITISCHE ISOLATION


Maria Luísa Mendonça ist Geografin und hat an der Universität von São Paulo (USP) promoviert. Sie ist Ko-Direktorin des Netzwerks für Soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte (Rede Social de Justiça e Direitos Humanos), das seit 2000 jährlich einen Bericht zur Menschenrechtslage in Brasilien veröffentlicht (www.social.org.br). Zur Zeit lebt sie in den USA und forscht am Center for Place, Culture and Politics, CUNY Graduate Center. Zuletzt erschien von ihr Economia Política do Agronegócio / Political Economy of Agribusiness (Annablume, Sāo Paulo, 2018). In den USA vernetzt sie verschiedene internationale Kampagnen zu Brasilien, unter anderem mit FIAN International, zu Investitionen US-amerikanischer und deutscher Pensionsfonds in die Landspekulation in Brasilien. (Foto: privat)


Präsident Bolsonaro gilt international als einer der engsten Verbündeten von Donald Trump. Was bedeutet die Abwahl des US-Präsidenten für Bolsonaro? Wird er eine wichtige Säule seiner Macht verlieren?
Ja, ich denke schon. Denn Bolsonaro ist bereits international isoliert. Er vertritt eine Außenpolitik, die sehr an der Politik der USA ausgerichtet ist. Er hat während der Wahlkampagne von Trump zu dessen Gunsten Kommentare gemacht. Das ist eigentlich undenkbar in der brasilianischen Außenpolitik. Brasilien hat eine diplomatische Tradition der „Nichteinmischung” und setzt auf Multilateralismus. Bolsonaro hat dies radikal verändert und ich denke, mit einem Präsidenten Biden wird er noch isolierter sein.

Was erwarten Sie von der neuen US-ameri­kanischen Regierung?
Wir hoffen sehr, dass Joe Biden eine Haltung einnimmt, die den Kampf der sozialen Bewegungen unterstützt, zum Beispiel im Umweltschutz. APIB, die Vereinigung der indigenen Völker Brasiliens, fordert einen Boykott der vier landwirtschaftlichen Rohstoffe Soja, Eukalyptus, Fleisch und Zuckerrohr, die den Ökosystemen am meisten schaden. Hier können die USA, ebenso wie die EU, Einfluss ausüben. Denn die einzige Möglichkeit, der brasilianischen Regierung Schranken zu setzen, ist irgendeine Form von internationalen Sanktionen. Dass die Verhandlungen der EU mit Brasilien über die Freihandelszone Mercosur bereits gestoppt wurden, finde ich positiv. Denn die Freihandelszone nutzt nur der Agroindustrie, nicht der brasilianischen Gesellschaft. Wir haben die höchste Konzentration von Landbesitz weltweit, es gab nie eine Landreform, und die Agroindustrie ist für die Gewalt in den ländlichen Regionen verantwortlich. Wir brauchen internationale Solidarität, um unser System der Agrarproduktion zu verändern. Denn es hat einen enormen Einfluss auf die Umwelt und auch auf den Klimawandel.

Anfang Juli 2020 gab es ein Treffen von CEOs internationaler Firmen mit Vizepräsident Hamilton Mourão zum Thema illegaler Ab­holzung im Amazonasgebiet, aus dem sehr viel Hoffnung entstand, dass die Abholzung zukünftig sanktioniert wird. Ist der Druck internationaler Firmen tatsächlich ein gangbarer Weg, um Amazonien zu retten?
Ich denke, der einzige Weg geht über die internationale Handelspolitik. Bolsonaro glaubt nicht an Klimawandel, er hat überhaupt kein Interesse daran, die indigenen Völker zu verteidigen. Im Gegenteil, er ermutigt dazu, sie zu attackieren, er ermutigt die illegale Abholzung. Die einzige Botschaft, die Bolsonaro versteht, kommt aus der Wirtschaft. Ich halte einen individuellen Boykott dieser brasilianischen Rohstoffe, die ich bereits erwähnt hatte, für schwierig, weil die Konsument*innen nicht wissen, worin diese Rohstoffe stecken. Aber es ist für sie möglich, ihre eigenen Regierungen und Parlamente unter Druck zu setzen, damit sie Sanktionen gegen Brasilien aussprechen oder die Importsteuern auf diese Handelswaren erhöhen. Denn die brasilianische Agroindustrie besteht zu großen Teilen aus internationalen Firmen.

Wird Bolsonaro ohne Trump innenpolitisch geschwächt?
Das ist schwierig zu beantworten. Die Massenmedien in Brasilien sind politisch von den USA beeinflusst, ebenso wie der konservative Sektor der brasilianischen Gesellschaft. Dieser sieht die USA als Vorbild, insofern kann eine andere US-amerikanische Politik auch in Brasilien Einfluss ausüben. Aber es ist wichtig, daran zu erinnern, dass Bolsonaro das Ergebnis des parlamentarischen Putsches gegen Präsidentin Dilma Rousseff ist. Damals haben die USA die Regierung von Dilmas Nachfolger Temer anerkannt, und nicht nur die USA, sondern die Mehrheit der Staaten weltweit. Sie haben die brasilianische Demokratie nicht verteidigt. Heute sind die demokratischen Institutionen, wie die Justiz und die Legislative, geschwächt, wir müssten die brasilianische Demokratie erst einmal rekonfigurieren.

Sehen sie in der Destabilisierung der Demokratie, ihrer Institutionen und Regeln, Parallelen zwischen den Entwicklungen in den USA und Brasilien?
Ja, hier sehe ich starke Parallelen, und ich halte dies nicht für einen Zufall. Es gibt sehr ähnliche Diskurse in den USA und in Brasilien, um zum Beispiel in der Bevölkerung die Idee zu erzeugen, dass man der Politik nicht glauben darf, um eine zynische Haltung gegenüber der Politik zu fördern. Das ist sehr gefährlich, weil es einen Kontext herstellt, der den Autoritarismus begünstigt. Trump wie auch Bolsonaro sind Teil der internationalen extremen Rechten, die überall eine sehr ähnliche Politik macht, zum Beispiel die Deregulierung von Umweltschutzmaßnahmen oder der Rechte von Frauen. Sie versuchen in vielen Ländern, den Staat zu schwächen. Und es gibt direkte persönliche Verbindungen, zum Beispiel zu Trumps ehemaligem Chefstrategen Steve Bannon. Das zeigen Fotos von ihm und den Söhnen von Bolsonaro, die in Brasilien als Repräsentanten der extremen Rechten auftreten. Nicht zu vergessen, dass Cambridge Analytica auch dabei geholfen hat, die Wahlen in Brasilien zugunsten Bolsonaros zu beeinflussen. Ich denke, es gibt hier eine Form von internationaler Koordination, auch wenn die genauen Verbindungen nicht bekannt sind.

Die Graswurzelbewegungen und Basisgruppen, die eine massenhafte Neuregistrierung von Wähler*innen erreicht haben, waren bei den Präsidentschaftswahlen in den USA ein Schlüsselfaktor für den Erfolg von Joe Biden. Könnte diese erfolgreiche Mobilisierung ein Modell für Brasilien sein, um den Bolsonarismus zu überwinden?
Es ist fundamental wichtig, dass die Linke die Arbeit an der Basis der Gesellschaft wieder aufnimmt. Denn der Erfolg von Bolsonaro ist auch eine Folge der Arbeit der evangelikalen Kirchen, die überall Räume besetzten. Ein großer Unterschied zu den Wahlen in den USA vor vier Jahren war, dass die Linke in der Demokratischen Partei, vor allem die soziale Bewegung der Jugendlichen, die sich um Bernie Sanders herum organisierte, dieses Mal aktiv die Wahl von Joe Biden unterstützt hat. Für die Kampagne von Hillary Clinton haben sie sich kaum engagiert. Hinzu kam die große Mobilisierung der Schwarzen Bewegung mit wichtigen Basisgruppen, die sich engagierten, um eine breite Wahlbeteiligung zu garantieren.

Eine Einheit der Linken gegen die Regierung Bolsonaro scheint in weiter Ferne – Brasiliens Linke wirkt immer noch sehr gespalten, auch wenn es kürzlich zu einer „offiziellen Versöhnung“ zwischen Lula da Silva und Ciro Gomes kam.
Ich denke, es gibt wenig Klarheit darüber, wie sich eine Einheit der Linken herstellen lässt. Ich fand es hier in den USA sehr interessant, dass Biden mit Bernie Sanders verhandelt hat und sich verpflichtete, einige grundsätzliche Forderungen der Linken umzusetzen, zum Beispiel im Gesundheitswesen, im Umweltschutz und in der Bildung. Ich finde das einen interessanten Prozess, um mit einigen Themen tatsächlich voranzukommen. Auch in Bezug auf die Corona-Pandemie, wo sich schon absehen lässt, dass Biden eine grundsätzlich andere Haltung einnehmen wird als Trump.

Bolsonaro gehört international zu den Corona-Leugnern und alles sieht danach aus, dass die brasilianische Bundesregierung keine wirksamen Maßnahmen mehr ergreifen wird, um die Pandemie einzudämmen. Sehen Sie noch Chancen, dass sich dies ändern wird, zum Beispiel, wenn es einen Impfstoff gibt?
Vor ein paar Tagen erschien die Meldung, dass das Haltbarkeitsdatum von fast sieben Millionen Coronatests im Dezember oder Januar abläuft, weil die Regierung Bolsonaro die Tests nicht an die Städte und Gemeinden verteilt hat. Aber viele Regierungen der Bundesstaaten haben eigene Maßnahmen ergriffen, auch wenn die Gouverneure sich damit in Opposition zu Bolsonaro begeben haben.
Was die Impfungen angeht: Brasilien hat traditionell ein sehr gutes, sehr solides Impfsystem. Bisher werden alle Impfstoffe über das Gesund­heitssystem Sistema Único de Saúde, das SUS, kostenlos an die gesamte Bevölkerung verteilt. Die Haltung der Regierung Bolsonaro macht es allerdings unmöglich, mit der Vorbereitung der Corona-Impfungen voranzukommen. Wie Trump ist Bolsonaro aus der WHO ausgetreten. Das bringt Brasilien Nachteile, denn die Verteilung des Impfstoffes über eine internationale Organisation erfolgt ganz anders als über private Unternehmen. Doch wenn die Verteilung der Corona-Impfungen in anderen Ländern beginnt, wird es sehr schwierig für die brasilianische Regierung werden, dies nicht auch zu machen. Bolsonaro kann verfügen, dass die Impfung nicht verpflichtend ist, oder er kann die Impfdosen nicht über das SUS verteilen lassen. Obwohl die Entscheidungen von wissenschaftlichen Erkenntnissen geleitet werden sollten, wird er versuchen, die Corona-Impfung politisch zu instrumentalisieren.


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MITTE-RECHTS SIEGT

Der Traum vieler Linker platzte, als die Ergebnisse der Stichwahl in São Paulo im Fernsehen übertragen wurden. Guilherme Boulos, Stratege der Wohnungslosenbewegung MTST, hatte für die sozialistische PSOL gegen den amtierenden Bürgermeister Bruno Covas von der rechten PSDB die Stichwahl erreicht. Am Ende gewann jedoch Covas deutlich mit fast 60 Prozent der Stimmen. In der Finanzmetropole São Paulo hatte eine konservative Allianz aus bürgerlichen Parteien, Medien und der Unternehmerschaft für den Amtsinhaber geworben und Boulos’ Aktivismus immer wieder als „kriminell“ und „radikal“ bezeichnet.

Brasiliens Linke hat nichts zu feiern

Die beiden Kandidaten lieferten sich ein hartes, aber zivilisiertes Wahlduell. Boulos, der mit der legendären 86-jährigen Ex-Bürgermeisterin Luiza Erundina als Vize antrat, warf Covas Versagen im Umgang mit der Corona-Pandemie und der sozialen Ungleichheit vor. Soziale Bewegungen und viele prominente Künstler*innen unterstützten den Linken. Seine Kampagne und ein Online-Auftritt, mit dem er allen anderen Kandidat*innen um Lichtjahre voraus war, begeisterten Jungwähler*innen. So gelang es ihm, ein breites Bündnis zu schmieden. Boulos holte in vielen armen Stadtteilen die Mehrheit – dort, wo die Linke zuletzt Schwierigkeiten hatte. Der charismatische 38-jährige Sozialist gilt auch als aussichtsreicher Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2022.

Die Kommunalwahlen waren jedoch alles andere als ein Grund zum Feiern für Brasiliens Linke. Insbesondere die traditionellen Mitte-Rechts-Parteien waren erfolgreich – also jene Kräfte, die bei der Präsidentschaftswahl 2018 abgestürzt waren. In Rio de Janeiro gewann der neoliberale Ex-Bürgermeister Eduardo Paes deutlich vor dem Amtsinhaber Marcelo Crivella. Der ultrarechte Pastor Crivella wurde von Präsident Jair Bolsonaro unterstützt. Insgesamt gewannen Bolsonaro nahe Kandidat*innen in nur fünf Stichwahlen. Die Kommunalwahlen sind allerdings nur in begrenztem Maße ein Gradmesser für die Präsidentschaftswahl 2022. Dafür ist das Parteiensystem in Brasilien zu komplex und Wahlentscheidungen zu personalisiert. So ist es kein Widerspruch, dass Präsident Bolsonaro gleichzeitig Rekordumfragewerte verzeichnet.

Kein Gradmesser für die Präsidentschaftswahl

Die Arbeiterpartei (PT) gewann zum ersten Mal seit der Re-Demokratisierung 1985 in keiner der 26 Landeshauptstädte. Und die Wahl hatte noch mehr Verlierer*innen: Frauen. In nur einer Landeshauptstadt konnte sich eine Frau durchsetzen, nur 12 Prozent der 5.565 Bürgermeister*innen sind Frauen. Allerdings gelang es vielen Schwarzen, LGBTIQ und Indigenen, sich ihren Platz in der Politik zu erkämpfen. In Rio de Janeiro wird Monica Benício, Witwe der ermordeten Politikerin Marielle Franco, künftig im Stadtparlament sitzen, in São Paulo wurde die Schwarze trans Frau Erika Hilton gewählt. Beide sind Mitglied der PSOL. Die sozialistische Partei läuft der Arbeiterpartei (PT) immer mehr den Rang ab. Früher eine Partei der intellektuellen Mittelschicht, ist es ihr bei dieser Wahl besser gelungen, auch ärmere Wähler*innen zu mobilisieren.


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