“Der Strudel der Gewalt”

Natürlich ist die Eskalation der Gewalt nicht zu leugnen. Natürlich gehören die Verbrechen zum Alltag in den Metropolen des Landes. Mindestens ebenso interes­sant wie die veröffentlichten Meldungen sind jedoch die Informationen, die keine Erwähnung finden. So existieren in Brasi­lien mehr Bürger­initiativen, soziale Orga­nisationen als in der BRD. Zwar gibt es laut Veja vom Juli 1993 ungefähr 16.000 Gruppen und Organisationen mit circa einer halben Million Mitglieder, die sich mit sozialen und ökologischen Problemen beschäfti­gen. Verwunderlich, glaubt man doch nach der Lektüre der meisten Zeitungs­artikel, die Bevölkerung bestehe nur noch aus skrupellosen Drogenhänd­lern, schießwütigen Polizi­sten, korrupten Poli­tikern und deren Op­fern. Trotz tau­sender Basisorganisationen, Menschen-rechts­gruppen und Bürger­rechtsbewe­gungen: den Eingang in die deutschen Medien fin­den nur sehr wenige, wie zum Beispiel die sehr Publicity-wirk­same “Kampagne ge­gen den Hunger” des So­ziologen Betinho. Oder die Initiativen sind gar selber das Problem: “Die Stras­senkinder als Objekt von Weltverbes­serern”. Nach exklusiven Informationen der FAZ gibt es in Rio mehr NGO’s als Straßenkinder. Kein Wunder, schließlich läßt es sich mit den Spendengeldern aus dem reichen Norden prächtig leben. Da­gegen gibt es kaum Berichte über die Selbstorganisation der Straßenkinder, über Volmer do Nascimento oder Tania Mo­reira. Der ehemalige Sozialarbeiter und die Staatsanwältin haben in mühseliger jahrelanger Kleinarbeit die Verantwortli­chen für die Massaker namentlich ausfin­dig gemacht und angeklagt. Opfer passen einfach besser ins Bild. Überhaupt: etwas anderes als Mord und Korruption ist man von diesem Land eh nicht gewöhnt.
Die sozialen und wirtschaftlichen Pro­bleme sind – so der Eindruck – hausge­macht. Vor wenigen Jahren schrieb man auch über andere Gründe der Miseren, beispielsweise den immensen Schulden­dienst für die nordamerikanischen und westeuropäischen Banken, die Auflagen des Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank. Sie kommen heute besten­falls noch in Nebensätzen im Wirt­schaftsteil vor. Korrupte Politiker, unfä­hige Regierungen – verantwortlich für das Elend sind die Brasilianer selbst, das Ausland kann da eigentlich nur mitleidig zusehen. Damit hat man heutzutage nun wirklich nichts mehr zu tun.
Der engagierte Dritte-Welt Journalist folgt so den Ansichten, die in akademischen Kreisen schon seit längerem zum guten Ton gehören. In den 50er Jahren wurde unter der Parole “von Europa lernen” noch jeder neue Traktor, der fortschrittsweisend über die Äcker von Brasilien oder Peru seine Bahnen zog, in den Sonntagsbeila­gen bejubelt. Eine Dekade später hatte sich das Bild gewandelt. Nun prägten die “Strukturen” und “Abhängigkeiten” die Artikel. Hoffnungsfrohes war aber auch zu berichten: über Ché und rote Fahnen. Und heute? Wer schreibt heute noch gerne über Nicaragua? Die Zeit der Entwick­lungsträume und der revolutionären Hoff­nung ist vorbei. Modernisierungstheorien sind wieder so aktuell wie ihre Botschaft einfach ist: jeder ist eben in seinem eige­nen Land seines eigenen Glückes Schmied.
Das Wesen der Brasilianer – das Unwesen der Presse
Über die Politik kann man also wenig Gutes sagen. Was bleibt, damit das Bild nicht gar zu duster wird, ist die Kultur. Karneval und Fußball werden gern zitiert. Ein paradoxes Bild: Gewalt, Mord und ausgelassene Menschen. Kann man sich das alles nicht mehr so recht erklären, so findet man in der Mentalität manche über­raschende Antwort. So klärt uns Die Zeit über das eigentliche Wesen der Brasilia­ner auf: Es entspreche “dem Lebensgefühl vieler Brasilianer…mit einem Trick, einem jeito, mit einem Minimum an Arbeit schnell reich zu werden.” (Zeit, 25.2.1994) Als ob dieser Wunsch nicht auf der ganzen Welt der gleiche wäre. Kultur und Mentalität werden zur Erklä­rung sozialer Vorgänge bemüht, wo politi­sche Analysen nicht mehr gefragt sind. Bei soviel Müßiggang und Schlendrian braucht man sich schließlich nicht zu wundern, wieso die Armut hartnäckig an diesem Lande klebt. “No Brasil, tudo acaba em Samba” – In Brasilien endet eben alles im Samba. (ebenda)
Die Artikel über das exotische Land in den Tropen erzeugen den Eindruck einer Gesellschaft, die aus den Fugen gerät, die nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu steuern. Der kurze mediale Ausflug in die “Anarchie” von Mord, Korruption und Karneval hinterläßt eine Gänsehaut und die beruhigende Gewißheit, daß man selbst doch (im Vergleich) in geordneten Verhältnissen lebt. Unausgesprochen wird suggeriert, die Geschehnisse aus einem si­cheren Hort zu betrachten, in dem die Re­geln der Zivilisation noch Gültigkeit ha­ben – und wo hoffentlich alles so bleibt, wie es ist.
Das Deutschland-Bild in der brasiliani­schen Presse
Welcher Leser käme da noch auf den Ge­danken, den Spiegel einmal umzudrehen? Wäre er der portugiesischen Sprache mächtig, er würde erstaunt sein, was über sein zivilisiertes Land alles geschrieben steht. Rostock, Solingen und Mölln sind dem brasilianischen Zeitungsleser so ver­traut, wie es in hiesigen Medien für we­nige Tage die Candelaria-Kirche in Rio war. Auch von der Gewohnheit vieler sei­ner Einwohner, ihre Gäste in Lager zu sperren, sie zu beleidigen, zu schlagen und des öfteren auch zu verbrennen, kann man regelmäßig lesen. In den großen Zeitun­gen des Landes, die übrigens bei der Auf­lage mit den hiesigen Erzeugnissen kein Vergleich zu scheuen brauchen, wird über die Ursachen der Gewalt oft mit einer Deutlichkeit gesprochen, die man hier nur noch selten findet.
Für einen Zeitungsleser aus Recife oder Rio ist es also durchaus fraglich, wo er sich letzten Endes sicherer fühlen kann. Doch – wer mag sich hierzulande darüber den Kopf zerbrechen? Der “Strudel der Gewalt” spielt sich für die meisten Leser letztlich in sicherer Entfernung ab – egal, ob nun in Rio de Janeiro oder vor dem Asylanten-Lager um die Ecke.

Brasil mulher

Das jetzt in deutscher Übersetzung vorlie­gende Buch “brasil mulher – Kurze Ge­schichte des Feminismus” beeindruckt durch seine klare und lebendige Analyse der brasilianischen Frauenbewegung. Die Au­torin, Maria Amélia Teles, ist selbst seit fast 30 Jahren in der Gewerkschafts-, Basis- und feministischen Bewegung in Sao Paulo (Brasilien) politisch aktiv. Sie ist keine Beobachterin, sondern Mitge­stalterin der feministischen Bewegung in diesem Land.
Ihr Anliegen ist es Frauen, als Protagoni­stinnen der gesellschaft­lichen Prozesse sichtbar zu machen, sie als Handelnde in der Ge­schichte aufzuspüren und ihre Be­teiligung an politischen Ent­wicklungen zu benennen.
Ihre Spurensuche beginnt in der Kolonial­zeit. Indianische, schwarze und weiße Frauen wurden auf unterschiedliche Weise durch die Kolo­nisatoren und durch die männliche Bevölkerung ausgebeutet. Dage­gen leisteten die Frauen in verschie­densten Formen Widerstand: “Die schwarzen Frauen mit kollektiven Aktio­nen, die weißen Frauen fast immer indivi­duell.”
Die Entwicklung des 19.Jahrhunderts war gekennzeichnet durch die Erlangung der Unabhängigkeit Brasiliens und den sich durchsetzenden kapitalistischen Stukturen. Erste feministische und republikanische Vorstellungen be­stimmten das geistige Klima. In dieser Zeit entstand die erste fe­ministische Presse, die zu einem wichti­gen Sprachrohr für Frauenfragen und in­ternationale Frauensolidarität wurde. Heute hat sie ihre Bedeutung als Quelle von Frauen geschriebener Geschichte.
Anfang dieses Jahrhunderts, im Zeitalter der industriellen Revolu­tion, traten vor allem zwei Frauenbewegungen für die Gleichberechtigung ein. Die Suffragetten forderten das Frauenwahlrecht, die Webe­rinnen und Näherinnen höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten.
Die Aufbruchstimmung der demokrati­schen und progressiven Kräfte wurde durch den Militärputsch 1964 jäh ge­stoppt. Gewalt und Terror regierten den Alltag. Frauen setzten sich für ihre Ver­wandten ein, die als politische Gefangene im Gefängnis saßen, beteiligten sich an verbotenen politischen Aktivitäten oder direkt am bewaffneten Kampf. Dies ver­änderte jedoch nicht die frauenfeindliche Haltung der Linken. “Die Guerrilla er­laubte es den Frauen zwar, in einem au­ßergewöhnlichen Moment ihren Mut und ihre Fähigkeit zum Kampf unter Be­weis zu stellen. Doch gleichzeitig wurden sie innerhalb der bewaffneten Organisa­tionen diskriminiert, was allerdings dazu führte, daß sie sich als Frauen entdeckten.”
Das von der UNO 1975 erklärte ‘Internationale Jahr der Frau’ bot erneut Anlaß und Möglichkeit, feministische Vor­stellungen und Aktionen in die Öffent­lichkeit zu tragen. Es entstanden neue Frauenzeitungen, Frauen suchten Aus­tausch im ganzen Land. Der 8.März wurde zum Frauenkampftag. Die feministische Bewegung gewann an Popularität durch gemeinsame Forderungen vieler Frauen­bündnisse z.B. nach Kinderkrippen, gegen sexuelle Gewalt, für ein freies Ausleben von Sexualität etc. An der Frage nach politischer Autonomie spaltete sich die Frauenbewegung in autonome Frauen und Parteifrauen.
Um politisch handlungsfähig zu bleiben, stellt Maria Amélia heraus, ist es weiter­hin wichtig, sich in der Arbeit aufeinander zu beziehen: “Die Autonomie der Bewe­gung ist eine historische Notwendigkeit für den Befreiungskampf der Frauen. Aber an der Bewe­gung sollten sowohl auto­nome wie Parteifrauen teilnehmen.”
Auf dem Hintergrund ihrer eigenen politi­schen Erfahrungen und Ent­wicklung be­stimmt Amélia Teles ihr Verständnis von feministischer Politik und ihr Verhältnis zur Linken in Brasilien. Sie beansprucht politische Autonomie der Frauenbewe­gung aber gleichzeitig die Offenheit, mit Gruppen der Linken und der Basisbewe­gung Bündnisse einzugehen. “Der Kampf um Frauenbefreiung sollte niemals in un­serer Geschichte von der Suche nach all­gemeinen gesellschaft­lichen Lösungen abgekoppelt werden.”
Besonders lesenswert wird dieses Buch auch dadurch, daß in der Auseinanderset­zung um das Verhältnis der feministischen Bewegung zu der Linken in Brasilien ge­wisse Parallelen mit der hiesigen gezogen werden können. Mich selbst hat am mei­sten fasziniert, daß in ihren Gedanken nichts von Bitterkeit zu spüren ist, son­dern eine leidenschaftliche Entschlossen­heit, eine grundlegende Gesellschaftsver­änderung weiter voran­zutreiben.

“brasil mulher – Kurze Geschichte des Fe­minismus in Brasilien” von Maria Amélia Teles. FDCL-Verlag/Verlag Libertäre Assoziation

“Jetzt haben die Leute das Sagen”

Der Colorado-Spitzenpolitiker und Ex-Präsident (1985-1990) Sanguinetti be­nutzte einen großen Teil seiner Redezeit dazu, das Schreckgespenst einer linken Regierung, womöglich mit Tupamaros (!) im Parlament, an die Wand zu malen, um vor allem noch am rechten Rand Stimmen zu gewinnen.
Montevideo mit Werbung überschwemmt:
Auf geht’s an die Arbeit
Kaum war die “Debatte des Jahres” been­det, da gab es natürlich bereits die neue­sten Wahlprognosen. Die regierende Nationale Partei (Blancos) habe praktisch gleigezo­gen mit den Colorados, und das Encuentro Progresista liege dicht dahinter und habe in Montevideo noch um zwei Prozentpunkte zugelegt. Solche Fernseh­duelle sind fast schon die Highlights im sonst eher öden uruguayischen Wahl­kampf, und das Publi­kum ist dankbar, daß wenigstens bei die­sen Gelegenheiten ein wenig Polemik und politischer Streit aus­getragen werden. An­sonsten werden die etwa zwei Millionen WählerInnen – in Uruguay besteht Wahl­pflicht – weniger mit Inhalten, sondern hauptsächlich mit Hochglanzprospekten, Fähnchen und Handzetteln “erschlagen”. Im eher vor­nehmen Stadtteil Pocitos ha­ben sich die Hunde- und Eigenheimbesit­zerInnen schon über die Massen von Wahlkampf­zettelchen auf der Straße be­schwert, die sie am Morgen durchwaten müssen, wenn der Vierbeiner Gassi ge­führt wird. Uru­guays Fernseh­zuschauerInnen werden hart strapaziert. Schon außerhalb der Wahl­kampfzeiten präsentieren die drei privaten und der ein­zige staatliche Fernsehkanal bis zu 50 Prozent Werbung im Programm. In der jetzigen heißen Wahlkampfphase dauert ein normaler Spielfilm mindestens drei Stunden, weil zwischen Waschmittel- und Deostiftreklame die Wahlspots pla­ziert sind. Fernsehwerbung ist teuer, und das Verhältnis zwischen TV-Spots der kon­servativen Parteien und denen der Linken dürfte etwa bei 5:1 liegen. Kom­merzielle Werbeargenturen haben die Parteien be­raten, und dabei sind dann so sinnige Sprüche wie ” Ein Uruguay für alle!” oder “Auf geht’s an die Arbeit…!” herausge­kommen. Auch das Mitte-Links-Bündnis Encuentro Progresista war nicht viel krea­tiver und wirbt mit dem Slogan: “Jetzt ha­ben die Leute das Sagen” Über die Bild­schirme flimmern die Präsidentschafts­kandidaten, die ihrer ju­belnden Fan-Gemeinde zuwinken, und auf Montevi­deos Einkaufsstraße, dem 18 de Julio, dröhnen die Wahlkampfslogans und die Erkennungsmelodie aus den Lautspre­chern der Parteibusse. Wahlkampf made in USA, könnte man meinen, und auch AktivistInnen der Linken beklagen durch­aus selbstkritisch, daß ausgeklügelte PR-Kampagnen diesen Wahlkampf zuneh­mend bestimmen und weniger die viel be­schworene militancia política, das politi­sche Engagement der aktiven Basis.
Wahlkampf made in USA
Trotzdem dürfte es am Wahlabend äußerst spannend werden, denn nach den jüngsten Umfragen liegen die traditionellen Par­teien Colotados und Blancos fast gleich­auf mit jeweils 27 Prozent der Stimmen, dicht gefolgt vom Mitte-Links-Wahlbünd­nis Encuentro Progesista, das landesweit bisher bei rund 22 Prozent liegt. Etwa 13 Prozent der WählerInnen sind laut Umfra­gen noch unentschlossen und warten ab, was in den letzten drei Wochen noch an Skandalen und Skankälchen an die Öf­fentlichkeit kommt, und wie sich die Prä­sidentschaftskandidaten, selbstverständ­lich alles Männer, bei den Fensehduellen schlagen.
Montevideo Hochburg der Linken
Als sicher gilt heute schon, daß die Linke erneut die Wahlen in Uruguays Hauptstadt Montevideo gewinnen wird. Dort leben immerhin fast 50 Prozent der insgesamt etwa drei Millionen EinwohnerInnen des kleinsten südamerikanischen Landes. Die uruguayische Großstadtlinke wird in der Metropole mit einem bequemen Vor­sprung erneut den Bürgermeister stellen. Dies wird ab 1. März 1995 der Stadtplaner Mariano Arana sein, kein Politprofi oder Technokrat, sondern eher der sympathi­sche Intellektuelle von der Universität, mit Sinn für Bürgerbeteiligung und behutsame Stadterneuerung. Ihn erwartet keine einfa­che Aufgabe, vor allem wenn er wie sein Amtsvorgänger mit sehr wenig Finanz­mitteln auskommen muß und gegen eine konservative nationale Regierung regieren müßte. Die nationalen Wahlen, und das wissen auch die KandidatInnen der Lin­ken, werden in Uruguay allerdings im Landesinneren entschieden. Da gilt es, die Domäne der konservativen Parteien (Partido Nacional = Blancos und Partido Colorado) zu brechen, um eventuell die Sensation zu schaffen und Tabaré Vázquez, den ersten sozialistischen Bür­germeister von Montevideo, zum neuen Staatspräsidenten zu wählen.
Das Zweiparteiensystem ist geknackt
Vor fünf Jahren war es noch die große Sensation, als das Linksbündnis Frente Amplio zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Bürgermeisterwahlen in Montevideo gewann. Im Jahre 1994, ge­nau 10 Jahre nach Beendigung der Mili­tärdiktatur in Uruguay, hat die Linke das traditionelle Zweiparteiensystem endgül­tig geknackt. Sie hat durchaus Chancen, auch landesweit bei den Wahlen für eine Überraschung zu sorgen. “Wir haben noch vier Wochen Zeit, und es fehlen uns nur noch etwa fünf Prozentpunkte zum Wahl­sieg”, meinte Tabaré Vázquez auf der Ab­schlußkundgebung eines Sternmar­sches des Encuentro Progresista in Montevideo, an dem mehr als 40.000 Menschen teil­nahmen. Vázquez weiß, wovon er spricht, und er weiß auch, daß die Frente Amplio tausende von Aktivi­stInnen mobilisieren kann, die in Stadteil­gruppen organisiert sind und in den bevor­stehenden Tür-zu-Tür-Kampagnen für die Wahl des Encuentro Progresista werben werden – ein Vorteil, den die traditionellen Parteien trotz dickerer Finanzdecke für die teure TV-Werbung und die bezahlten Flugblatt­verteiler nicht so einfach wett­machen können. Trotzdem ist man auch in Uru­guay vorsichtiger geworden, denn auch beim großen Nachbarn Brasilien hatten ja die Meinungsumfragen bis we­nige Mo­nate vor der Wahl dem linken Kandidaten Lula den Wahlsieg vorherge­sagt.
In die Breite und ab durch die Mitte?
Die Linke in Uruguay setzt auf ein breites Bündnis, und Tabaré Vázquez hatte seine Präsidentschaftkandidatur davon abhängig gemacht, daß die Frente Amplio, in der über 20 linke und linksliberale Parteien und Organisationen zusammengefaßt sind, einem breiten Wahlbündnis unter anderem zusammen mit ChristdemokratInnen und DissidentInnen aus der regierenden Blanco-Partei zustimmt. Über das Zustan­dekommen des breiten Bündnisses Encuentro Progresista und vor allem über programmatische Fragen einer gemeinsa­men Wahlplattform hatte es natürlich zu­vor beim Kongreß der Frente Amplio im Juli dieses Jahres heftige Auseinanderset­zungen gegeben. Vor allem der linke Flü­gel der Frente, MLN Tupamaros, UNIR und Teile der ehemaligen KP Uruguays kritisierten die moderaten Töne etwa bei den Themen Bedienung der Auslands­schulden, Verstaatlichung der Banken und Uruguays Rolle im zukünftigen gemein­samen südamerikanischen Markt Mer­cosur. Auf dem Kongreß im Juli dieses Jahres fand sich keine Zweidrittel-Mehr­heit, um das Programm der Frente Amplio aus den siebziger Jahren mit seinem anti-oligarchischen und anti-imperialistischen Grundtenor zu verändern. Trotzdem gab der Kongreß nach langen Debatten grü­nes Licht für die Verhandlungen zum Wahl­bündnis Encuentro Progresista, ohne je­doch genaue Vorgaben für ein Regie­rungsprogramm zu machen. Das Bündnis ist geschmiedet, und das gemeinsame Re­gierungsprogramm ist vielen in der Frente Anplia zu light. Trotz massiver Kritik vom linken Flügel und Drohungen der Füh­rungsspitze der Frente Amplio, “die linken Querulanten sollen doch aus­treten, falls ihnen die ganze Richtung nicht mehr paßt”, hat das Bündnis bisher gehalten. Die Einschätzungen gehen aller­dings ziemlich weit auseinander, was im Falle eines Wahlsieges überhaupt an Ver­änderungen möglich oder erwünscht ist. Alle Beteiligten konzentrieren sich heute auf die gemeinsame Wahlkampagne, auch weil ihnen klar ist, daß ihr zukünftiges Gewicht innerhalb der Frente nicht zuletzt davon abhängt, wieviel Prozentpunkte ihre Gruppierung zum Gesamtergebnis für die Frente Amplio bzw. für deren Wahl­bündnis Encuentro Progresista beiträgt.
Spannungen innerhalb der Frente
Innerhalb der Frente gibt es auch seit Mo­naten erbitterte Diskussionen, welches Gewicht die einzelnen Parteien und Orga­nisationen haben sollen. Geht es nach dem Willen der mitgliedsstärksten Organisa­tionen wie z.B. der Sozialistischen Partei (Tabaré Vázquez) oder der Asamblea Uruguay mit Danilo Astori an der Spitze, so sollen die Parteien in einem zukünfti­gen Leitungsgremium je nach Mitglieds­stärke und errungenen Wahlprozenten Stimmenanteile bekommen.
Vor allem der linke Flügel innerhalb der Frente, das MPP (Movimiento de Partizi­pación Popular), das sind unter anderem die MLN-Tupamaros und einige andere kleinere Organisationen, aber auch UNIR mit dem Movimiento 26 de Marzo und die Rest-KP (eher orthodoxer Flügel), wehren sich ge­gen diese Änderung und befür­worten eine weitgehend gleichberechtigte Repräsen­tanz aller Organisationen und Parteien in­nerhalb der Frente Amplio. Das Thema ist vorläufig zurückgestellt bis nach den Wahlen, wird aber mit Sicher­heit noch ei­nige interne Debatten auslö­sen, und das wissen natürlich auch die politischen Gegner aus der Colorado- und Blanco-Partei. Die traditionellen Parteien schlafen nicht, und sie geben sich redlich Mühe, das Schreckgespenst einer linken Regie­rung an die Wand zu malen. Beim großen Fernsehduell führte der Colorado-Politiker Sanguinetti scharfe Angriffe gegen den linken Flügel der Frente Amplio vor allem gegen die Tupamaros. Vázquez konterte mit Daten und Fakten über die verfehlte Regierungspolitik unter Sanguinettis Prä­sidentschaft und deren Fortsetzung unter der amtierenden Regie­rung Lacallo (Nationale Partei/Blancos). Er betonte, daß die neoliberale Wirt­schaftspolitik der verschiedenen konser­vativen Regierungen für die Mehrheit der uruguayischen Be­völkerung zum Alp­traum geworden sei. “Über 70.000 Indu­striearbeitsplätze sind in den letzten sie­ben Jahren vernichtet worden, und über 50 Prozent der unter 24-jährigen sind arbeitslos oder haben kei­nerlei Aussicht, in ihrem Beruf Arbeit zu finden”, betonte Tabaré Vázquez und fügte hinzu, daß in Uruguay, durch staatli­che Initiativen und Anreize, wieder ver­stärkt Arbeitsplätze vor allem auch im In­dustriesektor und in der Landwirtschaft geschaffen werden müssen. Er forderte einen grundsätzlichen Wandel in der Poli­tik und eine Umvertei­lung der Lasten von unten nach oben und nicht, wie gehabt, in umgekehrter Rich­tung.
Flagge zeigen
Der Wahlkampf in Uruguay tritt jetzt in seine heiße Phase, und neben den ange­mieteten Werbeflächen, vollgeklebten Lichtmasten und bemalten Häuserwänden zeigen jetzt auch viele EinwohnerInnen der Stadt, welchem Kandidaten sie ihre Stimme geben werden. Mit Stickern, Au­toaufklebern oder einem Wahlplakat am Wohnungsfenster oder vom Balkon wird Flagge gezeigt, und die Nachbarschaft er­fährt, was sie eigentlich schon immer vermutet hatte – oder das genaue Gegen­teil. Am Zeitungskiosk, im Lebensmittel­laden oder in der Warteschlange bei Ban­ken und Behörden diskutieren die Men­schen über die Wahlen oder geben ihre Kommentare über Kandidaten oder die neuesten Enthüllungen über Korruption und Vetternwirtschaft in der Staatsbüro­kratie ab.
Fast täglich erscheinen neueste Umfra­geergebnisse, und auch mit diesen Zahlen wird Politik und Wahlkampf gemacht. Die Colorados verlieren ihren bisher deutli­chen Vorsprung gegenüber den Blancos, und das Encuentro Progresista holt leicht auf. Je nach Meinungsforschungsinstitut haben entweder die Blancos oder Colora­dos bislang noch leicht die Nase vorn. In­nerhalb der regierenden Blanco-Partei holt der Lieblingskandidat des amtierenden Präsidenten Lacalle, Ex-Innenminister Dr. Andrés Ramirez kräftig auf gegen seinen Rivalen aus der eigenen Partei, den ehe­maligen Direktor der staatlichen Elektri­zitätsgesellschaft Dr. Alberto Volonté, den wiederum der Präsident nicht leiden kann.
Kompliziertes Wahlsystem
Uruguays Parteienlandschaft ist kompli­ziert, und das Namens- und Kanidatenka­russell ist für AusländerInnen kaum durch­schaubar. Jede Partei besteht aus zahlrei­chen Untergruppierungen, die bei den Wahlen ihre eigenen Listen zur Abstim­mung stellen, auf denen unter­schiedliche Präsidentschaftskandidaten stehen kön­nen. Die traditionellen Parteien Blancos und Colorados haben gleich je­weils drei Präsidentschaftskandidaten zur Auswahl. Das soll WählerInnenstimmen von links bis rechts abschöpfen. Das Mitte-Links-Wahlbündnis Encuentro Pro­gresista hat sich auf einen gemeinsamen Präsident­schaftskandidaten und Vizeprä­sidenten geeinigt, die auf allen Listen der über 20 Parteien und Gruppierungen ste­hen. Für die beiden Kammern des Parla­ments er­scheinen dann die KandidatInnen der je­weiligen Partei oder Gruppe. Uru­guays WählerInnen müssen sich am Wahlsonn­tag durch einen Berg von Wahllisten wühlen, um die Liste ihrer Partei für die nationalen Wahlen und die Regionalpar­lamente in die Umschläge zu tüten. Um die Sache noch etwas kompli­zierter zu machen: In Uruguay wird nicht etwa der Kandidat Präsident, der absolut die mei­sten WählerInnenstimmen be­kommen hat, sondern derjenige, dessen Partei im natio­nalen Maßstab vorne liegt. Ein Beispiel: Tabaré Vázquez vom EP er­ringt die mei­sten Stimmen, und trotzdem wird Sangi­unetti Präsident, weil alle Colorado-Kan­didaten zusammen mehr Stimmen be­kommen haben als das EP und Sanguinetti innerhalb der Colorados die Nase vorne hat. Die vielzitierten politi­schen Beob­achterInnen halten diese Vari­ante sogar für ziemlich wahrscheinlich.
Wahlen und Referendum
Am 27. November wird in Uruguay gleichzeitig über zwei zentrale Themen eine Volksabstimmung durchgeführt. Zum einen geht es um eine Initiative, die in der Verfassung festlegen möchte, daß 27 Pro­zent des Staatshaushaltes für Bildung aus­gegeben werden müssen.
Zum anderen sollen die WählerInnen entscheiden, ob die staatliche Sozial- und Rentenversiche­rung unangetastet bleiben soll. Beide Themen werden natürlich auch im Wahl­kampf heftig diskutiert. Uruguay gibt heute nur etwa vier bis sechs Prozent der Haushaltsmittel für Bildung aus und steht in der internationalen Statistik damit noch hinter Ländern wie Senegal, dem Sudan oder Kolumbien. Ein uruguayischer Grundschullehrer verdient monatlich we­niger als 250 US-Dollar, und 72 Prozent der LehrerInnen haben zumindest zwei Jobs nebeneinander. Die UNESCO fordert die “Entwicklungsländer” auf, mindestens 6 Prozent des Bruttoinlandprodukte für Bildung auszugeben. Uruguay ist heute meilenweit entfernt von diesem Ziel. 1965 wurden immerhin die jetzt wieder gefor­derten 27 Prozent des Staatshaushalts für Bildung ausgegeben. Heute sind die Schulen in einem beklagenswerten Zu­stand, viele davon müßten eigenlich we­gen Baufälligkeit geschlossen werden. Es fehlt überall an Lehrmaterial, und auch die ehemals international berühmte staatliche Uni hat mehr als bescheidene Finanzmit­tel. Die meisten AkademikerInnen arbei­ten eigentlich nur noch an der Uni, weil es sich für die persönliche Biographie gut macht. Parallel suchen sie sich noch einen anderen Job zum Überleben.
Referendum über Bildungs- und Gesundheitspolitik
Es steht völ­lig außer Zweifel, daß das uruguayische Bildungssystem in den letz­ten zwei Jahr­zehnten völlig herunterge­wirtschaftet wurde. Die politische Pole­mik geht nun darum, woher das Geld kommen soll. Die Linke schlägt Kürzun­gen im Verteidi­gungshaushalt, Abbau der Staatsbürokra­tie, Besteuerung von nicht genutztem Agrarland, und die Aussetzung der Be­zahlung der Auslandsschulden vor. “Uruguay überweist täglich 2 Millionen US-Dollar für die Bedienung des Schul­dendienstes”, schreibt die Wahlkampfzei­tung des MPP und der MLN-Tupamaros, La Pulga (der Floh). Eine Mehrheit für das “Ja” zu diesem Thema, gilt als relativ wahrscheinlich, obwohl sich gerade die konservativen Parteien er­bittert dagegen wehren, einen festen Prozentsatz für den Bildungsetat in der Verfassung zu veran­kern.
Auch beim zweiten Thema, Unan­tastbarkeit der staatlichen Sozial- und Rentenversiche­rung, gilt ein “Ja” als rela­tiv wahrschein­lich. Sämtliche Versuche und Vorschläge einer zumindest teilwei­sen Privatisierung dieser Einrichtungen sind bisher immer auf vehemente Kritik bei der Organisation der RentnerInnen, der Gewerkschaften und der linken Par­teien gestoßen. In der reichlich überalter­ten uruguayischen Ge­sellschaft ist die äl­tere Generation auch ein wichtiges Wäh­lerpotential und zudem ziemlich gut orga­nisiert.

Von Heiligenscheinen und Scheinheiligen

Um das Verhalten der Alter­nativhändler beurteilen zu können, ist es zuvor nötig, die Entwicklungen auf dem Weltkaffee­markt nachzuvoll­ziehen. Dieser war bis 1989 vom Weltkaffeeabkommen reguliert, einer Vereinbarung zwischen Kaffeean­bauländern (Brasilien, Kolumbien…) und den Verbrauchsländern (USA, BRD…), die Exportmengen festge­legte und den Preis bei etwa 1,20 US-Dollar pro Pfund (Libra) Rohkaffee stabilisieren sollte. Nachdem das Abkommen im Sommer ’89 nicht verlängert worden war, strömte der bislang zurückgehaltene Kaffeeüber­schuß auf den Markt und drückte den Preis dra­stisch – bis auf den Tiefst­stand von 0,60 US-Dollar pro Libra Anfang 1992.
Weltmarktpreise
Die alternativen Kaffeevermarkter haben in ihrer Informationsarbeit immer wieder auf die katastrophalen Folgen dieses Nied­rigpreises vor allem für die Kaffeeklein­bauern hin­gewiesen, die nicht einmal mehr ihre Produktionskosten decken konnten. Diese Situation dürfte auch dazu bei­getragen haben, die Idee von TRANS­FAIR bei Weltläden und Kri­tikerInnen der Kaffeekonzerne, die bisher nur auf alter­nativ vermarkteten Kaffee ge­schworen hatten, hoffähig zu machen, denn es war klar, daß GEPA und MITKA nicht den gesamten Kaffee der vom Preis­zusammenbruch betroffenen Klein­bauern abnehmen könnten. Immerhin garantierten die auch von kommer­ziellen Händlern an­gebotenen TRANSFAIR-Sorten einer grö­ßeren Anzahl von Kleinbauern einen Richt­preis von 1,26 US-Dollar pro Libra.
Nun stellt sich schon die Frage, wie es sein kann, daß die Kaffeepreise dauerhaft unter den Produktions­kosten liegen (von 1990 bis März ’94 überschritten sie die 0,75 US-Dollar-Marke nicht, s. Grafik). Nach den kapitalisti­schen Spielregeln müßten diejenigen Produzenten, die beim gegebenen Preis nicht mehr profitabel wirtschaf­ten, ihre Produktion einstellen. Dadurch müßte das Angebot lang­sam wieder auf das Niveau der Nachfrage sin­ken und der Preis lang­sam wieder steigen – bis zum サGleichgewichtspreisß wenn sich Angebot und Nachfrage die Waage halten. Diesen Anpassungsprozeß hatten die Apologeten des freien Marktes von der Auflösung des Kaffeeabkommens zu er_warten behauptet, denn ihrer Meinung nach trug das Kaffeeabkommen die Schuld an der Überproduktion. Tatsäch­lich aber erhöhte sich die Produktion erst recht nach der Auflösung des Kaffee­abkommens – die Produzenten beantwor­teten das Sinken der Preise mit einer Ausweitung der Menge, verhielten sich also “marktwidrig” Da die Nachfrage stagnierte, vergrößerte sich das überschüs_sige Ange_bot, und der Preis sank noch mehr.
Die Dumpingpreis-Theorie
Das Phänomen der marktwidrigen Reak­tionen auf dem Weltkaffeemarkt versucht der サalternativenicht­kapitalistischn Nahrungs­mitteln für den Eigenbedarf, sie benötigen aber noch eine bestimmte Summe Geldes für Gesundheit, Schule und einige Konsumgüter, die sie nur mit dem Anbau und Ver­kauf von Kaffee ver­dienen kön­nen. Ein Sinken der Preise kompensieren sie mit einer Erhöhung der Anbau­menge, um das Geldeinkommen zu stabilisieren – sie können die Kaffee­produktion nicht einschränken oder ein­stellen, weil sie keine Alternative haben, an Geld heranzu kommen. Die Folge ist eine verstärkte Selbstaus­beutung ihrer Ar­beitskraft sowie die Überlastung der Bö­den (und damit auf Dauer Qualitätsver­lust).
Vergleichbar damit ist das staatliche Ver­halten von Ländern, deren wich­tigstes (oder einziges) Exportprodukt Kaffee ist und wo der Kaffeeexport (oder sogar die Produktion) staatlich geregelt ist. Diese Staaten, die Devi­sen benötigen, um ihren Schulden­dienst zu begleichen und Luxus­güter für die Eliten zu importieren, verhal­ten sich als Devisenmaximierer – unge­achtet der internen Kosten dieser Politik. Und wenn Kaffee (fast) die einzige Mög­lichkeit ist, an Devi­sen zu kommen, dann beantworten die Staaten ein Sinken des Preises mit einer Erhöhung der Export­menge. Die Folge ist natürlich ein noch größerer Kaffeeüberschuß auf dem Welt­markt und ein noch rascher sinkender Preis.
Massarat zeigt also, warum 26 Jahre lang keine Anpassung der Kaffee­anbieter an die Nachfrage stattgefun­den hat, ob nun das Kaffeeabkom­men in Kraft war oder nicht. Es gibt strukturelle Gründe für die Überpro­duktion, die der Überlebens­produk­tion der Kleinbauern und der von Devisen abhängigen Länder geschuldet sind, die vom Weltmarktge­schehen an den Rand gedrückt werden und sich deswegen nicht mehr profitma­ximierend verhalten können. Infolgedes­sen ist der Kaffeepreis auf dem Weltmarkt auch kein “Gleichgewichtspreis” sondern ein Dum_ping-Preis.サDer Boom
Nun geschah etwas, womit niemand so richtig gerechnet hatte: Seit Anfang ’94 begannen die Kaffee­preise zu steigen und überschritten im Mai die 1,20 US-Dollar-Marke des früheren Weltkaffeeabkom­mens – bei サfreiem Spielen, um einen Preisanstieg zu be­wirken. Die tatsächlich zurück­gehaltenen Mengen wurden nämlich bereits im März ’94 vollständig frei­gegeben, als die ver­einbarte Preis­grenze des Abkommens überschrit­ten war – die Preise stiegen trotzdem weiter.
Der Grund für den Preisanstieg ist ein dra­stischer Produktionsrückgang in den letz­ten beiden Erntejahren: Zum ersten Mal seit 1985 (Dürre in Brasi­lien) war die Erntemenge zum Ende des Kaffeejahres 92/93, im März ’93, deutlich gefallen, und zwar gleich um 10 Prozent – nämlich 10 Millionen Sack. Dies hatte zunächst keine Auswir­kungen, da aus den früheren Über­schußjahren noch mehr als 10 Millio­nen Sack auf Lager waren und auch die Spe­kulation nicht reagierte – sie erwartete wohl einen erneuten Ernteanstieg auf das Niveau der Vorjahre. Doch als auch das neue Erntejahr im März ’94 wieder einen Produktionsrückgang um 1 Mio Sack brachte, bewertete der Markt den Trend als dauerhaft gewendet und reagierte auf die prognostizierte Angebotslückenoch warten sollen: Im Juli kletterte der Preis innerhalb weniger Wochen um gut einen US-Dollar auf 2,30 US-Dollar! Der rasante­ste Preisanstieg seit 1975. Was war geschehen?
Während der Preisanstieg ab März als normalebeabsichtigtenanzen geschä­digt und wird die Ernte 95/96 um etwa 20 Prozent reduzieren. Die kom­mende Ernte 94/95 ist nur geringfügig betroffen, da die Bohnen bereits gut entwickelt sind. Doch an der Waren­terminbörse in New York ist die kommende Ernte seit langem ver­kauft, gehandelt wird eben der Kaffee der über­nächsten Jahre. Nach der ersten Erregung hat sich die Lage etwas beruhigt, der Preis sank Ende August wieder auf 1,90 US-Dollar. Doch ein Rückgang auf das Ni­veau vor dem Brasilien-Frost wird in nächster Zeit nicht zu erwarten sein: Da Kaffee eine mehrjährige Pflanze ist, kön­nen andere Produzenten die Angebots­lücke nicht so schnell schließen. Anderer­seits ist ein Nachfragerück­gang aufgrund des hohen Preises auch nicht zu erwarten, da die durch­schnittliche deutschamerika­nische KaffeekonsumentIn hart im neh­men (oder geben?) ist: Egal wie teuer, an den Muntermachern für Auto und Mensch, Benzin und Kaffee, wird nicht gespart.

Das Ende der Dumpingpreise?
Nun stellt sich die Frage, ob mit der aktu­ellen Entwicklung die Dumping­preis-Theorie widerlegt ist. Sicherlich muß der Brasilien-Frost als Sonderfall betrachtet werden, aber interessant ist ja, daß sich der Preis bereits vorher erholtfreiwillig
Freiwilligvom Markt erzwungenBei einset­zendem Preisverfall wie nach 1989 ver­suchen sie zunächst, die Kosten zu drük­ken, indem sie die Löhne der Pflücker­Innen kürzen, weniger Pestizide und Dün­gemittel einsetzen und die Pflege der Pflan­zen vernachlässigen. Vielleicht neh­men sie auch ein oder zwei Jahre Verluste hin, in der Hoffnung, bei neu einsetzen­dem Preisanstieg schneller als die Kon­kurrenz, die erst neu anpflanzen muß, die Produktion stei­gern und Extra-Gewinne einfahren zu können. Bleibt aber der Boom aus, werden sie früher oder später die Produktion einstellen.
Genau das ist offenbar 1992 in grö­ßerem Maße geschehen. Nun behauptet aber Massarats Theorie nicht, daß es solche kapitalistischen Produzenten nicht gäbe. Prototyp sind ja gerade unsere beliebten Feindbilder, die Kaffeebarone, die das Land unter sich aufgeteilt haben, Hun­gerlöhne zahlen und aufmüpfige Arbeiter von den Schergen der Dik­tatur abholen und foltern lassen. Aber es gibt auch eine Reihe von kleineren und mittleren Unter­nehmen, die Kaf­fee produzieren – zu un­günstigeren Kosten und mit dünnerer Kapital­decke als die Barone, und sie sind es, die beim Preisverfall zuerst aussteigen müssen.
Dies alles spricht aber nicht gegen die These der strukturellen Überproduk­tion. Diese sagt ja bloß aus, daß es immer einen Bodensatzh-kapitalistischer Produzenten entsteht. Anfangs, kurz nach 1989, haben sie diesen Effekt gewisser­maßen über­kompensiert: sie haben ihre Menge schneller gesteigert, als die ande­ren ausgestiegen sind. Dadurch sinkt der Preis noch mehr, weitere steigen aus; an­dererseits stößt die Mengensteige­rung ir­gendwann an ihre Grenzen, und der Trend kehrt sich um: Es gibt insgesamt eine Mengenreduktion, aber immer abgemil­dert durch die gesteigerten Mengen der Subsi­stenzproduzenten. Die strukturelle Überproduktion ist also auch wirk­sam, wenn insgesamt die Anbau­menge sinkt – gäbe es sie nicht, wäre die Menge viel stärker gesunken und der Preis viel eher gestiegen. Die aktuelle Entwicklung spricht also im Kern nicht gegen die Dumpingpreis-Theorie.
Eine Prognose der etwas längerfristi­gen Entwicklung bestätigt dies, denn in abseh­barer Zeit ist mit einer Umkehr des aktu­ellen Trends zu rechnen. Die plötzlich so hohen Preise werden die Produzenten, die vor zwei Jahren ihre Plantagen ganz oder teilweise stillgelegt hatten, dazu animie­ren, ihre Produktion wieder aufzunehmen bzw. auszuweiten. Es ist höchst wahr­scheinlich, da wir in ein paar Jahren das Spielchen von Überproduktion und Preis­verfall erneut erleben dürfen.
Warum dürfen Kleinbauern nicht vom Preisanstieg profitieren?
Es bleibt also noch die Frage zu klä­ren, in wessen Taschen das “viele” Geld, was wir jetzt für unseren Kaffee bezahlen, letztlich hängen bleibt – bei den Konzernen wie bei den Alternati­ven!? Wieviel streichen die (Zwischen-)Händler und Spekulanten ein, was bekommen die BäuerInnen?
Eine Betrachtung der öffentlichen Reak­tionen auf die gestiegenen Welt-Kaffee­preise ist durchaus dazu geeignet, leichte Verwunderung her­vorzurufen. Die deut­sche Kaffeewirt­schaft, lange im Kreuz­feuer der alternativenSaboteureDeutlich verhaltener klingt der Jubel im alternativen Lager das ja seit Urzeiten gerechtere Preise gefordert hat. Der grundsätzlich geäußer_ten Freude folgen oft eine Reihe von Beden_ken auf dem Fuß: Bei den Mehreinnahmen handele es sich “erstens um die Gewinne der Spekulan_ten und zweitens um einen bescheidene Ausgleich für die Einnahmever­luste der kaffeepro­duzierenden Länder in den letzten fünf Jahren, falls dort überhaupt mehr an­kommt”, gibt z.B. die Kaffeegruppe von AG3WL und rsk zu bedenken, Mit­initiator von TRANSFAIR. Auch bei der Konkurrenz, MITKA-Mitglied El Rojito aus Hamburg, sollen auf jeden Fall die Kaffeebauern profitieren: “Wer hat denn nun sonst noch etwas von den höheren Weltmarktpreisen? Die Men­schen, um die wir uns sorgen, jedenfalls in aller Regel nicht. Die kleinen Produzent­Innen, und dazu zählen auch die meisten Kooperativen, haben aufgrund fort­währender Finanzknappheit ihren Kaffee (zum Teil lange vor der Ernte, z.B. um Geld für Dünger zu bekom­men) bereits verkauft. Zu dem Preis, der damals aktuell war, also lange vor dem Anstieg. Noch schlechter sind die dran, die an die Coyo­tes, die aus­beuterischen Zwischen­händler, ver­kaufen müssen, da sie keine Trans­portmöglichkeiten haben. Gut haben es nur die Händler bzw. Firmen, die Kaf­fee auf Lager behalten konnten, sie profi­tieren bereits jetzt von den höheren Prei­sen. Die kleineren Pro­duzentInnen haben nur dann etwas vom höheren Weltmarkt­preis, wenn er auch bei der kommenden Ernte (94/95) noch hoch ist. Der aktuell hohe Welt­marktpreis ist (wenn mensch in den Marktmechanismen argumentiert) auf­grund der gesun­kenen Produktions­menge sicherlich gerechtfertigt. Ob nun in dieser Höhe, sei dahingestellt.”
Nun will ich hier keineswegs die Lage der Kaffeekleinbauern beschönigen, noch will ich bestreiten, daß den Löwenanteil der Spekulations-Hausse eben die Spekulan­ten (im übrigen auch nicht immer alle gleichzeitig, sondern die, die auf’s richtige Pferd gesetzt haben) einsacken. Doch sind m.E. zwei Dinge unübersehbar. Erstens wird der hohe Preis zwangsläufig auch den Kleinbauern etwas nutzen, und zwei­tens bringt der hohe Preis die Alter­nativ-Händler in argumentative und / oder han­delstechnische Schwie­rigkeiten.
Die Rolle der Coyoten
Das Argument, das die Kleinbauern völlig dem Diktat der ausbeuterischen Zwi­schenhändler ausliefert, ist mir viel zu un­differenziert (was keinesfalls die teilweise üblen Praktiken leugnen soll). Der Hin­weis, von ihnen erhielten die Bauern nur 30-50 Prozent des Weltmarktpreises, ist etwa so aussagekräftig wie die Feststel­lung, daß El Rojito den Kaffee etwa drei­mal so teuer an uns verkauft wie einkauft. Natürlich bekämen die Bauern mehr Geld, wenn sie den Kaffee selbst zum Hafen brächten – doch sie hätten auch höhere Kosten für LKW, Benzin, Arbeitszeit. Und auch Coyoten krie­gen am Hafen nicht den vollen Welt­marktpreis, sondern vielleicht 80 Prozent oder 90 Prozent; schließlich müssen die Spe­kulanten auch etwas verdienen. Hinzu kommt, daß Zin­sen anfallen ,wenn die Coyoten die Ernte z.T. ein Jahr im Voraus bar bezahlen. Ge­rade in Zeiten, wo Kaffeeknappheit herrscht, ist darüberhinaus anzuneh­men, daß die wachsende Konkur­renz zwi­schen den Coyoten die aus­beuterischen Zwi­schenhandelsprofite auf Normalmaß nie­derkonkurriert und damit die höheren Preise auch bis zu den PoduzentInnen durchsickern, die nicht selbst exportieren.
Ein genaueres Lesen der veröffent­lichten Alternativ-Informationen macht dann auch deutlich, wie die Punkte eins und zwei in­einander greifen: “Schon im Mai waren dann die ausbeuterischen Zwischenhänd­ler, die Coyotes, gekommen, um bei den Bauern die Kaffeeernte 1994/95 zu kau­fen, direkt ‘vom Strauch’ und noch lange nicht reif. Sie zahlten höhere Preise, bar auf die Hand. Bargeld ist auch bei den Kooperativen-Bauern knapp, und so ver­kaufte mancher an die Coyotes. Die Ge­nossenschaften könnten dadurch in Be­drängnis kommen, wenn sie nämlich mangels Kaffee die Verträge, u.a. mit den Alternativen Importorganisationen, nicht erfüllen können.”
Also bereits im Mai, noch vor dem Frost-Preisboom, hatten die Coyoten die seit März angefallenen Preiserhö­hungen (auf 1,20 US-Dollar) zumindest teil­weise wei­tergegeben und Konditio­nen offeriert, die die Kooperativen – Vertragspartner der Alternativhändler, die ja 1,26-1,32 US-Dollar gezahlt haben – nicht bieten konn­ten. Natürlich hatten die Coyoten in die­sem Fall Glück und die Bauern Pech – sechs Wochen später hätten sie vielleicht das Doppelte fordern können. Aber nicht einmal die Coyoten haben den Frost vor­hersehen können, sie haben nur auf die allgemeine Verknappung rea­giert und hatten Glück – jetzt profitieren sie am meisten (wenn sie nicht wiederum schon vorher selbst feste Verträge mit ihren Ab­nehmern gemacht hatten) Allerdings ist bei der anhaltenden Kaffeeknappheit an­zunehmen, daß die Coyoten bald wieder an den Kaffeesträuchern auf­tauchen und auch die 95/96er Ernte aufkaufen wollen. Und diesmal wird der frühzeitige Verkauf sicher nicht zum Nachteil der Kaffee­bauern sein – falls nicht zur Ab­wechslung noch eine Dürre in Brasilien ausbricht.
Große und kleine Kaffeehändler
Bleibt noch die Frage, ob nicht doch die großen Kaffeekonzerne, die den Preisan­stieg ja begrüßt hatten, die Hauptprofi­teure sind. Dies wird zumindest von Sei­ten der Alternati­ven unter Hinweis auf ge­füllte Lager mit billigem Kaffee, der jetzt teurer verkauft werden kann, vermutet. Si­cherlich kann mensch davon aus­gehen, daß dies für die erste Preiser­höhungsrunde im Juli im großen und ganzen zutrifft und die Kaffee-Kon­zerne sich ein Vorbild an ihren Brüdern und Schwestern aus der Mineralölbranche genommen und als in­formelles Kartell die sowieso irgendwann fällige Erhöhung etwas vorgezogen haben (wenn alle gleichermaßen erhöhen, ver­liert kei­ner Marktanteile). Doch inzwi­schen dürften die Vorräte (höchstens 2-3 Monatsrationen) erschöpft sein, der hö­here Einstandspreis sich bemerk­bar ge­macht und der erbitterte Kampf um Marktanteile wieder begonnen haben.
Etwas günstiger gestaltet sich die Lage für die Alternativ-Händler von der MITKA. Sie kaufen nämlich immer gleich die ge­samte Jahres­menge im Voraus, haben also bei Vertragsabschluß im März wie die an­deren Jahre auch 1,32 US-Dollar (für Nica Organico 1,56 US-Dollar) bezahlt. Ausglei­chende Gerechtigkeit, möchte mensch meinen, waren sie doch die gan­zen Jahre standhaft und haben zeitweise das Doppelte des Welt­marktpreises auf den Tisch gelegt. Doch Heiligenschein und Schein­heiligkeit liegen oft nah beiein­ander. Denn, um zur Ausgangsfrage die­ses Artikels zurückzukommen: Warum wurden im September die Preise erhöht?
El Rojito gibt uns eine offene Antwort:
“1. Den ProduzentInnen entsteht praktisch aus der Tatsache, daß wir den Kaffee so frühzeitig importiert haben, ein Nachteil, denn hätten wir den Kaffee erst im Juni ’94 gekauft, dann natürlich zu entspre­chend höhe­ren Preisen. 2. Alle anderen Kaffee­sorten, ob herkömmlich oder alterna­tiv gehandelt, werden teurer oder sind es bereits geworden. Wenn nun nur Sandino Dröhnung beim alten Preis bleibt, wird es einen ‘Run’ geben. Diesen erhof­fen wir schon seit Jah­ren, aber bitte nicht, weil unser Kaffee billiger ist, sondern we­gen anderer, qualitativer oder politischer Aspekte. Ein Run auf unsere Kaffees hätte zu­dem die Folge, daß die Menge, die wir auf Lager haben, nicht bis zum neuen Im­port ausreichen würde. Das will niemand.”
Zunächst können wir El Rojito beru­higen, ein ‘Run’ wäre nicht zu befürchten gewe­sen, haben doch die Konzerne mit ihrer Preiserhöhung (jetzt etwa 10.-/Pfund für ihre Spit­zensorten) überhaupt erst zum alten Preisniveau der Alternativen auf­geschlossen. Und so schnell wech­selt Frau Sommer nicht von der Krönung zur Dröh­nung – müßte sie sich doch bei nächster Gelegenheit wieder herausreden, ihr Mann habe den Kaffee eingekauft oder gekocht, wenn er ihren Gästen nicht schmeckt.
Andererseits ist es natürlich beque­mer, den Preis zu erhöhen und so ohne Mehr­aufwand eine Erlössteige­rung mitzuneh­men. Also genauso, wie es die Konzerne vorgemacht haben, bloß nicht nur 2-3 Monate, sondern ein halbes Jahr bis zu den neuen Vertragsabschlüssen im Früh­jahr. Fairerweise ist zu erwäh­nen, daß El Rojito die Mehreinnah­men als Spende den Kaffeeprojekten zukommen lassen will. Von den anderen MITKA-Gruppen ist solche Großzügigkeit bisher nicht bekannt geworden. Aber je nachdem, wie das Ge­schäftsjahr läuft, ist es später immer noch bzw. aus steuer­rechtlichen Gründen leider nicht mehr möglich.
Bei der Konkurrenz von der GEPA hinge­gen waren die neuen Vertrags­abschlüsse bereits zum 1.10.94 fällig. Hier machte sich dann auch die momentane MarktmachtVerluste die sie rechnerisch erlitten haben, seit der Weltmarkt_preis über dem GEPA-Preis (1,26 US-Dollar) lag – und bekamen sie. Außerdem zahlt die GEPA ab jetzt den aktuellen Weltmarktpreis plus 10 Prozent, solange der Marktpreis über dem früheren Mindestpreis bleibt. Und darauf muß die GEPA auch hoffen: Sollte der Marktpreis zum Geschäftsjahresende am 31.3.95 wie­der gesunken sein, werden wie dieses Jahr Abschrei­bungen in Millionenhöhe fällig! Wir drücken ihr die Daumen.

aus: Umbrüche 11/12, Nov. ’94

Öko-Zuschüsse als entwicklungspolitische Neuerung

Was ist von der noch relativ jungen GEF zu halten? Handelt es sich tatsächlich nur um ein weiteres Kreditangebot im Menü von IWF und Weltbank, wodurch sich die beiden einen grünen Touch geben können? Oder steckt diesmal vielleicht mehr als nur ein Lippenbekenntnis dahin­ter?
Wie alles anfing
Die GEF wurde 1990 auf Initiative der deutschen und französischen Regierung in erstaunlichem Tempo eingerichtet: bereits 1992 erfolgten die ersten Auszahlungen. Sie hat – trotz des IWF-typischen Begriffs “Fazilität” – nichts mit diesem zu tun; da­für aber ist die Weltbank als Durchfüh­rungsorganisation beteiligt – neben dem Nuten Nations Development Pro­gramme (UNDP) und dem United Nations Environment Programme (UNEP). Diese Konstellation ist grundsätzlich neu, da ge­rade Weltbank und UNDP ansonsten in vielen Bereichen konsequent aneinander vorbeiarbeiten. Zwar sind auch bei der GEF die Aufgaben nach dem üblichen Muster – Weltbank für finanzielle und UNDP für technische Projekte – getrennt, immerhin aber unter einem Dach zusam­mengefaßt. Die UNEP darf in einer Ne­benrolle einen Wis­sen­schaftlichen und Tech­nischen Bei­rat einsetzen, der die Kriterien für die Mit­tel­vergabe er­ar­bei­tet. Diese werden als reine Zu­schüsse, also nicht als Kredite, vergeben.
Da in den meisten Fällen staatliche Orga­nisationen die Empfänger dieser GEF-Zu­schüsse sind, wurde von Anfang an ein Programm für Klein(st)zuschüsse über die UNDP für Projekte auf kommunaler, nichtstaatlicher Ebene als Gegengewicht etabliert. 10-15 Mio. US-Dollar bei Pro­jekten in über 30 Ländern machen aus diesem Programmteil aber höchstens ein Fliegengewicht.
In der Pilotphase wurden insgesamt 750 Mio. US-Dollar für die genannten Berei­che verwendet, davon allein 42 Prozent für die Erhaltung der Artenvielfalt. (Zum Ver­gleich: Die Weltbank zahlt jährlich ca. 20 Mrd. US-Dollar aus.) Dieser Topf ist für Lateinamerika besonders interessant, da aus ihm die meisten Gelder nach Latein­amerika fließen, allen voran nach Mexiko und Brasilien mit jeweils 30 Mio. US-Dollar.
Kritische Stimmen und Reform
Die GEF wurde seit ihrer Einrichtung von vielen Seiten scharf kritisiert, insbeson­dere auch von internationalen Natur­schutzorganisationen, die über die GEF Zuschüsse erhalten. Eine 1993 vom World Wildlife Fonds veröffentlichte Studie von über 100 Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Lateinamerika, Afrika und Asien kommt zu den folgenden Ergebnis­sen:
– Die GEF wurde von einigen wenigen Nord-Ländern unter Mißachtung jeglicher Süd-Perspektive (Umweltprobleme durch Armut, Bevölkerungsentwicklung, Ver­schuldung und mangelhaften Zugang zu Ressourcen) gegründet. Mit dem Stichwort “global” versuchen die Länder des Nor­dens in die Politik der Entwicklungsländer hineinzuregieren, wobei sie gleichzeitig von ihrer Verantwortung ablenken wollen.
– Die Weltbank, UNDP und UNEP sind für die GEF-Aufgaben ungeeignet. Die Bank hat bisher grundsätzlich soziale und Umweltaspekte von Projekten beflissent­lich übersehen und ist nicht gerade für Transparenz und demokratische Konsul­tationen bekannt. UNDP und UNEP sind zu bürokratisch, um effektiv arbeiten zu können.
– Die GEF konzentriert sich auf kurzfri­stige Projekte, obwohl gerade der Um­weltbereich langfristige Investitionen und Programme erfordert.
– Der Schwerpunkt der GEF liegt im Be­reich staatlicher Unterstützung und läßt NRO fast überall außen vor.
Zu besonders heftigen Kontroversen hat die Beteiligung der Weltbank an der GEF geführt. Während einige NRO die Beteili­gung der Weltbank an der finanziellen Verwaltung der GEF akzeptieren, bezwei­feln die meisten die allgemeine Kompe­tenz der Bank im Bereich Umwelt. Die Kompetenz einzelner MitarbeiterInnen aus der Weltbank wird hingengen hoch gelobt.
Die Kritik an der GEF hat dazu geführt, daß sie nach der Pilotphase im März 1994 restrukturiert wurde bzw. werden soll. Um den Entwicklungsländern mehr Mitspra­che zu verschaffen, wurde der GEF-Auf­sichtsrat tatsächlich paritätisch besetzt: 16 Sitze gehen an die Entwicklungsländer, 14 an Industrie- und zwei an osteuropäische Transformationsländer. Für die Projekt­durchführung bleiben allerdings weiterhin die drei genannten Organisationen ver­antwortlich, so daß von einer “grund­sätzlichen Reform”, wie es die Ge­ber­län­der gerne darstellen, bisher nicht die Rede sein kann.
Artenvielfalt: wann gibt’s Geld wofür?
Die von der UNEP aufgestellten Vergabe­kriterien für GEF-Zuschüsse sind sehr vage und werden teilweise recht fragwür­dig gehandhabt.
Die GEF finanziert grundsätzlich nur Projekte, bei denen die Kosten für das Land gegenüber dem Nutzen zu hoch sind, als daß das Land das Vorhaben durchführen könnte. Einfaches Beispiel: Der Aufbau eines Nationalparks zum Schutz bedrohter Tierarten wird von der GEF als förderungswürdig eingestuft. Komplizierter wird es, wenn dieser Park für den Tourismus attraktiv sein könnte und das Land dadurch höhere Einnahmen (= höheren Nutzen) besäße. Aufgrund die­ser Annahme finanziert die GEF nur die “Zusatzkosten”, die ihrer Ansicht nach nicht aus nationaler Tasche bezahlt wer­den können. Daraus ergeben sich so ab­surde Situationen wie die in Costa Rica: Durch den vom IWF-Programm aufge­zwungenen Sparkurs mußte Costa Rica zwei Drittel des Personals für die Natio­nalparks entlassen. Dies erschwerte die Erhaltung des erreichten Parkstandards. Überdies sanken die Einnahmen durch den Ökotourismus, da nicht mehr ausrei­chend ReiseführerInnen zur Verfügung standen. Gleichzeitig finanzierte die GEF lediglich zwei Projekte zur “biologischen Forschung und Training des Parkmana­gements”, da potentiell Einnahmen aus dem Ökotourismus vorhanden wären.
Die Vergabe von Geldern richtet sich weiterhin danach, ob das Projekt innovativ ist. Großvaters Lehren über den Umgang mit natürlichen Ressourcen sind nicht ge­fragt: neu ist gleich gut. Daß bei moderner Technologie oftmals die Kostenkontrolle aus den Augen verloren wird, liegt auf der Hand. Viele Pilotprojekte haben sich als so teuer erwiesen, daß sie nach Vergabe der GEF-Gelder nicht weitergeführt, ge­schweige denn auf andere Gebiete über­tragen werden können.
In Lateinamerika werden neben den ge­nannten in Costa Rica, folgende Projekte im Bereich Artenvielfalt gefördert:
Weltbank:
– Bolivien: Stärkung des Schutzzonen-Managements und der nationalen Institu­tionen über bolivianischen Treuhand­fonds. (5 Mio. US-Dollar)
– Brasilien: noch kein Projekt festgelegt. (30 Mio. US-Dollar)
– Ecuador: Schutz der Artenvielfalt durch Stärkung der legalen Rahmenbedingungen und des Parkmanagements. (6 Mio. US-Dollar)
– Mexiko: Unterstützung des Manage­ments von 20 Schutzgebieten. (30 Mio. US-Dollar)
– Peru: Etablierung eines Treuhandfonds für Management, Training, Ausbildung usw. im Bereich Artenschutz. (4 Mio. US-Dollar)
UNDP:
– Amazonasregion: Strategien zur Erhal­tung natürlicher Ressourcen. (5 Mio. US-Dollar)
– Argentinien: Entwicklung eines regio­nalen Managementplans für Patagonien. (3 Mio. US-Dollar)
– Belize: Forschung und Beobachtung so­wie Entwicklung eines Managementplans für das längste Felsenriff Lateinamerikas. (3 Mio. US-Dollar)
– Costa Rica: Finanzierung von biologi­scher Forschung und Training von Park­management (8 Mio. US-Dollar)
– Dominikanische Republik: Protektion von Samana Bay, incl. wissenschaftliche Basisstudien. (3 Mio. US-Dollar)
– Guayana: Programm für nachhaltiges Tropenwaldmanagement. (3 Mio. US-Dollar)
– Kolumbien: Bewahrung der Artenvielfalt im Chocó. (9 Mio. US-Dollar)
– Kuba: Schutz und nachhaltige Entwick­lung des Sabana-Camaguey Archipels. (2 Mio. US-Dollar)
– Uruguay: Schutz der Artenvielfalt in den östlichen Feuchtgebieten. (3 Mio. US-Dollar)

Bemerkenswert ist zunächst einmal die vage Formulierung der meisten Projekte und insbesondere auch der Fall Brasilien. Gerade dieses Beispiel zeigt, daß die Auswahl der Länder und Schutzgebiete eher aus politischen als aus ökologischen Gründen erfolgte.
Die oben genannte Kritik an kurzfristiger Finanzierung gilt auch für die aufgeliste­ten lateinamerikanischen Projekte: sie machen nur Sinn, wenn sie auch nach der GEF-Projektperiode (2-5 Jahre) weiterge­führt werden. Die meisten Länder sind aber zur Zeit nicht in der Lage (oder auch nicht willens), für Projekte zum Schutz der Artenvielfalt Geld bereitzustellen. Ein geplanter Treuhandfonds wie in Peru oder die Unterstützung eines bereits existieren­den wie in Bolivien ist unter diesen Um­ständen besser als stark eingegrenzte Pro­jekte, da hierdurch Zahlungen über einen langen Zeitraum garantiert werden kön­nen. Eine Weiterfinanzierung der meisten anderen Projekte ist unwahrscheinlich, da bei der bisherigen Projektfinanzierung Länder mit großer Artenvielfalt wie Gua­temala, Indien, Madagaskar, Malaysia, Tansania und Zaire ausgelassen wurden, die sich bei einer weiteren Runde stark zu Wort melden werden.
Die Projekte decken zudem sehr unter­schiedliche Ökosysteme ab, vom tropi­schen Regenwald über Meeresbiotope, Feucht- und Trockengebiete. Wenn man sich die zur Verfügung stehenden Gelder ins Gedächtnis ruft und bedenkt, daß mehr oder weniger zu jedem Projekt intensive Studien aufgestellt und ausländische Ex­perten bezahlt werden, dann entsteht der Eindruck, die GEF wolle ihre Vielfalt be­weisen und übernimmt sich ganz ordent­lich. Viele der genannten Projekte wurden unter – politischem – Zeitdruck bereits Ende 1993 eingeführt; Diskussionen und Evaluierungen von unabhängigen Gut­achter oder NRO haben so gut wie gar nicht stattgefunden bzw. wurden mit der Entschuldigung “Mittelabflußdruck” un­terbunden. Die meisten lateinamerikani­schen Projekte fallen in die Kategorie der “wenig beeindruckenden Mittelabfluß­druckprojekte”, allen voran Brasilien und auch Mexiko.
Erstaunlich ist auch die mangelhafte Aufmerksamkeit gegenüber politischen Zwängen. Selbst bestens geplante Projekte können scheitern, wenn Wirtschaftspoli­tik, Handelsabkommen, Strukturanpas­sungsprogramme und Gesetze über Bo­deneigentum einen dauerhaften Schutz der Artenvielfalt behindern. Hinzu kommen noch Entwicklungsprojekte, die den Um­weltschutz konterkarieren und oft von derselben Durchführungsorganisation stammen. Eine Aufstockung der GEF-Gelder, wie sie von allen Seiten berech­tigterweise gefordert wird, wird unter die­sen Umständen keine erhebliche Verbes­serung des Artenschutzes bringen.
Scheitern an alten Strukuren
Nach dem bisher Gesagten verlief die GEF-Pilotphase nicht sehr beeindruckend. Auch in Zukunft wird sich daran nicht viel ändern, da insbesondere die Weltbank an ihrer üblichen Praxis festhalten wird: Auswahl nach politischen Gesichtspunk­ten, fast nur öffentliche Organisationen als Ansprechpartner, mangelnde Flexibilität bei Projektdesign und -durchführung, keine sozioökonomischen Studien, kurze Projektzyklen, Einsatz ausländischer Ex­pertInnen und rein symbolische Beteili­gung der lokalen Bevölkerung. Bei der GEF können diese Probleme allerdings wenigstens abgemildert werden, wenn die beteiligten NRO – und gerade die großen – ihren Einfluß so stark wie möglich geltend machen. Die Weltbank läßt sich sonst normalerweise nicht in die Karten sehen, daher sollte jede Möglichkeit der Einflußnahme ausgenutzt werden. Bei der derzeitigen fi­nanziellen Ausstattung ist die Auswirkung der GEF auf globale Umweltschutzmaßnahmen jedoch nur von marginaler Be­deutung. Die GEF bleibt ein Trostpflaster, das die eigentlichen Ursachen der Um­weltzerstörung nicht angeht.

Der diskrete Charme des Neoliberalismus

Der strahlende Sieger
Mit dem Wahlergebnis vom 3. Oktober bestätigte sich ein Trend, der in den letz­ten Wochen immer unabwendbarer wurde. Der am 1. Juli mit der Einführung einer neuen Währung in seine entschei­dende Phase getretene Wirtschaftsplan (Plano Real) hat die Präsidentschaftswah­len entschieden. Der Wahlkampf geriet zur “Melodie mit nur einer Note”, die Wahl wurde zu einem Plebiszit über den Plano Real. Cardoso hatte ihn als Wirt­schaftsminister ausgearbeitet und als Kan­didat zu seinem Haupttrumpf gemacht. Pünktlich drei Monate vor den Wahlen ließ die Einführung der neuen, an den US-Dollar gekoppelten Währung die Inflati­onsrate, die die schwindelerregende Marke von 45 Prozent im Monat erreicht hatte, drastisch fallen. Alle öffentlichen Tarife und die Preise von vielen Produk­ten des täglichen Lebens sind seit dem 1.Juli nicht mehr gestiegen. Diese für bra­si­lianische Verhältnisse schon wun­der­same Stabilisierung entschied offen­sicht­lich die Wahl. Alle Kritik der Opposition, hier werde keine Wirtschaftsreform ein­ge­leitet, sondern ein Schauspiel zu Wahl­kampf­zwecken aufgezogen, lief offen­sicht­lich ins Leere. Das Volk glaubte lieber dem Optimismus versprühenden Cardoso als den Warnungen der Linken. Die Lancie­rung des Plano Real ist wohl ein Lehr­stück, wie bürgerliche Politik in einem Land mehrheitsfähig gemacht wer­den kann, in dem die Mehrheit der Be­völke­rung von den Segnungen des Real­kapita­lismus ausgeschlossen ist. Eine Mischung aus Imagination und realer (zumindest kurzfristiger) Stabilisierung ließ Fernando Henrique zwar nicht als den großen Retter des Vaterlandes erscheinen (diese Figur hatte mit Collor Schiffbruch erlitten), aber als weisen und klugen Politiker, der das Land in eine bessere Zukunft führen kann und dem auf keinen Fall die Chance ver­wehrt werden darf, das angefangene Werk zu Ende zu führen. Die PT hatte offen­sichtlich die Wirkung des Planes unter­schätzt und die Kraft der Anklage und des rationalen Argumentes überschätzt. Unter­stützt wurde Cardoso massiv von den Me­dien, allen voran dem mächtigen Fernseh­sender Globo, und der derzeitigen Regie­rung, die neue Zuversicht im Lande ver­breiten ließen. Der unerschütterliche Charme des Kandidaten war dabei hilfreich. In der letzten Phase des Wahl­kampfes profilierte sich Cardoso schon eher als Landesvater, der auch seinen Konkurrenten Lula lobte, denn als harter Wahlkämpfer.
Die häßliche Allianz
Gewiß, Cardoso ist kein wüster Populist, kein wilder Demagoge sondern ein intelli­genter Intellektueller, der durch seinen Charme und seine Geschichte auch im fortschrittlichen Lager Unterstützung er­hielt. So erklärten die Ikonen der brasilia­nischen Musik Caetano Veloso und Gil­berto Gil ihre Präferenz für Cardoso, le­diglich Chico Buarque blieb Lula treu. Der Sieg Cardosos ist auch ein Ausdruck davon, daß die größten Parteien des bür­gerlichen Lagers, erschüttert durch die Korruptionsskandale, nicht in der Lage waren, eigene, erfolgversprechende Kan­didaturen aufzubauen. So fiel die Wahl auf den Vertreter der PSDB, einer relativ kleinen Partei, die bisher lediglich den kleineren Bundesstaat Ceará regierte. Die PSDB, die überhaupt keine Verbindungen zur organisierten Arbeiterschaft hat, ver­tritt dennoch den Anspruch, die sozialde­mokratische Partei Brasiliens zu sein. In Wirklichkeit ist sie wohl eher die “ideologischste” Partei des bürgerlichen Lagers. Sie hat am konsequentesten die Modernisierung des brasilianischen Kapi­talismus auf ihre Fahnen geschrieben: Eine vollständige Integration in den Weltmarkt, die beschleunigte Privatisie­rung und die Deregulierung des Arbeits- und Sozialrechts sind die keineswegs allzu originellen Hauptachsen ihres Programms. Dabei redet Cardoso keinem primitiven Neoliberalismus das Wort, betont viel­mehr, daß die aktive Rolle eines effekti­ven Staates in einem Land wie Brasilien unverzichtar sei, um die soziale Unge­rechtigkeit zu bekämpfen. Das große Markenzeichen der PSDB-Regierung von Ceará ist dann auch ein Gesundheitspro­gramm, mit dem die Kindersterblichkeit deutlich gesenkt wurde. Aber es waren nicht allein die für brasilianische Verhält­nisse solide Regierung von Ceará und der Charme Cardosos, die den Wahlsieg er­möglichten, sondern ein breites Bündnis mit traditionellen Parteien der Rechten, insbesondere der PFL (“Partei der libera­len Front”), der zweitgrößten Partei Brasi­liens, die sich im Prozeß des Übergangs zu einer zivilen Regierung 1984 aus einer Abspaltung der Partei der Militärs for­miert hatte. Die PFL ist weniger eine po­litische Partei mit programmatischen Aus­sagen als ein Verein zur Sicherung des Zugangs zur Macht für die traditionellen Eliten des Landes. Sie vereinigt vor allem die Politiker, die es geschafft haben, seit der Militärdiktatur in allen Regierungen vertreten zu sein. Für die PFL war das Bündnis interessant, weil sie offensicht­lich selbst keinen eigenen Kandidaten auf­stellen konnte, der Aussichten hatte, Lula zu schlagen. Sie erwies sich damit ge­schickter und flexibler als die anderen bür­gerlichen Parteien, die mit ihren eigenen Kandidaturen Schiffbruch erlitten.
Das Bündnis mit der PFL sicherte Cardoso die größte Fernsehzeit aller Kan­didaten und die Unterstützung in den wirt­schaftlich und politisch rückständigsten Teilen des Landes. Gleichzeitig gefähr­dete sie aber auch die ideologischen Grundlagen seines Regierungsprojekts. Denn für die konsequente Durchsetzung einer kapitalistischen Modernisierung müßte die zukünftige Regierung auch mit den sektorellen und korporativistischen Interessen brechen, für deren Vertretung gerade die PFL steht. Es könnte also sein, daß das Bündnis, das die Wahl Cardosos gesichert hat, die Umsetzung seines Mo­dernisierungsprojektes gefährdet. So stand die PFL in den letzten Regierungen kei­neswegs für eine Verminderung des Staatsapparates, sondern für dessen klien­tilistische Funktionalisierung. Allerdings bekennen sich inzwischen die Führer der PFL eindeutig zu den neoliberalen Glau­benssätzen, weil sie wohl erkannt haben, daß es auf die Dauer schwierig ist, eine nationale Politik gänzlich ohne jegliches ideologisches Projekt zu verfolgen. Ob es sich dabei aber mehr um eine Fassade als um ein wirkliches Projekt handelt, wird die Zukunft zeigen müssen.
Fernando Henrique Cardoso hat viele Trümpfe in der Hand. Er ist mit einer großen Mehrheit gewählt, hat die volle Unterstützung von IWF und Weltbank und wird über eine solide politische Mehrheit verfügen. Seine Aufgabe ist es, in Brasilien kapitalistische Normalzu­stände herzustellen: Währungsstabilität plus forcierte Weltmarktintegration plus Privatisierungen. Die PSDB und ihr ge­wählter Präsident werden dabei nicht müde zu beteuern, daß sie keineswegs neoliberale Hardliner sind. Ob allerdings das Bündnis mit der PFL politischen Spielraum für auch nur vorsichtige soziale Reformen läßt, muß bezweifelt werden. Zumindest eine Agrarreform, die natürlich auch von der PSDB versprochen wird, ist mit der in der PFL organisierten Agrar-oligarchie nicht zu machen.
Die Niederlage der PT und
die Zukunft der Linken
Die geschickte Lancierung eines Stabili­sierungsplanes vor den Wahlen war si­cherlich der Hauptgrund für die Nieder­lage Lulas.
Von der PT werden als weitere Ursachen angeführt:
– Die massive Unterstützung von Regie­rung und Massenmedien für Cardoso.
– Die Mobilisierung von Vorurteilen ge­gen Lula: Ein Metallarbeiter, Arbeits­migrant, Sohn einer bitterarmen Familie, ohne Hochschulabschluß und admini­stra­tive Er­fahrungen, das sei kein Typ für das Prä­si­dentenamt.
Bedenklich ist, daß es der PT nicht annä­hernd gelungen ist, das gesamte Potential von Proteststimmen zu mobilisieren. Die Zahl der ungültigen und leeren Stimmzet­tel wird sich auf etwa 20 Prozent belaufen, die der Enthaltungen auf 15 Prozent, ein sehr hoher Anteil für ein Land in dem strikte Wahlpflicht gilt. (Das offizielle Endergebnis stand auch eine Woche nach den Wahlen nicht fest!) Einen großen Anteil von Proteststimmen konnte auch der drittplazierte Kandidat auf sich verei­nigen: Der erzreaktionäre Politclown Eneas, der eine parteienunabhängige Ein­zel­kandidatur bestritt, erreichte über­raschende sieben Prozent der Stimmen und ließ damit alle anderen Kandidaten des bürgerlichen Lagers weit hinter sich. Neben zur Schau gestellter Skurrilität wa­ren ein radikaler law-and-order-Diskurs sowie aggressive Anklagen gegen das po­litische System sein Markenzeichen.
Die “Radikalen” sind an allem schuld?
Natürlich werden auch bei der PT selbst die Ursachen für die Niederlage gesucht. Hier unterscheiden sich aber nun die Analysen je nach politischem Standort: Sieht der “rechte”, “moderate” Flügel der Partei das Fiasko eher in einer fehlenden Bündnispolitik mit Teilen des bürgerli­chen Lagers begründet, analysieren die Parteilinken, daß die Schwäche der PT ge­rade darin lag, daß sie die soziale Polarisierung im Land nicht politisch ausdrücken und umsetzen konnten. Für die Presse ist der Fall eh klar: Die “bösen Radikalen” (oder “Schiiten”, wie sie hier­zulande genannt werden), die angeblich die Partei beherr­schen, haben eine größere Akzep­tanz Lu­las verhindert. Das Ausspielen des “guten” Lulas gegen die böse Partei war schon während des Wahlkampfes eines der Hauptthemen der Presse. Tatsächlich sind derartige Zu­weisungen so holzschnitzartig verkürzt wie die Berichterstattung der bundes­deutschen Presse über die Ausein­ander­setzungen innerhalb der Bündnis­Grünen. Die PT ist eine komplexe, nicht einfach zu verstehende, pluralistische linke Partei. Auch die von deutschen Lin­ken immer wieder gestellte Frage, ob denn die PT nun endgültig ins sozialdemokrati­sche Fahr­wasser geraten sei, provoziert schon die Simplifizierung. Die PT ist ent­standen und gewachsen als eine Formie­rung jenseits und gegen sozialdemokrati­sche und orthodox-kommunistische Strö­mungen, einen großen Einfluß hatten linkskatholische Gruppen. Die PT hat eine besondere brasilianische Geschichte, die nicht in (europäische) Prokrustesbetten zurechtgestutzt werden sollte. Bis heute hat sich die PT das Recht, interne Tendenzen zu bilden, bewahrt. Sie ist ein Sammelbecken verschiedenster linker Strömungen, von mandelistischen Trotz­kis­ten, über Ökoso­zialisten bis hin zu sozial­demokratischen Reformaposteln. Und trotz aller Wider­sprüche ist die PT die politische Partei der vielfältigen sozialen Bewegungen in Bra­silien. In dieser Vielfalt lassen sie zwei Grund­positionen ausmachen: für die Par­teilinken ist die Metapher des “Bruchs” zentral. Die Partei steht für den grund­sätzlichen Bruch mit den hegemonialen Interessen in Bra­si­lien und dem vom IWF oktroierten neo­libe­ralen Modells.
Für die “Rechte” steht die Entwicklung einer reformerischen sozialen Kompetenz im Vordergrund. Die PT muß sich auf der Ebene, auf der sie bereits Macht ausübt (Bürgermeister) als kon­sequente Re­formkraft beweisen, die neue Prioritäten in der Sozialpolitik setzen kann und damit den Staat von einem privatisierten Ver­teilungsmechanismus der Eliten in ein Verteidigungsinstrument der Unterprivi­le­gierten transformiert ( vgl. auch die Stellungnahmen der PT-Spitze zur Wahl ). Die Unterscheidung zwischen Linken und Rechten in der Partei läßt leicht reale Debatten verschwinden. So sind viele der Parteilinken von einer ungetrübten Ortho­doxie beherrscht, die es ihnen zum Bei­spiel auf dem letzten Parteitag leicht machte, die Forderung nach Entkriminali­sierung der Abtreibung aus dem Pro­gramm zu streichen, leichter jedenfalls als viele “Rechte”, die feministische Po­sitio­nen innerhalb der Partei ver­teidigen. Nach der Wahl wäre für die Partei sicherlich eine Diskussion über die Möglichkeiten (nach der Fixierung auf einen möglichen Präsidenten Lula) linker Politik in Brasi­lien ratsamer als gegen­seitige Schuldzu­weisungen.
Wahlerfolge der Linken
Löst man sich von den gescheiterten Hoffnungen beim Kampf um die Prä­sidentschaft, dann zeigt das Wahlergebnis auch positive Aspekte. Die PT wird die Anzahl ihrer Abgeordneten von 35 auf etwa 70 erhöhen, sie wird vier SenatorIn­nen wählen (bisher 1), und in drei Bun­desstaaten sind ihre Kandidaten in die Stichwahl um den Gouverneursposten gelangt, in einem (Espirito Santo) mit sehr guten Erfolgsaussichten. Bisher hat die PT noch nie einen Gouverneur gestellt. In den Senat wird mit Benedita da Silva eine ehemalige Hausangestellte einziehen. Daß ein schwarze Frau in Rio mit diesem so­zialen Hintergrund in den Senat gewählt wird (jeder Bundesstaat wählte nur zwei SenatorInnen!), macht schon deutlich, wie die PT die politische Kultur Brasiliens be­einflussen kann. Mit einer gestärkten Par­lamentsfraktion steht die brasilianische Linke nun vor der Aufgabe, eine konse­quente Oppositionspolitik gegen das neo­li­berale Modernisierungsprojekt zu or­ga­ni­sieren.
Daß Brasilien in Lateinamerika bisher einen Sonderfall darstellt, liegt nicht zu­letzt an den starken sozialen Be­wegungen. In Brasilien dominiert die der PT nahestehende Gewerkschaftsbewegung (zusammengeschlossen im Dachverband CUT). Es gibt also durchaus ein organi­siertes Wider­stands­potential. Eine große Herausforderung hat die PT zwar erkannt, aber nicht gelöst: Ihre Stärke liegt im or­ganisierten Sektor der Ge­sellschaft, in den Großbetrieben, im öffentlichen Dienst, in einem Sektor, der immer mehr seine Inte­grationskraft für die brasilianische Gesell­schaft verliert. In den Kleinstbetrieben, im informellen Sektor, bei den Ausgegrenz­ten und Marginalisierten hat die Linke bisher wenig organisierende Kraft entwik­kelt. Nur wenn die Ausgeschlossenen po­litische Kraft gewinnen, wird sich ein wirksamer Widerstand organisieren las­sen.
Die Anderen
Angesichts der Polarisierung zwischen Lula und Cardoso konnten die anderen Kandidaten mit Ausnahme des bereits er­wähnten Eneas nur Statistenrollen spielen. Die Wahl bedeutet auch das Ende eines Politikers, der eine herausragende Rolle in der jüngsten brasilianischen Geschichte gespielt hat: Leonel Brizola konnte ganze drei Prozent der Stimmen erringen. Brizola hatte in den sechziger Jahren das Erbe des Nationalpopulismus des früheren Präsi­denten Getulio Vargas angetreten, er hatte als Gouverneur erbitterten Wider­stand ge­gen den Militärputsch geleistet und war bei der Rückkehr aus dem Exil einer der großen Pole der Opposition. Zweimal zum Gouverneur von Rio ge­wählt, kennzeich­nete sein zweites Mandat den Niedergang: Administrative In­kom­pe­tenz, explodie­rende Gewalt und ein zu lange durchge­haltenes Bündnis mit dem un­säglichen Collor ließen den Stern Brizolas sinken. Sein linkspopulistischer Dis­kurs, seine wütenden Anklagen gegen den Fernseh­sender Globo und den IWF ge­rieten im­mer mehr zur Politfolklore. Über­raschen­derweise hat aber seine Par­tei, die PDT, ein beachtliches Ergebnis er­zielt. In Paraná wurde der populäre Ex­bür­ger­mei­ster von Curtiba, Jaime Lermer, be­reits im ersten Wahlgang zum Gouverneur ge­wählt, in Sâo Paulo steht der Kandidat der PDT im 2. Wahlgang. Außerdem ge­wann die PDT in Mato Grosso (in einem brei­ten Bündnis, das auch die PT ein­schloß), und sie hat in zwei kleineren Staaten gute Chancen im zweiten Wahl­gang. Der Kan­didat in Sâo Paulo ist ein wüster De­magoge, der seine Karriere bei den Militärs begonnen hat, und nur die in Sâo Paulo bedeutungslose PDT wählte, um einen politischen Raum zu haben. Ihm werden auch wenig Chancen gegen den Kandida­ten der PSDB, Mario Covas, eingeräumt. Interessanter ist der Kandidat der PDT in Rio, Garotinho, ein junger Newcomer mit populistischem Diskurs, aber eindeutig linkem Akzent. Er sucht für den zweiten Wahlgang die Unterstützung der PT (und wird sie auch bekommen), um eine “Front der Linken” aufzubauen. Garotinho hat re­alistische Chancen, in Rio zu gewinnen. Mit der Achse Rio – Paraná wäre die PDT wieder ein Schwergewicht in der brasilia­nischen Politik und hätte die große Chance, sich durch eine prag­matische Op­position zu Cardoso wei­ter zu ei­ner mögli­chen Alternative bei des­sen Scheitern zu entwickeln. Garotinho we­nigstens läßt keine Zweifel, daß die Präsidentschaft sein großes Ziel ist.
Auch der Kandidat der größten Partei Bra­siliens erlitt ein Fiasko: Mit nur fünf Prozent blieb der Kandidat der PMDB, Orestes Quercia auf der Strecke. In Sâo Paulo, das die PMDB seit 12 Jahren regierte, ist ihr Kandidat im ersten Durch­gang geschei­tert. Allerdings wird die PMDB weiterhin die stärkste Fraktion im neuen Parlament bilden. Aber sie wird im­mer mehr zu einer Partei lokaler Kaziken de­generieren, ohne nationale Kraft.

Reaktionen aus der PT auf das Wahlergebnis
(Quelle: Jornal do Brasil vom 8.10.)

Kasten 1
Jos Genoino, Abgeordneter der PT, der die meisten Stimmen erhielt, Führer des “rechten” Flügels der PT: “Wenn es auch auf der einen Seite wahr ist, daß wir einer breiten und mächtigen Front gegenüberstanden, die sich um die Kandidatur Fernando Henrique Cardosos scharte, so dürfen wir es doch nicht unterlassen, unsere eigenen Fehler einzugestehen. 1. Das Fehlen einer Bündnispolitik, die in der Lage gewesen wäre, Vertrauen in weiten Sek­toren der Gesellschaft zu schaffen. 2. Unserer Wahl­kampagne gelang es nicht, ein re­alisierbares Regierungsprogramm vorzustellen, das auf Probleme Antworten gibt wie die Reform des Staates, die soziale Krise, Sozial­politik, ökonomisches Wachstum mit Einkommensverteilung, Stabilisierung und In­flationsbekämpfung. Zu diesen Punkten haben wir nur allgemeine Aussagen präsen­tiert und waren unfähig, der konkreten Exi­stenz des Reals Rechnung zu tragen. 3. Wir haben eine wenig kreative Kampagne ge­macht, bei der wir nicht die administrativen Erfahrungen der PT herausgestellt haben, und konnten somit den Vorurteilen gegen die PT und Lula nicht entgegentreten. 4. Materielle Ausstattung und Leitung unserer Kampagne waren wenig professionell.”

Kasten 2

Aloizio Mercadante (Vize Lulas): “Wir müssen die Partei neu strukturieren, insbe­sondere im Norden und Nordosten, wo eine Oligarchie die Medien beherrscht und die Zivilgesellschaft schwach ist. Die PT muß mit der Zivilgesellschaft interagieren…Wir müssen Mechanismen schaffen, damit die Leute, die an der Kampagne teilgenommen haben, permanent in der Partei arbei­ten, Künstler zum Beispiel und die Leute aus dem Kulturbereich. Auch die Religiösen und die Jugend müssen mehr Gewicht in der Par­tei haben. Dasselbe gilt für die Unter­nehmer, die mit einem Unterstützungskomitee eine große Beteiligung an der Kampa­gne hatten.”
Schluß mit den Tendenzen?
“Ich glaube nicht, daß wir interne Meinungstendenzen auslöschen werden, aber wir müssen die Tendenzen als Formen der Organisation überwinden. Diese Kampagne ist das Ende eines Zyklus, nach dem wir über eine neue Struktur nachdenken müssen. Wir müssen zum Beispiel eine bessere Beziehung zu den von uns geleiteten Kommu­nalverwaltungen und zu unseren Abgeordneten haben.”
PT als linke Sozialdemokratie?
“Ich glaube, die traditionellen Modelle der Linken sind überholt und die PT entstand schon, indem sie sie in Frage stellte. Deshalb haben wir im Gegensatz zu den orthodo­xen Parteien der Linken in aller Welt überlebt und sind eine große Kraft in unserem Land… Ich weiß nicht ob man uns als linke Sozialdemokratie etikettieren kann… Wir müssen eine Partei sein, die mehr die Institutionen achtet. Die PT kann nicht nur eine Partei des Protestes sein, sie muß alternative Vorschläge machen. Wir müssen unsere Hegemonie nicht durch Negation, sondern durch Affirmation aufbauen.”
Wird es Änderungen im Programm geben?
“Das heißt auch, wir müssen unser Programm ändern. Wir werden zwar niemals die These vom Minimalstaat akzeptieren, aber wir müssen anerkennen, daß das national-populistische Modell ausgespielt hat. Wir müssen eine Idee des Öffentlichen schaffen, statt uns auf den Staat zu fixieren.”

Kasten 3

Lula da Silva: In der ersten Pressekonferenz nach der Wahl, kennzeichnete Lula seine zukünftige Rolle als “Wächter der Bürgerrechte” und versprach eine “nicht-systematische Oppo­sition, die sich nicht nach unseren Programm ausrichten wird, das keine Mehrheit ge­funden hat, sondern nach dem Programm Cardosos, damit seine Versprechungen nicht vergessen werden.” Lula stellte dabei folgende Versprechungen des Kandidaten her­aus: Verdoppelung des Mindestlohnes (von 70 auf 140 US-Dollar), die Schaffung von 12 Millionen Arbeitsplätzen, die Ansiedlung von 400.000 Familien auf dem Lande und ausreichende Schulplätze für alle Kinder. Gleichzeitig erklärte er, daß er kaum an einer Regierung Cardoso teilnehmen könne, die auf den jetzigen Allianzen aufbaut.

Schwarze Feministinnen gehen eigene Wege

LN: Viele Frauen von CRIOLA haben früher bei CEAP (Centro de Articulâ­cao das Populacoês Marginalizadas) mitge­arbeitet, das sich für die Rechte der Stra­ßenkinder und der schwarzen Frauen einsetzt. Was war der Anlaß, CRIOLA als eigene Organisation zu gründen?
Neusa das Dores Pereira: Alle zehn Frauen von CRIOLA haben irgendwann einmal mit CEAP zu­sammengearbeitet, zwei von ihnen gehörten 1989 zu den Gründerinnen von CEAP. Alle Frauen kommen aus den verschiedensten sozialen Bewe­gungen, sie waren im Gesundheits­bereich aktiv, in der Gewerkschaft und in Bürgerinitiativen. Wir sahen die Notwen­digkeit, uns autonom zu organisieren. Denn als schwarze Frau konnten wir ent­weder an der fe­ministischen Bewegung teilnehmen, wo die weißen Frauen alles bestim­men oder an der Bewegung der Schwarzen, wo die Männer im Vorder­grund stehen. CEAP veröffentlicht viel über Repression und die Morde an Stra­ßenkindern. Hauptsächlich ging es um die Situation der Jungen auf der Straße und in diesem Zusammenhang wurde die Frau nur als Mutter gesehen. Wir wollten mehr zur Situation von schwarzen Frauen ar­beiten. Daher entstand 1992 CRIOLA, um neue Wege zu suchen.
Wie sieht die Arbeit von CRIOLA aus?
In der Struktur, die wir seit Dezember 1993 haben, ist CRIOLA in ver­schiedene Gruppen unterteilt: Im Kulturbereich geht es um schwarze Alltags-Kultur, die Aus­einandersetzung mit der afro-brasiliani­schen Reli­gion und den Aufbau von Kunstkooperativen. SOS-Gesundheit ar­beitet zur Aidsprävention und zur Kampa­gne gegen Sterilisation. Wir nehmen teil am Netzwerk gegen rassistische und sexu­elle Gewalt und an der Kam­pagne gegen Sextourimus und Kinderprostitution. SOS-CRIOLA bietet Unterstützung und Bera­tung für schwarze Frauen und Mädchen, die Opfer von Gewalt wurden, initiiert werden Selbsthilfegruppen und the­rapeutische Gruppen. Criola, Criolinha, Criolona arbeiten derzeit mit Mädchen und jungen Frauen und beabsichtigt in Zukunft ebenfalls mit älteren Frauen zu arbeiten. Weiter gibt es das Dokumentati­onszentrum und Dàgbá Criola. Dàgbá ist ein Wort aus dem Yoruba, das “Wachsen” bedeutet. Ideen müssen wachsen und bra­silianische und internationale Netzwerke entstehen. Wir beteiligen uns an der schwarzen Frauenbewegung in Latein­amerika und der Karibik, an der Kampa­gne gegen häusliche Gewalt, an der Be­wegung “Pro Mädchen” und führen Workshops zu “Geschlecht und Rasse” mit Streetworkern durch.
Mein Traum ist es, das Dokumentati­onszentrum aufzubauen. Es beruht auf drei Schwerpunkten: 1. die schwarze Ge­schichte, besonders die der schwarzen Frauen zu dokumentieren, 2. die Verbin­dung zu anderen Gruppen herzustellen und Informationen in einer Sprache wei­terzugeben, die von den sozialen Bewe­gungen verstanden wird und 3. eine ei­gene Analyse von Daten, die sich von den offiziellen, manipulierten Statistiken ab­setzt, welche oft ein verzerrtes Bild der Realität wiedergeben.
Während der Dokumentationsarbeit bei CEAP haben wir immer wieder in den Zeitungen von Morden an schwarzen Frauen gelesen. Deshalb haben wir bei der Justiz genaue Daten nach Alter und Haut­farbe der ermor­deten Frauen angefordert. Erst nachdem ein Abge­ordneter unser Anliegen unterstützt hat, erhielten wir überhaupt eine Reaktion auf unsere Nach­frage und dann waren die Informationen unvollständig, ohne Angabe der Hautfarbe und des Alters. Aufgrund der Orte und Charakteristika, wo die Verbrechen statt­fanden, wissen wir aber, daß sehr viele junge und viele schwarze Frauen ermordet wurden. Daher finden wir es wichtig, ein eigenes Dokumentationszentrum aufzu­bauen. Wir richten uns mit unseren Infor­mationen speziell an Frauen, die wenig le­sen und nicht den Umgang mit Computern gewöhnt sind und wollen das Dokumen­tationszentrum entmystifizieren. Wir wol­len die Frauen direkt erreichen und mit ih­nen zusammenarbeiten in ihren Bereichen wie Haushalt, Gewerkschaft und Kirche.
Wie sehen die Kontakte zur feministi­schen Bewegung aus?
Wir arbeiten mit der feministischen Be­wegung in der Kampagne gegen Sterilisa­tion zusammen. Wenn wir Daten über die Situation der Schwarzen brauchen, wen­den wir uns an die Bewegung der Schwar­zen. Wir bewegen uns zwischen beiden Bewegungen. Die schwarze Frauenbewe­gung ist gleichzeitig schwarze und femini­stische Bewegung. Das Wort “feministisch” erschreckt noch immer, es gibt viele negative Assoziationen wie les­bisch, eurozentrisch, Frauen, die Männer has­sen. Deshalb möchten viele Frauen das Wort feministisch nicht benut­zen und sprechen lieber von Frauenbewegung oder weiblicher Bewegung. Wir haben eine feministische Orientierung und versuchen ständig, den Frauen klarzumachen, daß sie feministisch sind.
Andererseits ist es sehr schwierig, mit der feministischen Bewegung zusammenzuar­beiten. Frauen aus der Unterschicht ma­chen oft die Erfahrung, daß sie wegen ih­rer Ansichten von den weißen Feministin­nen als nicht feministisch abgelehnt wer­den. “Nein, ihr seid keine Feministin­nen”, heißt es, als gäbe es ein “Feministómetro”, ein Meßgerät für Fe­minismus. Wenn Landarbeiterinnen, Gefangene, Prostitu­ierte in die fe­ministische Bewegung ein­treten, verziehen sich oftmals die Radikalfeministin­nen.
Wir schwarzen Frauen haben in der femi­nistischen Bewegung immer wieder die Erfahrung gemacht, daß bei den Diskus­sionen etwas fehlte, ebenso wie innerhalb der Bewegung der Schwarzen, wo der Diskurs über das Geschlecht immer ausblieb. Die schwarze Frauenbewegung muß ihren eigenen Weg entwickeln. Zur Zeit müssen wir uns eigenständig organi­sieren, um un­sere eigenen Ideen und Aktivitäten, um eine eigene Sprache entwickeln zu kön­nen. Später können Wege wieder gemein­sam beschritten werden. Wenn wir jetzt unsere Räume öffnen, werden sie von Männern oder weißen Frauen verein­nahmt.
Unser Verhältnis zur weißen feministi­schen Bewegung ist weiterhin schmerz­lich. Wenn wir bei feministischen Treffen einen Workshop an­bieten, kommen aus­schließlich schwarze Frauen, die weißen Frauen zeigen kein Interesse. Aber sobald wir ein eigenes Treffen für schwarze Frauen organisieren, möchte plötzlich jede teilnehmen. Sie werfen uns vor, wie ab­surd es sei, andere auszuschließen, kriti­sieren uns als zu radikal. Genauso ist es mit den Männern. Aber wenn wir inner­halb eines Treffens der Bewegung der Schwarzen über das Thema schwarze Frauen diskutieren wollten, waren wir immer unter uns.
Ihr beteiligt Euch an der Kampagne ge­gen Sextourismus und Kin­derprostitution. Wie ist die Situation in Rio und was sind Eure Ziele bei der Kampagne?
Für uns Frauen von CRIOLA ist das ein ganz neues Thema. Ich habe an verschie­denen Konferenzen zum Thema Sextou­rismus teilgenommen, unter anderem in Deutschland. Sextourismus wird hier als Phänomen wahrgenommen, aber nicht zur Diskussion gestellt. Deshalb werden wir im Dezember dazu ein Treffen in Rio ver­anstalten.
In Copacabana, wo ich mich am besten auskenne, haben viele Mädchen und Jun­gen mit Sextourismus zu tun, gerade in Rio sind viele Jungen im Sextourismus tätig. Es wird als etwas selbstverständli­ches betrach­tet und nur im Zusammen­hang mit Verbrechen erwähnt. Eine weit ver­breitete Einstellung ist, “ach, die Mäd­chen wollen dieses Leben” und in der Tat, suchen die Mädchen einen Gringo zum Heiraten. In dem Hoch­haus, in dem ich lebe, wohnen etwa 20 bis 30 junge Frauen, die sich nicht als Prostituierte ver­stehen, sondern als Mädchen, die “Programme” mit Touristen durchführen und ihr Traum ist es, einen Tou­risten zu heiraten. Da gibt es diese Märchenvor­stellung. Sie glauben, daß es in Deutsch­land viele Adlige gibt, die zwar verarmt sind, aber im Vergleich zu Brasilien noch viel Geld besitzen und in einem Schloß mit Hausangestellten wohnen.
Die weißen Männer kommen nach Brasi­lien und suchen dort eine schwarze junge Frau, um sie mit nach Deutschland zu nehmen. Viele glauben an diesen Mär­chenprinzen, der aus Deutschland kommt, aus der Schweiz oder aus Italien.
Wenn Du ihnen sagst, daß dies eine große Lüge sei, antworten sie, daß sie die Chance nicht ungenutzt lassen wollen und sie noch jung seien. Die ei­gene Familie glaubt daran. Sie glauben, daß es der Tochter sehr gut gehen wird, wenn sie nach Deutschland heiratet. Und dann be­kommen sie Briefe, in denen steht, wie gut es ihnen geht. So schließt sich der Kreis der Illusionen.
Anders ist die Situation der Frauen aus der Mittelschicht, die besser ihre Interessen wahrnehmen können. Sie sprechen ver­schiedene Spra­chen, sind mit ihren Fami­lien gereist und kennen schon andere Län­der. Sie wollen Karriere machen und am Konsum teilhaben, sie haben kon­krete Vorstellungen, etwa jemanden zu heiraten, um nach New York zu ziehen. Es ist ein Unterschied, ob die Mädchen reisen wol­len, Eu­ropa kennenlernen möchten und wissen, diese erreichen sie durch einen Gringo, den sie kennenlernen, oder ob sie sich vorstellen, einen Ade­ligen zu heiraten und in einem Schloß zu leben.
Die schwarzen Mädchen aus den armen Schichten verhandeln nicht. Das ist der Unterschied zu einer erwachsenen Prosti­tuierten, die weiß, welchen Preis sie ver­langen kann. Die Mädchen auf der Straße haben dagegen überhaupt keine Verhand­lungsposition. Sie verlieben sich in die Europäer, die sie beachten, ihnen 10 Cru­zeiros geben und ein Essen bezahlen.
Welche Rolle spielt die Ideologie des “Weißerwerdens”, des embranci­mento, dabei?
Eine ganz Beachtliche, denn die schwar­zen jungen Frauen auf der Straße glauben, daß sie selbst nichts wert sind. Sie über­nehmen das Bild, das die Gesellschaft von ihnen hat, die sie als dreckig, dumm, ge­fährlich, als Analphabeten betrachtet. Wenn dann ein blonder Euro­päer mit blauen Augen kommt, zärtlich zu ihnen ist und ihnen Geld gibt, fühlen sie sich geehrt.
Eine andere Besonderheit in Rio ist, daß viele junge Frauen im Sex­tourismus von außerhalb kommen, weil sie wissen, daß dort die Sex­touristen anzutreffen sind. Viele kommen aus dem Nordosten Brasi­liens. Sie haben entweder die Familien verlassen oder werden von ihrer Fa­milie nach Rio direkt zur Copacabana geschickt. Wir haben schon Mäd­chen im Alter von 6 und 8 Jahren angetroffen.
In Brasilien wurde im letzten Jahr eine parlamentarische Untersu­chungs­kom­mission eingerichtet (CPI), um zur Kinder­prostitution zu er­mitteln. Liegen die Ergebnisse der CPI mittler­weile vor?
Ich glaube nicht, daß der Bericht schon vorliegt, außerdem gibt es viele Informa­tionen, die man nicht veröffentlichen möchte. In Rio hat die Untersuchungs­kommission über Kinderprostitution ihre Arbeit ein­fach abgebrochen. Niemand weiß genau warum; es gibt verschiedene Interessengruppen. Innerhalb eines Jahres sind in einem Stadtteil von Rio 28 Mäd­chen zwischen 8 und 12 Jahren ver­schwunden. Dazu gibt es keine weiteren Untersuchungen. Die Polizei weiß nichts, da keine Lei­chen gefunden wurden. So gibt es viele Spekulationen über Organ­handel etc., was aber zu nichts führt. Wichtig wären genaue Untersuchungen.
Eine solche Untersuchung über Kinder­prostitution müßte mit Vorsicht gemacht werden. Erstens darf nicht registriert wer­den, wann und wohin Frauen reisen. Sonst bekommt jede schwarze Frau, die zum Flughafen kommt, Probleme mit einem Visum etc.. Viele Jugendliche bitten, keine Infor­mationen zu veröffentlichen, weil ihre Familien nicht wissen, was sie in Rio tun. Drittens müßte untersucht wer­den, welche Männer Kunden und welche Händler sind. Letztere sind Männer, die Familie und Kinder zu Hause haben und in Brasilien oder in den Philippinen sechsjährige Mädchen sexuell ausbeuten.
Heutzutage gibt es auch deutsche Frauen, die als Sextouristinnen nach Brasilien rei­sen. Frauen vergewaltigen nicht, aber sie beuten auf eine andere Weise die Jungen aus. Nicht nur Sextourismus, sondern auch der Handel wird mittlerweile von Frauen, besonders deutschen, betrieben.
Sextourismus gibt es in Brasilien erst seit zehn Jahren, nachdem Thailand einen schlechten Ruf wegen Aids bekommen hat. Heute steht Brasilien an zweiter Stelle bei Menschenhandel und bei sexuellem Miß­brauch von Kindern durch Touristen.
Wenn es um Gewalt an Straßenkindern geht, wird bei uns hauptsächlich über die Situation der Jungen berichtet. Wie sieht die Repression bzw. Gewalt gegen Mäd­chen, die auf der Straße leben, aus?
In Rio ist die Situation anders als in Re­cife. Hier ist die Zahl der Mädchen, die auf der Straße sind höher als die der Jun­gen. In Rio de Janeiro gibt es mehr Stra­ßenjungen. Die Mädchen bleiben zu Hause, passen auf die Kleinen auf und machen den Haushalt. Die Jungen ge­hen auf die Straße. Im Nordosten ist es umge­kehrt. Die Jungen gehen aufs Feld und ar­beiten auf den Zuckerrohrplantagen und die Mädchen gehen auf die Straße und betteln.
Im Nordosten, speziell in Recife, ist die Gewalt gegen Kinder immer sehr groß gewesen. Die Mädchen in Recife verlet­zen sich selbst, um von der Polizei in Ruhe gelassen zu werden. Ich kannte ein Mädchen, das sich jedesmal, wenn sie einen Polizisten sah, eine Scherbe nahm und in den Arm schnitt. Sie verletzte sich, weil die Polizei sie dann ins Kran­kenhaus bringen mußte und erzählte:”Wenn nicht, wollen sie mit mir schlafen und ich möchte nicht.” Jetzt ist sie tot, sie wurde ermordet.
Ich habe einige Zeit in Recife bei SOS-Criança gearbeitet. Wir trafen viele Mäd­chen mit zerschnittenen Armen und Ge­sichtern. Sie verletzen sich überall, an den Beinen und Schenkeln, wegen der Repres­sion der Polizei.
In Rio de Janeiro ist es umgekehrt. Dort sind weniger Mädchen auf der Straße. Sie werden als schwach angesehen und anders be­handelt. Neuerdings hat sich dies geän­dert, und die Gewalt richtet sich auch spe­ziell gegen Mädchen. Die Zahl der ange­griffenen und ermorde­ten Mädchen hat sich nach Angaben von CEAP erhöht. Heute sind bei einem Massaker auch die Leichen von Mädchen zu finden.
Wie sieht es aus mit der strukturellen Gewalt gegenüber schwarzen Frauen?
Es gibt noch eine andere Form von Ge­walt, die sich gegen schwarze Frauen richtet, die mit den Gesetzen in Konflikt geraten sind. Zwar gibt es die “Delegacia de Mulheres”, das Polizeirevier für Frauen, aber es ist nur zuständig, wenn Frauen jemanden anzeigen wollen, nicht aber für Frauen, die straffällig wurden. Diese Frauen kommen auf die normalen Polizeireviere, wo sie mehr leiden als die Männer. Dort wer­den die Schwarzen dis­kriminiert, und die Gewalt dort bedeutet Folter. Je jünger die Frauen sind, desto mehr werden sie benutzt, gedemütigt und gefoltert.
Die Regierung behauptet, es gäbe keine institutionalisierte Gewalt, aber es gibt sie.
Was mich wirklich bekümmert, ist, was alles als selbstverständlich angesehen wird. Die Leute wollen nicht mehr belä­stigt werden, sie denken, wenn jemand Probleme hat ist es seine eigene Schuld.
Eine Bekannte hat über eine 13jährige Prostituierte erzählt: “Ich kenne sie schon seit sie fünf Jahre alt ist und da war sie schon Prostituierte, sie war immer so. Es gefällt ihr, Prostituierte zu sein. Sie ging nicht zur Schule, weil sie nicht wollte. Sie war schon immer eine Rebellin.” Also ist es ihre eigene Schuld? Bis sie tot aufge­funden wird? Ist das etwa ein Ziel, das sie sich ausgesucht hat?
Dazu kommt der Diskurs über Sterilisa­tion. Es heißt sehr schnell: Warum wurde diese Frau nicht sterilisiert? Eine Frau mit so vielen Kindern muß sterilisiert werden. Die Schuld liegt immer bei der Frau. Der schwarzen brasilia­nischen Frau wird die Schuld an der Armut Brasiliens zuge­schrieben. Wir versuchen zu erklären, daß das nicht stimmt. In den letzten zwan­zig Jahren wurde Brasilien immer ärmer, ob­wohl die Geburtenrate ge­sunken ist. Frü­her hatten die Frauen 10, 12, 20 Kinder, heute haben sie nur zwei Kinder. Wir wollen erreichen, daß sich die schwarzen Frauen nicht auch noch schuldig fühlen für die Armut.

Von Bücherzügen und Lesestunden

“Die Biblioteca Nacional in Rio de Janeiro ist die achtgrößte Bibliothek der Welt: Acht Millionen Bücher, 200 Stiche von Albrecht Dürer, viele Partituren alter Meister und die größte Sammlung italieni­scher Maler des 16. Jahrhunderts außer­halb Europas.” Affonso Romano Sant’Anna, Präsident der “Fundaçao da Biblioteca Nacional” und Dichter, ist sichtlich stolz auf den Tempel des ge­schriebenen Wortes und der schönen Kün­ste.
Eigentlich haben die BrasilianerInnen die geschichtsträchtigen Werke Napoleon zu verdanken: Die Bestände haben ihren Ur­sprung in der königlichen Bibliothek Por­tugals. Don Joao IV. floh 1808 vor Napo­leons Truppen in die portugiesische Kolo­nie nach Übersee – mitsamt Hofstaat und eben der Bibliothek.
Doch ging es in dem Treffen zwischen Sant’Anna und Horst Kreibich, Leiter der deutschen “Stiftung Lesen”, auf der dies­jährigen Frankfurter Buchmesse weniger um die Schätze illustrer Buchkunst. Mög­lichkeiten der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Leseförderung wollten sie austüfteln, und ein erstes Gespräch über allseits so beliebte Projekte stand auf dem Programm.
Die brasilianische Lesestiftung sieht ihre Aufgabe nicht in Alphabetisierungskam­pagnen (in Brasilien können etwa 19 Pro­zent der BewohnerInnen nicht lesen und schreiben), sondern darin, die 50 Millio­nen “funktionalen Analphabeten” im Land an das Lesen heranzuführen. “Funktionale Analphabeten” sind jene, die zwar Ge­schriebenes entziffern können, aber den Sinn und die Zusammenhänge des Gele­senen nicht verstehen. Für Europa wird die Zahl von der “Stiftung Lesen” übri­gens genauso hoch geschätzt, in Deutsch­land gibt es nach Angaben von Horst Kreibich zwischen 3 und 5 Millionen “funktionale Analphabeten”.
Der “Biblioteca Nacional” sind in Brasi­lien 3000 öffentliche Bibliotheken und 900 Unibibliotheken angeschlossen. Neu­stes Projekt der Leseförderung: “Wir wollen Bücherzüge, quasi Bibliotheken auf Schienen, einrichten, die von Rio de Janeiro nach Minas Gerais fahren”, erzählt Sant’Anna. Bei den einzelnen Stationen soll es dann ein Begleitprogramm geben, beispielsweise gemeinsames Lesen und Lesungen, um die Leute mit den ge­druckten Zeichen vertraut zu machen. Ähnliches ist mit Schiffen geplant – ein Schiff der Marine soll demnächst mit der zivil-pädagogischen Fracht an der Küste entlang und die Flüsse hinauffahren. Ach ja, und falls jemand zufällig einen finanz­kräftigen Reeder oder eben einen Unter­nehmer aus der Eisenbahnbranche kennt…
Natürlich fehlt es auch der brasilianischen Lesestiftung an Geld – Spenden sind will­kommen. Kein Wunder also, daß der Hauptjob von Sant’Anna in Bittgängen zu Privatunternehmen besteht (Kreibich nickt bestätigend). Manchmal hat er sogar Er­folg. Die Unternehmer haben längst mit­gekriegt, daß mit der Lesefähigkeit der Arbeiter auch die Produktivität steigt. Denn, wer eine Gebrauchsanweisung nicht nur entziffern, sondern auch verste­hen kann, arbeitet effektiver. Wer liest, soll zudem mehr Kreativität und Phantasie entwickeln – heißt es.
Lesestunden in den Betrieben finden frei­lich in der Mittagspause statt, gegessen wird dann eben später. Literarische Er­zählungen und weniger Anspruchsvolles wird erst vorgelesen, dann mit den Arbei­terInnen besprochen, in der Hoffnung, ihr Interesse zu wecken und zu fördern.
Ein Teil des Budgets geht für Werbung drauf- vornehmlich in dem oft als buch­feindlich verschrienen Medium Fernse­hen. Längst jedoch haben die Lesefach­leute begriffen (in Lateinamerika um ein vielfaches schneller als in Europa), daß zwischen Buch und Fernsehen keine Geg­nerschaft mehr besteht. Das eine kann durchaus in den Dienst des anderen treten.
Mit dem gemeinsamen Projekt von deut­scher und brasilianischer Lesestiftung wurde es dann erst mal doch nichts. Die “ersten gemeinsamen Gespräche” zeich­neten sich durch Unverbindlichkeit aus. Auch von Erfahrungsaustausch konnte kaum die Rede sein. Dafür wollen sich die Herren dann noch mal extra zusammen­setzen.

Polizeireportage und Bergpredigt

Diese und ähnliche Meldungen gehen täglich dutzendweise über den Sender von Rádio Regional, der kleinen Radiostation der Diö­zese Paulo Alfonso im Landes­inne­ren des brasilianischen Bundesstaa­tes Ba­hia. An den Wochenen­den steht das Tele­fon von Rádio Regional kaum eine Minute still. Das ist die Zeit, in der die in Sâo Paulo hilflos gestrandeten Migranten aus dem Nordosten versuchen, übers Ra­dio Kontakt zu ihren zurück­gebliebenen Fa­milienangehörigen auf­zunehmen. Da wer­den dann Bitten um Geldüberweisun­gen zur Rückkehr in den Nordosten oder die Adressen von irgend­welchen Vettern und Onkeln in Sâo Paulo über den Äther ge­jagt, die den Gestran­deten weiterhelfen sollen. Irgendwann nach Wochen kann es dann vorkom­men, daß zurückgekehrte Migranten plötzlich in der Tür des Sende­studios von Rádio Re­gional stehen und die ModeratorInnen des Wo­chenenddienstes überglücklich in ihre Arme schließen. Unter tau­send Danksa­gungen beteuern die Rückkehrer, daß ih­nen nur die Durchsage im Radio die Heimkehr aus dem Inferno der Megame­tropole im Süden Brasiliens ermöglicht habe.
“Für diese auseinandergerissenen Fami­lien ist das Radio ein wich­tiges Kommu­nikationsmittel, da es kaum öffentliche Telefone in der Gegend gibt. In den vier Jahren seiner Existenz ist das Radio zur Anlaufstelle für alle möglichen familiären Angelegenheiten gewor­den”, erklärt Ra­dioleiter Pedro Paulo.
Rádio Regional ist einer von insgesamt 130 Mittelwellen- und UKW-Sendern, die die katholische Kirche und ihr naheste­hende Stiftun­gen in Brasilien unterhalten. Ihr vorrangiger Auftrag ist die Verbrei­tung des Evangeliums vor dem Hinter­grund der sozialen, po­litischen und öko­nomischen Realität Brasiliens. Damit hö­ren aber auch schon die Gemeinsamkeiten der katholischen Radiostationen auf. Denn die Interpretation dieses Auftrages bleibt in dem Rie­senland den mehr oder weniger konservativen Bischöfen der einzel­nen Diözesen bzw. den von ihnen berufenen Radiodirektoren überlas­sen. Zwar bemüht sich die UNDA, das nationale Kommuni­kationsgre­mium der brasiliani­schen Bi­schofskonferenz, eifrig um eine ein­heitliche ideologische Linie ihrer Kom­munikationsmedien. Doch wie die Radio­sendungen vor Ort gestaltet werden, ent­zieht sich weitgehend ihrer Kon­trolle. So sind denn auch die Programme der 130 katholischen Sender von sehr un­terschiedlicher Couleur. Die meisten ha­ben sich inhaltlich der seichten Welle der kommerziellen Medien angepaßt. Sie ver­suchen, sich mit populärer Musik und viel Werbung finanziell über Wasser zu halten. Ihre Wortbeiträge be­schränken sich ge­wöhnlich auf das tägliche “Ave Maria”, besinnli­che Worte des örtlichen Geistli­chen und die Live-Übertragung der Sonn­tagsmesse. Komplettiert wird diese jour­nalistische Glanzlei­stung allenfalls noch durch hastig heruntergeratterte Kurznach­richten. Deren Informationswert ist jedoch gleich Null, da es sich meist um abermals gekürzte Versionen ohnehin schon kurzer Zei­tungsmeldungen handelt.
Vom aufrechten Katholiken
zum Medienstrategen
Als Zugeständnis an den Massenge­schmack und wegen der ständig schrumpfen­den Zuschüsse aus den bischöflichen Geldtöpfen sind einige der katholischen Radiostationen inzwischen dazu überge­gangen, die bei der brasiliani­schen Bevöl­kerung so be­liebten Polizeire­portagen zu senden. Diese sensationslü­sternen Gru­selstories von lokalen Rau­büberfällen und Gewalttaten aller Art gelten in Brasiliens Medienlandschaft als wahre Publikums­renner und somit als Ga­rant für steigende Werbeeinnahmen. Im unerbittli­chen Kon­kurrenzkampf mit den kommerziellen Pri­vatradios hat sich schon so manch auf­rechter Katholik und Ra­diodirektor zum knallhart kalkulierenden Medienstrategen wandeln müssen und zu­gunsten einer sehr großzügigen Interpre­tation des kirchlichen Sendeauftrags ent­schieden. Kann doch eine einmalige Ver­beugung vor dem Dik­tat des blutrünstigen Massengeschmacks unter Umständen etli­che Sendun­gen der Bergpredigt finanziell absichern. Unter dem Druck ökonomi­scher Zwänge und des klerikalen Konser­vativismus schaffen es nur we­nige Radio­stationen der katholi­schen Kirche, den von der UNDA ur­sprünglich durchaus fort­schrittlich ge­meinten Auftrag, eine christ­liche und sozialkritische Alternative zu den kom­merziellen Massenmedien Brasi­liens zu sein, in ihren Programmen umzu­setzen. Einer der Sender, die dies ernsthaft versu­chen, ist Rádio Regional von Cícero Dantas.
In der Isolation des bahianischen Sertâo, in der das Leben einem ewig gleichen Rhythmus folgt, sich Gespräche um die immer gleichen Probleme wie anhaltende Dürre und Wassermangel, vertrocknete Boh­nenernten und ungerechte Landver­teilung drehen, hat das gespro­chene Wort noch eine besondere Bedeutung. In eini­gen der abgelege­nen Weiler des Sertâo, wo die Armut den Kauf des sonst allgegen­wärtigen Fernsehgeräts nicht zu­läßt und das defizitäre Bildungssy­stem eine Analphabetenrate von fast 40 Prozent produziert, bleibt nach Einbruch der Dun­kelheit oft nichts anderes als sich endlose Geschichten zu erzählen. Da wer­den dann die Geburten und Todes­fälle in den weit­verzweigten Familien durchgehe­chelt, über den letzten Besuch des Land­pfarrers oder sonstige Neuigkeiten aus der Nach­barschaft berichtet, oder – wenn dies alles schon tausendmal erzählt worden ist – ein­fach schweigend gewartet, bis es Zeit zum Schlafengehen ist. Neuigkeiten, zumal wenn sie über Dutzende von Kilo­metern aus der Bezirkshauptstadt kom­men, haben hier noch einen ganz besonde­ren Stellen­wert. So ist denn auch das “Jornal da Re­gional”, die tägliche halb­stündige Nach­richtensendung von Rádio Regional, für die Landbevölkerung der Region zu einer einflußrei­chen Instanz in ihrem Alltag geworden. Was das Jornal an lokalen und regionalen Nachrichten ver­breitet, wird in den isolierten Dorfge­meinden unbesehen geglaubt und eifrigst kommentiert. Noch immer erregt es Auf­sehen, wenn die Ra­dioreporter mit ihrem Repor­tagewagen durch die Gegend fahren und fürs Jornal da Regional In­terviews aufnehmen, um den Gründen für Trink­wasserverseuchung, Viehsterben, unhalt­bare Zustände in Schul- und Gesund­heitswesen auf die Spur zu kommen, oder über undurchsich­tige Winkelzüge ir­gendwelcher Lokalpo­litiker berichten. Und wenn die Bewoh­nerInnen der betrof­fenen Gemein­den am nächsten Tag gar ihre eigene Stimme im Radio hören, sind die Alltags­sorgen we­nigstens für einige Minu­ten vergessen.
Der erste Schritt zu
neuem Selbstbewußtsein
“Für die Leute hier im Nordosten ist es unglaublich wichtig, ihre Stimme im Ra­dio zu hören. Solange sie sich erinnern können, wer­den sie von Großgrundbesit­zern ausge­beutet, von Politikern in Wahl­zeiten als billiges Stimmvieh benutzt und ansonsten mit Armut und Hunger al­lein gelassen. Jetzt hört ihnen endlich mal je­mand zu und gibt ih­ren Sorgen und Pro­blemen eine öffentliche Stimme. Endlich können sie von sich und ihren Festen er­zählen und ihre eigene Musik hö­ren, und das ist schon der erste Schritt zu einem neuen Selbstbe­wußtsein”, so Pedro Paulo zur Bedeu­tung des Radios.
Der kleine Sender gibt sich in der Tat sehr volksnah. Die Ein­gangstür steht den gan­zen Tag lang offen. Wer immer eine An­zeige aufgeben oder eine Veranstaltung ankündigen möchte, wer Informa­tionen über Impfkampagnen, anstehende Volks­feste, Streiks oder an­dere wichtige Ereig­nisse weitergeben oder erfragen will, oder ein­fach nur auf ein Schwätzchen vorbei­schaut, der findet im Rádio Re­gional of­fene Ohren.
An den Montagen, wenn der Wochen­markt von Cí­cero Dantas die Be­woh­nerInnen aus den umliegenden Ge­meinden an­lockt und überall Menschen durch die sonst stillen Gassen der ver­schlafenen 15.000-Einwohner-Stadt wu­seln, übt das Radio eine magne­tische An­ziehungskraft aus. Dann drücken sich Kinder und Er­wach­sene dutzendweise die Nasen an der großen Glasscheibe des Sende­studios platt. Das ist die Gelegen­heit, endlich ein­mal die Lieb­lingsmoderatorin oder den Nachrichten­sprecher, von denen sie häu­fig nur die Stimmen kennen, live in Aktion zu erle­ben. Auch für das Radioteam ist der Montag immer besonders hektisch. Denn dann heißt es: raus auf den Marktplatz mit Mikrofon, Aufnahmegerät und transporta­blem Mischpult, um die neuesten Nach­richten über Preis­steigerungen, Ernte- und Vermarktungsprobleme und was es sonst noch Wichtiges aus dem bäuerlichen All­tag zu berichten gibt, di­rekt aus dem Marktgeschehen zu übertragen.
Neben dieser allwöchentlichen Attraktion lebt das Wortprogramm von Rádio Regio­nal hauptsächlich von kurzen, in den “Musikteppich” eingeschobenen Beiträ­gen, deren Themen sich um Gesundheits­vorsorge und Erziehungsfragen, um die Zubereitung von Hausmitteln aus hei­mischen Kräutern oder um Tips für pesti­zidfreien Gemüseanbau dre­hen. Einmal pro Woche berichten Mitglieder der Land­arbeitergewerk­schaften aus der Re­gion über Fortschritte und Rückschläge im Kampf um bessere Lebensbedingungen für die Bauernfamilien und nutzen die In­frastruktur des Radios zur Mobilisierung ihrer Mitglieder. Al­lerdings müssen auch die Gewerkschafter – wie alle anderen Normal­sterblichen aus der Region – für die Benutzung von Fax, Telefon oder Ko­piergerät einen kleinen Kostenbeitrag ent­richten. Die Zeiten, in denen die “Rádios Populares” – die Volksradios – linken Ge­werkschaften und Volksorgani­sationen als kostenlose ideologische Sprachrohre dien­ten, sind für den Befrei­ungstheologen Pedro Paulo vorbei.
Das Konzept von Rádio Regional, das in Zusammenarbeit mit dem la­teinameri­kani­schen Radionetzwerk ALER entwickelt wurde, entspricht wohl am ehe­sten einem volksnah arbeitenden Dienst­leistungs­betrieb. “Wir machen Radio für und mit der gesamten Bevölkerung, und damit meine ich vor allem die breite Masse der verarmten Landbevölkerung und nicht nur die organisierten Gruppen des ‘Movimento Popular’. Un­ser Hauptan­liegen ist die Stärkung der Volkskultur.” Das ist auch der Grund, warum ein Groß­teil des Mu­sikprogramms von Forró und Sertanejo-Musik, der Volksmusik des bra­silia­nischen Nordosten, be­stritten wird. Lokale Musikgruppen und Volksdichter geben sich die Türklinke des Aufnahme­studios in die Hand, um die Rhythmen von San­fona (Ziehharmonika), Sabumba (Blech­trommel) und Gitarre live ins Pro­gramm einzuspielen oder selbstverfaßte Gedichte darzubie­ten.
Wettbewerbe, in denen die HörerInnen ei­gene Geschichten und Lieder zum Besten geben, gehören ebenso zum Programm wie die Lieder der repentistas, Stegreif­musikern, die in ihren Spontankompo­sitionen von alltäglichen Ereignissen aus dem Leben der Menschen im Nordosten bis hin zur Weltpolitik alles kommen­tieren, was für ihr Publi­kum in­teressant sein könnte.
Keiner aus dem neunköpfigen Team von Radio Regional hat jemals eine reguläre Ausbildung in Tontechnik, Werbeakquisi­tion oder Radiojournalismus absolviert. Wie üblich in den Radios Populares haben auch die jungen MitarbeiterInnen von Rá­dio Regional ihr Handwerk irgendwo und irgendwann in der Praxis erlernen müssen. Sie wurden einfach ins kalte Wasser der Sendepraxis geschmissen und mußten von einem auf den anderen Tag die Regler im Sendestudio bedienen und auch noch selbst moderieren. Viel Zeit für inhaltliche Diskus­sionen hat es nie gegeben. Daß deshalb nicht jedes gesendete Wort auf die Goldwaage gelegt werden darf, versteht sich von selbst. So kann es schon mal vorkommen, daß dem Nachrichtenredak­teur, der die wöchentliche Debattensen­dung zu aktuellen Themen der Lokalpoli­tik moderiert, die Diskussion mangels journalistischem Know How und “ideolo­gischer” Klarheit ent­gleitet und die falsche Seite, beispiels­weise ein Vertreter der Volksbewegungen, in die Pfanne ge­hauen wird. Derlei Aus­rutscher sind aller­dings selten und werden in der nächsten Sen­dung mit Gegendar­stellungen wieder kor­rigiert. “Niemand ist perfekt”, meint der Radioleiter lakonisch. “Es hat vier Jahre harte Arbeit gebraucht, bis aus neun jun­gen Leuten ohne jegliche Radioerfah­rung und teilweise nur mäßiger Schulbil­dung ein eigenverantwortlich ar­beitendes Ra­dioteam wurde, das sich nicht mehr von jedem halbwegs sprachge­wandten Lokal­poli­tiker einschüchtern läßt.”

25 Jahre “Tropicália”

Die Produzenten kündigten Gil und Cae­tano mit einem “akustischen Konzert” an. Die Anweisung, das Publikum möge doch während des Konzerts sitzenbleiben, wi­dersprach den Erwartungen und dem Temperament der Exilgemeinde. Dennoch kam der Nationalstolz – gelegentlich uner­bittlich und hemmungslos – zum Aus­druck. Eine kulturelle Identität wurde her­ausgesungen. Eine Identität, die immer auf dem Prüfstein steht und die viel den immer neuen Varianten dessen schuldet, was sie schon immer war und weiterhin sein wird – “Tropicália”.
Zur allgemeinen Überraschung blieben fast alle sitzen, erst nach der Zugabe ex­plodierten die Begeisterungsstürme über die vierfache Weltmeisterschaft. Die Be­sucher hatten Fahnen, Rhythmusinstru­mente und Trommeln mitgebracht, die aber nur zwischen den Stücken den Ap­plaus anheizten. Getanzt wurde wenig – zu Freud oder Leid der ZuhörerInnen, wie bei jeder anderen Vorstellung der beiden Mu­siker. Alte und neue Klassiker wie “Avenida Sao Joao” oder “O Haiti é aqui” wurden im Chor von Sao Paulo nach Ba­hia getragen. Andere wurden von Caetano und Gil selbst von einem Ende zum ande­ren, von Süden nach Norden angestimmt, wobei sie einander abwechselten und das Publikum zum mitsingen animierten.
Ein magischer Moment des Konzerts war sicher der afro-brasilianische “Jodler” von Gilberto Gil. Ein spiritueller Widerhall, der bis in die Seele vordringt – durch Kontinente und Jahrhunderte hindurch. Gemeinsames Solo. Eine Wiederbesin­nung auf die Vorfahren, ein Kreisen um die Sterne. Ein Gefühl, als ob diese Zele­brierung der Stimmen plötzlich das Uni­versum in einen Klangraum für ein sehr langes Echo verwandelt. Ein in sich ge­schlossenes Verständnis von sich und der Welt, in dem die Ursprünge des Kosmos offenbar werden, losgelöst von dem Teil der Welt, in dem wir uns befinden. Diese ästhetische Erfahrung bringt auf den Punkt, was Gilberto Gil für die brasiliani­sche Musik und Kultur überhaupt ist.
Die Bedeutung von Caetano läßt sich vielleicht mit Hilfe einer kleinen Anek­dote aus dem Konzert beschreiben: Gil lädt einen Musiker aus dem Publikum spontan auf die Bühne ein. Irgendwann deckt dann eine brasilianische Fahne Caetanos Gesicht zu, das für einen langen Augenblick erstarrt. Caetano rührt sich nicht, bis man ihm die Fahne abnimmt. Ohne aus der Fassung zu geraten verwan­delt er den Zwischenfall in seine und nur seine Performance. Unter dem brasiliani­schen Banner, das sein Gesicht verdeckt hatte, hinterläßt er den Sarkasmus und das Rästel seines Lächelns.
Es ist bekannt, wie gut er die Bühne be­herrscht: Caetano Veloso der Begnadete, das enfant terrible. Anlaß für unzählige Interviews und wissenschaftlicher Ab­handlungen. Doch seine einzigartige und widersprüchliche Persönlichkeit kann ei­gentlich nur durch die Texte seiner eige­nen Musik ergründet werden: “Wenn du eine unglaubliche Idee hast, mach’ am be­sten ein Lied daraus – es ist bewiesen, daß Philosophieren nur auf Deutsch möglich ist.”
Caetano war zweifelsohne der Motor der tropikalistischen Bewegung. Er bedient sich der konkreten Poesie nicht nur für den Samba, oder bietet Fados, Tangos und Rock’n Roll. Er geht zurück zu den An­fängen von Oswald de Andrade und ver­körpert die kulturelle Identität der Anthro­pophagie. Eine Anthropophagie, die für die Einverleibung aller nur möglichen Einflüsse steht und sich nicht in der politi­schen Metapher “eat the rich” erschöpft. Die “Tropicália” wurde für sich politisch, weil sie aus der Kunst entstand. Mehr als bloße Metapher, entspringt die Anthropo­phagie, die Caetano wieder aufleben läßt, aus dem brasilianischen “Wilden Den­ken”. Reines Stückwerk: “Kaugummi mi­sche ich mit Banane”. Dieses Manifest, gemeint ist das “Anthropophagische Ma­nifest” von Oswald de Andrade, das am Beginn der Verquickung der städtischen und ländlichen Kultur steht, wird inner­halb des Landes nur selten verstanden, noch weniger allerdings außerhalb der Tropen.
Man muß sie sich erst vor Augen führen, die ständige Erneuerung des Populären und seiner Rhythmen: in der Literatur der Avantgarde (von Oswald de Andrade bis Paul Leminsky), in der ernsten Musik, in der Pop- und Folk-Musik. Es ist daher nicht verwunderlich, daß viele der anwesenden Deutschen die Dimension der Darbietung nicht zu verstehen schienen.
Caetano ist auch “blanker Ruhm”. Das je­denfalls behauptet er selbst und verab­schiedet sich damit von der Wiege seiner Lieder. Caetano, Vater dreier Kinder: “Ich bin ein Schwindler; drittes Geschlecht, dritte Welt, drittes Jahrtausend”. Es gibt in Brasilien keine andere berühmte Person, die so viele persönliche Deklarationen macht, ohne ihre Intimsphäre preiszuge­ben.
Er ist eine vielseitige Persönlichkeit, manchmal zwiespältig und sich seines Größenwahns bewußt. Ein Anarchist-Su­perstar, Sohn eines Heiligen des Candom­blé, der die religiöse Unterdrückung der sexuellen gleichsetzt. Caetano hat keine Gelegenheit ausgelassen, seine radikale politische, musikalische und parteiische Unabhängigkeit zu demonstrieren. Im po­litischen Exil stößt er die Linken vor den Kopf, indem er Nietzsche zitiert: “es ist notwendig, die Starken vor den Schwa­chen zu beschützen”.
Wenn er in Liedern wie “Haíti nao é aqui” von Rassismus oder auch in seinen poe­tisch-politischen Manifesten über Stra­ßenkinder und Aids singt; gegen “…Schürzenjäger, in Krawatte oder Prie­stergewand”, ist er immer weit entfernt vom nur Plakativen, von alten Stereotypen und Geschichten “vom Arsch der Welt”. Es sind musikalische Abhandlungen, auch über die Anthropophagie, über “die selben alten Menschen”: “Amerikaner fühlen, daß etwas verlorengegangen, am Zerbre­chen ist”. Seine Rolle ist heute immer noch die des Provokateurs, des Künstlers jenseits der schnellen Antworten, dessen, der die tau­sendjährigen Fragen noch ein­mal stellt. Caetano ist die narzißtische Sphinx des Textes und der Musik und durch all seine undefinierbaren Verknüp­fungen der re­gional-kosmopoliten brasi­lianischen Kul­tur … unerschöpflich.

OLODUM – MEHR ALS MUSIK

LN: Wie definiert Ihr Eure Musik?
Joao Jorge: Den Rhythmus nennen wir Samba-Reggae, eine Mi­schung aus tradi­tionellem Samba mit Reggae und politi­schen Botschaften. Die Musik ist eine Synthese der afrikanischen und brasiliani­schen Kultur mit der Utopie auf ein an­deres Brasilien.
Verfolgt Ihr mit der Musik bestimmte Ziele?
Die Musik Olodums ist zur Erholung und zur Bildung des poli­tischen Bewußtseins da; sie ist religiös und gefühlvoll. Es wer­den verschiedene Aspekte des Lebens be­handelt. Sie verurteilt die Politiker, die die Schwarzen diskriminieren, beschreibt un­sere historischen Persönlichkeiten wie Lampiao, Maria Bonita, die Königin von Saba, den Pharao von Ägypten usw. Zugleich ist sie eine Botschaft der Hoff­nung.
Euer Lied “Avisa lá” wird auch von Gil und Caetano auf ihrer LP “Tropicália 2” interpretiert. Wie sind Eure Kontakte zu den “quatro baianos” Gil, Caetano, Ma­ria Bethania und Gal Costa?
Gil ist seit vielen Jahren ein Weggenosse im antirassistischen Kampf, und auch Caetano hat sich in den letzten Jahren den Ideen Olodums angeschlossen. Das Thema des Karnavals 1994 war der Tropi­calismo, den sie begründeten. Caetano Veloso be­teiligte sich zusammen mit Ro­berto Beto, unserem Kunstdirektor, an den Kostümen (fantasias). Wir führten Blocos de Indios auf, die an die 70er Jahre erin­nerten. Gal Costa hat Revolta do Olo­dum aufgenommen und Bethania hat von Cae­tano Reconverso gespielt, ein Lied, das von Bahia handelt und fragt “wer hat noch nicht Olodum im Pelourinho spielen gese­hen?”.
Die Beziehung zu ihnen ist eng, obwohl es damals in Bahia zwei verschiedene Wege von Widerstand gab. Caetano, Gil, Gal Costa und Maria Bethania leisteten mit ihrer künstlerischen Konzep­tion der Diktatur Widerstand. Sie verließen sehr früh Brasilien und produzierten weiterhin brasilianische Musik von hoher Qualität. Unsere Situation war schwieriger, weil wir in Brasilien blieben und die Diktatur am eigenen Leibe erlitten. Wir haben eine eigene Vorstellung von Philosophie, Kunst, Kultur und Wi­derstand; dem Wi­derstand der Jugendlichen, die in den 70er Jahren Brasilien nicht verlassen haben und die afrikanische und karibische Kultur mit dem antirassistischen Kampf verban­den.
Was sagt Ihr zu dem Vorwurf, Eure neueste LP sei zu kommer­ziell gewor­den?
Olodum ist eine populäre Gruppe, die für alle verständlich sein soll. Die Musik, die wir jetzt machen, ist zugänglicher als frü­her. Vorher sprachen wir von Dingen, die ohne genauere Kenntnisse schwierig zu verstehen waren. Z.B. spielen wir ein Stück über die Pharaonen. Heute sagt Olodum etwas über die Welt aus, in der wir uns befinden, wo vieles zum Leben fehlt und die Politiker betrügen. Jetzt ist es direkter. Wir machen Musik, die von mir, dir und dem politischen Alltag handelt. Wir benutzen mehr portugiesisch, wäh­rend wir früher in afrikani­schen Sprachen, wie Yorubá (Benin, Nigeria) sangen, die nicht jeder verstand. So sehr wir auch po­litisieren möchten, haben wir die Aufgabe, Menschen zu sein. Wir möchten in einer men­schlichen Welt leben anstatt in einer illusionären Welt aus Luft, die nur über politische Fragen redet. Wir haben viele Lieder über das Ende der Apartheid und über die Befreiung Nelson Mandelas ge­macht. Jetzt wurde Nelson Mandela be­freit und es gab Präsidentschaftswahlen. Was sollen wir machen, nicht mehr über die Armut in Südafrika reden? Olodum hat den künstleri­schen Weg einer lang­samen, schrittweisen Revolution einge­schlagen. Z.B. sind das Klavier und das Saxophon nicht Eigen­tum der Weißen, der Gelben oder der Schwarzen. Es sind In­strumente, die sich vor langer Zeit ent­wickelten. Jedes Volk kann sie benutzen und Musik mit ihnen machen. Eine 15 Jahre alte Gruppe ist zu jung, um in einem Bereich der künstleri­schen und menschli­chen Erfahrung gefangen zu bleiben. Wir müssen mit allem experimentieren: Schallplatten, Computer, Vi­deo, Aufnah­megerät. Wenn wir ein Konzert auf dem Mond geben könnten, würden wir es tun.
Welches sind Eure Ziele als Teil der Schwarzenbewegung?
Olodum ist wahrscheinlich das spektaku­lärste Element der bra­silianischen Schwarzenbewegung. Seit 1695, dem Ende des Qui­lombo de Palmares, gab es keine Organisation mit solcher Ener­gie zum Kampf und dessen Verbreitung. Als wir 1979 anfingen, gab es keine Organi­sation, die die Erfahrungen des Candom­blé und der Capoeira zusammenfasste. Olodum führt zusammen mit dem Movi­mento Negro Unificado, der Gewerkschaft und indiani­schen Gruppen den Kampf ge­gen die Apartheid und für Bür­gerrechte. Hauptziel von Olodum ist, die Anerken­nung der Schwarzen durchzusetzen. Wir müssen noch für viele Sachen kämpfen, die Schwarze in anderen Ländern schon haben. Wir haben keine schwarzen Mini­ster, keine schwarzen Generäle, keine schwarzen Ökonomen in Brasilien, Aus­nahmen gibt es im Fußball und der Mu­sik. Unser Ziel ist es, in Bereichen wie Han­del, Industrie, Universität, Armee, Politik präsent zu sein. Wir be­nutzen eine neue Form, die Politik, Kultur, Kunst und Erzie­hung mischt und das schwarze Selbstbewußtsein und den anti­rassistischen Kampf fördert. Der Zugang zu Olodum ist nicht auf Schwarze be­schränkt. Im Gegenteil, wir möchten, daß Nicht­schwarze an unseren Aktionen teil­nehmen. Wir handeln wie Mandela und der ANC: sie haben ein rassistisches Sy­stem be­kämpft und sich auf die Macht­übernahme vorbereitet. Als sie an die Macht gelangten, regierten sie mit allen. Unsere Per­spektive ist, an die Macht zu kommen und für alle zu regieren – nicht wie jetzt, wo die Minderheit der Mehrheit befiehlt.
Glaubt Ihr, daß dieser Weg mit Parteien zu gehen ist?
Wir beteiligen uns an keiner Partei. Dies muß ein Wunsch der Gesellschaft sein. Man braucht Parteien und die Zivilgesell­schaft, Kirche, Presse, Rechtsanwälte, Ar­chitekten, Ingenieure, Arbeiter, um das Land zu verändern. Es muß ein neues soziales Gespräch geben. Die heutigen Parteien, die Olodum fördern, sind linke Parteien, weil wir eine demokratische und progres­sive Organisation sind. Unsere Priorität liegt bei der PCB, PCdoB, PT und einigen Bereichen der PDT. Diese Parteien haben die gleiche Zielsetzung wie wir. Auch progressive Kräfte der Kir­che möchten das Elend und die Armut beenden. In Brasilien ist Rassismus durch die Ausbeutung der Frauen, der Armen etc. charakterisiert. Also müssen wir alle Betroffenen zusam­menrufen, um etwas dagegen zu tun.
Letztes Jahr hat Cristina Maria Santos Rodrigues (Präsidentin von Olodum 1983-1989) eine Kampagne gegen den Sextourismus initiiert.
Vor zwei Jahren gründete Cristina eine Frauengruppe zur Ver­teidigung der Rechte der Frauen. Als sie die Möglichkeit hat­ten, nach Deutschland zu kommen, erfuhren sie vom Frauen­handel mit Brasilianerinnen aus dem Nordosten, die durch fin­gierte Heiraten nach Europa kommen. Salvador und Recife sind die am stärksten betroffe­nen Städte, was die sexuelle Ausbeu­tung betrifft. Es wird versucht, auf Fälle auf­merksam zu ma­chen. Die Frauen haben es geschafft, die brasilianischen Frauen und Männer aufzurütteln, indem sie das Semi­nar Mae, Mulher e Maria initiiert haben. Es ist öffentlich für Frauen und Männer und Gäste von verschiedenen Orten und wird einmal im Jahr im Casa do Olodum veranstaltet.
Früher war der Pelourinho/Maciel der Platz, wo die schwarzen SklavInnen ausgepeitscht wurden. Ihr habt Euch diesen Platz zurückerobert. Heute gibt es das Problem der Sanierung vieler Häu­ser. Wie sieht der Kampf der Anwohne­rInnen aus, um in ih­ren Häusern zu bleiben?
Joel: Der Sanierungsplan der Regierung wurde ausgeführt: 80% des historischen Zentrums wurden bereits in vier Etappen sa­niert. Jetzt beginnt die fünfte Etappe in San Antônio, Pascoal. Pelourinho, Maciel, Terreiro de Jesus, Praça da Zé wurden schon restauriert. Die ehemaligen An­wohner mußten in Vororte umziehen. Sie benutzten die Entschädigungen, um ein Stück Land in der Peripherie zu kaufen, aber viele bekamen zu wenig Geld ausge­zahlt.
Die Sanierung des historischen Zentrums war in Wirklichkeit ein Plan des Gouver­neurs von Bahia, um Prä­si­dent­schaftskandi­dat zu werden. Nach der Sanierung ist er als Kandidat aufge­stellt worden. Eigentlich ist es ein wichti­ges Projekt gewesen, die historischen Häuser zu restaurieren, aber in das histori­sche Zentrum ist der Kommerz eingezo­gen. Die Bewohner sind vertrieben wor­den. Wir haben es nicht geschafft, gegen ein so starkes System anzukommen; nur einige kulturelle Treffpunkte, wie die Bar do Reggae, konnten erhalten werden. Die Finanzie­rung reichte nicht zur Beendigung der Sanierung aus. Es gibt noch immer viele Häuser, wo nur die Fassaden stehen. Die Straßenhändler sind jetzt marginali­siert und haben keinen Standort mehr, weil sich die bahianische Bourgeoisie in der Altstadt breitgemacht hat.
Welche Funktion hat die Escola Criativa do Olodum?
Joao Jorge: Die Escola Criativa do Olo­dum ist eines der wichtig­sten sozialen Projekte von Olodum. Letztes Jahr wurde ein al­tes Haus für die Schule im Pelou­rinho gekauft und mit der Sa­nierung be­gonnen. Heute wird sie von 350 Kindern zwischen 6 und 16 besucht. Verschiedene Kurse wie Percussion, Tanz, Portugie­sisch, Geschichte sowie Gesundheitsvor­sorge werden angeboten. Es wird eine “interethnische” Pädagogik benutzt, die von dem Bahianer Mauro Almeida ent­wickelt wurde und in­dianische, schwarze und europäische Erfahrungen mischt, ohne sie zu bewerten. Die Escola Criativa ist auch Partner des Pro­jektes Axé. Die musikalische Ausbildung schloß die Kinder von der Straße zusammen, die keine Straßenkinder sind. Wir neh­men alle Kinder, wir geben allen die gleiche Be­handlung, egal ob sie auf der Straße leben oder Familie haben. Im Moment be­findet sich die Kinderband, die Banda Mirim, in Port Bouin, Südfrankreich zu einem inter­nationalen Austausch mit französi­schen Jugendlichen, wo sie Französisch, Infor­matik und Video­technik lernen. Danach werden die französischen Jugendlichen nach Bahia fahren, um Percussion zu ler­nen.
Ihr habt jetzt einen Verlag gegründet, das erste Buch ist im Frühjahr erschie­nen. Was sind die Themen für die näch­sten Bücher?
Die nächsten Bücher werden für und über Kinder sein, z.B. ein Candomblé-Buch für Kinder, ein Buch über die Geschichte der Schule von Olodum und das politische und ideologische Enga­gement. Die Idee ist, Publikationen über afrobrasilianische The­men rauszugeben: Freiheit und Demo­kratie.
Vor einiger Zeit wollte die ganze Welt, daß es keine Mauer gibt. Viele wollten, daß der Kampf zwischen Palästinensern und Ju­den aufhört, wie auch die Apart­heid. Aber die ganze Welt denkt, daß es in Brasilien Gleichberechtigung gibt. Wir haben viele Gründe zu sagen, daß dies nicht zutrifft und es noch viel zu verän­dern gibt. Deshalb ist es wichtig, unsere Utopien und Träume ausdrücken zu kön­nen, damit die Menschen nicht nur sagen: dort gibt es Strände, Getränke, schöne Menschen und Karneval. Diese Sachen haben einen hohen Preis und wir sind die Opfer davon. Zwei unserer Mitglieder wurden von der ba­hianischen Militärpoli­zei angeschossen. Einem anderen wurde der Arm von der Militärpolizei gebrochen. Heute hat sich das Verhältnis zur Polizei durch die politische Macht von Olodum verändert. Doch nicht alle Brasilianer ha­ben die Möglichkeit, frei und ohne Bedro­hungen zu reden. Wir müssen trotz Äng­sten weiterkämpfen, bis wir unsere Ziele erreicht haben.

Jenseits des Staates?

Im Editorial weist Albrecht Koschützke darauf hin, daß die Autonomie der latein­amerikanischen Staaten (politisch und ökonomisch) seit jeher begrenzt war, die “Durchsetzung des neoliberalen Paradig­mas (…) jedoch eine extreme Form von außen induzierter Transformation der na­tionalen Gesellschaften mit einer offenbar weiterreichenden Eingriffstiefe” darstellt. Bietet der neoliberale Staat neue Frei­räume für die multinationalen Kapitale, ist seine nationale Autonomie nach dem Um­bauprozeß der achtziger Jahre noch stär­ker reduziert. Auch die Binnenreichweite des lateinamerikanischen Staates war tra­ditionell begrenzt. Er garantierte zumeist weder ein fächendeckendes Bildungs- und Gesundheitssystem, noch kümmerte er sich beispielsweise um die indianische Bevölkerung und die verarmten Massen.
Der Unterschied zu früher liegt darin, “daß die strukturellen Schwächen des Staates nunmehr zu Tugenden erklärt werden, daß die Vernachlässigung seiner sozialen Funktionen nicht mehr vorwerf­bar, sondern lobenswert, weil freiheits­stiftend ist, daß nur rudimentäre staatliche Dienstleistungsangebote statt als Defizit jetzt zum Ziel deklariert werden, kurz, be­stehende Not wird in eine Chance zur Entwicklung umgelogen. Praktisch heißt das: Der immer schon miserable Staat wird noch miserabler; er liquidiert Hoff­nung, Erwartungen, Rechte und Ansprü­che auf Zukunft und Entwicklung gerade für jene, deren eigene materielle Kraft schon bisher nicht ausgereicht hat, indivi­duell Armut, soziale Ungerechtigkeit und Unterentwicklung erfolgreich anzugehen und die jetzt auf die Chancen des Wett­bewerbs und des Marktes reduziert werden.”
Die negativen Auswirkungen der Privati­sierung staatlicher Funktionen beschreibt Thomas Fatheuer in seiner Analyse der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro: Ganze Stadtviertel werden von Drogen­banden, Glücksspielkartellen und Todes­schwadronen kontrolliert. Das Problem ist hierbei, wie so oft, jedoch weniger die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols – die Polizei wird von den BewohnerInnen der Favelas eher als Bedrohung denn als Schutz gesehen und ist zudem mit den Strukturen privater Gewalt “symbiotisch verwachsen” -, sondern ganz allgemein die Macht der Gewalt über die Gesell­schaft. Auch jenseits des Gewaltmonopols werden die staatlichen Aufgaben wie Bil­dungs- und Gesundheitssystem zuneh­mend privatisiert und von Drogen- und Glücksspielbossen übernommen. In der tiefgreifenden sozialen Krise bilden sich laut Fatheuer “neue Formen einer sich barbarisierenden gesellschaftlichen Ver­mittlung, die vielleicht, und das ist das Bestürzende, gar nicht so schlecht funk­tionieren.” Vor allem aber wirken sie sy­stemstabilisierend, begünstigen “autoritäre und faschistische Antworten” und er­schweren den Aufbau basisorientierter Alternativen innerhalb der Favelas.
Daß der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und der Abbau der staatlichen Regulierungsfunktionen auch Chancen bietet und die politische Organisierung der Betroffenen fördern kann, zeigt Juliana Ströbele-Gregor an­hand des Hoch- und Tieflands Boliviens. Der (Wieder-)Aufbau basisorientierter Entscheidungsstrukturen und Organisatio­nen der indianischen Landbevölkerung in den achtziger Jahren resultierte aus der Notwendigkeit, der Austeritätspolitik der bolivianischen Regierungen zu begegnen, wurde aber auch durch die neuen Frei­räume erleichtert, die der Rückzug von “Stiefvater Staat” schuf. Der unabhängige Organisierungsprozeß beförderte gleich­zeitig ein neues Selbstbewußtsein und die Besinnung auf die eigenständige kulturelle Identität und Tradition der indianischen Bevölkerung. Zwei Faktoren spielten in diesem Prozeß eine bedeutsame Rolle: die Führungspersönlichkeiten und die Nicht­regierungsorganisationen (NGOs). Hatten erstere als “soziale Grenzgänger” eine wichtige Funktion als “Mittler von Ideen, Werten, politischen Vorstellungen und Kontakten” nutzten die Basisorganisatio­nen die NGOs insbesondere zur Finanzie­rung notwendiger Projekte und Hilfsmaßnahmen. Dabei erwies sich die massive Ausbreitung der NGOs nicht nur als posi­tiv: mit der Macht des Geldes korrum­pierten sie Führungspersönlichkeiten und zerstörten gewachsene Dorfstrukturen.
Diese Ambivalenz der NGOs in ganz La­teinamerika diskutiert Albrecht Koschützke in seinem Artikel über “Die Lösung auf der Suche nach dem Problem: NGOs diesseits und jenseits des Staates”. Waren diese in den Jahren der Diktatur in vielen lateinamerikansichen Ländern oft dem antidiktatorialen Kampf verpflichtet und nicht selten ein Refugium für Oppo­sitionelle, veränderten sie sich mit dem Redemokratisierungsprozeß der frühen achtziger Jahre und übernahmen oft die Aufgaben, die der neoliberale Staat nicht mehr zu erfüllen bereit war – während der Staat “immer weniger Staat wird und sich qua Privatisierung schrittweise auf reine Vermittlerfunktionen reduziert, also ten­denziell einer NGO ähnlich wird”. Ohne die Bedeutung der NGOs, die seit den achtziger Jahren einen riesigen Boom er­leben, in vielen Teilbereichen in Frage zu stellen, kritisiert Koschützke die verbrei­tete Meinung, daß diese per se effizient, kostengünstig, uneigennützig, demokra­tisch und basisnah seien. In der Realität bilden sich durch den expandierenden Hil­femarkt vielmehr neue Abhängigkeiten. Zudem bestehe die Gefahr, daß die NGOs, statt demokratisches Bewußtsein, Erfah­rung und Organisierung zu fördern, in der Praxis insitutionelle und soziale Prozesse demokratischer Teilhabe untergraben.
Aus einer ganz anderen Perspektive unter­sucht Lothar Witte den Privatisierungs­prozeß der letzten Jahre: Anhand der Re­form der Sozialversicherung in Chile, Peru und Kolumbien macht Witte deut­lich, daß die Ausformung der notwendi­gen Veränderungen in hohem Maße von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt. Das “chilenische Modell”, das während der Diktatur realisiert wurde, trägt vor allem den Interessen des Privat­kapitals Rechnung. Die kolumbianische Reform berücksichtigt zumindest zum Teil auch die sozialen Interessen der ein­kommensschwachen Versicherten. Vor allem aber zeigt Witte – dem das Ver­dienst gebührt, ein so trockenes Thema wie eine Versicherungsreform anregend und anschaulich dargestellt zu haben -, daß weder ein staatliches System automa­tisch sozial gerechter, noch ein privates effizienter ist.
Hans Petter Buvollen und Robert Große zeichnen den schwierigen und wider­sprüchlichen Autonomieprozeß an der ni­caraguanischen Atlantikküste nach. Histo­risch von der Zentralregierung in Mana­gua kaum beachtet, begann erst die sandi­nistische Regierung Anfang der achtziger mit dem verstärkten Aufbau staatlicher In­stitutionen und Entwicklungsprogramme – und machte vieles falsch. Nachdem sich insbesondere die Miskito dem bewaffne­ten Widerstand gegen die Revolutionsre­gierung angeschlossen hatten, initiierte die FSLN einen Verhandlungsprozeß, der 1987 in die Verabschiedung eines Auto­nomiegesetzes mündete. Der Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen und politi­schen Interessen der Zentralregierung und den BewohnerInnen der Atlantikküste, zwischen Staat und Gesellschaft, wurde allerdings bis heute nicht gelöst. Die At­lantikküste ist noch immer “Spielball von Kräften, die außerhalb der Region liegen”.
Den Schwerpunkt des Jahrbuchs be­schließt eine – bereits in den Lateiname­rika Nachrichten Nr. 241/242 vorabge­druckte – sehr persönliche Einschätzung von Ingrid Kummels über die Gleichzei­tigkeit von Sozialismus, Kapitalismus und Santería für die Menschen in Kuba. In Ge­sprächen mit FreundInnen und Familien­mitgliedern hat Kummels festgestellt, wie in den letzten Jahren der ökonomischen Krise die Santería für die Menschen zu ei­nem wichtigen Bezugspunkt ihrer All­tagskultur “jenseits des sozialistischen Staates” wurde. Auch die Regierung hat ihre rigide Haltung gegen diese Volksreli­gion in den achtziger Jahren gelockert: “Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklori­sierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen.” Doch die AnhängerInnen der Santería entzogen sich auf ihre eigene Art dieser Funktionalisierung.
Insgesamt bietet der Schwerpunkt des diesjährigen Jahrbuchs einen interessanten Einblick in die Prozesse, die jenseits des (neoliberalen) Staates vor sich gehen. Er­freulicherweise werden nicht nur die ne­gativen Auswirkungen der neoliberalen Restrukturierung analysiert, sondern auch die Chancen berücksichtigt, die der Rück­zug des Staates bietet. Dies hätte aller­dings noch vertieft werden müssen: Wie in dem Beitrag von Juliana Ströbele-Gregor über die Bauernorganisationen in Bolivien deutlich wurde, sind die sozialen Bewegungen entscheidende Akteure, um der neoliberalen Transformation Wider­stand entgegenzusetzen. Auf sie wird al­lerdings kaum eingegangen. Hier hätte sich – ähnlich dem Beitrag über die NGOs – ein Überblick über die sozialen Bewe­gungen in Lateinamerika angeboten.
Abgerundet wird das Jahrbuch wie in je­dem Jahr durch Länderberichte: Diesmal über Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Gua­temala, Kuba, Mexiko und Peru. Wer keine brandaktuellen Informationen er­wartet – Redaktionsschluß war bereits im April -, wird auch diese Berichte mit Ge­winn lesen.

Jenseits des Staates?. Lateinamerika – Analysen und Berichte 18, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Horlemann Verlag (Bad Honnef), 278 Sei­ten, 29,80 DM, ISBN 3-89502-008-7

Cardoso auf dem Weg ins Präsidentenamt

Plano Real als Königsmacher
Die Antwort ist relativ einfach: Der Erfolg des neuen Wirtschaftsplans ist die primäre Ursache für den Aufstieg von Fernando Henrique Cardoso oder FHC, wie er in Brasilien häufig genannt wird. Dessen Karriere als aussichtsreicher Präsident­schaftskandidat begann im Oktober 1993 als Wirtschaftsminister in der Regierung Itamar. In diesem Amt legte er die Grundlagen für einen neuen Stabilisie­rungsplan, der die zuletzt bei 45 Prozent pro Monat liegende Inflation eindämmen sollte. Aber diesmal war es kein über Nacht erlassener Schockplan, sondern ein transparentes, ausgehandeltes Vorgehen ohne Überraschungen. Cardoso konnte als Wirtschaftsminister nur die Grundlagen für diesen Plan legen, aber dies reichte schon aus, um ihn in den Augen vieler als einzige realistische Alternative zu Lula er­scheinen zu lassen. Im April 1994 mußte FHC aufgrund der brasilianischen Wahl­gesetze sein Amt niederlegen, um offiziell seine Kandidatur für die PSDB – die sich gern als sozialdemokratische Partei Brasi­liens sehen würde – anzumelden. Die Exe­kution des Planes blieb seinem Nachfolger, dem Karrierediplomaten Re­cupero vorbehalten. Am 1. Juli, während der Fußball-WM, trat der Plan in seine entscheidende Phase. Die neue Währung Real ersetzte den maroden Cruzeiro. Wäh­rungsreformen sind in Brasilien allerdings keine Neuigkeit. Der Real ist die siebte Währung Brasiliens seit 1987. Diesmal wurden zwar nicht nur wie sonst lediglich drei Nullen gestrichen und der Name ge­ändert. Die neue Währung ist an den US-Dollar gekoppelt und die Zentralbank ga­rantiert, daß ein Real nicht weniger als ein Dollar wert sein kann. Diese Umstellung einer Wirtschaft, die weit weniger “dollarisiert” war als etwa die argentini­sche vor einer ähnlichen Operation, wurde durch die Einführung einer Rechnungs­einheit (ein URV = ein Dollar) vorberei­tet. Damit sollten die BrasilianerInnen an ein neues und stabiles Preisniveau ge­wöhnt werden. Am 1. Juli wurde schließ­ich die größte Währungsumstellung in der Geschichte der Menschheit eingeleitet, so die brasilianische Presse. Innerhalb von nur zwei Wochen wurde die alte Währung aus dem Verkehr gezogen und durch die neuen “Reais” ersetzt. Verständlicher­weise kam es am Anfang zu einigen Um­stellungsschwierigkeiten. Hilflos standen die BrasilianerInnen an den ersten Tagen des Planes vor den neuen Preisen in den Supermärkten und versuchten mit Tabellen und Taschen­rechnern zu ermit­teln, wieviel denn etwa 53 centavos für eine Dose Erbsen seien. Der am letzten Tag des Junis fixierte Umtauschkurs zum Cruzeiro von 1:2750 erleichterte die Rechnerei nicht gerade. Ungewohnt war auch der Umgang mit Münzen, die auf­grund der hohen Inflation fast vollkom­men aus dem Gebrauch ge­kommen waren. Insgesamt vollzog sich nach diesen An­fangsschwierigkeiten die Umstellung aber erstaunlich reibungslos.
Stabile Preise =
Steigende Popularität
Nach zwei Monaten kann nun ein erstes Fazit gezogen werden. Der Wirtschafts­plan hat in den von seinen Schöpfern vor­gegebenen Koordinaten funktioniert. Praktisch alle Preise, mit denen die Nor­malbürgerInnen alltäglich konfrontiert werden, sind seit Inkrafttreten der neuen Währung stabil geblieben. Die Preise für Brot und Reis sind sogar gesunken. Wäh­rungsstabilität ohne Preisstop, das ist schon ein kleines Wunder in Brasilien. Aller­dings wurden die Preise in der Regel auf einem sehr hohen Niveau in den Real um­gewandelt, während für die Löhne ein Mittelwert von vier Monaten zugrunde gelegt wurde. Am Anfang hielten sich die Klagen über hohe Preise und die Zufrie­denheit mit der Stabilität die Waage. Be­günstigt wurde der Plan durch einen inter­national schwachen Dollar und steigende Kaffeepreise. Überraschend fiel der Dol­larkurs auf 0,89 Real, also weit unter der von der Zentralbank garantierten Parität. Aufgrund des hohen internen Zinsniveaus besteht weiterhin eine hohe Nachfrage auch internationaler AnlegerInnen nach dem Real, was zu dem Verfall des Dollar­kurses führte. Zudem explodierten die Börsenkurse sobald sich der Aufstieg Cardosos in den Umfragen abzeichnete. Unruhe machte sich allerdings in der Re­gierung breit, da der offizielle Inflations­index noch für August einen Wert von 5,5 Prozent anzeigt. Seitdem ist ein Streit um die verschiedenen Indices entbrannt, die alle andere Inflationsraten im Spektrum von von 0 bis 8 Prozent angeben. Die Re­gierung ar­gumentiert, ihr Index spiegele noch die In­flation in Cruzeiro wieder, die Inflation sei also “residual” und nicht ak­tuell. Tatsäch­lich nähern sich Indices, die nur die Ver­braucherpreise nach Einfüh­rung des Reals berücksichtigen, der 0 Pro­zent Marke. Lediglich saison-bedingtes Ansteigen der Obst- und Gemüsepreise wirken sich hier negativ aus.
Der Plano Real erweist sich bisher als ein technisch recht solider Stabilisierungsplan ohne soziale Komponente. Er ist bewußt nicht mit einem Kaufkraftanstieg oder ei­ner Lohnsteigerung verknüpft, um nicht durch eine “Konsumexplosion” die Preis­stabilität zu gefährden. Auf der anderen Seite erweist sich der Plan bisher nicht als rezessiv. Das brasilianische Bruttosozial­produkt wird dieses Jahr wohl um 3 bis 4 Prozent wachsen. Die Anpassung der Preise auf hohem Niveau dürfte für die unteren Einkommensgruppen durch den Wegfall der Inflationsverluste zumindest annä­hernd kompensiert werden, zumal der Mindestlohn zum 1. September von 64 auf 70 Real anstieg. Längerfristige Struktur­schwierigkeiten, die vor allem mit dem Problem der internen Verschuldung zu tun haben, werden sich wohl erst nach den Wahlen einstellen. Auch ist zu fragen, wie lange eine Wirtschaft ein so hohes Real­zinsniveau (etwa 20 Prozent pro Jahr) durch­halten kann. Hier bleibt Brasilien ein Son­derfall einer entwickelten kapitalisti­schen Ökonomie, die fast ohne Kredit funktio­niert.
Ein neuer Optimismus
im Land der Weltmeister
Fernando Henrique Cardosos Popularität wuchs mit und aufgrund des Planes. Des­sen bescheidene und zunächst kurzfri­stige Stabilisierungseffekte haben das Land zwar nicht wie zu den Zeiten des Cruzados in Euphorie versetzt, aber neuen Optimismus wachsen lassen. Da paßte der Gewinn der Fußball-WM gut in die Land­schaft. Die Regierungspropaganda ver­sucht dies auch direkt auszuschlachten: “Wir haben in der WM gesiegt. Nun wer­den wir die Inflation besiegen”, verkünden riesige Plakate allerorten. Der Sieg von Romário und Co. hat das alte Gespenst be­siegt, daß dieses Land einfach zur Er­folgslosigkeit verurteilt sei. Und wie der Erfolg im Fußball nicht den Glanz der Zeiten Pelés wiederbelebte, so ist man in der Politik mit einem Plan zufrieden, der zwar nicht alle Probleme des Landes löst, aber doch ein Stückchen Stabilität bringt. Fernando Henrique versucht mit jeder Fa­ser seines Körpers, insbesondere aber mit seinem Gebiß, diesen neuen Optimismus in Szene zu setzen. Ein lachender und heiterer Kandidat, kaum einmal agressiv gegen seine Gegner, eher mild mitleidig. So präsentiert sich der alte Dependenz­theortiker heute als Protagonist eines breiten Bündnisses, das inzwischen einen guten Teil des Rechten Lagers absorbiert hat. “Er übermittelt die Idee von Sieg, Größe, Glück und Essen im Magen. Der andere (Lula), verkörpert die schmerzhafte Wunde, das Bild des Hungers. Lula ist hervorragend in seiner Analyse. Aber das Volk will keine Analysen hören. Es will Lösungen spüren, an die es glaubt.” So charakterisiert der Politologe Gaudencio Torquato den Gegensatz zwischen Lula und FHC.
Im Land des real existierenden Hungers scheint tatsächlich die schwam­mige Idee eines neuen Aufschwungs eine ausrei­chende Grundlage zu geben, um einen Präsidenten zu wählen. Oder wie es der Filmemacher Caca Diegues (“Bye, Bye Brasil”) formulierte: “Wir lernen wieder Brasilien zu mögen.” Gegen das Sieger­image von Cardoso ist Lula immer­hin überhaupt noch der einzige Kandidat, der ernsthaft Widerstand leistet. Alle anderen, wie Brizola oder Quercia, düm­peln aus­sichtslos bei der 5 Prozent Marke herum, genauso wie der erzreaktionäre Po­li­tik­clown Eneas mit dem Hauptslogan: “Mein Name ist Eneas”.
Die Antwort der PT:
Klagen und Kampf
Der plötzliche Aufstieg des Fernando Henrique hat Lula und seine Arbeiterpar­tei (PT) auf falschem Fuße erwischt. Im Mai hatte die PT noch Hoffnungen ge­hegt, bereits im ersten Wahlgang zu ge­winnen, und unter den Anhänger machte sich eine siegessichere Stimmung breit. Auf der Suche nach den Ursachen für den Niedergang beschuldigt die PT vorwie­gend die Medien, allen voran den dominieren­den Fernsehsender Globo, massiv FHC zu unterstützen. Ebenso kriti­siert sie, daß der Regierungsapparat durch die Propaganda für den Plan mehr oder weniger offen in den Wahlkampf ein­greife. Die Kritik am Plano Real scheint jedoch einfach nicht zu greifen. Zwar rechnen die PT-Ökonomen vor, daß der Plan drastische Lohneinbußen gebracht habe, aber die Linke scheint zu unter­schätzen, daß Stabilisierungserfolge durchaus “Opferbereitschaft” mobilisieren können. Und gegen den oben beschriebe­nen diffusen Optimismus läßt sich an­scheinend nur schwer gegenargumentie­ren.
Noch gibt die PT allerdings die Schlacht nicht verloren. Die Anhängerschaft der Partei (“Militancia”) soll nun verstärkt auf der Straße den Wahlkampf führen. Ziel ist es, wenigstens einen zweiten Durchgang zu ermöglichen um so nach einer ersten Ernüchterung über die Effekte das Planes das Blatt wenden zu können. Der Einsatz der Aktivisten wird allerdings dadurch er­schwert, daß am 3. Oktober auch die Gouverneure sowie Landtags- und Bun­desparlamentsabgeordenete gewählt wer­den. Aufgrund des brasilianischen Wahl­systems sind auch diese Wahlen in höchstem Grade personalisiert, so daß ein großer Teil der AktivistInnen von dem Wahlkampf für seinen/ihren Abgeord­ne­ten absorbiert ist. Jedenfalls will der Schwung und Einsatz, der den Wahlkampf Lulas 1989 charakaterisierte, noch nicht recht aufkommen. Die PT wird es schwer ha­ben, einen Wahlsieg Cardosos zu verhin­dern, wenn nicht noch Unvorher­gesehenes passiert. Was in Bra­silien schließlich keine Seltenheit wäre.

Kasten:

Wirtschaftsminister verplappert sich!

“Ich habe keine Skrupel. Was gut ist, stellen wir heraus, was schlecht ist, verbergen wir,” sagte kein geringerer als Wirtschaftminister Recupero. Zustande kam diese Äu­ßerung hinsichtlich des Wirtschaftsplans im vertrauten Gespräch vor einem Interview mit einem Globo Reporter. Was beide nicht ahnten: Die Satellitenübertragung zwi­schen Brasilia und Rio, nur für den internen Gebrauch von Globo bestimmt, wurde von einigen Parabolantennenbesitzern empfangen und aufgezeichnet. Der Skandal war perfekt. Ricupero gab offen zu, den Regierungsapparat in Unterstützung für Fernando Henrique einzusetzen und bestätigte somit alle Beschuldigungen der PT. Als der ge­samte Wortlaut des Gesprächs bekannt wurde, zögerte Präsident Itamar nicht: Recu­pero wurde entlassen. Die Überraschung in der brasilianischen öffentlichkeit war be­sonders groß, da sich Recupero als gelernter Diplomat in der Öffentlichkeit immer mit betonter Bescheidenheit in Szene setzte und gut das Image des ehrlichen Katholiken verkaufen konnte. Sein Ausspruch “ich habe keine Skrupel” bestätigt geradezu sym­bolhaft alle negative Voreingenommenheit gegen brasilianische Politiker. Zudem legte Recupero eine unglaubliche Arroganz an den Tag: “Die Regierung braucht mich mehr als ich die Regierung.” Für die PT erschien die Indiskretion des Ministers als ein Ge­schenk des Himmels und Anfang des Niedergangs von Fernando Henrique. Sie fordert gar die Annulierung dessen Kandidatur wegen verbotener Parteinahme der Regierung für einen Kandidaten. Es bleibt aber abzuwarten, ob der Fall Recupero mehr als eine Episode sein wird. Die Börse reagierte mit einem drastischen Kurssturz.
Nachfolger Recuperos wurde am 8. September Ciro Gomes, Parteigenosse von Fer­nado Henrique und populärer Gouverneur von Ceará. Diese Wahl könnte nach ersten Turbulenzen durchaus die Position Fernando Henriques stärken. Ciro Gomes ist ange­sehen, gilt als effektiv und nicht korrupt, hat als Gouverneur in Ceará ein gutes Bild gemacht und verstärkt eher die Verbindung zwischen Plano Real und der Kandidatur Cardosos.

Exil im eigenen Land

Nascimento hat seit Ende der 80er Jahre nicht aufgehört, die Hintermänner von Todesschwadronen zu ermitteln und mit Namen zu nennen. Begonnen hat er mit dieser Recherche-Arbeit, als 1986/87 in 19 Monaten 21 Kinder und Jugendliche aus seiner Straßenkindergruppe ermordet wurden und daraufhin das von ihm initi­ierte Zentrum in der Favela do Lixao ge­schlossen werden mußte.
Die Recherche und Öffentlichkeitsarbeit machten Nascimento bekannt, vor allem aber kamen die Strukturen der mörderi­schen Kartelle der Macht ans Tageslicht, die Verquickung von legaler und extrale­galer Repression.
“Wer die Macht angreift, der bleibt nicht ungestraft” – nach diesem Motto war das Delikt schnell konstruiert, von eben jenen Richtern (Rubem Medeiros, Luíz Cesar Bittencourt, Renato Simoni und Mario dos Santos Paulo), die in die Strukturen der Todesschwadronen verwickelt sind: Üble Nachrede – gegenüber denjenigen, die die Macht haben.
Asyl in Europa keine Alternative
Nascimento hätte sich der Verhaftung durch Flucht entzogen, denn Gefängnis bedeutet für ihn den sicheren Tod. Als er in diesem Frühjahr nach Europa reisen konnte, als das Europäische Parlament zu seinem Fall und den Morden an Straßen­kindern eine Resolution abfaßte, machte sich Nascimento nochmals Hoffnungen: Er hätte sich in Brasilien in eine Botschaft geflüchtet und politisches Asyl beantragt. Aber die Reise in die Festung Europa hat ihn in jenem Monat vor Augen geführt, was politisches Asyl heißt, hätte er es überhaupt bekommen. Die Internierung in ein Lager, wie es nach deutscher Norm mittlerweile in der EU üblich wird, hielt er nach genauen Erkundigungen für derart unmenschlich, daß er diese Alternative verworfen hat. Er fuhr zurück nach Rio de Janeiro, in Erwartung der Urteilsbestäti­gung. Und Davi, seinen jüngsten, wenige Tage alten Sohn, hatte er noch nicht gese­hen.
Anfang Juli 1994: Viele ErzieherInnen und Straßenkinder-Engagierte hat Nas­cimento von seinem neuen Wohnsitz aus zu einem Fortbildungs-Seminar gela­den, The­ma: Wie können die rechtlichen Mög­lichkeiten in der Kinder- und Jugend­arbeit voll ausgeschöpft werden. Zu dem Semi­nar reisten mehr als hundert Perso­nen an, viele von ihnen direkt bedroht we­gen ihres mutigen Engagements für die Straßenkin­der. Aber das war nicht Thema des Semi­nars.
Ein Nachsatz, eine Überlegung: Ist es eine lateinamerikanische Besonderheit, daß man sich der staatlichen und parastaatli­chen Bedrohung – der Drohung, umge­bracht zu werden – durch Ortswechsel ent­ziehen kann? Durch Verlassen der Kon­flikte in der Großstadt? Oder ist es ein Anzeichen für die neue lokale Aufteilung der Macht, der zersplitterten Einflußberei­che von bewaffneten halbstaatlichen Ban­den und Milizen, wie es mehr und mehr auch in einigen Teilen von Europa zu be­obachten ist?

Die Ankunft des evangelikalen Zeitalters

Montag Nacht in der Kirche der Wiedergeburt im Stadtzentrum von Sao Paulo. Es ist Jugendgottesdienst. Die Sitze des um-gewandelten Theaters sind an den Wänden gestapelt. Um die 3000 jungen Leute bewegen sich über das leicht schräge Parken. Das junge Publikum kennt die religiösen Rockklänge gut genug, um während der Pausen der Band eine Akapella anzustimmen. Ein Song katalogisiert drei Jahrzehnte internationaler Jugendkultur mit Anspielungen auf die Beatniks, Drogen, Yoga, Naturkost, und Politik (“Müssen wir töten?”), und endet mit der Strophe: “Die Revolution ist Gott, der Vater und sein Sohn Jesus Christ!” Viele der Jugendlichen tragen T-Shirts mit meist englischen Aufschriften, wie: “Be cool, Jesus loves you!” .
Später am Abend wendet sich ein lässig gekleideter Mann um die zwanzig an das Publikum, das mittlerweile auf dem Boden sitzt. Der Seminarstudent bekommt einen besseren Draht zu den Leuten als der schon ältere Prediger. Seine Botschaft ist einfach: “Jesus Christ”, mahnt er. “möchte Teil eures Lebens sein.” Danach kommen zwei oder drei Dutzend nach vorne, um Christus zu akzeptieren, und werden hinter die Bühne geführt, wo sie aufgenommen werden und weitere Anweisungen bekommen. Währenddessen spielt ein bekannter Gitarrist, der ebenfalls Christus entdeckt hat, ein Bluesarrangement auf den 22. Psalm. Wiedergeburtstaumel und Erfolg sind eine Facette der derzeitigen Welle des evangelikalen Protestantismus, die über Lateinamerika schwappt. 1993 bezahlte die Kirche angeblich 2 Mio. US-Dollar für ein Auditorium im Herzen Sao Paulos. Solche Großveranstaltungen sind in Brasilien kaum noch etwas Neues. 1990 bezahlte die von Bischof Edir Macedo geführte Universalkirche des Königreich Gottes 45 Mio. US-Dollar für eine Fernsehstation in Sao Paulo. Macedo kann das Maracaná-Stadion in Rio mit 150.000 Anhängern füllen. Auf einem solchen Zusammenkommen sagte er den Brillenträgern, ihre Augen seien geheilt. Die Brillen wurden eingesammelt und nach vorne gebracht, wo er auf ihnen herumtrampelte.
Linke verharren in alten Denkmustern
Vielleicht aufgrund der Bewunderung der Linken und AkademikerInnen für die Rolle progressiver Teile der Katholischen Kirche in den sozialen Bewegungen, haben sie nur langsam das beträchtliche Anwachsen der Evangelikalen zur Kenntnis genommen. Außerdem wurde versucht das Phänomen in engen reaktionären Begriffen zu sehen, besonders als Guatemalas wiedergeborener Präsident Efraín Rios Montt (1982-83) Massaker der guatemaltekischen Armee rechtfertigte, und US-Fernsehprediger die nicaraguanischen Contras gegen die “gottlosen” Sandinisten unterstützten.
Die wesentlich andere Realität zeigt der Anteil der Protestanten an der Gesamtbevölkerung: Belief er sich noch vor einer Generation auf 2-3 Prozent, erreicht er heute eine kritische Masse um die 15 Prozent (mit großen Unterschieden von Land zu Land). Obwohl die Mehrheit der LateinamerikanerInnen sich bei Umfragen noch immer als KatholikInnen bezeichnet, besuchen nur wenige regelmäßig die Messe. Das Ergebnis ist, daß die Anzahl aktiver protestantischer KirchgängerInnen heute vergleichbar ist mit der Zahl praktizierender KatholikInnen. Die Anzahl praktizierender ProtestantInnen ist jedoch größer als die Zahl der Mitglieder aller anderen ehrenamtlichen Gruppierungen. ob politisch, kulturell oder sportlich, zusammen.
Siegeszug der Evangelikalen in Brasilien
Forscher des Instituts für Religiöse Studien (ISER) in Rio de Janeiro behaupten. daß der evangelikale Protestantismus “die am meisten meinungsmachende Bewegung der derzeitigen brasilianischen Gesellschaft sei, vor allem in den armen Vorstadtbezirken.” ISER fand heraus. daß sich zwischen 1990 und 1992 mehr als 710 Gemeinden im Großraum von Rio etablieren konnten, das bedeutet fünf pro Woche. Während dieser ganzen Zeit hat sich nur eine neue katholische Gemeinde gegründet. Obwohl die traditionellen Kirchen, besonders die Baptisten und die Presbyterianer weiterhin stark präsent sind, waren 90 Prozent der neugegründeten Gemeinden Pfingstgemeinden. In den armen Bezirken war die Proportion der Kirchen zu den BewohnerInnen dreimal höher als in den reichen, in Strandnähe gelegenen Gemeinden.
Aber es wäre ein Fehler anzunehmen, die evangelikale Bewegung wäre eine unaufhaltsame Schwindelei. Trotz guter Organisation einer einwöchigen Evangelisierungskampagne vieler Kirchen in Caracas in der alten Stierkampfarena, konnten sie nicht einmal 1.000 Leute mobilisieren, von denen .die meisten schon Evangelikale waren. Ähnlich plante die Assembleias de Deus in der Karwoche eine Kampagne im Zentrum von Sao Paulo mit dem Ziel, sechs bis zehntausend Seelen für Christus zu gewinnen. Es kamen vielleicht 5000 Leute, die meisten Evangelikale, und jene, die nach vorne kamen um Christus anzunehmen, gingen in die Hundert.
Kürzlich war ich in Sao Paulo. wo die evangelikale Bewegung gut gedeiht, und in Caracas, wo die Protestanten gerade ein Prozent der Bevölkerung ausmachen (für Venezuela insgesamt liegt die Zahl bei vier Prozent). Diese beiden Städte zeigen die unterschiedlichen Züge der evangelikalen Bewegung recht gut.
Protestanten -oder “Evangélicos”,Evangelikale, wie sie sich selbst nennen, sind nicht alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Die traditionellen, wie die Lutheraner, Methodisten, Presbyterianer, Baptisten, und andere sind den entsprechenden Konfessionen in Europa und den Vereinigten Staaten, woher sie auch stammen. sehr ähnlich. Im allgemeinen verstehen diese Kirchen die Bibel kritischer als die konservativen Kirchen, welche die Bibel wortwörtlich interpretieren. Während diese Kirchen als fundamentalistisch bezeichnet werden, steht bei der sich rasch ausdehnenden Pfingstbewegung weniger die Predigt oder eine Doktrin im Mittelpunkt, als vielmehr eine emotionale Erfahrung mit dem Geist Gottes. Diese allgemeinen Kategorien sind aber auf keinen Fall wasserdicht. Pfingstlensche Praktiken haben mittlerweile auch die traditionellen Kirchen durchdrungen.

Die Pfingstgemeinden
Zudem gibt es eine große Vielfalt im Bereich der Pfingstgemeinden innerhalb der protestantischen Kirche. Bischof Macedos Universalkirche beispielsweise drehte die Praxis der meisten protestantischen Konfessionen einfach um. Diese bildeten neue Gemeinden als Folge einer Kirchenspaltung, oder als kleine Missionsgruppen, die zu einer Gemeinde wurden. Eigentum er-warben und darauf aufbauten. Die Universalkirche bildet generell eine Gemeinde auf kommerzieller Basis. Dann erst wer-den Pastoren ernannt, die damit beginnen, Gottesdienste abzuhalten, üblicherweise viermal am Tag, sieben Tage die Woche. Der Pastor muß die Leute zu den Gottesdiensten locken und sie zu Spenden motivieren.
Bei der Universalkirche hat jeder Tag ein Thema: “Wohlstand”, “Familie”, und so weiter. Das Freitagsthema “Befreiung” hat nichts mit sozialer Veränderung zu tun. sondern mit der Befreiung von bösen Geistern Wie jeder andere Gottesdienst an den anderen Tagen, fängt auch dieser mit einer halben Stunde Singen an. Dann
kommt ein halbes Dutzend Leute. vorrangig Frauen, nach vorne. Schon bald fangen sie an zu stöhnen, zu schreien, zu kriechen. Der Prediger schreit die Dämonen an, und führt den Gesang, wobei er immer wieder singt: “Sai! Sai!” (“Geh raus, Geh raus!”). Die Dämonen verschwinden gehorsam, hinterlassen ihre Opferspendabel, und ihre Familien erleichtert. Die Kirche Deus é Amor (Gott ist Liebe). eine Vorgängerin der Universalkirche, wird ebenfalls von einem “caudillo”-Prediger geführt, David Miranda. Sie legt besonderen Wert auf Heilung, und strahlt über hundert Stunden pro Woche Radioprogramme aus. Diejenigen, die die täglichen Gottesdienste in den riesigen warenhausähnlichen Hauptquartieren in der heruntergekommenen industriellen Region auf der anderen Seite des Flusses von Sao Paulo in Anspruch nehmen, sind sichtlich arm.Und diejenigen, die in der Kirche arbeiten, reflektieren wirklich die Kultur der unteren Bevölkerungsschichten, aus der auch sie stammen, im Gegensatz zur Universalkirche. Deren Pastoren sehen aus. als würden sie Autos oder Immobilien verkaufen Viele Menschen nehmen an den Gottesdiensten der Universalkirche oder Deus é Amor teil, wenn sie gerade das Bedürfnis danach haben, sind aber keine aktiven Mitglieder in einer lokalen Gemeinde
Die Congregacao Crista in Brasilien unterscheidet sich in vielerlei von der Universalkirche. Sie hat keinen vergleichbaren Klerus, führt keine Kampagnen, veröffentlicht keine Bücher, sendet keine Radioprogramme und ist nicht politisch. ihre teilweise pfingstlerischen Gottesdienste sind Vorzeigemodelle des Anstandes. So-gar Angehörige der ArbeiterInnenklasse kommen in Anzügen und Kostümen, Frauen und Männer sitzen getrennt. Trotz ihrer ruhigen Art verbreitet sich die Congregacao Crista immermehr in den Vor-orten von Sao Paulo und entlang der großen Highways.
Geballte Kraft
Die größte einzelne Gruppe in Brasilien wie auch andernorts in Lateinamerika sind die Assembleias de Deus, die Versammlungen Gottes. Sie haben heute bereits mindestens acht Millionen Mitglieder, wobei sie selbst von mehr als 12 Millionen sprechen, und haben 35.000 Gemein-den über das ganze Land verstreut. Sie bilden die größte protestantische Glaubensrichtung in jedem “katholischen” Land. und haben mindestens viermal so viele Mitglieder wie die anglikanische Kirche in England. so der britische Forscher Paul Freston. Die Assernbleias haben mittlerweile einen beeindruckenden Grad an Organisation erreicht. Ich war dabei, als sich 1.100 Geistliche aus dem Großraum S5o Paulo zu ihrem monatlichen Gebet und Planungstreffen versammelten. Als eine Konsequenz ihrer schieren Größe haben sie zu ganz anderen Geldquellen Zugang als die anderen, kleineren Kirchen.
Die weitbewunderte Las Acacias-Kirche in Caracas unterscheidet sich deutlich von den oben genannten brasilianischen Kirchen, und auch von den meisten Pfingstgemeinden in Venezuela. Der Gottes-dienst ist zwar auch pfingstlerisch, aber es gibt immer wieder Momente der Ruhe und des Sich-Sammelns, und die Eindringlichkeit der Predigt wird nicht in Dezibel gemessen. Im Gegensatz zu den strengen Regeln in vielen evangelikalen Gemeinden, die das Rauchen, Tanzen. Alkohol, Filme und Fernsehen verbieten, und einen Kleiderzwang auferlegen (vor dem für Frauen), überläßt es Las Acacias ganz dem Ermessen ihrer Mitglieder. Sie betont vor allem die positive Auswirkung des Glaubens auf das Leben jedes einzelnen. Manche Beobachterinnen lehnen Las Acacias als eine MitteIklassen-Kirche ab, obwohl sie in Wirklichkeit klassenüber- greifend ist. Aber viel wichtiger ist, daß sie eine Alternative zu der Rigidität vieler anderer evangelikaler Kirchen bietet.
Diese Vielfalt an Stilen ist die Stärke des lateinamerikanischen Protestantismus. Innerhalb eines katholischen Pfarrbezirks in Sao Paulo, gibt es ein Dutzend und mehr protestantischer Gemeinden, deren Band- breite von den traditionellen bis zu unabhängigen Konfessionen reicht. die sich von einer größeren Pfingstkirche abgespaltet haben.
Finanzielle und intellektuelle Abhängigkeit von den US-Rechten
Die Linke und die progressiven Katholiken sind erschreckt und befremdet über diese rapide Expansion einer, wie sie sagen, fremden Religion. Sie sind versucht dieses evangelikale Anwachsen einer bewußten US-Regierungsstrategie unter Reagan und Bush zuzuschreiben, und der starken finanziellen Unterstützung der religiösen Rechten in den USA. Und tatsächlich werden die evangelikalen Gemeinden nachhaltig von den großzügigen Beiträgen ihrer Mitglieder finanziert, von denen erwartet wird, daß sie ein Zehntel ihres Einkommens an die Kirche geben, was sie auch tun. Die Katholische Kirche ist da weitaus abhängiger von finanziellen Mitteln von außen -primär aus Europa -als die Evangelikalen. Ein Bereich, indem auch die evangelikalen Gemeinden ab- hängig sind. ist der intellektuelle Bereich. Um ein Beispiel zu geben: 1991 wurden 70 Prozent der 585 in Brasilien publizierten evangelikalen Bücher von ausländischen AutorInnen geschrieben.

Orientierungshilfen
Die meisten der linken und katholischen KritikerInnen scheinen nie einen Schritt in eine evangelikale Kirche getan zu haben, um selbst einmal zu beobachten und ein Verständnis davon zu bekommen, was Millionen armer Leute in ihre Reihen zieht. Ihre Anziehung kommt durch die Intensität des Gebets, und eine einfache, verständnisvolle Botschaft, die dem ganzen Chaos der sie umgebenden Situation einen Sinn gibt. Strenge moralische Verhaltensweisen ermöglichen eine Orientierung. die in mancher Hinsicht einen Rückschritt zu den strengmoralischen Werten kleinbäuerlicher Gesellschaften darstellt. Eine Gemeinschaft, in der sich die Leute gegenseitig Brüder und Schwestern nennen, und ein Gefühl von Selbstrespekt vorhanden ist. Auch wenn den evangelikalen Kirchen oft vorgeworfen wird, sie wären ausländische Importe, scheinen sie in den armen Bezirken der Volkskultur näher zu sein, als die Katholische Kirche. Die meisten protestantischen Geistlichen kommen aus derselben Schicht und Kultur wie die anderen aus der Gemeinde. Die Mehrzahl der progressiven katholischen Priester dagegen versuchen, die “Option für die Armen” zu bieten, leben aber in einer anderen kulturellen Welt und Schicht. Die “Option für die Armen”, die für die Erneuerungsbewegung der Katholischen Kirche in den Sechzigern steht, fand ihren Ausdruck in einer neuen Form pastoraler Arbeit, was auch die Verteidigung der Menschenrechte und die Zusammenführung von Basisgemeinden beinhaltete. Kleine Gruppen, die sich zum gemeinsamen Gebet, Diskussionen und Bewußtseinsbildung trafen. All das war unterlegt von einer Theologie der Befreiung. Progressiver Katholizismus war noch nie eine Massenbewegung, obwohl er qualitativ sehr wichtig war, vor allem in seiner Oppositionsrolle, die er während der Militärdiktaturen einnahm und bei den Kämpfen in Zentralamerika, wo nur eine kleine Minderheit daran teilnahm. Auch wenn es in Brasilien wirklich 80.000 Basisgemeinden mit jeweils mindestens 25 Mitgliedern gibt, beträgt ihre absolute Anzahl an AnhängerInnen gerade mal 2 von 160 Millionen. Und neuere Forschungen sehen diese Zahlen sogar als überhöht an.
Befreiungstheologie in der Krise
Diese Strömung innerhalb des Katholizismus ist aber in einem gewissen Maß in eine Krise geraten. Die Ernennungspolitik des Vatikan, der seit zehn Jahren konservative Bischöfe ins Amt beruft, verbunden mit massiven Druck gegen die Befreiungstheologen, hatte ihren Preis. Die Krise sitzt tiefer, und hat etwas mit dem Aufeinanderprallen der in das Befreiungsprojekt gesteckten Hoffnungen und den gegenwärtigen Zukunftsaussichten der lateinamerikanischen Gesellschaft zu tun. Christliche Basisgemeinden, so die Worte eines brasilianischen Theologen, hätten der “Ausgangspunkt für eine soziale Revolution sein können, die zu einer neuen Gesellschaft geführt hätte. In den Basisgemeinden zu arbeiten hieß, die Zukunft einer neuen lateinamerikanischen Gesellschaft vorzubereiten.” In den 90ern sind diese utopischen Träume, die im Klima der Militärdiktatur genährt wurden, an
dem scheinbar universellen Triumph des Kapitalismus, an der Krise des Marxismus und an dem Zurückdrängen linker Themen zu reformistischer Sozialdemokratie zerplatzt. Venezuelas progressive Katholiken, die nie eine vergleichbare Phase des Widerstands gegen eine Militärdiktatur hatten, und deren Hoffnungen vielleicht weniger utopisch sind, sind weniger in der Krise als die Brasilianischen.

Religiöser Pluralismus
In jedem Fall kommen diejenigen. die sich zum Protestantismus bekehren, nicht aus den christlichen Basisgemeinden, sondern aus der großen Mehrheit derer, die nur beiläufig Kontakt zur Katholischen Kirche haben. Die zum Protestantismus Bekehrten gehörten nie fest zur Katholischen Kirche im Sinne aktiver Gemeindemitgliedschaft. So ist es wohl auch richtiger davon zu sprechen, daß sich Lateinamerika in religiöser Hinsicht zum ersten Mal pluralistischer zeigt, und nicht “protestantischer wird”. Selbstverständlich haben schon immer andere religiöse Anschauungen, vor allem afrobrasilianische Religionen und ähnliche Formen hinter der katholischen Fassade prächtig geblüht.

Das aufkommende protestantische Zeitalter aber markiert das Ende einer katholischen Hegemonie.
Als direkte Folge ihrer Masse an Mitgliedern stellt die protestantische Bewegung nicht zuletzt auch eine potentielle politische Kraft dar. Ohne seine evangelikale Identität hätte Jorge Serrano wohl nicht Präsidentschaftskandidat in Guatemala werden können, und Alberto Fujimori warb bei den Präsidentschaftswahlen 1990 in Peru offen um die Stimmen der Evangelikalen. Evangelikale Abgeordnete repräsentieren mittlerweile den wichtigsten Block im brasilianischen Kongreß.
Protestantische politische KandidatInnen sind stärker vertreten als jemals zuvor. Die Botschaft an ihre AnhängerInnen ist, daß der Moment gekommen sei, und da5 die evangelikale Bewegung ein Recht auf politische Repräsentation hätte. Sie versuchen große Teile der Bevölkerung davon zu überzeugen, daß ihre evangelikale Politik sich von der machtgierigen und korrupten Politik herkömmlicher Politiker- Innen absetzt (ein Anspruch, der nicht viele Jorge Senanos überleben wird). Einige protestantische Führungsköpfe sehnen sich nach einer gesellschaftlichen Stimme wie die der katholischen Bischofskonferenz. Da aber die meisten lokalen Pastoren nicht die Notwendigkeit einer derartigen Stimme sehen. und auch nicht eine zentrale evangelikale Dachorganisation anerkennen, ist die Unterstützung recht gering.
Die Konservativen haben sich rasch das Argument des britischen Soziologen David Martin zu eigen gemacht, wonach der Protestantismus letztendlich durch die Überwindung des kapitalismusfeindlichen Katholizismus helfen könnte, die Modernisierung Lateinamerikas voranzutreiben. In einem Artikel über den lateinamerikanischen Protestantismus in dem Magazin “Forbes”, ein Magazin. daß normalerweise weder Lateinamerika noch Religion beachtet, freute man sich hämisch darüber, daß “der kulturelle Umbruch durch das Anwachsen der Evangelikalen “nichts anderes ist, als die andere Seite der ökonomischen Transformation”, und “zeigt solide Anhaltspunkte für die Zukunft, einer kapitalistischen. bürgerlichen Zukunft, und keiner marxistischen oder traditionellen.”

Nicht rechts, nicht links, sondern religiös!
Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung sind nicht alle Evangelikalen konservativ. Eindeutiger Hinweis dafür ist die Mitgliedschaft von Evangelikalen in der linken Arbeiterpartei Brasiliens, der PT. Hier ist ihr Anteil nur ein bißchen geringer als ihre Präsenz in der brasilianischen Gesellschaft. Benedita da Silva zum Beispiel, die schwarze Sozialarbeiterin, die in den Kongreß gewählt wurde. und 1992 beinahe das Rennen um das Bürgermeisteramt Rio gewonnen hatte. ist aktives Mitglied in der Assembleias de Deus.
Wenn man sich überlegt, daß für 15 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung der protestantische Glaube von Bedeutung ist, erkennt man. daß diese Kirchen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen. Und selbst wenn ihre Theologie für ein soziales Engagement eher demotivierend ist, könnte sich ihre politischer Stellung noch weiter ausbauen. In einigen theologisch-konservativen Kreisen hört man die Behauptung, daß die versprochene Erlösung durch Christus “umfassend sei: Das bedeutet, daß es nicht nur die “Seele” betrifft, sondern die gesamte Person, und somit auch die Gesellschaft. Diese Position ist analog zur Position im römischen Katholizismus, die die Grundlage für soziales Engagement und für die Befreiungstheologie legte. Eine Gruppe konservativ-protestantischer Theologen. die sich 1988 in Medellín versammelten, kritisierten zwar die Befreiungstheologie, gestanden aber ein, daß es Evangelikale bei weitem daran fehlen lassen, sich sozialen Mißständen zuzuwenden. Das abschließende Dokument dieser Zusammenkunft rief zu mehr Verbindlichkeit bei sozialen Themen auf.
Wenn die lateinamerikanische Linke nach dem Kalten Krieg dabei ist, Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu schließen um Alternativen zum Neoliberalismus zu finden. muß sie die Stereotype bezüglich evangelikaler Kirchen fallen lassen. Es ist höchste Zeit, daß die Linke endlich diese religiösen Bewegungen ernstnimmt, die sie bisher nur verspottet, ignoriert oder distanziert wahrgenommen hat.

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