Natürlich ist die Eskalation der Gewalt nicht zu leugnen. Natürlich gehören die Verbrechen zum Alltag in den Metropolen des Landes. Mindestens ebenso interessant wie die veröffentlichten Meldungen sind jedoch die Informationen, die keine Erwähnung finden. So existieren in Brasilien mehr Bürgerinitiativen, soziale Organisationen als in der BRD. Zwar gibt es laut Veja vom Juli 1993 ungefähr 16.000 Gruppen und Organisationen mit circa einer halben Million Mitglieder, die sich mit sozialen und ökologischen Problemen beschäftigen. Verwunderlich, glaubt man doch nach der Lektüre der meisten Zeitungsartikel, die Bevölkerung bestehe nur noch aus skrupellosen Drogenhändlern, schießwütigen Polizisten, korrupten Politikern und deren Opfern. Trotz tausender Basisorganisationen, Menschen-rechtsgruppen und Bürgerrechtsbewegungen: den Eingang in die deutschen Medien finden nur sehr wenige, wie zum Beispiel die sehr Publicity-wirksame “Kampagne gegen den Hunger” des Soziologen Betinho. Oder die Initiativen sind gar selber das Problem: “Die Strassenkinder als Objekt von Weltverbesserern”. Nach exklusiven Informationen der FAZ gibt es in Rio mehr NGO’s als Straßenkinder. Kein Wunder, schließlich läßt es sich mit den Spendengeldern aus dem reichen Norden prächtig leben. Dagegen gibt es kaum Berichte über die Selbstorganisation der Straßenkinder, über Volmer do Nascimento oder Tania Moreira. Der ehemalige Sozialarbeiter und die Staatsanwältin haben in mühseliger jahrelanger Kleinarbeit die Verantwortlichen für die Massaker namentlich ausfindig gemacht und angeklagt. Opfer passen einfach besser ins Bild. Überhaupt: etwas anderes als Mord und Korruption ist man von diesem Land eh nicht gewöhnt.
Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme sind – so der Eindruck – hausgemacht. Vor wenigen Jahren schrieb man auch über andere Gründe der Miseren, beispielsweise den immensen Schuldendienst für die nordamerikanischen und westeuropäischen Banken, die Auflagen des Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank. Sie kommen heute bestenfalls noch in Nebensätzen im Wirtschaftsteil vor. Korrupte Politiker, unfähige Regierungen – verantwortlich für das Elend sind die Brasilianer selbst, das Ausland kann da eigentlich nur mitleidig zusehen. Damit hat man heutzutage nun wirklich nichts mehr zu tun.
Der engagierte Dritte-Welt Journalist folgt so den Ansichten, die in akademischen Kreisen schon seit längerem zum guten Ton gehören. In den 50er Jahren wurde unter der Parole “von Europa lernen” noch jeder neue Traktor, der fortschrittsweisend über die Äcker von Brasilien oder Peru seine Bahnen zog, in den Sonntagsbeilagen bejubelt. Eine Dekade später hatte sich das Bild gewandelt. Nun prägten die “Strukturen” und “Abhängigkeiten” die Artikel. Hoffnungsfrohes war aber auch zu berichten: über Ché und rote Fahnen. Und heute? Wer schreibt heute noch gerne über Nicaragua? Die Zeit der Entwicklungsträume und der revolutionären Hoffnung ist vorbei. Modernisierungstheorien sind wieder so aktuell wie ihre Botschaft einfach ist: jeder ist eben in seinem eigenen Land seines eigenen Glückes Schmied.
Das Wesen der Brasilianer – das Unwesen der Presse
Über die Politik kann man also wenig Gutes sagen. Was bleibt, damit das Bild nicht gar zu duster wird, ist die Kultur. Karneval und Fußball werden gern zitiert. Ein paradoxes Bild: Gewalt, Mord und ausgelassene Menschen. Kann man sich das alles nicht mehr so recht erklären, so findet man in der Mentalität manche überraschende Antwort. So klärt uns Die Zeit über das eigentliche Wesen der Brasilianer auf: Es entspreche “dem Lebensgefühl vieler Brasilianer…mit einem Trick, einem jeito, mit einem Minimum an Arbeit schnell reich zu werden.” (Zeit, 25.2.1994) Als ob dieser Wunsch nicht auf der ganzen Welt der gleiche wäre. Kultur und Mentalität werden zur Erklärung sozialer Vorgänge bemüht, wo politische Analysen nicht mehr gefragt sind. Bei soviel Müßiggang und Schlendrian braucht man sich schließlich nicht zu wundern, wieso die Armut hartnäckig an diesem Lande klebt. “No Brasil, tudo acaba em Samba” – In Brasilien endet eben alles im Samba. (ebenda)
Die Artikel über das exotische Land in den Tropen erzeugen den Eindruck einer Gesellschaft, die aus den Fugen gerät, die nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu steuern. Der kurze mediale Ausflug in die “Anarchie” von Mord, Korruption und Karneval hinterläßt eine Gänsehaut und die beruhigende Gewißheit, daß man selbst doch (im Vergleich) in geordneten Verhältnissen lebt. Unausgesprochen wird suggeriert, die Geschehnisse aus einem sicheren Hort zu betrachten, in dem die Regeln der Zivilisation noch Gültigkeit haben – und wo hoffentlich alles so bleibt, wie es ist.
Das Deutschland-Bild in der brasilianischen Presse
Welcher Leser käme da noch auf den Gedanken, den Spiegel einmal umzudrehen? Wäre er der portugiesischen Sprache mächtig, er würde erstaunt sein, was über sein zivilisiertes Land alles geschrieben steht. Rostock, Solingen und Mölln sind dem brasilianischen Zeitungsleser so vertraut, wie es in hiesigen Medien für wenige Tage die Candelaria-Kirche in Rio war. Auch von der Gewohnheit vieler seiner Einwohner, ihre Gäste in Lager zu sperren, sie zu beleidigen, zu schlagen und des öfteren auch zu verbrennen, kann man regelmäßig lesen. In den großen Zeitungen des Landes, die übrigens bei der Auflage mit den hiesigen Erzeugnissen kein Vergleich zu scheuen brauchen, wird über die Ursachen der Gewalt oft mit einer Deutlichkeit gesprochen, die man hier nur noch selten findet.
Für einen Zeitungsleser aus Recife oder Rio ist es also durchaus fraglich, wo er sich letzten Endes sicherer fühlen kann. Doch – wer mag sich hierzulande darüber den Kopf zerbrechen? Der “Strudel der Gewalt” spielt sich für die meisten Leser letztlich in sicherer Entfernung ab – egal, ob nun in Rio de Janeiro oder vor dem Asylanten-Lager um die Ecke.
Brasil mulher
Das jetzt in deutscher Übersetzung vorliegende Buch “brasil mulher – Kurze Geschichte des Feminismus” beeindruckt durch seine klare und lebendige Analyse der brasilianischen Frauenbewegung. Die Autorin, Maria Amélia Teles, ist selbst seit fast 30 Jahren in der Gewerkschafts-, Basis- und feministischen Bewegung in Sao Paulo (Brasilien) politisch aktiv. Sie ist keine Beobachterin, sondern Mitgestalterin der feministischen Bewegung in diesem Land.
Ihr Anliegen ist es Frauen, als Protagonistinnen der gesellschaftlichen Prozesse sichtbar zu machen, sie als Handelnde in der Geschichte aufzuspüren und ihre Beteiligung an politischen Entwicklungen zu benennen.
Ihre Spurensuche beginnt in der Kolonialzeit. Indianische, schwarze und weiße Frauen wurden auf unterschiedliche Weise durch die Kolonisatoren und durch die männliche Bevölkerung ausgebeutet. Dagegen leisteten die Frauen in verschiedensten Formen Widerstand: “Die schwarzen Frauen mit kollektiven Aktionen, die weißen Frauen fast immer individuell.”
Die Entwicklung des 19.Jahrhunderts war gekennzeichnet durch die Erlangung der Unabhängigkeit Brasiliens und den sich durchsetzenden kapitalistischen Stukturen. Erste feministische und republikanische Vorstellungen bestimmten das geistige Klima. In dieser Zeit entstand die erste feministische Presse, die zu einem wichtigen Sprachrohr für Frauenfragen und internationale Frauensolidarität wurde. Heute hat sie ihre Bedeutung als Quelle von Frauen geschriebener Geschichte.
Anfang dieses Jahrhunderts, im Zeitalter der industriellen Revolution, traten vor allem zwei Frauenbewegungen für die Gleichberechtigung ein. Die Suffragetten forderten das Frauenwahlrecht, die Weberinnen und Näherinnen höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten.
Die Aufbruchstimmung der demokratischen und progressiven Kräfte wurde durch den Militärputsch 1964 jäh gestoppt. Gewalt und Terror regierten den Alltag. Frauen setzten sich für ihre Verwandten ein, die als politische Gefangene im Gefängnis saßen, beteiligten sich an verbotenen politischen Aktivitäten oder direkt am bewaffneten Kampf. Dies veränderte jedoch nicht die frauenfeindliche Haltung der Linken. “Die Guerrilla erlaubte es den Frauen zwar, in einem außergewöhnlichen Moment ihren Mut und ihre Fähigkeit zum Kampf unter Beweis zu stellen. Doch gleichzeitig wurden sie innerhalb der bewaffneten Organisationen diskriminiert, was allerdings dazu führte, daß sie sich als Frauen entdeckten.”
Das von der UNO 1975 erklärte ‘Internationale Jahr der Frau’ bot erneut Anlaß und Möglichkeit, feministische Vorstellungen und Aktionen in die Öffentlichkeit zu tragen. Es entstanden neue Frauenzeitungen, Frauen suchten Austausch im ganzen Land. Der 8.März wurde zum Frauenkampftag. Die feministische Bewegung gewann an Popularität durch gemeinsame Forderungen vieler Frauenbündnisse z.B. nach Kinderkrippen, gegen sexuelle Gewalt, für ein freies Ausleben von Sexualität etc. An der Frage nach politischer Autonomie spaltete sich die Frauenbewegung in autonome Frauen und Parteifrauen.
Um politisch handlungsfähig zu bleiben, stellt Maria Amélia heraus, ist es weiterhin wichtig, sich in der Arbeit aufeinander zu beziehen: “Die Autonomie der Bewegung ist eine historische Notwendigkeit für den Befreiungskampf der Frauen. Aber an der Bewegung sollten sowohl autonome wie Parteifrauen teilnehmen.”
Auf dem Hintergrund ihrer eigenen politischen Erfahrungen und Entwicklung bestimmt Amélia Teles ihr Verständnis von feministischer Politik und ihr Verhältnis zur Linken in Brasilien. Sie beansprucht politische Autonomie der Frauenbewegung aber gleichzeitig die Offenheit, mit Gruppen der Linken und der Basisbewegung Bündnisse einzugehen. “Der Kampf um Frauenbefreiung sollte niemals in unserer Geschichte von der Suche nach allgemeinen gesellschaftlichen Lösungen abgekoppelt werden.”
Besonders lesenswert wird dieses Buch auch dadurch, daß in der Auseinandersetzung um das Verhältnis der feministischen Bewegung zu der Linken in Brasilien gewisse Parallelen mit der hiesigen gezogen werden können. Mich selbst hat am meisten fasziniert, daß in ihren Gedanken nichts von Bitterkeit zu spüren ist, sondern eine leidenschaftliche Entschlossenheit, eine grundlegende Gesellschaftsveränderung weiter voranzutreiben.
“brasil mulher – Kurze Geschichte des Feminismus in Brasilien” von Maria Amélia Teles. FDCL-Verlag/Verlag Libertäre Assoziation
“Jetzt haben die Leute das Sagen”
Der Colorado-Spitzenpolitiker und Ex-Präsident (1985-1990) Sanguinetti benutzte einen großen Teil seiner Redezeit dazu, das Schreckgespenst einer linken Regierung, womöglich mit Tupamaros (!) im Parlament, an die Wand zu malen, um vor allem noch am rechten Rand Stimmen zu gewinnen.
Montevideo mit Werbung überschwemmt:
Auf geht’s an die Arbeit
Kaum war die “Debatte des Jahres” beendet, da gab es natürlich bereits die neuesten Wahlprognosen. Die regierende Nationale Partei (Blancos) habe praktisch gleigezogen mit den Colorados, und das Encuentro Progresista liege dicht dahinter und habe in Montevideo noch um zwei Prozentpunkte zugelegt. Solche Fernsehduelle sind fast schon die Highlights im sonst eher öden uruguayischen Wahlkampf, und das Publikum ist dankbar, daß wenigstens bei diesen Gelegenheiten ein wenig Polemik und politischer Streit ausgetragen werden. Ansonsten werden die etwa zwei Millionen WählerInnen – in Uruguay besteht Wahlpflicht – weniger mit Inhalten, sondern hauptsächlich mit Hochglanzprospekten, Fähnchen und Handzetteln “erschlagen”. Im eher vornehmen Stadtteil Pocitos haben sich die Hunde- und EigenheimbesitzerInnen schon über die Massen von Wahlkampfzettelchen auf der Straße beschwert, die sie am Morgen durchwaten müssen, wenn der Vierbeiner Gassi geführt wird. Uruguays FernsehzuschauerInnen werden hart strapaziert. Schon außerhalb der Wahlkampfzeiten präsentieren die drei privaten und der einzige staatliche Fernsehkanal bis zu 50 Prozent Werbung im Programm. In der jetzigen heißen Wahlkampfphase dauert ein normaler Spielfilm mindestens drei Stunden, weil zwischen Waschmittel- und Deostiftreklame die Wahlspots plaziert sind. Fernsehwerbung ist teuer, und das Verhältnis zwischen TV-Spots der konservativen Parteien und denen der Linken dürfte etwa bei 5:1 liegen. Kommerzielle Werbeargenturen haben die Parteien beraten, und dabei sind dann so sinnige Sprüche wie ” Ein Uruguay für alle!” oder “Auf geht’s an die Arbeit…!” herausgekommen. Auch das Mitte-Links-Bündnis Encuentro Progresista war nicht viel kreativer und wirbt mit dem Slogan: “Jetzt haben die Leute das Sagen” Über die Bildschirme flimmern die Präsidentschaftskandidaten, die ihrer jubelnden Fan-Gemeinde zuwinken, und auf Montevideos Einkaufsstraße, dem 18 de Julio, dröhnen die Wahlkampfslogans und die Erkennungsmelodie aus den Lautsprechern der Parteibusse. Wahlkampf made in USA, könnte man meinen, und auch AktivistInnen der Linken beklagen durchaus selbstkritisch, daß ausgeklügelte PR-Kampagnen diesen Wahlkampf zunehmend bestimmen und weniger die viel beschworene militancia política, das politische Engagement der aktiven Basis.
Wahlkampf made in USA
Trotzdem dürfte es am Wahlabend äußerst spannend werden, denn nach den jüngsten Umfragen liegen die traditionellen Parteien Colotados und Blancos fast gleichauf mit jeweils 27 Prozent der Stimmen, dicht gefolgt vom Mitte-Links-Wahlbündnis Encuentro Progesista, das landesweit bisher bei rund 22 Prozent liegt. Etwa 13 Prozent der WählerInnen sind laut Umfragen noch unentschlossen und warten ab, was in den letzten drei Wochen noch an Skandalen und Skankälchen an die Öffentlichkeit kommt, und wie sich die Präsidentschaftskandidaten, selbstverständlich alles Männer, bei den Fensehduellen schlagen.
Montevideo Hochburg der Linken
Als sicher gilt heute schon, daß die Linke erneut die Wahlen in Uruguays Hauptstadt Montevideo gewinnen wird. Dort leben immerhin fast 50 Prozent der insgesamt etwa drei Millionen EinwohnerInnen des kleinsten südamerikanischen Landes. Die uruguayische Großstadtlinke wird in der Metropole mit einem bequemen Vorsprung erneut den Bürgermeister stellen. Dies wird ab 1. März 1995 der Stadtplaner Mariano Arana sein, kein Politprofi oder Technokrat, sondern eher der sympathische Intellektuelle von der Universität, mit Sinn für Bürgerbeteiligung und behutsame Stadterneuerung. Ihn erwartet keine einfache Aufgabe, vor allem wenn er wie sein Amtsvorgänger mit sehr wenig Finanzmitteln auskommen muß und gegen eine konservative nationale Regierung regieren müßte. Die nationalen Wahlen, und das wissen auch die KandidatInnen der Linken, werden in Uruguay allerdings im Landesinneren entschieden. Da gilt es, die Domäne der konservativen Parteien (Partido Nacional = Blancos und Partido Colorado) zu brechen, um eventuell die Sensation zu schaffen und Tabaré Vázquez, den ersten sozialistischen Bürgermeister von Montevideo, zum neuen Staatspräsidenten zu wählen.
Das Zweiparteiensystem ist geknackt
Vor fünf Jahren war es noch die große Sensation, als das Linksbündnis Frente Amplio zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Bürgermeisterwahlen in Montevideo gewann. Im Jahre 1994, genau 10 Jahre nach Beendigung der Militärdiktatur in Uruguay, hat die Linke das traditionelle Zweiparteiensystem endgültig geknackt. Sie hat durchaus Chancen, auch landesweit bei den Wahlen für eine Überraschung zu sorgen. “Wir haben noch vier Wochen Zeit, und es fehlen uns nur noch etwa fünf Prozentpunkte zum Wahlsieg”, meinte Tabaré Vázquez auf der Abschlußkundgebung eines Sternmarsches des Encuentro Progresista in Montevideo, an dem mehr als 40.000 Menschen teilnahmen. Vázquez weiß, wovon er spricht, und er weiß auch, daß die Frente Amplio tausende von AktivistInnen mobilisieren kann, die in Stadteilgruppen organisiert sind und in den bevorstehenden Tür-zu-Tür-Kampagnen für die Wahl des Encuentro Progresista werben werden – ein Vorteil, den die traditionellen Parteien trotz dickerer Finanzdecke für die teure TV-Werbung und die bezahlten Flugblattverteiler nicht so einfach wettmachen können. Trotzdem ist man auch in Uruguay vorsichtiger geworden, denn auch beim großen Nachbarn Brasilien hatten ja die Meinungsumfragen bis wenige Monate vor der Wahl dem linken Kandidaten Lula den Wahlsieg vorhergesagt.
In die Breite und ab durch die Mitte?
Die Linke in Uruguay setzt auf ein breites Bündnis, und Tabaré Vázquez hatte seine Präsidentschaftkandidatur davon abhängig gemacht, daß die Frente Amplio, in der über 20 linke und linksliberale Parteien und Organisationen zusammengefaßt sind, einem breiten Wahlbündnis unter anderem zusammen mit ChristdemokratInnen und DissidentInnen aus der regierenden Blanco-Partei zustimmt. Über das Zustandekommen des breiten Bündnisses Encuentro Progresista und vor allem über programmatische Fragen einer gemeinsamen Wahlplattform hatte es natürlich zuvor beim Kongreß der Frente Amplio im Juli dieses Jahres heftige Auseinandersetzungen gegeben. Vor allem der linke Flügel der Frente, MLN Tupamaros, UNIR und Teile der ehemaligen KP Uruguays kritisierten die moderaten Töne etwa bei den Themen Bedienung der Auslandsschulden, Verstaatlichung der Banken und Uruguays Rolle im zukünftigen gemeinsamen südamerikanischen Markt Mercosur. Auf dem Kongreß im Juli dieses Jahres fand sich keine Zweidrittel-Mehrheit, um das Programm der Frente Amplio aus den siebziger Jahren mit seinem anti-oligarchischen und anti-imperialistischen Grundtenor zu verändern. Trotzdem gab der Kongreß nach langen Debatten grünes Licht für die Verhandlungen zum Wahlbündnis Encuentro Progresista, ohne jedoch genaue Vorgaben für ein Regierungsprogramm zu machen. Das Bündnis ist geschmiedet, und das gemeinsame Regierungsprogramm ist vielen in der Frente Anplia zu light. Trotz massiver Kritik vom linken Flügel und Drohungen der Führungsspitze der Frente Amplio, “die linken Querulanten sollen doch austreten, falls ihnen die ganze Richtung nicht mehr paßt”, hat das Bündnis bisher gehalten. Die Einschätzungen gehen allerdings ziemlich weit auseinander, was im Falle eines Wahlsieges überhaupt an Veränderungen möglich oder erwünscht ist. Alle Beteiligten konzentrieren sich heute auf die gemeinsame Wahlkampagne, auch weil ihnen klar ist, daß ihr zukünftiges Gewicht innerhalb der Frente nicht zuletzt davon abhängt, wieviel Prozentpunkte ihre Gruppierung zum Gesamtergebnis für die Frente Amplio bzw. für deren Wahlbündnis Encuentro Progresista beiträgt.
Spannungen innerhalb der Frente
Innerhalb der Frente gibt es auch seit Monaten erbitterte Diskussionen, welches Gewicht die einzelnen Parteien und Organisationen haben sollen. Geht es nach dem Willen der mitgliedsstärksten Organisationen wie z.B. der Sozialistischen Partei (Tabaré Vázquez) oder der Asamblea Uruguay mit Danilo Astori an der Spitze, so sollen die Parteien in einem zukünftigen Leitungsgremium je nach Mitgliedsstärke und errungenen Wahlprozenten Stimmenanteile bekommen.
Vor allem der linke Flügel innerhalb der Frente, das MPP (Movimiento de Partizipación Popular), das sind unter anderem die MLN-Tupamaros und einige andere kleinere Organisationen, aber auch UNIR mit dem Movimiento 26 de Marzo und die Rest-KP (eher orthodoxer Flügel), wehren sich gegen diese Änderung und befürworten eine weitgehend gleichberechtigte Repräsentanz aller Organisationen und Parteien innerhalb der Frente Amplio. Das Thema ist vorläufig zurückgestellt bis nach den Wahlen, wird aber mit Sicherheit noch einige interne Debatten auslösen, und das wissen natürlich auch die politischen Gegner aus der Colorado- und Blanco-Partei. Die traditionellen Parteien schlafen nicht, und sie geben sich redlich Mühe, das Schreckgespenst einer linken Regierung an die Wand zu malen. Beim großen Fernsehduell führte der Colorado-Politiker Sanguinetti scharfe Angriffe gegen den linken Flügel der Frente Amplio vor allem gegen die Tupamaros. Vázquez konterte mit Daten und Fakten über die verfehlte Regierungspolitik unter Sanguinettis Präsidentschaft und deren Fortsetzung unter der amtierenden Regierung Lacallo (Nationale Partei/Blancos). Er betonte, daß die neoliberale Wirtschaftspolitik der verschiedenen konservativen Regierungen für die Mehrheit der uruguayischen Bevölkerung zum Alptraum geworden sei. “Über 70.000 Industriearbeitsplätze sind in den letzten sieben Jahren vernichtet worden, und über 50 Prozent der unter 24-jährigen sind arbeitslos oder haben keinerlei Aussicht, in ihrem Beruf Arbeit zu finden”, betonte Tabaré Vázquez und fügte hinzu, daß in Uruguay, durch staatliche Initiativen und Anreize, wieder verstärkt Arbeitsplätze vor allem auch im Industriesektor und in der Landwirtschaft geschaffen werden müssen. Er forderte einen grundsätzlichen Wandel in der Politik und eine Umverteilung der Lasten von unten nach oben und nicht, wie gehabt, in umgekehrter Richtung.
Flagge zeigen
Der Wahlkampf in Uruguay tritt jetzt in seine heiße Phase, und neben den angemieteten Werbeflächen, vollgeklebten Lichtmasten und bemalten Häuserwänden zeigen jetzt auch viele EinwohnerInnen der Stadt, welchem Kandidaten sie ihre Stimme geben werden. Mit Stickern, Autoaufklebern oder einem Wahlplakat am Wohnungsfenster oder vom Balkon wird Flagge gezeigt, und die Nachbarschaft erfährt, was sie eigentlich schon immer vermutet hatte – oder das genaue Gegenteil. Am Zeitungskiosk, im Lebensmittelladen oder in der Warteschlange bei Banken und Behörden diskutieren die Menschen über die Wahlen oder geben ihre Kommentare über Kandidaten oder die neuesten Enthüllungen über Korruption und Vetternwirtschaft in der Staatsbürokratie ab.
Fast täglich erscheinen neueste Umfrageergebnisse, und auch mit diesen Zahlen wird Politik und Wahlkampf gemacht. Die Colorados verlieren ihren bisher deutlichen Vorsprung gegenüber den Blancos, und das Encuentro Progresista holt leicht auf. Je nach Meinungsforschungsinstitut haben entweder die Blancos oder Colorados bislang noch leicht die Nase vorn. Innerhalb der regierenden Blanco-Partei holt der Lieblingskandidat des amtierenden Präsidenten Lacalle, Ex-Innenminister Dr. Andrés Ramirez kräftig auf gegen seinen Rivalen aus der eigenen Partei, den ehemaligen Direktor der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft Dr. Alberto Volonté, den wiederum der Präsident nicht leiden kann.
Kompliziertes Wahlsystem
Uruguays Parteienlandschaft ist kompliziert, und das Namens- und Kanidatenkarussell ist für AusländerInnen kaum durchschaubar. Jede Partei besteht aus zahlreichen Untergruppierungen, die bei den Wahlen ihre eigenen Listen zur Abstimmung stellen, auf denen unterschiedliche Präsidentschaftskandidaten stehen können. Die traditionellen Parteien Blancos und Colorados haben gleich jeweils drei Präsidentschaftskandidaten zur Auswahl. Das soll WählerInnenstimmen von links bis rechts abschöpfen. Das Mitte-Links-Wahlbündnis Encuentro Progresista hat sich auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten und Vizepräsidenten geeinigt, die auf allen Listen der über 20 Parteien und Gruppierungen stehen. Für die beiden Kammern des Parlaments erscheinen dann die KandidatInnen der jeweiligen Partei oder Gruppe. Uruguays WählerInnen müssen sich am Wahlsonntag durch einen Berg von Wahllisten wühlen, um die Liste ihrer Partei für die nationalen Wahlen und die Regionalparlamente in die Umschläge zu tüten. Um die Sache noch etwas komplizierter zu machen: In Uruguay wird nicht etwa der Kandidat Präsident, der absolut die meisten WählerInnenstimmen bekommen hat, sondern derjenige, dessen Partei im nationalen Maßstab vorne liegt. Ein Beispiel: Tabaré Vázquez vom EP erringt die meisten Stimmen, und trotzdem wird Sangiunetti Präsident, weil alle Colorado-Kandidaten zusammen mehr Stimmen bekommen haben als das EP und Sanguinetti innerhalb der Colorados die Nase vorne hat. Die vielzitierten politischen BeobachterInnen halten diese Variante sogar für ziemlich wahrscheinlich.
Wahlen und Referendum
Am 27. November wird in Uruguay gleichzeitig über zwei zentrale Themen eine Volksabstimmung durchgeführt. Zum einen geht es um eine Initiative, die in der Verfassung festlegen möchte, daß 27 Prozent des Staatshaushaltes für Bildung ausgegeben werden müssen.
Zum anderen sollen die WählerInnen entscheiden, ob die staatliche Sozial- und Rentenversicherung unangetastet bleiben soll. Beide Themen werden natürlich auch im Wahlkampf heftig diskutiert. Uruguay gibt heute nur etwa vier bis sechs Prozent der Haushaltsmittel für Bildung aus und steht in der internationalen Statistik damit noch hinter Ländern wie Senegal, dem Sudan oder Kolumbien. Ein uruguayischer Grundschullehrer verdient monatlich weniger als 250 US-Dollar, und 72 Prozent der LehrerInnen haben zumindest zwei Jobs nebeneinander. Die UNESCO fordert die “Entwicklungsländer” auf, mindestens 6 Prozent des Bruttoinlandprodukte für Bildung auszugeben. Uruguay ist heute meilenweit entfernt von diesem Ziel. 1965 wurden immerhin die jetzt wieder geforderten 27 Prozent des Staatshaushalts für Bildung ausgegeben. Heute sind die Schulen in einem beklagenswerten Zustand, viele davon müßten eigenlich wegen Baufälligkeit geschlossen werden. Es fehlt überall an Lehrmaterial, und auch die ehemals international berühmte staatliche Uni hat mehr als bescheidene Finanzmittel. Die meisten AkademikerInnen arbeiten eigentlich nur noch an der Uni, weil es sich für die persönliche Biographie gut macht. Parallel suchen sie sich noch einen anderen Job zum Überleben.
Referendum über Bildungs- und Gesundheitspolitik
Es steht völlig außer Zweifel, daß das uruguayische Bildungssystem in den letzten zwei Jahrzehnten völlig heruntergewirtschaftet wurde. Die politische Polemik geht nun darum, woher das Geld kommen soll. Die Linke schlägt Kürzungen im Verteidigungshaushalt, Abbau der Staatsbürokratie, Besteuerung von nicht genutztem Agrarland, und die Aussetzung der Bezahlung der Auslandsschulden vor. “Uruguay überweist täglich 2 Millionen US-Dollar für die Bedienung des Schuldendienstes”, schreibt die Wahlkampfzeitung des MPP und der MLN-Tupamaros, La Pulga (der Floh). Eine Mehrheit für das “Ja” zu diesem Thema, gilt als relativ wahrscheinlich, obwohl sich gerade die konservativen Parteien erbittert dagegen wehren, einen festen Prozentsatz für den Bildungsetat in der Verfassung zu verankern.
Auch beim zweiten Thema, Unantastbarkeit der staatlichen Sozial- und Rentenversicherung, gilt ein “Ja” als relativ wahrscheinlich. Sämtliche Versuche und Vorschläge einer zumindest teilweisen Privatisierung dieser Einrichtungen sind bisher immer auf vehemente Kritik bei der Organisation der RentnerInnen, der Gewerkschaften und der linken Parteien gestoßen. In der reichlich überalterten uruguayischen Gesellschaft ist die ältere Generation auch ein wichtiges Wählerpotential und zudem ziemlich gut organisiert.
Von Heiligenscheinen und Scheinheiligen
Um das Verhalten der Alternativhändler beurteilen zu können, ist es zuvor nötig, die Entwicklungen auf dem Weltkaffeemarkt nachzuvollziehen. Dieser war bis 1989 vom Weltkaffeeabkommen reguliert, einer Vereinbarung zwischen Kaffeeanbauländern (Brasilien, Kolumbien…) und den Verbrauchsländern (USA, BRD…), die Exportmengen festgelegte und den Preis bei etwa 1,20 US-Dollar pro Pfund (Libra) Rohkaffee stabilisieren sollte. Nachdem das Abkommen im Sommer ’89 nicht verlängert worden war, strömte der bislang zurückgehaltene Kaffeeüberschuß auf den Markt und drückte den Preis drastisch – bis auf den Tiefststand von 0,60 US-Dollar pro Libra Anfang 1992.
Weltmarktpreise
Die alternativen Kaffeevermarkter haben in ihrer Informationsarbeit immer wieder auf die katastrophalen Folgen dieses Niedrigpreises vor allem für die Kaffeekleinbauern hingewiesen, die nicht einmal mehr ihre Produktionskosten decken konnten. Diese Situation dürfte auch dazu beigetragen haben, die Idee von TRANSFAIR bei Weltläden und KritikerInnen der Kaffeekonzerne, die bisher nur auf alternativ vermarkteten Kaffee geschworen hatten, hoffähig zu machen, denn es war klar, daß GEPA und MITKA nicht den gesamten Kaffee der vom Preiszusammenbruch betroffenen Kleinbauern abnehmen könnten. Immerhin garantierten die auch von kommerziellen Händlern angebotenen TRANSFAIR-Sorten einer größeren Anzahl von Kleinbauern einen Richtpreis von 1,26 US-Dollar pro Libra.
Nun stellt sich schon die Frage, wie es sein kann, daß die Kaffeepreise dauerhaft unter den Produktionskosten liegen (von 1990 bis März ’94 überschritten sie die 0,75 US-Dollar-Marke nicht, s. Grafik). Nach den kapitalistischen Spielregeln müßten diejenigen Produzenten, die beim gegebenen Preis nicht mehr profitabel wirtschaften, ihre Produktion einstellen. Dadurch müßte das Angebot langsam wieder auf das Niveau der Nachfrage sinken und der Preis langsam wieder steigen – bis zum サGleichgewichtspreisß wenn sich Angebot und Nachfrage die Waage halten. Diesen Anpassungsprozeß hatten die Apologeten des freien Marktes von der Auflösung des Kaffeeabkommens zu er_warten behauptet, denn ihrer Meinung nach trug das Kaffeeabkommen die Schuld an der Überproduktion. Tatsächlich aber erhöhte sich die Produktion erst recht nach der Auflösung des Kaffeeabkommens – die Produzenten beantworteten das Sinken der Preise mit einer Ausweitung der Menge, verhielten sich also “marktwidrig” Da die Nachfrage stagnierte, vergrößerte sich das überschüs_sige Ange_bot, und der Preis sank noch mehr.
Die Dumpingpreis-Theorie
Das Phänomen der marktwidrigen Reaktionen auf dem Weltkaffeemarkt versucht der サalternativenichtkapitalistischn Nahrungsmitteln für den Eigenbedarf, sie benötigen aber noch eine bestimmte Summe Geldes für Gesundheit, Schule und einige Konsumgüter, die sie nur mit dem Anbau und Verkauf von Kaffee verdienen können. Ein Sinken der Preise kompensieren sie mit einer Erhöhung der Anbaumenge, um das Geldeinkommen zu stabilisieren – sie können die Kaffeeproduktion nicht einschränken oder einstellen, weil sie keine Alternative haben, an Geld heranzu kommen. Die Folge ist eine verstärkte Selbstausbeutung ihrer Arbeitskraft sowie die Überlastung der Böden (und damit auf Dauer Qualitätsverlust).
Vergleichbar damit ist das staatliche Verhalten von Ländern, deren wichtigstes (oder einziges) Exportprodukt Kaffee ist und wo der Kaffeeexport (oder sogar die Produktion) staatlich geregelt ist. Diese Staaten, die Devisen benötigen, um ihren Schuldendienst zu begleichen und Luxusgüter für die Eliten zu importieren, verhalten sich als Devisenmaximierer – ungeachtet der internen Kosten dieser Politik. Und wenn Kaffee (fast) die einzige Möglichkeit ist, an Devisen zu kommen, dann beantworten die Staaten ein Sinken des Preises mit einer Erhöhung der Exportmenge. Die Folge ist natürlich ein noch größerer Kaffeeüberschuß auf dem Weltmarkt und ein noch rascher sinkender Preis.
Massarat zeigt also, warum 26 Jahre lang keine Anpassung der Kaffeeanbieter an die Nachfrage stattgefunden hat, ob nun das Kaffeeabkommen in Kraft war oder nicht. Es gibt strukturelle Gründe für die Überproduktion, die der Überlebensproduktion der Kleinbauern und der von Devisen abhängigen Länder geschuldet sind, die vom Weltmarktgeschehen an den Rand gedrückt werden und sich deswegen nicht mehr profitmaximierend verhalten können. Infolgedessen ist der Kaffeepreis auf dem Weltmarkt auch kein “Gleichgewichtspreis” sondern ein Dum_ping-Preis.サDer Boom
Nun geschah etwas, womit niemand so richtig gerechnet hatte: Seit Anfang ’94 begannen die Kaffeepreise zu steigen und überschritten im Mai die 1,20 US-Dollar-Marke des früheren Weltkaffeeabkommens – bei サfreiem Spielen, um einen Preisanstieg zu bewirken. Die tatsächlich zurückgehaltenen Mengen wurden nämlich bereits im März ’94 vollständig freigegeben, als die vereinbarte Preisgrenze des Abkommens überschritten war – die Preise stiegen trotzdem weiter.
Der Grund für den Preisanstieg ist ein drastischer Produktionsrückgang in den letzten beiden Erntejahren: Zum ersten Mal seit 1985 (Dürre in Brasilien) war die Erntemenge zum Ende des Kaffeejahres 92/93, im März ’93, deutlich gefallen, und zwar gleich um 10 Prozent – nämlich 10 Millionen Sack. Dies hatte zunächst keine Auswirkungen, da aus den früheren Überschußjahren noch mehr als 10 Millionen Sack auf Lager waren und auch die Spekulation nicht reagierte – sie erwartete wohl einen erneuten Ernteanstieg auf das Niveau der Vorjahre. Doch als auch das neue Erntejahr im März ’94 wieder einen Produktionsrückgang um 1 Mio Sack brachte, bewertete der Markt den Trend als dauerhaft gewendet und reagierte auf die prognostizierte Angebotslückenoch warten sollen: Im Juli kletterte der Preis innerhalb weniger Wochen um gut einen US-Dollar auf 2,30 US-Dollar! Der rasanteste Preisanstieg seit 1975. Was war geschehen?
Während der Preisanstieg ab März als normalebeabsichtigtenanzen geschädigt und wird die Ernte 95/96 um etwa 20 Prozent reduzieren. Die kommende Ernte 94/95 ist nur geringfügig betroffen, da die Bohnen bereits gut entwickelt sind. Doch an der Warenterminbörse in New York ist die kommende Ernte seit langem verkauft, gehandelt wird eben der Kaffee der übernächsten Jahre. Nach der ersten Erregung hat sich die Lage etwas beruhigt, der Preis sank Ende August wieder auf 1,90 US-Dollar. Doch ein Rückgang auf das Niveau vor dem Brasilien-Frost wird in nächster Zeit nicht zu erwarten sein: Da Kaffee eine mehrjährige Pflanze ist, können andere Produzenten die Angebotslücke nicht so schnell schließen. Andererseits ist ein Nachfragerückgang aufgrund des hohen Preises auch nicht zu erwarten, da die durchschnittliche deutschamerikanische KaffeekonsumentIn hart im nehmen (oder geben?) ist: Egal wie teuer, an den Muntermachern für Auto und Mensch, Benzin und Kaffee, wird nicht gespart.
Das Ende der Dumpingpreise?
Nun stellt sich die Frage, ob mit der aktuellen Entwicklung die Dumpingpreis-Theorie widerlegt ist. Sicherlich muß der Brasilien-Frost als Sonderfall betrachtet werden, aber interessant ist ja, daß sich der Preis bereits vorher erholtfreiwillig
Freiwilligvom Markt erzwungenBei einsetzendem Preisverfall wie nach 1989 versuchen sie zunächst, die Kosten zu drükken, indem sie die Löhne der PflückerInnen kürzen, weniger Pestizide und Düngemittel einsetzen und die Pflege der Pflanzen vernachlässigen. Vielleicht nehmen sie auch ein oder zwei Jahre Verluste hin, in der Hoffnung, bei neu einsetzendem Preisanstieg schneller als die Konkurrenz, die erst neu anpflanzen muß, die Produktion steigern und Extra-Gewinne einfahren zu können. Bleibt aber der Boom aus, werden sie früher oder später die Produktion einstellen.
Genau das ist offenbar 1992 in größerem Maße geschehen. Nun behauptet aber Massarats Theorie nicht, daß es solche kapitalistischen Produzenten nicht gäbe. Prototyp sind ja gerade unsere beliebten Feindbilder, die Kaffeebarone, die das Land unter sich aufgeteilt haben, Hungerlöhne zahlen und aufmüpfige Arbeiter von den Schergen der Diktatur abholen und foltern lassen. Aber es gibt auch eine Reihe von kleineren und mittleren Unternehmen, die Kaffee produzieren – zu ungünstigeren Kosten und mit dünnerer Kapitaldecke als die Barone, und sie sind es, die beim Preisverfall zuerst aussteigen müssen.
Dies alles spricht aber nicht gegen die These der strukturellen Überproduktion. Diese sagt ja bloß aus, daß es immer einen Bodensatzh-kapitalistischer Produzenten entsteht. Anfangs, kurz nach 1989, haben sie diesen Effekt gewissermaßen überkompensiert: sie haben ihre Menge schneller gesteigert, als die anderen ausgestiegen sind. Dadurch sinkt der Preis noch mehr, weitere steigen aus; andererseits stößt die Mengensteigerung irgendwann an ihre Grenzen, und der Trend kehrt sich um: Es gibt insgesamt eine Mengenreduktion, aber immer abgemildert durch die gesteigerten Mengen der Subsistenzproduzenten. Die strukturelle Überproduktion ist also auch wirksam, wenn insgesamt die Anbaumenge sinkt – gäbe es sie nicht, wäre die Menge viel stärker gesunken und der Preis viel eher gestiegen. Die aktuelle Entwicklung spricht also im Kern nicht gegen die Dumpingpreis-Theorie.
Eine Prognose der etwas längerfristigen Entwicklung bestätigt dies, denn in absehbarer Zeit ist mit einer Umkehr des aktuellen Trends zu rechnen. Die plötzlich so hohen Preise werden die Produzenten, die vor zwei Jahren ihre Plantagen ganz oder teilweise stillgelegt hatten, dazu animieren, ihre Produktion wieder aufzunehmen bzw. auszuweiten. Es ist höchst wahrscheinlich, da wir in ein paar Jahren das Spielchen von Überproduktion und Preisverfall erneut erleben dürfen.
Warum dürfen Kleinbauern nicht vom Preisanstieg profitieren?
Es bleibt also noch die Frage zu klären, in wessen Taschen das “viele” Geld, was wir jetzt für unseren Kaffee bezahlen, letztlich hängen bleibt – bei den Konzernen wie bei den Alternativen!? Wieviel streichen die (Zwischen-)Händler und Spekulanten ein, was bekommen die BäuerInnen?
Eine Betrachtung der öffentlichen Reaktionen auf die gestiegenen Welt-Kaffeepreise ist durchaus dazu geeignet, leichte Verwunderung hervorzurufen. Die deutsche Kaffeewirtschaft, lange im Kreuzfeuer der alternativenSaboteureDeutlich verhaltener klingt der Jubel im alternativen Lager das ja seit Urzeiten gerechtere Preise gefordert hat. Der grundsätzlich geäußer_ten Freude folgen oft eine Reihe von Beden_ken auf dem Fuß: Bei den Mehreinnahmen handele es sich “erstens um die Gewinne der Spekulan_ten und zweitens um einen bescheidene Ausgleich für die Einnahmeverluste der kaffeeproduzierenden Länder in den letzten fünf Jahren, falls dort überhaupt mehr ankommt”, gibt z.B. die Kaffeegruppe von AG3WL und rsk zu bedenken, Mitinitiator von TRANSFAIR. Auch bei der Konkurrenz, MITKA-Mitglied El Rojito aus Hamburg, sollen auf jeden Fall die Kaffeebauern profitieren: “Wer hat denn nun sonst noch etwas von den höheren Weltmarktpreisen? Die Menschen, um die wir uns sorgen, jedenfalls in aller Regel nicht. Die kleinen ProduzentInnen, und dazu zählen auch die meisten Kooperativen, haben aufgrund fortwährender Finanzknappheit ihren Kaffee (zum Teil lange vor der Ernte, z.B. um Geld für Dünger zu bekommen) bereits verkauft. Zu dem Preis, der damals aktuell war, also lange vor dem Anstieg. Noch schlechter sind die dran, die an die Coyotes, die ausbeuterischen Zwischenhändler, verkaufen müssen, da sie keine Transportmöglichkeiten haben. Gut haben es nur die Händler bzw. Firmen, die Kaffee auf Lager behalten konnten, sie profitieren bereits jetzt von den höheren Preisen. Die kleineren ProduzentInnen haben nur dann etwas vom höheren Weltmarktpreis, wenn er auch bei der kommenden Ernte (94/95) noch hoch ist. Der aktuell hohe Weltmarktpreis ist (wenn mensch in den Marktmechanismen argumentiert) aufgrund der gesunkenen Produktionsmenge sicherlich gerechtfertigt. Ob nun in dieser Höhe, sei dahingestellt.”
Nun will ich hier keineswegs die Lage der Kaffeekleinbauern beschönigen, noch will ich bestreiten, daß den Löwenanteil der Spekulations-Hausse eben die Spekulanten (im übrigen auch nicht immer alle gleichzeitig, sondern die, die auf’s richtige Pferd gesetzt haben) einsacken. Doch sind m.E. zwei Dinge unübersehbar. Erstens wird der hohe Preis zwangsläufig auch den Kleinbauern etwas nutzen, und zweitens bringt der hohe Preis die Alternativ-Händler in argumentative und / oder handelstechnische Schwierigkeiten.
Die Rolle der Coyoten
Das Argument, das die Kleinbauern völlig dem Diktat der ausbeuterischen Zwischenhändler ausliefert, ist mir viel zu undifferenziert (was keinesfalls die teilweise üblen Praktiken leugnen soll). Der Hinweis, von ihnen erhielten die Bauern nur 30-50 Prozent des Weltmarktpreises, ist etwa so aussagekräftig wie die Feststellung, daß El Rojito den Kaffee etwa dreimal so teuer an uns verkauft wie einkauft. Natürlich bekämen die Bauern mehr Geld, wenn sie den Kaffee selbst zum Hafen brächten – doch sie hätten auch höhere Kosten für LKW, Benzin, Arbeitszeit. Und auch Coyoten kriegen am Hafen nicht den vollen Weltmarktpreis, sondern vielleicht 80 Prozent oder 90 Prozent; schließlich müssen die Spekulanten auch etwas verdienen. Hinzu kommt, daß Zinsen anfallen ,wenn die Coyoten die Ernte z.T. ein Jahr im Voraus bar bezahlen. Gerade in Zeiten, wo Kaffeeknappheit herrscht, ist darüberhinaus anzunehmen, daß die wachsende Konkurrenz zwischen den Coyoten die ausbeuterischen Zwischenhandelsprofite auf Normalmaß niederkonkurriert und damit die höheren Preise auch bis zu den PoduzentInnen durchsickern, die nicht selbst exportieren.
Ein genaueres Lesen der veröffentlichten Alternativ-Informationen macht dann auch deutlich, wie die Punkte eins und zwei ineinander greifen: “Schon im Mai waren dann die ausbeuterischen Zwischenhändler, die Coyotes, gekommen, um bei den Bauern die Kaffeeernte 1994/95 zu kaufen, direkt ‘vom Strauch’ und noch lange nicht reif. Sie zahlten höhere Preise, bar auf die Hand. Bargeld ist auch bei den Kooperativen-Bauern knapp, und so verkaufte mancher an die Coyotes. Die Genossenschaften könnten dadurch in Bedrängnis kommen, wenn sie nämlich mangels Kaffee die Verträge, u.a. mit den Alternativen Importorganisationen, nicht erfüllen können.”
Also bereits im Mai, noch vor dem Frost-Preisboom, hatten die Coyoten die seit März angefallenen Preiserhöhungen (auf 1,20 US-Dollar) zumindest teilweise weitergegeben und Konditionen offeriert, die die Kooperativen – Vertragspartner der Alternativhändler, die ja 1,26-1,32 US-Dollar gezahlt haben – nicht bieten konnten. Natürlich hatten die Coyoten in diesem Fall Glück und die Bauern Pech – sechs Wochen später hätten sie vielleicht das Doppelte fordern können. Aber nicht einmal die Coyoten haben den Frost vorhersehen können, sie haben nur auf die allgemeine Verknappung reagiert und hatten Glück – jetzt profitieren sie am meisten (wenn sie nicht wiederum schon vorher selbst feste Verträge mit ihren Abnehmern gemacht hatten) Allerdings ist bei der anhaltenden Kaffeeknappheit anzunehmen, daß die Coyoten bald wieder an den Kaffeesträuchern auftauchen und auch die 95/96er Ernte aufkaufen wollen. Und diesmal wird der frühzeitige Verkauf sicher nicht zum Nachteil der Kaffeebauern sein – falls nicht zur Abwechslung noch eine Dürre in Brasilien ausbricht.
Große und kleine Kaffeehändler
Bleibt noch die Frage, ob nicht doch die großen Kaffeekonzerne, die den Preisanstieg ja begrüßt hatten, die Hauptprofiteure sind. Dies wird zumindest von Seiten der Alternativen unter Hinweis auf gefüllte Lager mit billigem Kaffee, der jetzt teurer verkauft werden kann, vermutet. Sicherlich kann mensch davon ausgehen, daß dies für die erste Preiserhöhungsrunde im Juli im großen und ganzen zutrifft und die Kaffee-Konzerne sich ein Vorbild an ihren Brüdern und Schwestern aus der Mineralölbranche genommen und als informelles Kartell die sowieso irgendwann fällige Erhöhung etwas vorgezogen haben (wenn alle gleichermaßen erhöhen, verliert keiner Marktanteile). Doch inzwischen dürften die Vorräte (höchstens 2-3 Monatsrationen) erschöpft sein, der höhere Einstandspreis sich bemerkbar gemacht und der erbitterte Kampf um Marktanteile wieder begonnen haben.
Etwas günstiger gestaltet sich die Lage für die Alternativ-Händler von der MITKA. Sie kaufen nämlich immer gleich die gesamte Jahresmenge im Voraus, haben also bei Vertragsabschluß im März wie die anderen Jahre auch 1,32 US-Dollar (für Nica Organico 1,56 US-Dollar) bezahlt. Ausgleichende Gerechtigkeit, möchte mensch meinen, waren sie doch die ganzen Jahre standhaft und haben zeitweise das Doppelte des Weltmarktpreises auf den Tisch gelegt. Doch Heiligenschein und Scheinheiligkeit liegen oft nah beieinander. Denn, um zur Ausgangsfrage dieses Artikels zurückzukommen: Warum wurden im September die Preise erhöht?
El Rojito gibt uns eine offene Antwort:
“1. Den ProduzentInnen entsteht praktisch aus der Tatsache, daß wir den Kaffee so frühzeitig importiert haben, ein Nachteil, denn hätten wir den Kaffee erst im Juni ’94 gekauft, dann natürlich zu entsprechend höheren Preisen. 2. Alle anderen Kaffeesorten, ob herkömmlich oder alternativ gehandelt, werden teurer oder sind es bereits geworden. Wenn nun nur Sandino Dröhnung beim alten Preis bleibt, wird es einen ‘Run’ geben. Diesen erhoffen wir schon seit Jahren, aber bitte nicht, weil unser Kaffee billiger ist, sondern wegen anderer, qualitativer oder politischer Aspekte. Ein Run auf unsere Kaffees hätte zudem die Folge, daß die Menge, die wir auf Lager haben, nicht bis zum neuen Import ausreichen würde. Das will niemand.”
Zunächst können wir El Rojito beruhigen, ein ‘Run’ wäre nicht zu befürchten gewesen, haben doch die Konzerne mit ihrer Preiserhöhung (jetzt etwa 10.-/Pfund für ihre Spitzensorten) überhaupt erst zum alten Preisniveau der Alternativen aufgeschlossen. Und so schnell wechselt Frau Sommer nicht von der Krönung zur Dröhnung – müßte sie sich doch bei nächster Gelegenheit wieder herausreden, ihr Mann habe den Kaffee eingekauft oder gekocht, wenn er ihren Gästen nicht schmeckt.
Andererseits ist es natürlich bequemer, den Preis zu erhöhen und so ohne Mehraufwand eine Erlössteigerung mitzunehmen. Also genauso, wie es die Konzerne vorgemacht haben, bloß nicht nur 2-3 Monate, sondern ein halbes Jahr bis zu den neuen Vertragsabschlüssen im Frühjahr. Fairerweise ist zu erwähnen, daß El Rojito die Mehreinnahmen als Spende den Kaffeeprojekten zukommen lassen will. Von den anderen MITKA-Gruppen ist solche Großzügigkeit bisher nicht bekannt geworden. Aber je nachdem, wie das Geschäftsjahr läuft, ist es später immer noch bzw. aus steuerrechtlichen Gründen leider nicht mehr möglich.
Bei der Konkurrenz von der GEPA hingegen waren die neuen Vertragsabschlüsse bereits zum 1.10.94 fällig. Hier machte sich dann auch die momentane MarktmachtVerluste die sie rechnerisch erlitten haben, seit der Weltmarkt_preis über dem GEPA-Preis (1,26 US-Dollar) lag – und bekamen sie. Außerdem zahlt die GEPA ab jetzt den aktuellen Weltmarktpreis plus 10 Prozent, solange der Marktpreis über dem früheren Mindestpreis bleibt. Und darauf muß die GEPA auch hoffen: Sollte der Marktpreis zum Geschäftsjahresende am 31.3.95 wieder gesunken sein, werden wie dieses Jahr Abschreibungen in Millionenhöhe fällig! Wir drücken ihr die Daumen.
aus: Umbrüche 11/12, Nov. ’94
Öko-Zuschüsse als entwicklungspolitische Neuerung
Was ist von der noch relativ jungen GEF zu halten? Handelt es sich tatsächlich nur um ein weiteres Kreditangebot im Menü von IWF und Weltbank, wodurch sich die beiden einen grünen Touch geben können? Oder steckt diesmal vielleicht mehr als nur ein Lippenbekenntnis dahinter?
Wie alles anfing
Die GEF wurde 1990 auf Initiative der deutschen und französischen Regierung in erstaunlichem Tempo eingerichtet: bereits 1992 erfolgten die ersten Auszahlungen. Sie hat – trotz des IWF-typischen Begriffs “Fazilität” – nichts mit diesem zu tun; dafür aber ist die Weltbank als Durchführungsorganisation beteiligt – neben dem Nuten Nations Development Programme (UNDP) und dem United Nations Environment Programme (UNEP). Diese Konstellation ist grundsätzlich neu, da gerade Weltbank und UNDP ansonsten in vielen Bereichen konsequent aneinander vorbeiarbeiten. Zwar sind auch bei der GEF die Aufgaben nach dem üblichen Muster – Weltbank für finanzielle und UNDP für technische Projekte – getrennt, immerhin aber unter einem Dach zusammengefaßt. Die UNEP darf in einer Nebenrolle einen Wissenschaftlichen und Technischen Beirat einsetzen, der die Kriterien für die Mittelvergabe erarbeitet. Diese werden als reine Zuschüsse, also nicht als Kredite, vergeben.
Da in den meisten Fällen staatliche Organisationen die Empfänger dieser GEF-Zuschüsse sind, wurde von Anfang an ein Programm für Klein(st)zuschüsse über die UNDP für Projekte auf kommunaler, nichtstaatlicher Ebene als Gegengewicht etabliert. 10-15 Mio. US-Dollar bei Projekten in über 30 Ländern machen aus diesem Programmteil aber höchstens ein Fliegengewicht.
In der Pilotphase wurden insgesamt 750 Mio. US-Dollar für die genannten Bereiche verwendet, davon allein 42 Prozent für die Erhaltung der Artenvielfalt. (Zum Vergleich: Die Weltbank zahlt jährlich ca. 20 Mrd. US-Dollar aus.) Dieser Topf ist für Lateinamerika besonders interessant, da aus ihm die meisten Gelder nach Lateinamerika fließen, allen voran nach Mexiko und Brasilien mit jeweils 30 Mio. US-Dollar.
Kritische Stimmen und Reform
Die GEF wurde seit ihrer Einrichtung von vielen Seiten scharf kritisiert, insbesondere auch von internationalen Naturschutzorganisationen, die über die GEF Zuschüsse erhalten. Eine 1993 vom World Wildlife Fonds veröffentlichte Studie von über 100 Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Lateinamerika, Afrika und Asien kommt zu den folgenden Ergebnissen:
– Die GEF wurde von einigen wenigen Nord-Ländern unter Mißachtung jeglicher Süd-Perspektive (Umweltprobleme durch Armut, Bevölkerungsentwicklung, Verschuldung und mangelhaften Zugang zu Ressourcen) gegründet. Mit dem Stichwort “global” versuchen die Länder des Nordens in die Politik der Entwicklungsländer hineinzuregieren, wobei sie gleichzeitig von ihrer Verantwortung ablenken wollen.
– Die Weltbank, UNDP und UNEP sind für die GEF-Aufgaben ungeeignet. Die Bank hat bisher grundsätzlich soziale und Umweltaspekte von Projekten beflissentlich übersehen und ist nicht gerade für Transparenz und demokratische Konsultationen bekannt. UNDP und UNEP sind zu bürokratisch, um effektiv arbeiten zu können.
– Die GEF konzentriert sich auf kurzfristige Projekte, obwohl gerade der Umweltbereich langfristige Investitionen und Programme erfordert.
– Der Schwerpunkt der GEF liegt im Bereich staatlicher Unterstützung und läßt NRO fast überall außen vor.
Zu besonders heftigen Kontroversen hat die Beteiligung der Weltbank an der GEF geführt. Während einige NRO die Beteiligung der Weltbank an der finanziellen Verwaltung der GEF akzeptieren, bezweifeln die meisten die allgemeine Kompetenz der Bank im Bereich Umwelt. Die Kompetenz einzelner MitarbeiterInnen aus der Weltbank wird hingengen hoch gelobt.
Die Kritik an der GEF hat dazu geführt, daß sie nach der Pilotphase im März 1994 restrukturiert wurde bzw. werden soll. Um den Entwicklungsländern mehr Mitsprache zu verschaffen, wurde der GEF-Aufsichtsrat tatsächlich paritätisch besetzt: 16 Sitze gehen an die Entwicklungsländer, 14 an Industrie- und zwei an osteuropäische Transformationsländer. Für die Projektdurchführung bleiben allerdings weiterhin die drei genannten Organisationen verantwortlich, so daß von einer “grundsätzlichen Reform”, wie es die Geberländer gerne darstellen, bisher nicht die Rede sein kann.
Artenvielfalt: wann gibt’s Geld wofür?
Die von der UNEP aufgestellten Vergabekriterien für GEF-Zuschüsse sind sehr vage und werden teilweise recht fragwürdig gehandhabt.
Die GEF finanziert grundsätzlich nur Projekte, bei denen die Kosten für das Land gegenüber dem Nutzen zu hoch sind, als daß das Land das Vorhaben durchführen könnte. Einfaches Beispiel: Der Aufbau eines Nationalparks zum Schutz bedrohter Tierarten wird von der GEF als förderungswürdig eingestuft. Komplizierter wird es, wenn dieser Park für den Tourismus attraktiv sein könnte und das Land dadurch höhere Einnahmen (= höheren Nutzen) besäße. Aufgrund dieser Annahme finanziert die GEF nur die “Zusatzkosten”, die ihrer Ansicht nach nicht aus nationaler Tasche bezahlt werden können. Daraus ergeben sich so absurde Situationen wie die in Costa Rica: Durch den vom IWF-Programm aufgezwungenen Sparkurs mußte Costa Rica zwei Drittel des Personals für die Nationalparks entlassen. Dies erschwerte die Erhaltung des erreichten Parkstandards. Überdies sanken die Einnahmen durch den Ökotourismus, da nicht mehr ausreichend ReiseführerInnen zur Verfügung standen. Gleichzeitig finanzierte die GEF lediglich zwei Projekte zur “biologischen Forschung und Training des Parkmanagements”, da potentiell Einnahmen aus dem Ökotourismus vorhanden wären.
Die Vergabe von Geldern richtet sich weiterhin danach, ob das Projekt innovativ ist. Großvaters Lehren über den Umgang mit natürlichen Ressourcen sind nicht gefragt: neu ist gleich gut. Daß bei moderner Technologie oftmals die Kostenkontrolle aus den Augen verloren wird, liegt auf der Hand. Viele Pilotprojekte haben sich als so teuer erwiesen, daß sie nach Vergabe der GEF-Gelder nicht weitergeführt, geschweige denn auf andere Gebiete übertragen werden können.
In Lateinamerika werden neben den genannten in Costa Rica, folgende Projekte im Bereich Artenvielfalt gefördert:
Weltbank:
– Bolivien: Stärkung des Schutzzonen-Managements und der nationalen Institutionen über bolivianischen Treuhandfonds. (5 Mio. US-Dollar)
– Brasilien: noch kein Projekt festgelegt. (30 Mio. US-Dollar)
– Ecuador: Schutz der Artenvielfalt durch Stärkung der legalen Rahmenbedingungen und des Parkmanagements. (6 Mio. US-Dollar)
– Mexiko: Unterstützung des Managements von 20 Schutzgebieten. (30 Mio. US-Dollar)
– Peru: Etablierung eines Treuhandfonds für Management, Training, Ausbildung usw. im Bereich Artenschutz. (4 Mio. US-Dollar)
UNDP:
– Amazonasregion: Strategien zur Erhaltung natürlicher Ressourcen. (5 Mio. US-Dollar)
– Argentinien: Entwicklung eines regionalen Managementplans für Patagonien. (3 Mio. US-Dollar)
– Belize: Forschung und Beobachtung sowie Entwicklung eines Managementplans für das längste Felsenriff Lateinamerikas. (3 Mio. US-Dollar)
– Costa Rica: Finanzierung von biologischer Forschung und Training von Parkmanagement (8 Mio. US-Dollar)
– Dominikanische Republik: Protektion von Samana Bay, incl. wissenschaftliche Basisstudien. (3 Mio. US-Dollar)
– Guayana: Programm für nachhaltiges Tropenwaldmanagement. (3 Mio. US-Dollar)
– Kolumbien: Bewahrung der Artenvielfalt im Chocó. (9 Mio. US-Dollar)
– Kuba: Schutz und nachhaltige Entwicklung des Sabana-Camaguey Archipels. (2 Mio. US-Dollar)
– Uruguay: Schutz der Artenvielfalt in den östlichen Feuchtgebieten. (3 Mio. US-Dollar)
Bemerkenswert ist zunächst einmal die vage Formulierung der meisten Projekte und insbesondere auch der Fall Brasilien. Gerade dieses Beispiel zeigt, daß die Auswahl der Länder und Schutzgebiete eher aus politischen als aus ökologischen Gründen erfolgte.
Die oben genannte Kritik an kurzfristiger Finanzierung gilt auch für die aufgelisteten lateinamerikanischen Projekte: sie machen nur Sinn, wenn sie auch nach der GEF-Projektperiode (2-5 Jahre) weitergeführt werden. Die meisten Länder sind aber zur Zeit nicht in der Lage (oder auch nicht willens), für Projekte zum Schutz der Artenvielfalt Geld bereitzustellen. Ein geplanter Treuhandfonds wie in Peru oder die Unterstützung eines bereits existierenden wie in Bolivien ist unter diesen Umständen besser als stark eingegrenzte Projekte, da hierdurch Zahlungen über einen langen Zeitraum garantiert werden können. Eine Weiterfinanzierung der meisten anderen Projekte ist unwahrscheinlich, da bei der bisherigen Projektfinanzierung Länder mit großer Artenvielfalt wie Guatemala, Indien, Madagaskar, Malaysia, Tansania und Zaire ausgelassen wurden, die sich bei einer weiteren Runde stark zu Wort melden werden.
Die Projekte decken zudem sehr unterschiedliche Ökosysteme ab, vom tropischen Regenwald über Meeresbiotope, Feucht- und Trockengebiete. Wenn man sich die zur Verfügung stehenden Gelder ins Gedächtnis ruft und bedenkt, daß mehr oder weniger zu jedem Projekt intensive Studien aufgestellt und ausländische Experten bezahlt werden, dann entsteht der Eindruck, die GEF wolle ihre Vielfalt beweisen und übernimmt sich ganz ordentlich. Viele der genannten Projekte wurden unter – politischem – Zeitdruck bereits Ende 1993 eingeführt; Diskussionen und Evaluierungen von unabhängigen Gutachter oder NRO haben so gut wie gar nicht stattgefunden bzw. wurden mit der Entschuldigung “Mittelabflußdruck” unterbunden. Die meisten lateinamerikanischen Projekte fallen in die Kategorie der “wenig beeindruckenden Mittelabflußdruckprojekte”, allen voran Brasilien und auch Mexiko.
Erstaunlich ist auch die mangelhafte Aufmerksamkeit gegenüber politischen Zwängen. Selbst bestens geplante Projekte können scheitern, wenn Wirtschaftspolitik, Handelsabkommen, Strukturanpassungsprogramme und Gesetze über Bodeneigentum einen dauerhaften Schutz der Artenvielfalt behindern. Hinzu kommen noch Entwicklungsprojekte, die den Umweltschutz konterkarieren und oft von derselben Durchführungsorganisation stammen. Eine Aufstockung der GEF-Gelder, wie sie von allen Seiten berechtigterweise gefordert wird, wird unter diesen Umständen keine erhebliche Verbesserung des Artenschutzes bringen.
Scheitern an alten Strukuren
Nach dem bisher Gesagten verlief die GEF-Pilotphase nicht sehr beeindruckend. Auch in Zukunft wird sich daran nicht viel ändern, da insbesondere die Weltbank an ihrer üblichen Praxis festhalten wird: Auswahl nach politischen Gesichtspunkten, fast nur öffentliche Organisationen als Ansprechpartner, mangelnde Flexibilität bei Projektdesign und -durchführung, keine sozioökonomischen Studien, kurze Projektzyklen, Einsatz ausländischer ExpertInnen und rein symbolische Beteiligung der lokalen Bevölkerung. Bei der GEF können diese Probleme allerdings wenigstens abgemildert werden, wenn die beteiligten NRO – und gerade die großen – ihren Einfluß so stark wie möglich geltend machen. Die Weltbank läßt sich sonst normalerweise nicht in die Karten sehen, daher sollte jede Möglichkeit der Einflußnahme ausgenutzt werden. Bei der derzeitigen finanziellen Ausstattung ist die Auswirkung der GEF auf globale Umweltschutzmaßnahmen jedoch nur von marginaler Bedeutung. Die GEF bleibt ein Trostpflaster, das die eigentlichen Ursachen der Umweltzerstörung nicht angeht.
Der diskrete Charme des Neoliberalismus
Der strahlende Sieger
Mit dem Wahlergebnis vom 3. Oktober bestätigte sich ein Trend, der in den letzten Wochen immer unabwendbarer wurde. Der am 1. Juli mit der Einführung einer neuen Währung in seine entscheidende Phase getretene Wirtschaftsplan (Plano Real) hat die Präsidentschaftswahlen entschieden. Der Wahlkampf geriet zur “Melodie mit nur einer Note”, die Wahl wurde zu einem Plebiszit über den Plano Real. Cardoso hatte ihn als Wirtschaftsminister ausgearbeitet und als Kandidat zu seinem Haupttrumpf gemacht. Pünktlich drei Monate vor den Wahlen ließ die Einführung der neuen, an den US-Dollar gekoppelten Währung die Inflationsrate, die die schwindelerregende Marke von 45 Prozent im Monat erreicht hatte, drastisch fallen. Alle öffentlichen Tarife und die Preise von vielen Produkten des täglichen Lebens sind seit dem 1.Juli nicht mehr gestiegen. Diese für brasilianische Verhältnisse schon wundersame Stabilisierung entschied offensichtlich die Wahl. Alle Kritik der Opposition, hier werde keine Wirtschaftsreform eingeleitet, sondern ein Schauspiel zu Wahlkampfzwecken aufgezogen, lief offensichtlich ins Leere. Das Volk glaubte lieber dem Optimismus versprühenden Cardoso als den Warnungen der Linken. Die Lancierung des Plano Real ist wohl ein Lehrstück, wie bürgerliche Politik in einem Land mehrheitsfähig gemacht werden kann, in dem die Mehrheit der Bevölkerung von den Segnungen des Realkapitalismus ausgeschlossen ist. Eine Mischung aus Imagination und realer (zumindest kurzfristiger) Stabilisierung ließ Fernando Henrique zwar nicht als den großen Retter des Vaterlandes erscheinen (diese Figur hatte mit Collor Schiffbruch erlitten), aber als weisen und klugen Politiker, der das Land in eine bessere Zukunft führen kann und dem auf keinen Fall die Chance verwehrt werden darf, das angefangene Werk zu Ende zu führen. Die PT hatte offensichtlich die Wirkung des Planes unterschätzt und die Kraft der Anklage und des rationalen Argumentes überschätzt. Unterstützt wurde Cardoso massiv von den Medien, allen voran dem mächtigen Fernsehsender Globo, und der derzeitigen Regierung, die neue Zuversicht im Lande verbreiten ließen. Der unerschütterliche Charme des Kandidaten war dabei hilfreich. In der letzten Phase des Wahlkampfes profilierte sich Cardoso schon eher als Landesvater, der auch seinen Konkurrenten Lula lobte, denn als harter Wahlkämpfer.
Die häßliche Allianz
Gewiß, Cardoso ist kein wüster Populist, kein wilder Demagoge sondern ein intelligenter Intellektueller, der durch seinen Charme und seine Geschichte auch im fortschrittlichen Lager Unterstützung erhielt. So erklärten die Ikonen der brasilianischen Musik Caetano Veloso und Gilberto Gil ihre Präferenz für Cardoso, lediglich Chico Buarque blieb Lula treu. Der Sieg Cardosos ist auch ein Ausdruck davon, daß die größten Parteien des bürgerlichen Lagers, erschüttert durch die Korruptionsskandale, nicht in der Lage waren, eigene, erfolgversprechende Kandidaturen aufzubauen. So fiel die Wahl auf den Vertreter der PSDB, einer relativ kleinen Partei, die bisher lediglich den kleineren Bundesstaat Ceará regierte. Die PSDB, die überhaupt keine Verbindungen zur organisierten Arbeiterschaft hat, vertritt dennoch den Anspruch, die sozialdemokratische Partei Brasiliens zu sein. In Wirklichkeit ist sie wohl eher die “ideologischste” Partei des bürgerlichen Lagers. Sie hat am konsequentesten die Modernisierung des brasilianischen Kapitalismus auf ihre Fahnen geschrieben: Eine vollständige Integration in den Weltmarkt, die beschleunigte Privatisierung und die Deregulierung des Arbeits- und Sozialrechts sind die keineswegs allzu originellen Hauptachsen ihres Programms. Dabei redet Cardoso keinem primitiven Neoliberalismus das Wort, betont vielmehr, daß die aktive Rolle eines effektiven Staates in einem Land wie Brasilien unverzichtar sei, um die soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Das große Markenzeichen der PSDB-Regierung von Ceará ist dann auch ein Gesundheitsprogramm, mit dem die Kindersterblichkeit deutlich gesenkt wurde. Aber es waren nicht allein die für brasilianische Verhältnisse solide Regierung von Ceará und der Charme Cardosos, die den Wahlsieg ermöglichten, sondern ein breites Bündnis mit traditionellen Parteien der Rechten, insbesondere der PFL (“Partei der liberalen Front”), der zweitgrößten Partei Brasiliens, die sich im Prozeß des Übergangs zu einer zivilen Regierung 1984 aus einer Abspaltung der Partei der Militärs formiert hatte. Die PFL ist weniger eine politische Partei mit programmatischen Aussagen als ein Verein zur Sicherung des Zugangs zur Macht für die traditionellen Eliten des Landes. Sie vereinigt vor allem die Politiker, die es geschafft haben, seit der Militärdiktatur in allen Regierungen vertreten zu sein. Für die PFL war das Bündnis interessant, weil sie offensichtlich selbst keinen eigenen Kandidaten aufstellen konnte, der Aussichten hatte, Lula zu schlagen. Sie erwies sich damit geschickter und flexibler als die anderen bürgerlichen Parteien, die mit ihren eigenen Kandidaturen Schiffbruch erlitten.
Das Bündnis mit der PFL sicherte Cardoso die größte Fernsehzeit aller Kandidaten und die Unterstützung in den wirtschaftlich und politisch rückständigsten Teilen des Landes. Gleichzeitig gefährdete sie aber auch die ideologischen Grundlagen seines Regierungsprojekts. Denn für die konsequente Durchsetzung einer kapitalistischen Modernisierung müßte die zukünftige Regierung auch mit den sektorellen und korporativistischen Interessen brechen, für deren Vertretung gerade die PFL steht. Es könnte also sein, daß das Bündnis, das die Wahl Cardosos gesichert hat, die Umsetzung seines Modernisierungsprojektes gefährdet. So stand die PFL in den letzten Regierungen keineswegs für eine Verminderung des Staatsapparates, sondern für dessen klientilistische Funktionalisierung. Allerdings bekennen sich inzwischen die Führer der PFL eindeutig zu den neoliberalen Glaubenssätzen, weil sie wohl erkannt haben, daß es auf die Dauer schwierig ist, eine nationale Politik gänzlich ohne jegliches ideologisches Projekt zu verfolgen. Ob es sich dabei aber mehr um eine Fassade als um ein wirkliches Projekt handelt, wird die Zukunft zeigen müssen.
Fernando Henrique Cardoso hat viele Trümpfe in der Hand. Er ist mit einer großen Mehrheit gewählt, hat die volle Unterstützung von IWF und Weltbank und wird über eine solide politische Mehrheit verfügen. Seine Aufgabe ist es, in Brasilien kapitalistische Normalzustände herzustellen: Währungsstabilität plus forcierte Weltmarktintegration plus Privatisierungen. Die PSDB und ihr gewählter Präsident werden dabei nicht müde zu beteuern, daß sie keineswegs neoliberale Hardliner sind. Ob allerdings das Bündnis mit der PFL politischen Spielraum für auch nur vorsichtige soziale Reformen läßt, muß bezweifelt werden. Zumindest eine Agrarreform, die natürlich auch von der PSDB versprochen wird, ist mit der in der PFL organisierten Agrar-oligarchie nicht zu machen.
Die Niederlage der PT und
die Zukunft der Linken
Die geschickte Lancierung eines Stabilisierungsplanes vor den Wahlen war sicherlich der Hauptgrund für die Niederlage Lulas.
Von der PT werden als weitere Ursachen angeführt:
– Die massive Unterstützung von Regierung und Massenmedien für Cardoso.
– Die Mobilisierung von Vorurteilen gegen Lula: Ein Metallarbeiter, Arbeitsmigrant, Sohn einer bitterarmen Familie, ohne Hochschulabschluß und administrative Erfahrungen, das sei kein Typ für das Präsidentenamt.
Bedenklich ist, daß es der PT nicht annähernd gelungen ist, das gesamte Potential von Proteststimmen zu mobilisieren. Die Zahl der ungültigen und leeren Stimmzettel wird sich auf etwa 20 Prozent belaufen, die der Enthaltungen auf 15 Prozent, ein sehr hoher Anteil für ein Land in dem strikte Wahlpflicht gilt. (Das offizielle Endergebnis stand auch eine Woche nach den Wahlen nicht fest!) Einen großen Anteil von Proteststimmen konnte auch der drittplazierte Kandidat auf sich vereinigen: Der erzreaktionäre Politclown Eneas, der eine parteienunabhängige Einzelkandidatur bestritt, erreichte überraschende sieben Prozent der Stimmen und ließ damit alle anderen Kandidaten des bürgerlichen Lagers weit hinter sich. Neben zur Schau gestellter Skurrilität waren ein radikaler law-and-order-Diskurs sowie aggressive Anklagen gegen das politische System sein Markenzeichen.
Die “Radikalen” sind an allem schuld?
Natürlich werden auch bei der PT selbst die Ursachen für die Niederlage gesucht. Hier unterscheiden sich aber nun die Analysen je nach politischem Standort: Sieht der “rechte”, “moderate” Flügel der Partei das Fiasko eher in einer fehlenden Bündnispolitik mit Teilen des bürgerlichen Lagers begründet, analysieren die Parteilinken, daß die Schwäche der PT gerade darin lag, daß sie die soziale Polarisierung im Land nicht politisch ausdrücken und umsetzen konnten. Für die Presse ist der Fall eh klar: Die “bösen Radikalen” (oder “Schiiten”, wie sie hierzulande genannt werden), die angeblich die Partei beherrschen, haben eine größere Akzeptanz Lulas verhindert. Das Ausspielen des “guten” Lulas gegen die böse Partei war schon während des Wahlkampfes eines der Hauptthemen der Presse. Tatsächlich sind derartige Zuweisungen so holzschnitzartig verkürzt wie die Berichterstattung der bundesdeutschen Presse über die Auseinandersetzungen innerhalb der BündnisGrünen. Die PT ist eine komplexe, nicht einfach zu verstehende, pluralistische linke Partei. Auch die von deutschen Linken immer wieder gestellte Frage, ob denn die PT nun endgültig ins sozialdemokratische Fahrwasser geraten sei, provoziert schon die Simplifizierung. Die PT ist entstanden und gewachsen als eine Formierung jenseits und gegen sozialdemokratische und orthodox-kommunistische Strömungen, einen großen Einfluß hatten linkskatholische Gruppen. Die PT hat eine besondere brasilianische Geschichte, die nicht in (europäische) Prokrustesbetten zurechtgestutzt werden sollte. Bis heute hat sich die PT das Recht, interne Tendenzen zu bilden, bewahrt. Sie ist ein Sammelbecken verschiedenster linker Strömungen, von mandelistischen Trotzkisten, über Ökosozialisten bis hin zu sozialdemokratischen Reformaposteln. Und trotz aller Widersprüche ist die PT die politische Partei der vielfältigen sozialen Bewegungen in Brasilien. In dieser Vielfalt lassen sie zwei Grundpositionen ausmachen: für die Parteilinken ist die Metapher des “Bruchs” zentral. Die Partei steht für den grundsätzlichen Bruch mit den hegemonialen Interessen in Brasilien und dem vom IWF oktroierten neoliberalen Modells.
Für die “Rechte” steht die Entwicklung einer reformerischen sozialen Kompetenz im Vordergrund. Die PT muß sich auf der Ebene, auf der sie bereits Macht ausübt (Bürgermeister) als konsequente Reformkraft beweisen, die neue Prioritäten in der Sozialpolitik setzen kann und damit den Staat von einem privatisierten Verteilungsmechanismus der Eliten in ein Verteidigungsinstrument der Unterprivilegierten transformiert ( vgl. auch die Stellungnahmen der PT-Spitze zur Wahl ). Die Unterscheidung zwischen Linken und Rechten in der Partei läßt leicht reale Debatten verschwinden. So sind viele der Parteilinken von einer ungetrübten Orthodoxie beherrscht, die es ihnen zum Beispiel auf dem letzten Parteitag leicht machte, die Forderung nach Entkriminalisierung der Abtreibung aus dem Programm zu streichen, leichter jedenfalls als viele “Rechte”, die feministische Positionen innerhalb der Partei verteidigen. Nach der Wahl wäre für die Partei sicherlich eine Diskussion über die Möglichkeiten (nach der Fixierung auf einen möglichen Präsidenten Lula) linker Politik in Brasilien ratsamer als gegenseitige Schuldzuweisungen.
Wahlerfolge der Linken
Löst man sich von den gescheiterten Hoffnungen beim Kampf um die Präsidentschaft, dann zeigt das Wahlergebnis auch positive Aspekte. Die PT wird die Anzahl ihrer Abgeordneten von 35 auf etwa 70 erhöhen, sie wird vier SenatorInnen wählen (bisher 1), und in drei Bundesstaaten sind ihre Kandidaten in die Stichwahl um den Gouverneursposten gelangt, in einem (Espirito Santo) mit sehr guten Erfolgsaussichten. Bisher hat die PT noch nie einen Gouverneur gestellt. In den Senat wird mit Benedita da Silva eine ehemalige Hausangestellte einziehen. Daß ein schwarze Frau in Rio mit diesem sozialen Hintergrund in den Senat gewählt wird (jeder Bundesstaat wählte nur zwei SenatorInnen!), macht schon deutlich, wie die PT die politische Kultur Brasiliens beeinflussen kann. Mit einer gestärkten Parlamentsfraktion steht die brasilianische Linke nun vor der Aufgabe, eine konsequente Oppositionspolitik gegen das neoliberale Modernisierungsprojekt zu organisieren.
Daß Brasilien in Lateinamerika bisher einen Sonderfall darstellt, liegt nicht zuletzt an den starken sozialen Bewegungen. In Brasilien dominiert die der PT nahestehende Gewerkschaftsbewegung (zusammengeschlossen im Dachverband CUT). Es gibt also durchaus ein organisiertes Widerstandspotential. Eine große Herausforderung hat die PT zwar erkannt, aber nicht gelöst: Ihre Stärke liegt im organisierten Sektor der Gesellschaft, in den Großbetrieben, im öffentlichen Dienst, in einem Sektor, der immer mehr seine Integrationskraft für die brasilianische Gesellschaft verliert. In den Kleinstbetrieben, im informellen Sektor, bei den Ausgegrenzten und Marginalisierten hat die Linke bisher wenig organisierende Kraft entwikkelt. Nur wenn die Ausgeschlossenen politische Kraft gewinnen, wird sich ein wirksamer Widerstand organisieren lassen.
Die Anderen
Angesichts der Polarisierung zwischen Lula und Cardoso konnten die anderen Kandidaten mit Ausnahme des bereits erwähnten Eneas nur Statistenrollen spielen. Die Wahl bedeutet auch das Ende eines Politikers, der eine herausragende Rolle in der jüngsten brasilianischen Geschichte gespielt hat: Leonel Brizola konnte ganze drei Prozent der Stimmen erringen. Brizola hatte in den sechziger Jahren das Erbe des Nationalpopulismus des früheren Präsidenten Getulio Vargas angetreten, er hatte als Gouverneur erbitterten Widerstand gegen den Militärputsch geleistet und war bei der Rückkehr aus dem Exil einer der großen Pole der Opposition. Zweimal zum Gouverneur von Rio gewählt, kennzeichnete sein zweites Mandat den Niedergang: Administrative Inkompetenz, explodierende Gewalt und ein zu lange durchgehaltenes Bündnis mit dem unsäglichen Collor ließen den Stern Brizolas sinken. Sein linkspopulistischer Diskurs, seine wütenden Anklagen gegen den Fernsehsender Globo und den IWF gerieten immer mehr zur Politfolklore. Überraschenderweise hat aber seine Partei, die PDT, ein beachtliches Ergebnis erzielt. In Paraná wurde der populäre Exbürgermeister von Curtiba, Jaime Lermer, bereits im ersten Wahlgang zum Gouverneur gewählt, in Sâo Paulo steht der Kandidat der PDT im 2. Wahlgang. Außerdem gewann die PDT in Mato Grosso (in einem breiten Bündnis, das auch die PT einschloß), und sie hat in zwei kleineren Staaten gute Chancen im zweiten Wahlgang. Der Kandidat in Sâo Paulo ist ein wüster Demagoge, der seine Karriere bei den Militärs begonnen hat, und nur die in Sâo Paulo bedeutungslose PDT wählte, um einen politischen Raum zu haben. Ihm werden auch wenig Chancen gegen den Kandidaten der PSDB, Mario Covas, eingeräumt. Interessanter ist der Kandidat der PDT in Rio, Garotinho, ein junger Newcomer mit populistischem Diskurs, aber eindeutig linkem Akzent. Er sucht für den zweiten Wahlgang die Unterstützung der PT (und wird sie auch bekommen), um eine “Front der Linken” aufzubauen. Garotinho hat realistische Chancen, in Rio zu gewinnen. Mit der Achse Rio – Paraná wäre die PDT wieder ein Schwergewicht in der brasilianischen Politik und hätte die große Chance, sich durch eine pragmatische Opposition zu Cardoso weiter zu einer möglichen Alternative bei dessen Scheitern zu entwickeln. Garotinho wenigstens läßt keine Zweifel, daß die Präsidentschaft sein großes Ziel ist.
Auch der Kandidat der größten Partei Brasiliens erlitt ein Fiasko: Mit nur fünf Prozent blieb der Kandidat der PMDB, Orestes Quercia auf der Strecke. In Sâo Paulo, das die PMDB seit 12 Jahren regierte, ist ihr Kandidat im ersten Durchgang gescheitert. Allerdings wird die PMDB weiterhin die stärkste Fraktion im neuen Parlament bilden. Aber sie wird immer mehr zu einer Partei lokaler Kaziken degenerieren, ohne nationale Kraft.
Reaktionen aus der PT auf das Wahlergebnis
(Quelle: Jornal do Brasil vom 8.10.)
Kasten 1
Jos Genoino, Abgeordneter der PT, der die meisten Stimmen erhielt, Führer des “rechten” Flügels der PT: “Wenn es auch auf der einen Seite wahr ist, daß wir einer breiten und mächtigen Front gegenüberstanden, die sich um die Kandidatur Fernando Henrique Cardosos scharte, so dürfen wir es doch nicht unterlassen, unsere eigenen Fehler einzugestehen. 1. Das Fehlen einer Bündnispolitik, die in der Lage gewesen wäre, Vertrauen in weiten Sektoren der Gesellschaft zu schaffen. 2. Unserer Wahlkampagne gelang es nicht, ein realisierbares Regierungsprogramm vorzustellen, das auf Probleme Antworten gibt wie die Reform des Staates, die soziale Krise, Sozialpolitik, ökonomisches Wachstum mit Einkommensverteilung, Stabilisierung und Inflationsbekämpfung. Zu diesen Punkten haben wir nur allgemeine Aussagen präsentiert und waren unfähig, der konkreten Existenz des Reals Rechnung zu tragen. 3. Wir haben eine wenig kreative Kampagne gemacht, bei der wir nicht die administrativen Erfahrungen der PT herausgestellt haben, und konnten somit den Vorurteilen gegen die PT und Lula nicht entgegentreten. 4. Materielle Ausstattung und Leitung unserer Kampagne waren wenig professionell.”
Kasten 2
Aloizio Mercadante (Vize Lulas): “Wir müssen die Partei neu strukturieren, insbesondere im Norden und Nordosten, wo eine Oligarchie die Medien beherrscht und die Zivilgesellschaft schwach ist. Die PT muß mit der Zivilgesellschaft interagieren…Wir müssen Mechanismen schaffen, damit die Leute, die an der Kampagne teilgenommen haben, permanent in der Partei arbeiten, Künstler zum Beispiel und die Leute aus dem Kulturbereich. Auch die Religiösen und die Jugend müssen mehr Gewicht in der Partei haben. Dasselbe gilt für die Unternehmer, die mit einem Unterstützungskomitee eine große Beteiligung an der Kampagne hatten.”
Schluß mit den Tendenzen?
“Ich glaube nicht, daß wir interne Meinungstendenzen auslöschen werden, aber wir müssen die Tendenzen als Formen der Organisation überwinden. Diese Kampagne ist das Ende eines Zyklus, nach dem wir über eine neue Struktur nachdenken müssen. Wir müssen zum Beispiel eine bessere Beziehung zu den von uns geleiteten Kommunalverwaltungen und zu unseren Abgeordneten haben.”
PT als linke Sozialdemokratie?
“Ich glaube, die traditionellen Modelle der Linken sind überholt und die PT entstand schon, indem sie sie in Frage stellte. Deshalb haben wir im Gegensatz zu den orthodoxen Parteien der Linken in aller Welt überlebt und sind eine große Kraft in unserem Land… Ich weiß nicht ob man uns als linke Sozialdemokratie etikettieren kann… Wir müssen eine Partei sein, die mehr die Institutionen achtet. Die PT kann nicht nur eine Partei des Protestes sein, sie muß alternative Vorschläge machen. Wir müssen unsere Hegemonie nicht durch Negation, sondern durch Affirmation aufbauen.”
Wird es Änderungen im Programm geben?
“Das heißt auch, wir müssen unser Programm ändern. Wir werden zwar niemals die These vom Minimalstaat akzeptieren, aber wir müssen anerkennen, daß das national-populistische Modell ausgespielt hat. Wir müssen eine Idee des Öffentlichen schaffen, statt uns auf den Staat zu fixieren.”
Kasten 3
Lula da Silva: In der ersten Pressekonferenz nach der Wahl, kennzeichnete Lula seine zukünftige Rolle als “Wächter der Bürgerrechte” und versprach eine “nicht-systematische Opposition, die sich nicht nach unseren Programm ausrichten wird, das keine Mehrheit gefunden hat, sondern nach dem Programm Cardosos, damit seine Versprechungen nicht vergessen werden.” Lula stellte dabei folgende Versprechungen des Kandidaten heraus: Verdoppelung des Mindestlohnes (von 70 auf 140 US-Dollar), die Schaffung von 12 Millionen Arbeitsplätzen, die Ansiedlung von 400.000 Familien auf dem Lande und ausreichende Schulplätze für alle Kinder. Gleichzeitig erklärte er, daß er kaum an einer Regierung Cardoso teilnehmen könne, die auf den jetzigen Allianzen aufbaut.
Schwarze Feministinnen gehen eigene Wege
LN: Viele Frauen von CRIOLA haben früher bei CEAP (Centro de Articulâcao das Populacoês Marginalizadas) mitgearbeitet, das sich für die Rechte der Straßenkinder und der schwarzen Frauen einsetzt. Was war der Anlaß, CRIOLA als eigene Organisation zu gründen?
Neusa das Dores Pereira: Alle zehn Frauen von CRIOLA haben irgendwann einmal mit CEAP zusammengearbeitet, zwei von ihnen gehörten 1989 zu den Gründerinnen von CEAP. Alle Frauen kommen aus den verschiedensten sozialen Bewegungen, sie waren im Gesundheitsbereich aktiv, in der Gewerkschaft und in Bürgerinitiativen. Wir sahen die Notwendigkeit, uns autonom zu organisieren. Denn als schwarze Frau konnten wir entweder an der feministischen Bewegung teilnehmen, wo die weißen Frauen alles bestimmen oder an der Bewegung der Schwarzen, wo die Männer im Vordergrund stehen. CEAP veröffentlicht viel über Repression und die Morde an Straßenkindern. Hauptsächlich ging es um die Situation der Jungen auf der Straße und in diesem Zusammenhang wurde die Frau nur als Mutter gesehen. Wir wollten mehr zur Situation von schwarzen Frauen arbeiten. Daher entstand 1992 CRIOLA, um neue Wege zu suchen.
Wie sieht die Arbeit von CRIOLA aus?
In der Struktur, die wir seit Dezember 1993 haben, ist CRIOLA in verschiedene Gruppen unterteilt: Im Kulturbereich geht es um schwarze Alltags-Kultur, die Auseinandersetzung mit der afro-brasilianischen Religion und den Aufbau von Kunstkooperativen. SOS-Gesundheit arbeitet zur Aidsprävention und zur Kampagne gegen Sterilisation. Wir nehmen teil am Netzwerk gegen rassistische und sexuelle Gewalt und an der Kampagne gegen Sextourimus und Kinderprostitution. SOS-CRIOLA bietet Unterstützung und Beratung für schwarze Frauen und Mädchen, die Opfer von Gewalt wurden, initiiert werden Selbsthilfegruppen und therapeutische Gruppen. Criola, Criolinha, Criolona arbeiten derzeit mit Mädchen und jungen Frauen und beabsichtigt in Zukunft ebenfalls mit älteren Frauen zu arbeiten. Weiter gibt es das Dokumentationszentrum und Dàgbá Criola. Dàgbá ist ein Wort aus dem Yoruba, das “Wachsen” bedeutet. Ideen müssen wachsen und brasilianische und internationale Netzwerke entstehen. Wir beteiligen uns an der schwarzen Frauenbewegung in Lateinamerika und der Karibik, an der Kampagne gegen häusliche Gewalt, an der Bewegung “Pro Mädchen” und führen Workshops zu “Geschlecht und Rasse” mit Streetworkern durch.
Mein Traum ist es, das Dokumentationszentrum aufzubauen. Es beruht auf drei Schwerpunkten: 1. die schwarze Geschichte, besonders die der schwarzen Frauen zu dokumentieren, 2. die Verbindung zu anderen Gruppen herzustellen und Informationen in einer Sprache weiterzugeben, die von den sozialen Bewegungen verstanden wird und 3. eine eigene Analyse von Daten, die sich von den offiziellen, manipulierten Statistiken absetzt, welche oft ein verzerrtes Bild der Realität wiedergeben.
Während der Dokumentationsarbeit bei CEAP haben wir immer wieder in den Zeitungen von Morden an schwarzen Frauen gelesen. Deshalb haben wir bei der Justiz genaue Daten nach Alter und Hautfarbe der ermordeten Frauen angefordert. Erst nachdem ein Abgeordneter unser Anliegen unterstützt hat, erhielten wir überhaupt eine Reaktion auf unsere Nachfrage und dann waren die Informationen unvollständig, ohne Angabe der Hautfarbe und des Alters. Aufgrund der Orte und Charakteristika, wo die Verbrechen stattfanden, wissen wir aber, daß sehr viele junge und viele schwarze Frauen ermordet wurden. Daher finden wir es wichtig, ein eigenes Dokumentationszentrum aufzubauen. Wir richten uns mit unseren Informationen speziell an Frauen, die wenig lesen und nicht den Umgang mit Computern gewöhnt sind und wollen das Dokumentationszentrum entmystifizieren. Wir wollen die Frauen direkt erreichen und mit ihnen zusammenarbeiten in ihren Bereichen wie Haushalt, Gewerkschaft und Kirche.
Wie sehen die Kontakte zur feministischen Bewegung aus?
Wir arbeiten mit der feministischen Bewegung in der Kampagne gegen Sterilisation zusammen. Wenn wir Daten über die Situation der Schwarzen brauchen, wenden wir uns an die Bewegung der Schwarzen. Wir bewegen uns zwischen beiden Bewegungen. Die schwarze Frauenbewegung ist gleichzeitig schwarze und feministische Bewegung. Das Wort “feministisch” erschreckt noch immer, es gibt viele negative Assoziationen wie lesbisch, eurozentrisch, Frauen, die Männer hassen. Deshalb möchten viele Frauen das Wort feministisch nicht benutzen und sprechen lieber von Frauenbewegung oder weiblicher Bewegung. Wir haben eine feministische Orientierung und versuchen ständig, den Frauen klarzumachen, daß sie feministisch sind.
Andererseits ist es sehr schwierig, mit der feministischen Bewegung zusammenzuarbeiten. Frauen aus der Unterschicht machen oft die Erfahrung, daß sie wegen ihrer Ansichten von den weißen Feministinnen als nicht feministisch abgelehnt werden. “Nein, ihr seid keine Feministinnen”, heißt es, als gäbe es ein “Feministómetro”, ein Meßgerät für Feminismus. Wenn Landarbeiterinnen, Gefangene, Prostituierte in die feministische Bewegung eintreten, verziehen sich oftmals die Radikalfeministinnen.
Wir schwarzen Frauen haben in der feministischen Bewegung immer wieder die Erfahrung gemacht, daß bei den Diskussionen etwas fehlte, ebenso wie innerhalb der Bewegung der Schwarzen, wo der Diskurs über das Geschlecht immer ausblieb. Die schwarze Frauenbewegung muß ihren eigenen Weg entwickeln. Zur Zeit müssen wir uns eigenständig organisieren, um unsere eigenen Ideen und Aktivitäten, um eine eigene Sprache entwickeln zu können. Später können Wege wieder gemeinsam beschritten werden. Wenn wir jetzt unsere Räume öffnen, werden sie von Männern oder weißen Frauen vereinnahmt.
Unser Verhältnis zur weißen feministischen Bewegung ist weiterhin schmerzlich. Wenn wir bei feministischen Treffen einen Workshop anbieten, kommen ausschließlich schwarze Frauen, die weißen Frauen zeigen kein Interesse. Aber sobald wir ein eigenes Treffen für schwarze Frauen organisieren, möchte plötzlich jede teilnehmen. Sie werfen uns vor, wie absurd es sei, andere auszuschließen, kritisieren uns als zu radikal. Genauso ist es mit den Männern. Aber wenn wir innerhalb eines Treffens der Bewegung der Schwarzen über das Thema schwarze Frauen diskutieren wollten, waren wir immer unter uns.
Ihr beteiligt Euch an der Kampagne gegen Sextourismus und Kinderprostitution. Wie ist die Situation in Rio und was sind Eure Ziele bei der Kampagne?
Für uns Frauen von CRIOLA ist das ein ganz neues Thema. Ich habe an verschiedenen Konferenzen zum Thema Sextourismus teilgenommen, unter anderem in Deutschland. Sextourismus wird hier als Phänomen wahrgenommen, aber nicht zur Diskussion gestellt. Deshalb werden wir im Dezember dazu ein Treffen in Rio veranstalten.
In Copacabana, wo ich mich am besten auskenne, haben viele Mädchen und Jungen mit Sextourismus zu tun, gerade in Rio sind viele Jungen im Sextourismus tätig. Es wird als etwas selbstverständliches betrachtet und nur im Zusammenhang mit Verbrechen erwähnt. Eine weit verbreitete Einstellung ist, “ach, die Mädchen wollen dieses Leben” und in der Tat, suchen die Mädchen einen Gringo zum Heiraten. In dem Hochhaus, in dem ich lebe, wohnen etwa 20 bis 30 junge Frauen, die sich nicht als Prostituierte verstehen, sondern als Mädchen, die “Programme” mit Touristen durchführen und ihr Traum ist es, einen Touristen zu heiraten. Da gibt es diese Märchenvorstellung. Sie glauben, daß es in Deutschland viele Adlige gibt, die zwar verarmt sind, aber im Vergleich zu Brasilien noch viel Geld besitzen und in einem Schloß mit Hausangestellten wohnen.
Die weißen Männer kommen nach Brasilien und suchen dort eine schwarze junge Frau, um sie mit nach Deutschland zu nehmen. Viele glauben an diesen Märchenprinzen, der aus Deutschland kommt, aus der Schweiz oder aus Italien.
Wenn Du ihnen sagst, daß dies eine große Lüge sei, antworten sie, daß sie die Chance nicht ungenutzt lassen wollen und sie noch jung seien. Die eigene Familie glaubt daran. Sie glauben, daß es der Tochter sehr gut gehen wird, wenn sie nach Deutschland heiratet. Und dann bekommen sie Briefe, in denen steht, wie gut es ihnen geht. So schließt sich der Kreis der Illusionen.
Anders ist die Situation der Frauen aus der Mittelschicht, die besser ihre Interessen wahrnehmen können. Sie sprechen verschiedene Sprachen, sind mit ihren Familien gereist und kennen schon andere Länder. Sie wollen Karriere machen und am Konsum teilhaben, sie haben konkrete Vorstellungen, etwa jemanden zu heiraten, um nach New York zu ziehen. Es ist ein Unterschied, ob die Mädchen reisen wollen, Europa kennenlernen möchten und wissen, diese erreichen sie durch einen Gringo, den sie kennenlernen, oder ob sie sich vorstellen, einen Adeligen zu heiraten und in einem Schloß zu leben.
Die schwarzen Mädchen aus den armen Schichten verhandeln nicht. Das ist der Unterschied zu einer erwachsenen Prostituierten, die weiß, welchen Preis sie verlangen kann. Die Mädchen auf der Straße haben dagegen überhaupt keine Verhandlungsposition. Sie verlieben sich in die Europäer, die sie beachten, ihnen 10 Cruzeiros geben und ein Essen bezahlen.
Welche Rolle spielt die Ideologie des “Weißerwerdens”, des embrancimento, dabei?
Eine ganz Beachtliche, denn die schwarzen jungen Frauen auf der Straße glauben, daß sie selbst nichts wert sind. Sie übernehmen das Bild, das die Gesellschaft von ihnen hat, die sie als dreckig, dumm, gefährlich, als Analphabeten betrachtet. Wenn dann ein blonder Europäer mit blauen Augen kommt, zärtlich zu ihnen ist und ihnen Geld gibt, fühlen sie sich geehrt.
Eine andere Besonderheit in Rio ist, daß viele junge Frauen im Sextourismus von außerhalb kommen, weil sie wissen, daß dort die Sextouristen anzutreffen sind. Viele kommen aus dem Nordosten Brasiliens. Sie haben entweder die Familien verlassen oder werden von ihrer Familie nach Rio direkt zur Copacabana geschickt. Wir haben schon Mädchen im Alter von 6 und 8 Jahren angetroffen.
In Brasilien wurde im letzten Jahr eine parlamentarische Untersuchungskommission eingerichtet (CPI), um zur Kinderprostitution zu ermitteln. Liegen die Ergebnisse der CPI mittlerweile vor?
Ich glaube nicht, daß der Bericht schon vorliegt, außerdem gibt es viele Informationen, die man nicht veröffentlichen möchte. In Rio hat die Untersuchungskommission über Kinderprostitution ihre Arbeit einfach abgebrochen. Niemand weiß genau warum; es gibt verschiedene Interessengruppen. Innerhalb eines Jahres sind in einem Stadtteil von Rio 28 Mädchen zwischen 8 und 12 Jahren verschwunden. Dazu gibt es keine weiteren Untersuchungen. Die Polizei weiß nichts, da keine Leichen gefunden wurden. So gibt es viele Spekulationen über Organhandel etc., was aber zu nichts führt. Wichtig wären genaue Untersuchungen.
Eine solche Untersuchung über Kinderprostitution müßte mit Vorsicht gemacht werden. Erstens darf nicht registriert werden, wann und wohin Frauen reisen. Sonst bekommt jede schwarze Frau, die zum Flughafen kommt, Probleme mit einem Visum etc.. Viele Jugendliche bitten, keine Informationen zu veröffentlichen, weil ihre Familien nicht wissen, was sie in Rio tun. Drittens müßte untersucht werden, welche Männer Kunden und welche Händler sind. Letztere sind Männer, die Familie und Kinder zu Hause haben und in Brasilien oder in den Philippinen sechsjährige Mädchen sexuell ausbeuten.
Heutzutage gibt es auch deutsche Frauen, die als Sextouristinnen nach Brasilien reisen. Frauen vergewaltigen nicht, aber sie beuten auf eine andere Weise die Jungen aus. Nicht nur Sextourismus, sondern auch der Handel wird mittlerweile von Frauen, besonders deutschen, betrieben.
Sextourismus gibt es in Brasilien erst seit zehn Jahren, nachdem Thailand einen schlechten Ruf wegen Aids bekommen hat. Heute steht Brasilien an zweiter Stelle bei Menschenhandel und bei sexuellem Mißbrauch von Kindern durch Touristen.
Wenn es um Gewalt an Straßenkindern geht, wird bei uns hauptsächlich über die Situation der Jungen berichtet. Wie sieht die Repression bzw. Gewalt gegen Mädchen, die auf der Straße leben, aus?
In Rio ist die Situation anders als in Recife. Hier ist die Zahl der Mädchen, die auf der Straße sind höher als die der Jungen. In Rio de Janeiro gibt es mehr Straßenjungen. Die Mädchen bleiben zu Hause, passen auf die Kleinen auf und machen den Haushalt. Die Jungen gehen auf die Straße. Im Nordosten ist es umgekehrt. Die Jungen gehen aufs Feld und arbeiten auf den Zuckerrohrplantagen und die Mädchen gehen auf die Straße und betteln.
Im Nordosten, speziell in Recife, ist die Gewalt gegen Kinder immer sehr groß gewesen. Die Mädchen in Recife verletzen sich selbst, um von der Polizei in Ruhe gelassen zu werden. Ich kannte ein Mädchen, das sich jedesmal, wenn sie einen Polizisten sah, eine Scherbe nahm und in den Arm schnitt. Sie verletzte sich, weil die Polizei sie dann ins Krankenhaus bringen mußte und erzählte:”Wenn nicht, wollen sie mit mir schlafen und ich möchte nicht.” Jetzt ist sie tot, sie wurde ermordet.
Ich habe einige Zeit in Recife bei SOS-Criança gearbeitet. Wir trafen viele Mädchen mit zerschnittenen Armen und Gesichtern. Sie verletzen sich überall, an den Beinen und Schenkeln, wegen der Repression der Polizei.
In Rio de Janeiro ist es umgekehrt. Dort sind weniger Mädchen auf der Straße. Sie werden als schwach angesehen und anders behandelt. Neuerdings hat sich dies geändert, und die Gewalt richtet sich auch speziell gegen Mädchen. Die Zahl der angegriffenen und ermordeten Mädchen hat sich nach Angaben von CEAP erhöht. Heute sind bei einem Massaker auch die Leichen von Mädchen zu finden.
Wie sieht es aus mit der strukturellen Gewalt gegenüber schwarzen Frauen?
Es gibt noch eine andere Form von Gewalt, die sich gegen schwarze Frauen richtet, die mit den Gesetzen in Konflikt geraten sind. Zwar gibt es die “Delegacia de Mulheres”, das Polizeirevier für Frauen, aber es ist nur zuständig, wenn Frauen jemanden anzeigen wollen, nicht aber für Frauen, die straffällig wurden. Diese Frauen kommen auf die normalen Polizeireviere, wo sie mehr leiden als die Männer. Dort werden die Schwarzen diskriminiert, und die Gewalt dort bedeutet Folter. Je jünger die Frauen sind, desto mehr werden sie benutzt, gedemütigt und gefoltert.
Die Regierung behauptet, es gäbe keine institutionalisierte Gewalt, aber es gibt sie.
Was mich wirklich bekümmert, ist, was alles als selbstverständlich angesehen wird. Die Leute wollen nicht mehr belästigt werden, sie denken, wenn jemand Probleme hat ist es seine eigene Schuld.
Eine Bekannte hat über eine 13jährige Prostituierte erzählt: “Ich kenne sie schon seit sie fünf Jahre alt ist und da war sie schon Prostituierte, sie war immer so. Es gefällt ihr, Prostituierte zu sein. Sie ging nicht zur Schule, weil sie nicht wollte. Sie war schon immer eine Rebellin.” Also ist es ihre eigene Schuld? Bis sie tot aufgefunden wird? Ist das etwa ein Ziel, das sie sich ausgesucht hat?
Dazu kommt der Diskurs über Sterilisation. Es heißt sehr schnell: Warum wurde diese Frau nicht sterilisiert? Eine Frau mit so vielen Kindern muß sterilisiert werden. Die Schuld liegt immer bei der Frau. Der schwarzen brasilianischen Frau wird die Schuld an der Armut Brasiliens zugeschrieben. Wir versuchen zu erklären, daß das nicht stimmt. In den letzten zwanzig Jahren wurde Brasilien immer ärmer, obwohl die Geburtenrate gesunken ist. Früher hatten die Frauen 10, 12, 20 Kinder, heute haben sie nur zwei Kinder. Wir wollen erreichen, daß sich die schwarzen Frauen nicht auch noch schuldig fühlen für die Armut.
Von Bücherzügen und Lesestunden
“Die Biblioteca Nacional in Rio de Janeiro ist die achtgrößte Bibliothek der Welt: Acht Millionen Bücher, 200 Stiche von Albrecht Dürer, viele Partituren alter Meister und die größte Sammlung italienischer Maler des 16. Jahrhunderts außerhalb Europas.” Affonso Romano Sant’Anna, Präsident der “Fundaçao da Biblioteca Nacional” und Dichter, ist sichtlich stolz auf den Tempel des geschriebenen Wortes und der schönen Künste.
Eigentlich haben die BrasilianerInnen die geschichtsträchtigen Werke Napoleon zu verdanken: Die Bestände haben ihren Ursprung in der königlichen Bibliothek Portugals. Don Joao IV. floh 1808 vor Napoleons Truppen in die portugiesische Kolonie nach Übersee – mitsamt Hofstaat und eben der Bibliothek.
Doch ging es in dem Treffen zwischen Sant’Anna und Horst Kreibich, Leiter der deutschen “Stiftung Lesen”, auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse weniger um die Schätze illustrer Buchkunst. Möglichkeiten der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Leseförderung wollten sie austüfteln, und ein erstes Gespräch über allseits so beliebte Projekte stand auf dem Programm.
Die brasilianische Lesestiftung sieht ihre Aufgabe nicht in Alphabetisierungskampagnen (in Brasilien können etwa 19 Prozent der BewohnerInnen nicht lesen und schreiben), sondern darin, die 50 Millionen “funktionalen Analphabeten” im Land an das Lesen heranzuführen. “Funktionale Analphabeten” sind jene, die zwar Geschriebenes entziffern können, aber den Sinn und die Zusammenhänge des Gelesenen nicht verstehen. Für Europa wird die Zahl von der “Stiftung Lesen” übrigens genauso hoch geschätzt, in Deutschland gibt es nach Angaben von Horst Kreibich zwischen 3 und 5 Millionen “funktionale Analphabeten”.
Der “Biblioteca Nacional” sind in Brasilien 3000 öffentliche Bibliotheken und 900 Unibibliotheken angeschlossen. Neustes Projekt der Leseförderung: “Wir wollen Bücherzüge, quasi Bibliotheken auf Schienen, einrichten, die von Rio de Janeiro nach Minas Gerais fahren”, erzählt Sant’Anna. Bei den einzelnen Stationen soll es dann ein Begleitprogramm geben, beispielsweise gemeinsames Lesen und Lesungen, um die Leute mit den gedruckten Zeichen vertraut zu machen. Ähnliches ist mit Schiffen geplant – ein Schiff der Marine soll demnächst mit der zivil-pädagogischen Fracht an der Küste entlang und die Flüsse hinauffahren. Ach ja, und falls jemand zufällig einen finanzkräftigen Reeder oder eben einen Unternehmer aus der Eisenbahnbranche kennt…
Natürlich fehlt es auch der brasilianischen Lesestiftung an Geld – Spenden sind willkommen. Kein Wunder also, daß der Hauptjob von Sant’Anna in Bittgängen zu Privatunternehmen besteht (Kreibich nickt bestätigend). Manchmal hat er sogar Erfolg. Die Unternehmer haben längst mitgekriegt, daß mit der Lesefähigkeit der Arbeiter auch die Produktivität steigt. Denn, wer eine Gebrauchsanweisung nicht nur entziffern, sondern auch verstehen kann, arbeitet effektiver. Wer liest, soll zudem mehr Kreativität und Phantasie entwickeln – heißt es.
Lesestunden in den Betrieben finden freilich in der Mittagspause statt, gegessen wird dann eben später. Literarische Erzählungen und weniger Anspruchsvolles wird erst vorgelesen, dann mit den ArbeiterInnen besprochen, in der Hoffnung, ihr Interesse zu wecken und zu fördern.
Ein Teil des Budgets geht für Werbung drauf- vornehmlich in dem oft als buchfeindlich verschrienen Medium Fernsehen. Längst jedoch haben die Lesefachleute begriffen (in Lateinamerika um ein vielfaches schneller als in Europa), daß zwischen Buch und Fernsehen keine Gegnerschaft mehr besteht. Das eine kann durchaus in den Dienst des anderen treten.
Mit dem gemeinsamen Projekt von deutscher und brasilianischer Lesestiftung wurde es dann erst mal doch nichts. Die “ersten gemeinsamen Gespräche” zeichneten sich durch Unverbindlichkeit aus. Auch von Erfahrungsaustausch konnte kaum die Rede sein. Dafür wollen sich die Herren dann noch mal extra zusammensetzen.
Polizeireportage und Bergpredigt
Diese und ähnliche Meldungen gehen täglich dutzendweise über den Sender von Rádio Regional, der kleinen Radiostation der Diözese Paulo Alfonso im Landesinneren des brasilianischen Bundesstaates Bahia. An den Wochenenden steht das Telefon von Rádio Regional kaum eine Minute still. Das ist die Zeit, in der die in Sâo Paulo hilflos gestrandeten Migranten aus dem Nordosten versuchen, übers Radio Kontakt zu ihren zurückgebliebenen Familienangehörigen aufzunehmen. Da werden dann Bitten um Geldüberweisungen zur Rückkehr in den Nordosten oder die Adressen von irgendwelchen Vettern und Onkeln in Sâo Paulo über den Äther gejagt, die den Gestrandeten weiterhelfen sollen. Irgendwann nach Wochen kann es dann vorkommen, daß zurückgekehrte Migranten plötzlich in der Tür des Sendestudios von Rádio Regional stehen und die ModeratorInnen des Wochenenddienstes überglücklich in ihre Arme schließen. Unter tausend Danksagungen beteuern die Rückkehrer, daß ihnen nur die Durchsage im Radio die Heimkehr aus dem Inferno der Megametropole im Süden Brasiliens ermöglicht habe.
“Für diese auseinandergerissenen Familien ist das Radio ein wichtiges Kommunikationsmittel, da es kaum öffentliche Telefone in der Gegend gibt. In den vier Jahren seiner Existenz ist das Radio zur Anlaufstelle für alle möglichen familiären Angelegenheiten geworden”, erklärt Radioleiter Pedro Paulo.
Rádio Regional ist einer von insgesamt 130 Mittelwellen- und UKW-Sendern, die die katholische Kirche und ihr nahestehende Stiftungen in Brasilien unterhalten. Ihr vorrangiger Auftrag ist die Verbreitung des Evangeliums vor dem Hintergrund der sozialen, politischen und ökonomischen Realität Brasiliens. Damit hören aber auch schon die Gemeinsamkeiten der katholischen Radiostationen auf. Denn die Interpretation dieses Auftrages bleibt in dem Riesenland den mehr oder weniger konservativen Bischöfen der einzelnen Diözesen bzw. den von ihnen berufenen Radiodirektoren überlassen. Zwar bemüht sich die UNDA, das nationale Kommunikationsgremium der brasilianischen Bischofskonferenz, eifrig um eine einheitliche ideologische Linie ihrer Kommunikationsmedien. Doch wie die Radiosendungen vor Ort gestaltet werden, entzieht sich weitgehend ihrer Kontrolle. So sind denn auch die Programme der 130 katholischen Sender von sehr unterschiedlicher Couleur. Die meisten haben sich inhaltlich der seichten Welle der kommerziellen Medien angepaßt. Sie versuchen, sich mit populärer Musik und viel Werbung finanziell über Wasser zu halten. Ihre Wortbeiträge beschränken sich gewöhnlich auf das tägliche “Ave Maria”, besinnliche Worte des örtlichen Geistlichen und die Live-Übertragung der Sonntagsmesse. Komplettiert wird diese journalistische Glanzleistung allenfalls noch durch hastig heruntergeratterte Kurznachrichten. Deren Informationswert ist jedoch gleich Null, da es sich meist um abermals gekürzte Versionen ohnehin schon kurzer Zeitungsmeldungen handelt.
Vom aufrechten Katholiken
zum Medienstrategen
Als Zugeständnis an den Massengeschmack und wegen der ständig schrumpfenden Zuschüsse aus den bischöflichen Geldtöpfen sind einige der katholischen Radiostationen inzwischen dazu übergegangen, die bei der brasilianischen Bevölkerung so beliebten Polizeireportagen zu senden. Diese sensationslüsternen Gruselstories von lokalen Raubüberfällen und Gewalttaten aller Art gelten in Brasiliens Medienlandschaft als wahre Publikumsrenner und somit als Garant für steigende Werbeeinnahmen. Im unerbittlichen Konkurrenzkampf mit den kommerziellen Privatradios hat sich schon so manch aufrechter Katholik und Radiodirektor zum knallhart kalkulierenden Medienstrategen wandeln müssen und zugunsten einer sehr großzügigen Interpretation des kirchlichen Sendeauftrags entschieden. Kann doch eine einmalige Verbeugung vor dem Diktat des blutrünstigen Massengeschmacks unter Umständen etliche Sendungen der Bergpredigt finanziell absichern. Unter dem Druck ökonomischer Zwänge und des klerikalen Konservativismus schaffen es nur wenige Radiostationen der katholischen Kirche, den von der UNDA ursprünglich durchaus fortschrittlich gemeinten Auftrag, eine christliche und sozialkritische Alternative zu den kommerziellen Massenmedien Brasiliens zu sein, in ihren Programmen umzusetzen. Einer der Sender, die dies ernsthaft versuchen, ist Rádio Regional von Cícero Dantas.
In der Isolation des bahianischen Sertâo, in der das Leben einem ewig gleichen Rhythmus folgt, sich Gespräche um die immer gleichen Probleme wie anhaltende Dürre und Wassermangel, vertrocknete Bohnenernten und ungerechte Landverteilung drehen, hat das gesprochene Wort noch eine besondere Bedeutung. In einigen der abgelegenen Weiler des Sertâo, wo die Armut den Kauf des sonst allgegenwärtigen Fernsehgeräts nicht zuläßt und das defizitäre Bildungssystem eine Analphabetenrate von fast 40 Prozent produziert, bleibt nach Einbruch der Dunkelheit oft nichts anderes als sich endlose Geschichten zu erzählen. Da werden dann die Geburten und Todesfälle in den weitverzweigten Familien durchgehechelt, über den letzten Besuch des Landpfarrers oder sonstige Neuigkeiten aus der Nachbarschaft berichtet, oder – wenn dies alles schon tausendmal erzählt worden ist – einfach schweigend gewartet, bis es Zeit zum Schlafengehen ist. Neuigkeiten, zumal wenn sie über Dutzende von Kilometern aus der Bezirkshauptstadt kommen, haben hier noch einen ganz besonderen Stellenwert. So ist denn auch das “Jornal da Regional”, die tägliche halbstündige Nachrichtensendung von Rádio Regional, für die Landbevölkerung der Region zu einer einflußreichen Instanz in ihrem Alltag geworden. Was das Jornal an lokalen und regionalen Nachrichten verbreitet, wird in den isolierten Dorfgemeinden unbesehen geglaubt und eifrigst kommentiert. Noch immer erregt es Aufsehen, wenn die Radioreporter mit ihrem Reportagewagen durch die Gegend fahren und fürs Jornal da Regional Interviews aufnehmen, um den Gründen für Trinkwasserverseuchung, Viehsterben, unhaltbare Zustände in Schul- und Gesundheitswesen auf die Spur zu kommen, oder über undurchsichtige Winkelzüge irgendwelcher Lokalpolitiker berichten. Und wenn die BewohnerInnen der betroffenen Gemeinden am nächsten Tag gar ihre eigene Stimme im Radio hören, sind die Alltagssorgen wenigstens für einige Minuten vergessen.
Der erste Schritt zu
neuem Selbstbewußtsein
“Für die Leute hier im Nordosten ist es unglaublich wichtig, ihre Stimme im Radio zu hören. Solange sie sich erinnern können, werden sie von Großgrundbesitzern ausgebeutet, von Politikern in Wahlzeiten als billiges Stimmvieh benutzt und ansonsten mit Armut und Hunger allein gelassen. Jetzt hört ihnen endlich mal jemand zu und gibt ihren Sorgen und Problemen eine öffentliche Stimme. Endlich können sie von sich und ihren Festen erzählen und ihre eigene Musik hören, und das ist schon der erste Schritt zu einem neuen Selbstbewußtsein”, so Pedro Paulo zur Bedeutung des Radios.
Der kleine Sender gibt sich in der Tat sehr volksnah. Die Eingangstür steht den ganzen Tag lang offen. Wer immer eine Anzeige aufgeben oder eine Veranstaltung ankündigen möchte, wer Informationen über Impfkampagnen, anstehende Volksfeste, Streiks oder andere wichtige Ereignisse weitergeben oder erfragen will, oder einfach nur auf ein Schwätzchen vorbeischaut, der findet im Rádio Regional offene Ohren.
An den Montagen, wenn der Wochenmarkt von Cícero Dantas die BewohnerInnen aus den umliegenden Gemeinden anlockt und überall Menschen durch die sonst stillen Gassen der verschlafenen 15.000-Einwohner-Stadt wuseln, übt das Radio eine magnetische Anziehungskraft aus. Dann drücken sich Kinder und Erwachsene dutzendweise die Nasen an der großen Glasscheibe des Sendestudios platt. Das ist die Gelegenheit, endlich einmal die Lieblingsmoderatorin oder den Nachrichtensprecher, von denen sie häufig nur die Stimmen kennen, live in Aktion zu erleben. Auch für das Radioteam ist der Montag immer besonders hektisch. Denn dann heißt es: raus auf den Marktplatz mit Mikrofon, Aufnahmegerät und transportablem Mischpult, um die neuesten Nachrichten über Preissteigerungen, Ernte- und Vermarktungsprobleme und was es sonst noch Wichtiges aus dem bäuerlichen Alltag zu berichten gibt, direkt aus dem Marktgeschehen zu übertragen.
Neben dieser allwöchentlichen Attraktion lebt das Wortprogramm von Rádio Regional hauptsächlich von kurzen, in den “Musikteppich” eingeschobenen Beiträgen, deren Themen sich um Gesundheitsvorsorge und Erziehungsfragen, um die Zubereitung von Hausmitteln aus heimischen Kräutern oder um Tips für pestizidfreien Gemüseanbau drehen. Einmal pro Woche berichten Mitglieder der Landarbeitergewerkschaften aus der Region über Fortschritte und Rückschläge im Kampf um bessere Lebensbedingungen für die Bauernfamilien und nutzen die Infrastruktur des Radios zur Mobilisierung ihrer Mitglieder. Allerdings müssen auch die Gewerkschafter – wie alle anderen Normalsterblichen aus der Region – für die Benutzung von Fax, Telefon oder Kopiergerät einen kleinen Kostenbeitrag entrichten. Die Zeiten, in denen die “Rádios Populares” – die Volksradios – linken Gewerkschaften und Volksorganisationen als kostenlose ideologische Sprachrohre dienten, sind für den Befreiungstheologen Pedro Paulo vorbei.
Das Konzept von Rádio Regional, das in Zusammenarbeit mit dem lateinamerikanischen Radionetzwerk ALER entwickelt wurde, entspricht wohl am ehesten einem volksnah arbeitenden Dienstleistungsbetrieb. “Wir machen Radio für und mit der gesamten Bevölkerung, und damit meine ich vor allem die breite Masse der verarmten Landbevölkerung und nicht nur die organisierten Gruppen des ‘Movimento Popular’. Unser Hauptanliegen ist die Stärkung der Volkskultur.” Das ist auch der Grund, warum ein Großteil des Musikprogramms von Forró und Sertanejo-Musik, der Volksmusik des brasilianischen Nordosten, bestritten wird. Lokale Musikgruppen und Volksdichter geben sich die Türklinke des Aufnahmestudios in die Hand, um die Rhythmen von Sanfona (Ziehharmonika), Sabumba (Blechtrommel) und Gitarre live ins Programm einzuspielen oder selbstverfaßte Gedichte darzubieten.
Wettbewerbe, in denen die HörerInnen eigene Geschichten und Lieder zum Besten geben, gehören ebenso zum Programm wie die Lieder der repentistas, Stegreifmusikern, die in ihren Spontankompositionen von alltäglichen Ereignissen aus dem Leben der Menschen im Nordosten bis hin zur Weltpolitik alles kommentieren, was für ihr Publikum interessant sein könnte.
Keiner aus dem neunköpfigen Team von Radio Regional hat jemals eine reguläre Ausbildung in Tontechnik, Werbeakquisition oder Radiojournalismus absolviert. Wie üblich in den Radios Populares haben auch die jungen MitarbeiterInnen von Rádio Regional ihr Handwerk irgendwo und irgendwann in der Praxis erlernen müssen. Sie wurden einfach ins kalte Wasser der Sendepraxis geschmissen und mußten von einem auf den anderen Tag die Regler im Sendestudio bedienen und auch noch selbst moderieren. Viel Zeit für inhaltliche Diskussionen hat es nie gegeben. Daß deshalb nicht jedes gesendete Wort auf die Goldwaage gelegt werden darf, versteht sich von selbst. So kann es schon mal vorkommen, daß dem Nachrichtenredakteur, der die wöchentliche Debattensendung zu aktuellen Themen der Lokalpolitik moderiert, die Diskussion mangels journalistischem Know How und “ideologischer” Klarheit entgleitet und die falsche Seite, beispielsweise ein Vertreter der Volksbewegungen, in die Pfanne gehauen wird. Derlei Ausrutscher sind allerdings selten und werden in der nächsten Sendung mit Gegendarstellungen wieder korrigiert. “Niemand ist perfekt”, meint der Radioleiter lakonisch. “Es hat vier Jahre harte Arbeit gebraucht, bis aus neun jungen Leuten ohne jegliche Radioerfahrung und teilweise nur mäßiger Schulbildung ein eigenverantwortlich arbeitendes Radioteam wurde, das sich nicht mehr von jedem halbwegs sprachgewandten Lokalpolitiker einschüchtern läßt.”
25 Jahre “Tropicália”
Die Produzenten kündigten Gil und Caetano mit einem “akustischen Konzert” an. Die Anweisung, das Publikum möge doch während des Konzerts sitzenbleiben, widersprach den Erwartungen und dem Temperament der Exilgemeinde. Dennoch kam der Nationalstolz – gelegentlich unerbittlich und hemmungslos – zum Ausdruck. Eine kulturelle Identität wurde herausgesungen. Eine Identität, die immer auf dem Prüfstein steht und die viel den immer neuen Varianten dessen schuldet, was sie schon immer war und weiterhin sein wird – “Tropicália”.
Zur allgemeinen Überraschung blieben fast alle sitzen, erst nach der Zugabe explodierten die Begeisterungsstürme über die vierfache Weltmeisterschaft. Die Besucher hatten Fahnen, Rhythmusinstrumente und Trommeln mitgebracht, die aber nur zwischen den Stücken den Applaus anheizten. Getanzt wurde wenig – zu Freud oder Leid der ZuhörerInnen, wie bei jeder anderen Vorstellung der beiden Musiker. Alte und neue Klassiker wie “Avenida Sao Joao” oder “O Haiti é aqui” wurden im Chor von Sao Paulo nach Bahia getragen. Andere wurden von Caetano und Gil selbst von einem Ende zum anderen, von Süden nach Norden angestimmt, wobei sie einander abwechselten und das Publikum zum mitsingen animierten.
Ein magischer Moment des Konzerts war sicher der afro-brasilianische “Jodler” von Gilberto Gil. Ein spiritueller Widerhall, der bis in die Seele vordringt – durch Kontinente und Jahrhunderte hindurch. Gemeinsames Solo. Eine Wiederbesinnung auf die Vorfahren, ein Kreisen um die Sterne. Ein Gefühl, als ob diese Zelebrierung der Stimmen plötzlich das Universum in einen Klangraum für ein sehr langes Echo verwandelt. Ein in sich geschlossenes Verständnis von sich und der Welt, in dem die Ursprünge des Kosmos offenbar werden, losgelöst von dem Teil der Welt, in dem wir uns befinden. Diese ästhetische Erfahrung bringt auf den Punkt, was Gilberto Gil für die brasilianische Musik und Kultur überhaupt ist.
Die Bedeutung von Caetano läßt sich vielleicht mit Hilfe einer kleinen Anekdote aus dem Konzert beschreiben: Gil lädt einen Musiker aus dem Publikum spontan auf die Bühne ein. Irgendwann deckt dann eine brasilianische Fahne Caetanos Gesicht zu, das für einen langen Augenblick erstarrt. Caetano rührt sich nicht, bis man ihm die Fahne abnimmt. Ohne aus der Fassung zu geraten verwandelt er den Zwischenfall in seine und nur seine Performance. Unter dem brasilianischen Banner, das sein Gesicht verdeckt hatte, hinterläßt er den Sarkasmus und das Rästel seines Lächelns.
Es ist bekannt, wie gut er die Bühne beherrscht: Caetano Veloso der Begnadete, das enfant terrible. Anlaß für unzählige Interviews und wissenschaftlicher Abhandlungen. Doch seine einzigartige und widersprüchliche Persönlichkeit kann eigentlich nur durch die Texte seiner eigenen Musik ergründet werden: “Wenn du eine unglaubliche Idee hast, mach’ am besten ein Lied daraus – es ist bewiesen, daß Philosophieren nur auf Deutsch möglich ist.”
Caetano war zweifelsohne der Motor der tropikalistischen Bewegung. Er bedient sich der konkreten Poesie nicht nur für den Samba, oder bietet Fados, Tangos und Rock’n Roll. Er geht zurück zu den Anfängen von Oswald de Andrade und verkörpert die kulturelle Identität der Anthropophagie. Eine Anthropophagie, die für die Einverleibung aller nur möglichen Einflüsse steht und sich nicht in der politischen Metapher “eat the rich” erschöpft. Die “Tropicália” wurde für sich politisch, weil sie aus der Kunst entstand. Mehr als bloße Metapher, entspringt die Anthropophagie, die Caetano wieder aufleben läßt, aus dem brasilianischen “Wilden Denken”. Reines Stückwerk: “Kaugummi mische ich mit Banane”. Dieses Manifest, gemeint ist das “Anthropophagische Manifest” von Oswald de Andrade, das am Beginn der Verquickung der städtischen und ländlichen Kultur steht, wird innerhalb des Landes nur selten verstanden, noch weniger allerdings außerhalb der Tropen.
Man muß sie sich erst vor Augen führen, die ständige Erneuerung des Populären und seiner Rhythmen: in der Literatur der Avantgarde (von Oswald de Andrade bis Paul Leminsky), in der ernsten Musik, in der Pop- und Folk-Musik. Es ist daher nicht verwunderlich, daß viele der anwesenden Deutschen die Dimension der Darbietung nicht zu verstehen schienen.
Caetano ist auch “blanker Ruhm”. Das jedenfalls behauptet er selbst und verabschiedet sich damit von der Wiege seiner Lieder. Caetano, Vater dreier Kinder: “Ich bin ein Schwindler; drittes Geschlecht, dritte Welt, drittes Jahrtausend”. Es gibt in Brasilien keine andere berühmte Person, die so viele persönliche Deklarationen macht, ohne ihre Intimsphäre preiszugeben.
Er ist eine vielseitige Persönlichkeit, manchmal zwiespältig und sich seines Größenwahns bewußt. Ein Anarchist-Superstar, Sohn eines Heiligen des Candomblé, der die religiöse Unterdrückung der sexuellen gleichsetzt. Caetano hat keine Gelegenheit ausgelassen, seine radikale politische, musikalische und parteiische Unabhängigkeit zu demonstrieren. Im politischen Exil stößt er die Linken vor den Kopf, indem er Nietzsche zitiert: “es ist notwendig, die Starken vor den Schwachen zu beschützen”.
Wenn er in Liedern wie “Haíti nao é aqui” von Rassismus oder auch in seinen poetisch-politischen Manifesten über Straßenkinder und Aids singt; gegen “…Schürzenjäger, in Krawatte oder Priestergewand”, ist er immer weit entfernt vom nur Plakativen, von alten Stereotypen und Geschichten “vom Arsch der Welt”. Es sind musikalische Abhandlungen, auch über die Anthropophagie, über “die selben alten Menschen”: “Amerikaner fühlen, daß etwas verlorengegangen, am Zerbrechen ist”. Seine Rolle ist heute immer noch die des Provokateurs, des Künstlers jenseits der schnellen Antworten, dessen, der die tausendjährigen Fragen noch einmal stellt. Caetano ist die narzißtische Sphinx des Textes und der Musik und durch all seine undefinierbaren Verknüpfungen der regional-kosmopoliten brasilianischen Kultur … unerschöpflich.
OLODUM – MEHR ALS MUSIK
LN: Wie definiert Ihr Eure Musik?
Joao Jorge: Den Rhythmus nennen wir Samba-Reggae, eine Mischung aus traditionellem Samba mit Reggae und politischen Botschaften. Die Musik ist eine Synthese der afrikanischen und brasilianischen Kultur mit der Utopie auf ein anderes Brasilien.
Verfolgt Ihr mit der Musik bestimmte Ziele?
Die Musik Olodums ist zur Erholung und zur Bildung des politischen Bewußtseins da; sie ist religiös und gefühlvoll. Es werden verschiedene Aspekte des Lebens behandelt. Sie verurteilt die Politiker, die die Schwarzen diskriminieren, beschreibt unsere historischen Persönlichkeiten wie Lampiao, Maria Bonita, die Königin von Saba, den Pharao von Ägypten usw. Zugleich ist sie eine Botschaft der Hoffnung.
Euer Lied “Avisa lá” wird auch von Gil und Caetano auf ihrer LP “Tropicália 2” interpretiert. Wie sind Eure Kontakte zu den “quatro baianos” Gil, Caetano, Maria Bethania und Gal Costa?
Gil ist seit vielen Jahren ein Weggenosse im antirassistischen Kampf, und auch Caetano hat sich in den letzten Jahren den Ideen Olodums angeschlossen. Das Thema des Karnavals 1994 war der Tropicalismo, den sie begründeten. Caetano Veloso beteiligte sich zusammen mit Roberto Beto, unserem Kunstdirektor, an den Kostümen (fantasias). Wir führten Blocos de Indios auf, die an die 70er Jahre erinnerten. Gal Costa hat Revolta do Olodum aufgenommen und Bethania hat von Caetano Reconverso gespielt, ein Lied, das von Bahia handelt und fragt “wer hat noch nicht Olodum im Pelourinho spielen gesehen?”.
Die Beziehung zu ihnen ist eng, obwohl es damals in Bahia zwei verschiedene Wege von Widerstand gab. Caetano, Gil, Gal Costa und Maria Bethania leisteten mit ihrer künstlerischen Konzeption der Diktatur Widerstand. Sie verließen sehr früh Brasilien und produzierten weiterhin brasilianische Musik von hoher Qualität. Unsere Situation war schwieriger, weil wir in Brasilien blieben und die Diktatur am eigenen Leibe erlitten. Wir haben eine eigene Vorstellung von Philosophie, Kunst, Kultur und Widerstand; dem Widerstand der Jugendlichen, die in den 70er Jahren Brasilien nicht verlassen haben und die afrikanische und karibische Kultur mit dem antirassistischen Kampf verbanden.
Was sagt Ihr zu dem Vorwurf, Eure neueste LP sei zu kommerziell geworden?
Olodum ist eine populäre Gruppe, die für alle verständlich sein soll. Die Musik, die wir jetzt machen, ist zugänglicher als früher. Vorher sprachen wir von Dingen, die ohne genauere Kenntnisse schwierig zu verstehen waren. Z.B. spielen wir ein Stück über die Pharaonen. Heute sagt Olodum etwas über die Welt aus, in der wir uns befinden, wo vieles zum Leben fehlt und die Politiker betrügen. Jetzt ist es direkter. Wir machen Musik, die von mir, dir und dem politischen Alltag handelt. Wir benutzen mehr portugiesisch, während wir früher in afrikanischen Sprachen, wie Yorubá (Benin, Nigeria) sangen, die nicht jeder verstand. So sehr wir auch politisieren möchten, haben wir die Aufgabe, Menschen zu sein. Wir möchten in einer menschlichen Welt leben anstatt in einer illusionären Welt aus Luft, die nur über politische Fragen redet. Wir haben viele Lieder über das Ende der Apartheid und über die Befreiung Nelson Mandelas gemacht. Jetzt wurde Nelson Mandela befreit und es gab Präsidentschaftswahlen. Was sollen wir machen, nicht mehr über die Armut in Südafrika reden? Olodum hat den künstlerischen Weg einer langsamen, schrittweisen Revolution eingeschlagen. Z.B. sind das Klavier und das Saxophon nicht Eigentum der Weißen, der Gelben oder der Schwarzen. Es sind Instrumente, die sich vor langer Zeit entwickelten. Jedes Volk kann sie benutzen und Musik mit ihnen machen. Eine 15 Jahre alte Gruppe ist zu jung, um in einem Bereich der künstlerischen und menschlichen Erfahrung gefangen zu bleiben. Wir müssen mit allem experimentieren: Schallplatten, Computer, Video, Aufnahmegerät. Wenn wir ein Konzert auf dem Mond geben könnten, würden wir es tun.
Welches sind Eure Ziele als Teil der Schwarzenbewegung?
Olodum ist wahrscheinlich das spektakulärste Element der brasilianischen Schwarzenbewegung. Seit 1695, dem Ende des Quilombo de Palmares, gab es keine Organisation mit solcher Energie zum Kampf und dessen Verbreitung. Als wir 1979 anfingen, gab es keine Organisation, die die Erfahrungen des Candomblé und der Capoeira zusammenfasste. Olodum führt zusammen mit dem Movimento Negro Unificado, der Gewerkschaft und indianischen Gruppen den Kampf gegen die Apartheid und für Bürgerrechte. Hauptziel von Olodum ist, die Anerkennung der Schwarzen durchzusetzen. Wir müssen noch für viele Sachen kämpfen, die Schwarze in anderen Ländern schon haben. Wir haben keine schwarzen Minister, keine schwarzen Generäle, keine schwarzen Ökonomen in Brasilien, Ausnahmen gibt es im Fußball und der Musik. Unser Ziel ist es, in Bereichen wie Handel, Industrie, Universität, Armee, Politik präsent zu sein. Wir benutzen eine neue Form, die Politik, Kultur, Kunst und Erziehung mischt und das schwarze Selbstbewußtsein und den antirassistischen Kampf fördert. Der Zugang zu Olodum ist nicht auf Schwarze beschränkt. Im Gegenteil, wir möchten, daß Nichtschwarze an unseren Aktionen teilnehmen. Wir handeln wie Mandela und der ANC: sie haben ein rassistisches System bekämpft und sich auf die Machtübernahme vorbereitet. Als sie an die Macht gelangten, regierten sie mit allen. Unsere Perspektive ist, an die Macht zu kommen und für alle zu regieren – nicht wie jetzt, wo die Minderheit der Mehrheit befiehlt.
Glaubt Ihr, daß dieser Weg mit Parteien zu gehen ist?
Wir beteiligen uns an keiner Partei. Dies muß ein Wunsch der Gesellschaft sein. Man braucht Parteien und die Zivilgesellschaft, Kirche, Presse, Rechtsanwälte, Architekten, Ingenieure, Arbeiter, um das Land zu verändern. Es muß ein neues soziales Gespräch geben. Die heutigen Parteien, die Olodum fördern, sind linke Parteien, weil wir eine demokratische und progressive Organisation sind. Unsere Priorität liegt bei der PCB, PCdoB, PT und einigen Bereichen der PDT. Diese Parteien haben die gleiche Zielsetzung wie wir. Auch progressive Kräfte der Kirche möchten das Elend und die Armut beenden. In Brasilien ist Rassismus durch die Ausbeutung der Frauen, der Armen etc. charakterisiert. Also müssen wir alle Betroffenen zusammenrufen, um etwas dagegen zu tun.
Letztes Jahr hat Cristina Maria Santos Rodrigues (Präsidentin von Olodum 1983-1989) eine Kampagne gegen den Sextourismus initiiert.
Vor zwei Jahren gründete Cristina eine Frauengruppe zur Verteidigung der Rechte der Frauen. Als sie die Möglichkeit hatten, nach Deutschland zu kommen, erfuhren sie vom Frauenhandel mit Brasilianerinnen aus dem Nordosten, die durch fingierte Heiraten nach Europa kommen. Salvador und Recife sind die am stärksten betroffenen Städte, was die sexuelle Ausbeutung betrifft. Es wird versucht, auf Fälle aufmerksam zu machen. Die Frauen haben es geschafft, die brasilianischen Frauen und Männer aufzurütteln, indem sie das Seminar Mae, Mulher e Maria initiiert haben. Es ist öffentlich für Frauen und Männer und Gäste von verschiedenen Orten und wird einmal im Jahr im Casa do Olodum veranstaltet.
Früher war der Pelourinho/Maciel der Platz, wo die schwarzen SklavInnen ausgepeitscht wurden. Ihr habt Euch diesen Platz zurückerobert. Heute gibt es das Problem der Sanierung vieler Häuser. Wie sieht der Kampf der AnwohnerInnen aus, um in ihren Häusern zu bleiben?
Joel: Der Sanierungsplan der Regierung wurde ausgeführt: 80% des historischen Zentrums wurden bereits in vier Etappen saniert. Jetzt beginnt die fünfte Etappe in San Antônio, Pascoal. Pelourinho, Maciel, Terreiro de Jesus, Praça da Zé wurden schon restauriert. Die ehemaligen Anwohner mußten in Vororte umziehen. Sie benutzten die Entschädigungen, um ein Stück Land in der Peripherie zu kaufen, aber viele bekamen zu wenig Geld ausgezahlt.
Die Sanierung des historischen Zentrums war in Wirklichkeit ein Plan des Gouverneurs von Bahia, um Präsidentschaftskandidat zu werden. Nach der Sanierung ist er als Kandidat aufgestellt worden. Eigentlich ist es ein wichtiges Projekt gewesen, die historischen Häuser zu restaurieren, aber in das historische Zentrum ist der Kommerz eingezogen. Die Bewohner sind vertrieben worden. Wir haben es nicht geschafft, gegen ein so starkes System anzukommen; nur einige kulturelle Treffpunkte, wie die Bar do Reggae, konnten erhalten werden. Die Finanzierung reichte nicht zur Beendigung der Sanierung aus. Es gibt noch immer viele Häuser, wo nur die Fassaden stehen. Die Straßenhändler sind jetzt marginalisiert und haben keinen Standort mehr, weil sich die bahianische Bourgeoisie in der Altstadt breitgemacht hat.
Welche Funktion hat die Escola Criativa do Olodum?
Joao Jorge: Die Escola Criativa do Olodum ist eines der wichtigsten sozialen Projekte von Olodum. Letztes Jahr wurde ein altes Haus für die Schule im Pelourinho gekauft und mit der Sanierung begonnen. Heute wird sie von 350 Kindern zwischen 6 und 16 besucht. Verschiedene Kurse wie Percussion, Tanz, Portugiesisch, Geschichte sowie Gesundheitsvorsorge werden angeboten. Es wird eine “interethnische” Pädagogik benutzt, die von dem Bahianer Mauro Almeida entwickelt wurde und indianische, schwarze und europäische Erfahrungen mischt, ohne sie zu bewerten. Die Escola Criativa ist auch Partner des Projektes Axé. Die musikalische Ausbildung schloß die Kinder von der Straße zusammen, die keine Straßenkinder sind. Wir nehmen alle Kinder, wir geben allen die gleiche Behandlung, egal ob sie auf der Straße leben oder Familie haben. Im Moment befindet sich die Kinderband, die Banda Mirim, in Port Bouin, Südfrankreich zu einem internationalen Austausch mit französischen Jugendlichen, wo sie Französisch, Informatik und Videotechnik lernen. Danach werden die französischen Jugendlichen nach Bahia fahren, um Percussion zu lernen.
Ihr habt jetzt einen Verlag gegründet, das erste Buch ist im Frühjahr erschienen. Was sind die Themen für die nächsten Bücher?
Die nächsten Bücher werden für und über Kinder sein, z.B. ein Candomblé-Buch für Kinder, ein Buch über die Geschichte der Schule von Olodum und das politische und ideologische Engagement. Die Idee ist, Publikationen über afrobrasilianische Themen rauszugeben: Freiheit und Demokratie.
Vor einiger Zeit wollte die ganze Welt, daß es keine Mauer gibt. Viele wollten, daß der Kampf zwischen Palästinensern und Juden aufhört, wie auch die Apartheid. Aber die ganze Welt denkt, daß es in Brasilien Gleichberechtigung gibt. Wir haben viele Gründe zu sagen, daß dies nicht zutrifft und es noch viel zu verändern gibt. Deshalb ist es wichtig, unsere Utopien und Träume ausdrücken zu können, damit die Menschen nicht nur sagen: dort gibt es Strände, Getränke, schöne Menschen und Karneval. Diese Sachen haben einen hohen Preis und wir sind die Opfer davon. Zwei unserer Mitglieder wurden von der bahianischen Militärpolizei angeschossen. Einem anderen wurde der Arm von der Militärpolizei gebrochen. Heute hat sich das Verhältnis zur Polizei durch die politische Macht von Olodum verändert. Doch nicht alle Brasilianer haben die Möglichkeit, frei und ohne Bedrohungen zu reden. Wir müssen trotz Ängsten weiterkämpfen, bis wir unsere Ziele erreicht haben.
Jenseits des Staates?
Im Editorial weist Albrecht Koschützke darauf hin, daß die Autonomie der lateinamerikanischen Staaten (politisch und ökonomisch) seit jeher begrenzt war, die “Durchsetzung des neoliberalen Paradigmas (…) jedoch eine extreme Form von außen induzierter Transformation der nationalen Gesellschaften mit einer offenbar weiterreichenden Eingriffstiefe” darstellt. Bietet der neoliberale Staat neue Freiräume für die multinationalen Kapitale, ist seine nationale Autonomie nach dem Umbauprozeß der achtziger Jahre noch stärker reduziert. Auch die Binnenreichweite des lateinamerikanischen Staates war traditionell begrenzt. Er garantierte zumeist weder ein fächendeckendes Bildungs- und Gesundheitssystem, noch kümmerte er sich beispielsweise um die indianische Bevölkerung und die verarmten Massen.
Der Unterschied zu früher liegt darin, “daß die strukturellen Schwächen des Staates nunmehr zu Tugenden erklärt werden, daß die Vernachlässigung seiner sozialen Funktionen nicht mehr vorwerfbar, sondern lobenswert, weil freiheitsstiftend ist, daß nur rudimentäre staatliche Dienstleistungsangebote statt als Defizit jetzt zum Ziel deklariert werden, kurz, bestehende Not wird in eine Chance zur Entwicklung umgelogen. Praktisch heißt das: Der immer schon miserable Staat wird noch miserabler; er liquidiert Hoffnung, Erwartungen, Rechte und Ansprüche auf Zukunft und Entwicklung gerade für jene, deren eigene materielle Kraft schon bisher nicht ausgereicht hat, individuell Armut, soziale Ungerechtigkeit und Unterentwicklung erfolgreich anzugehen und die jetzt auf die Chancen des Wettbewerbs und des Marktes reduziert werden.”
Die negativen Auswirkungen der Privatisierung staatlicher Funktionen beschreibt Thomas Fatheuer in seiner Analyse der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro: Ganze Stadtviertel werden von Drogenbanden, Glücksspielkartellen und Todesschwadronen kontrolliert. Das Problem ist hierbei, wie so oft, jedoch weniger die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols – die Polizei wird von den BewohnerInnen der Favelas eher als Bedrohung denn als Schutz gesehen und ist zudem mit den Strukturen privater Gewalt “symbiotisch verwachsen” -, sondern ganz allgemein die Macht der Gewalt über die Gesellschaft. Auch jenseits des Gewaltmonopols werden die staatlichen Aufgaben wie Bildungs- und Gesundheitssystem zunehmend privatisiert und von Drogen- und Glücksspielbossen übernommen. In der tiefgreifenden sozialen Krise bilden sich laut Fatheuer “neue Formen einer sich barbarisierenden gesellschaftlichen Vermittlung, die vielleicht, und das ist das Bestürzende, gar nicht so schlecht funktionieren.” Vor allem aber wirken sie systemstabilisierend, begünstigen “autoritäre und faschistische Antworten” und erschweren den Aufbau basisorientierter Alternativen innerhalb der Favelas.
Daß der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und der Abbau der staatlichen Regulierungsfunktionen auch Chancen bietet und die politische Organisierung der Betroffenen fördern kann, zeigt Juliana Ströbele-Gregor anhand des Hoch- und Tieflands Boliviens. Der (Wieder-)Aufbau basisorientierter Entscheidungsstrukturen und Organisationen der indianischen Landbevölkerung in den achtziger Jahren resultierte aus der Notwendigkeit, der Austeritätspolitik der bolivianischen Regierungen zu begegnen, wurde aber auch durch die neuen Freiräume erleichtert, die der Rückzug von “Stiefvater Staat” schuf. Der unabhängige Organisierungsprozeß beförderte gleichzeitig ein neues Selbstbewußtsein und die Besinnung auf die eigenständige kulturelle Identität und Tradition der indianischen Bevölkerung. Zwei Faktoren spielten in diesem Prozeß eine bedeutsame Rolle: die Führungspersönlichkeiten und die Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Hatten erstere als “soziale Grenzgänger” eine wichtige Funktion als “Mittler von Ideen, Werten, politischen Vorstellungen und Kontakten” nutzten die Basisorganisationen die NGOs insbesondere zur Finanzierung notwendiger Projekte und Hilfsmaßnahmen. Dabei erwies sich die massive Ausbreitung der NGOs nicht nur als positiv: mit der Macht des Geldes korrumpierten sie Führungspersönlichkeiten und zerstörten gewachsene Dorfstrukturen.
Diese Ambivalenz der NGOs in ganz Lateinamerika diskutiert Albrecht Koschützke in seinem Artikel über “Die Lösung auf der Suche nach dem Problem: NGOs diesseits und jenseits des Staates”. Waren diese in den Jahren der Diktatur in vielen lateinamerikansichen Ländern oft dem antidiktatorialen Kampf verpflichtet und nicht selten ein Refugium für Oppositionelle, veränderten sie sich mit dem Redemokratisierungsprozeß der frühen achtziger Jahre und übernahmen oft die Aufgaben, die der neoliberale Staat nicht mehr zu erfüllen bereit war – während der Staat “immer weniger Staat wird und sich qua Privatisierung schrittweise auf reine Vermittlerfunktionen reduziert, also tendenziell einer NGO ähnlich wird”. Ohne die Bedeutung der NGOs, die seit den achtziger Jahren einen riesigen Boom erleben, in vielen Teilbereichen in Frage zu stellen, kritisiert Koschützke die verbreitete Meinung, daß diese per se effizient, kostengünstig, uneigennützig, demokratisch und basisnah seien. In der Realität bilden sich durch den expandierenden Hilfemarkt vielmehr neue Abhängigkeiten. Zudem bestehe die Gefahr, daß die NGOs, statt demokratisches Bewußtsein, Erfahrung und Organisierung zu fördern, in der Praxis insitutionelle und soziale Prozesse demokratischer Teilhabe untergraben.
Aus einer ganz anderen Perspektive untersucht Lothar Witte den Privatisierungsprozeß der letzten Jahre: Anhand der Reform der Sozialversicherung in Chile, Peru und Kolumbien macht Witte deutlich, daß die Ausformung der notwendigen Veränderungen in hohem Maße von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt. Das “chilenische Modell”, das während der Diktatur realisiert wurde, trägt vor allem den Interessen des Privatkapitals Rechnung. Die kolumbianische Reform berücksichtigt zumindest zum Teil auch die sozialen Interessen der einkommensschwachen Versicherten. Vor allem aber zeigt Witte – dem das Verdienst gebührt, ein so trockenes Thema wie eine Versicherungsreform anregend und anschaulich dargestellt zu haben -, daß weder ein staatliches System automatisch sozial gerechter, noch ein privates effizienter ist.
Hans Petter Buvollen und Robert Große zeichnen den schwierigen und widersprüchlichen Autonomieprozeß an der nicaraguanischen Atlantikküste nach. Historisch von der Zentralregierung in Managua kaum beachtet, begann erst die sandinistische Regierung Anfang der achtziger mit dem verstärkten Aufbau staatlicher Institutionen und Entwicklungsprogramme – und machte vieles falsch. Nachdem sich insbesondere die Miskito dem bewaffneten Widerstand gegen die Revolutionsregierung angeschlossen hatten, initiierte die FSLN einen Verhandlungsprozeß, der 1987 in die Verabschiedung eines Autonomiegesetzes mündete. Der Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen und politischen Interessen der Zentralregierung und den BewohnerInnen der Atlantikküste, zwischen Staat und Gesellschaft, wurde allerdings bis heute nicht gelöst. Die Atlantikküste ist noch immer “Spielball von Kräften, die außerhalb der Region liegen”.
Den Schwerpunkt des Jahrbuchs beschließt eine – bereits in den Lateinamerika Nachrichten Nr. 241/242 vorabgedruckte – sehr persönliche Einschätzung von Ingrid Kummels über die Gleichzeitigkeit von Sozialismus, Kapitalismus und Santería für die Menschen in Kuba. In Gesprächen mit FreundInnen und Familienmitgliedern hat Kummels festgestellt, wie in den letzten Jahren der ökonomischen Krise die Santería für die Menschen zu einem wichtigen Bezugspunkt ihrer Alltagskultur “jenseits des sozialistischen Staates” wurde. Auch die Regierung hat ihre rigide Haltung gegen diese Volksreligion in den achtziger Jahren gelockert: “Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklorisierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen.” Doch die AnhängerInnen der Santería entzogen sich auf ihre eigene Art dieser Funktionalisierung.
Insgesamt bietet der Schwerpunkt des diesjährigen Jahrbuchs einen interessanten Einblick in die Prozesse, die jenseits des (neoliberalen) Staates vor sich gehen. Erfreulicherweise werden nicht nur die negativen Auswirkungen der neoliberalen Restrukturierung analysiert, sondern auch die Chancen berücksichtigt, die der Rückzug des Staates bietet. Dies hätte allerdings noch vertieft werden müssen: Wie in dem Beitrag von Juliana Ströbele-Gregor über die Bauernorganisationen in Bolivien deutlich wurde, sind die sozialen Bewegungen entscheidende Akteure, um der neoliberalen Transformation Widerstand entgegenzusetzen. Auf sie wird allerdings kaum eingegangen. Hier hätte sich – ähnlich dem Beitrag über die NGOs – ein Überblick über die sozialen Bewegungen in Lateinamerika angeboten.
Abgerundet wird das Jahrbuch wie in jedem Jahr durch Länderberichte: Diesmal über Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Kuba, Mexiko und Peru. Wer keine brandaktuellen Informationen erwartet – Redaktionsschluß war bereits im April -, wird auch diese Berichte mit Gewinn lesen.
Jenseits des Staates?. Lateinamerika – Analysen und Berichte 18, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Horlemann Verlag (Bad Honnef), 278 Seiten, 29,80 DM, ISBN 3-89502-008-7
Cardoso auf dem Weg ins Präsidentenamt
Plano Real als Königsmacher
Die Antwort ist relativ einfach: Der Erfolg des neuen Wirtschaftsplans ist die primäre Ursache für den Aufstieg von Fernando Henrique Cardoso oder FHC, wie er in Brasilien häufig genannt wird. Dessen Karriere als aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat begann im Oktober 1993 als Wirtschaftsminister in der Regierung Itamar. In diesem Amt legte er die Grundlagen für einen neuen Stabilisierungsplan, der die zuletzt bei 45 Prozent pro Monat liegende Inflation eindämmen sollte. Aber diesmal war es kein über Nacht erlassener Schockplan, sondern ein transparentes, ausgehandeltes Vorgehen ohne Überraschungen. Cardoso konnte als Wirtschaftsminister nur die Grundlagen für diesen Plan legen, aber dies reichte schon aus, um ihn in den Augen vieler als einzige realistische Alternative zu Lula erscheinen zu lassen. Im April 1994 mußte FHC aufgrund der brasilianischen Wahlgesetze sein Amt niederlegen, um offiziell seine Kandidatur für die PSDB – die sich gern als sozialdemokratische Partei Brasiliens sehen würde – anzumelden. Die Exekution des Planes blieb seinem Nachfolger, dem Karrierediplomaten Recupero vorbehalten. Am 1. Juli, während der Fußball-WM, trat der Plan in seine entscheidende Phase. Die neue Währung Real ersetzte den maroden Cruzeiro. Währungsreformen sind in Brasilien allerdings keine Neuigkeit. Der Real ist die siebte Währung Brasiliens seit 1987. Diesmal wurden zwar nicht nur wie sonst lediglich drei Nullen gestrichen und der Name geändert. Die neue Währung ist an den US-Dollar gekoppelt und die Zentralbank garantiert, daß ein Real nicht weniger als ein Dollar wert sein kann. Diese Umstellung einer Wirtschaft, die weit weniger “dollarisiert” war als etwa die argentinische vor einer ähnlichen Operation, wurde durch die Einführung einer Rechnungseinheit (ein URV = ein Dollar) vorbereitet. Damit sollten die BrasilianerInnen an ein neues und stabiles Preisniveau gewöhnt werden. Am 1. Juli wurde schließich die größte Währungsumstellung in der Geschichte der Menschheit eingeleitet, so die brasilianische Presse. Innerhalb von nur zwei Wochen wurde die alte Währung aus dem Verkehr gezogen und durch die neuen “Reais” ersetzt. Verständlicherweise kam es am Anfang zu einigen Umstellungsschwierigkeiten. Hilflos standen die BrasilianerInnen an den ersten Tagen des Planes vor den neuen Preisen in den Supermärkten und versuchten mit Tabellen und Taschenrechnern zu ermitteln, wieviel denn etwa 53 centavos für eine Dose Erbsen seien. Der am letzten Tag des Junis fixierte Umtauschkurs zum Cruzeiro von 1:2750 erleichterte die Rechnerei nicht gerade. Ungewohnt war auch der Umgang mit Münzen, die aufgrund der hohen Inflation fast vollkommen aus dem Gebrauch gekommen waren. Insgesamt vollzog sich nach diesen Anfangsschwierigkeiten die Umstellung aber erstaunlich reibungslos.
Stabile Preise =
Steigende Popularität
Nach zwei Monaten kann nun ein erstes Fazit gezogen werden. Der Wirtschaftsplan hat in den von seinen Schöpfern vorgegebenen Koordinaten funktioniert. Praktisch alle Preise, mit denen die NormalbürgerInnen alltäglich konfrontiert werden, sind seit Inkrafttreten der neuen Währung stabil geblieben. Die Preise für Brot und Reis sind sogar gesunken. Währungsstabilität ohne Preisstop, das ist schon ein kleines Wunder in Brasilien. Allerdings wurden die Preise in der Regel auf einem sehr hohen Niveau in den Real umgewandelt, während für die Löhne ein Mittelwert von vier Monaten zugrunde gelegt wurde. Am Anfang hielten sich die Klagen über hohe Preise und die Zufriedenheit mit der Stabilität die Waage. Begünstigt wurde der Plan durch einen international schwachen Dollar und steigende Kaffeepreise. Überraschend fiel der Dollarkurs auf 0,89 Real, also weit unter der von der Zentralbank garantierten Parität. Aufgrund des hohen internen Zinsniveaus besteht weiterhin eine hohe Nachfrage auch internationaler AnlegerInnen nach dem Real, was zu dem Verfall des Dollarkurses führte. Zudem explodierten die Börsenkurse sobald sich der Aufstieg Cardosos in den Umfragen abzeichnete. Unruhe machte sich allerdings in der Regierung breit, da der offizielle Inflationsindex noch für August einen Wert von 5,5 Prozent anzeigt. Seitdem ist ein Streit um die verschiedenen Indices entbrannt, die alle andere Inflationsraten im Spektrum von von 0 bis 8 Prozent angeben. Die Regierung argumentiert, ihr Index spiegele noch die Inflation in Cruzeiro wieder, die Inflation sei also “residual” und nicht aktuell. Tatsächlich nähern sich Indices, die nur die Verbraucherpreise nach Einführung des Reals berücksichtigen, der 0 Prozent Marke. Lediglich saison-bedingtes Ansteigen der Obst- und Gemüsepreise wirken sich hier negativ aus.
Der Plano Real erweist sich bisher als ein technisch recht solider Stabilisierungsplan ohne soziale Komponente. Er ist bewußt nicht mit einem Kaufkraftanstieg oder einer Lohnsteigerung verknüpft, um nicht durch eine “Konsumexplosion” die Preisstabilität zu gefährden. Auf der anderen Seite erweist sich der Plan bisher nicht als rezessiv. Das brasilianische Bruttosozialprodukt wird dieses Jahr wohl um 3 bis 4 Prozent wachsen. Die Anpassung der Preise auf hohem Niveau dürfte für die unteren Einkommensgruppen durch den Wegfall der Inflationsverluste zumindest annähernd kompensiert werden, zumal der Mindestlohn zum 1. September von 64 auf 70 Real anstieg. Längerfristige Strukturschwierigkeiten, die vor allem mit dem Problem der internen Verschuldung zu tun haben, werden sich wohl erst nach den Wahlen einstellen. Auch ist zu fragen, wie lange eine Wirtschaft ein so hohes Realzinsniveau (etwa 20 Prozent pro Jahr) durchhalten kann. Hier bleibt Brasilien ein Sonderfall einer entwickelten kapitalistischen Ökonomie, die fast ohne Kredit funktioniert.
Ein neuer Optimismus
im Land der Weltmeister
Fernando Henrique Cardosos Popularität wuchs mit und aufgrund des Planes. Dessen bescheidene und zunächst kurzfristige Stabilisierungseffekte haben das Land zwar nicht wie zu den Zeiten des Cruzados in Euphorie versetzt, aber neuen Optimismus wachsen lassen. Da paßte der Gewinn der Fußball-WM gut in die Landschaft. Die Regierungspropaganda versucht dies auch direkt auszuschlachten: “Wir haben in der WM gesiegt. Nun werden wir die Inflation besiegen”, verkünden riesige Plakate allerorten. Der Sieg von Romário und Co. hat das alte Gespenst besiegt, daß dieses Land einfach zur Erfolgslosigkeit verurteilt sei. Und wie der Erfolg im Fußball nicht den Glanz der Zeiten Pelés wiederbelebte, so ist man in der Politik mit einem Plan zufrieden, der zwar nicht alle Probleme des Landes löst, aber doch ein Stückchen Stabilität bringt. Fernando Henrique versucht mit jeder Faser seines Körpers, insbesondere aber mit seinem Gebiß, diesen neuen Optimismus in Szene zu setzen. Ein lachender und heiterer Kandidat, kaum einmal agressiv gegen seine Gegner, eher mild mitleidig. So präsentiert sich der alte Dependenztheortiker heute als Protagonist eines breiten Bündnisses, das inzwischen einen guten Teil des Rechten Lagers absorbiert hat. “Er übermittelt die Idee von Sieg, Größe, Glück und Essen im Magen. Der andere (Lula), verkörpert die schmerzhafte Wunde, das Bild des Hungers. Lula ist hervorragend in seiner Analyse. Aber das Volk will keine Analysen hören. Es will Lösungen spüren, an die es glaubt.” So charakterisiert der Politologe Gaudencio Torquato den Gegensatz zwischen Lula und FHC.
Im Land des real existierenden Hungers scheint tatsächlich die schwammige Idee eines neuen Aufschwungs eine ausreichende Grundlage zu geben, um einen Präsidenten zu wählen. Oder wie es der Filmemacher Caca Diegues (“Bye, Bye Brasil”) formulierte: “Wir lernen wieder Brasilien zu mögen.” Gegen das Siegerimage von Cardoso ist Lula immerhin überhaupt noch der einzige Kandidat, der ernsthaft Widerstand leistet. Alle anderen, wie Brizola oder Quercia, dümpeln aussichtslos bei der 5 Prozent Marke herum, genauso wie der erzreaktionäre Politikclown Eneas mit dem Hauptslogan: “Mein Name ist Eneas”.
Die Antwort der PT:
Klagen und Kampf
Der plötzliche Aufstieg des Fernando Henrique hat Lula und seine Arbeiterpartei (PT) auf falschem Fuße erwischt. Im Mai hatte die PT noch Hoffnungen gehegt, bereits im ersten Wahlgang zu gewinnen, und unter den Anhänger machte sich eine siegessichere Stimmung breit. Auf der Suche nach den Ursachen für den Niedergang beschuldigt die PT vorwiegend die Medien, allen voran den dominierenden Fernsehsender Globo, massiv FHC zu unterstützen. Ebenso kritisiert sie, daß der Regierungsapparat durch die Propaganda für den Plan mehr oder weniger offen in den Wahlkampf eingreife. Die Kritik am Plano Real scheint jedoch einfach nicht zu greifen. Zwar rechnen die PT-Ökonomen vor, daß der Plan drastische Lohneinbußen gebracht habe, aber die Linke scheint zu unterschätzen, daß Stabilisierungserfolge durchaus “Opferbereitschaft” mobilisieren können. Und gegen den oben beschriebenen diffusen Optimismus läßt sich anscheinend nur schwer gegenargumentieren.
Noch gibt die PT allerdings die Schlacht nicht verloren. Die Anhängerschaft der Partei (“Militancia”) soll nun verstärkt auf der Straße den Wahlkampf führen. Ziel ist es, wenigstens einen zweiten Durchgang zu ermöglichen um so nach einer ersten Ernüchterung über die Effekte das Planes das Blatt wenden zu können. Der Einsatz der Aktivisten wird allerdings dadurch erschwert, daß am 3. Oktober auch die Gouverneure sowie Landtags- und Bundesparlamentsabgeordenete gewählt werden. Aufgrund des brasilianischen Wahlsystems sind auch diese Wahlen in höchstem Grade personalisiert, so daß ein großer Teil der AktivistInnen von dem Wahlkampf für seinen/ihren Abgeordneten absorbiert ist. Jedenfalls will der Schwung und Einsatz, der den Wahlkampf Lulas 1989 charakaterisierte, noch nicht recht aufkommen. Die PT wird es schwer haben, einen Wahlsieg Cardosos zu verhindern, wenn nicht noch Unvorhergesehenes passiert. Was in Brasilien schließlich keine Seltenheit wäre.
Kasten:
Wirtschaftsminister verplappert sich!
“Ich habe keine Skrupel. Was gut ist, stellen wir heraus, was schlecht ist, verbergen wir,” sagte kein geringerer als Wirtschaftminister Recupero. Zustande kam diese Äußerung hinsichtlich des Wirtschaftsplans im vertrauten Gespräch vor einem Interview mit einem Globo Reporter. Was beide nicht ahnten: Die Satellitenübertragung zwischen Brasilia und Rio, nur für den internen Gebrauch von Globo bestimmt, wurde von einigen Parabolantennenbesitzern empfangen und aufgezeichnet. Der Skandal war perfekt. Ricupero gab offen zu, den Regierungsapparat in Unterstützung für Fernando Henrique einzusetzen und bestätigte somit alle Beschuldigungen der PT. Als der gesamte Wortlaut des Gesprächs bekannt wurde, zögerte Präsident Itamar nicht: Recupero wurde entlassen. Die Überraschung in der brasilianischen öffentlichkeit war besonders groß, da sich Recupero als gelernter Diplomat in der Öffentlichkeit immer mit betonter Bescheidenheit in Szene setzte und gut das Image des ehrlichen Katholiken verkaufen konnte. Sein Ausspruch “ich habe keine Skrupel” bestätigt geradezu symbolhaft alle negative Voreingenommenheit gegen brasilianische Politiker. Zudem legte Recupero eine unglaubliche Arroganz an den Tag: “Die Regierung braucht mich mehr als ich die Regierung.” Für die PT erschien die Indiskretion des Ministers als ein Geschenk des Himmels und Anfang des Niedergangs von Fernando Henrique. Sie fordert gar die Annulierung dessen Kandidatur wegen verbotener Parteinahme der Regierung für einen Kandidaten. Es bleibt aber abzuwarten, ob der Fall Recupero mehr als eine Episode sein wird. Die Börse reagierte mit einem drastischen Kurssturz.
Nachfolger Recuperos wurde am 8. September Ciro Gomes, Parteigenosse von Fernado Henrique und populärer Gouverneur von Ceará. Diese Wahl könnte nach ersten Turbulenzen durchaus die Position Fernando Henriques stärken. Ciro Gomes ist angesehen, gilt als effektiv und nicht korrupt, hat als Gouverneur in Ceará ein gutes Bild gemacht und verstärkt eher die Verbindung zwischen Plano Real und der Kandidatur Cardosos.
Exil im eigenen Land
Nascimento hat seit Ende der 80er Jahre nicht aufgehört, die Hintermänner von Todesschwadronen zu ermitteln und mit Namen zu nennen. Begonnen hat er mit dieser Recherche-Arbeit, als 1986/87 in 19 Monaten 21 Kinder und Jugendliche aus seiner Straßenkindergruppe ermordet wurden und daraufhin das von ihm initiierte Zentrum in der Favela do Lixao geschlossen werden mußte.
Die Recherche und Öffentlichkeitsarbeit machten Nascimento bekannt, vor allem aber kamen die Strukturen der mörderischen Kartelle der Macht ans Tageslicht, die Verquickung von legaler und extralegaler Repression.
“Wer die Macht angreift, der bleibt nicht ungestraft” – nach diesem Motto war das Delikt schnell konstruiert, von eben jenen Richtern (Rubem Medeiros, Luíz Cesar Bittencourt, Renato Simoni und Mario dos Santos Paulo), die in die Strukturen der Todesschwadronen verwickelt sind: Üble Nachrede – gegenüber denjenigen, die die Macht haben.
Asyl in Europa keine Alternative
Nascimento hätte sich der Verhaftung durch Flucht entzogen, denn Gefängnis bedeutet für ihn den sicheren Tod. Als er in diesem Frühjahr nach Europa reisen konnte, als das Europäische Parlament zu seinem Fall und den Morden an Straßenkindern eine Resolution abfaßte, machte sich Nascimento nochmals Hoffnungen: Er hätte sich in Brasilien in eine Botschaft geflüchtet und politisches Asyl beantragt. Aber die Reise in die Festung Europa hat ihn in jenem Monat vor Augen geführt, was politisches Asyl heißt, hätte er es überhaupt bekommen. Die Internierung in ein Lager, wie es nach deutscher Norm mittlerweile in der EU üblich wird, hielt er nach genauen Erkundigungen für derart unmenschlich, daß er diese Alternative verworfen hat. Er fuhr zurück nach Rio de Janeiro, in Erwartung der Urteilsbestätigung. Und Davi, seinen jüngsten, wenige Tage alten Sohn, hatte er noch nicht gesehen.
Anfang Juli 1994: Viele ErzieherInnen und Straßenkinder-Engagierte hat Nascimento von seinem neuen Wohnsitz aus zu einem Fortbildungs-Seminar geladen, Thema: Wie können die rechtlichen Möglichkeiten in der Kinder- und Jugendarbeit voll ausgeschöpft werden. Zu dem Seminar reisten mehr als hundert Personen an, viele von ihnen direkt bedroht wegen ihres mutigen Engagements für die Straßenkinder. Aber das war nicht Thema des Seminars.
Ein Nachsatz, eine Überlegung: Ist es eine lateinamerikanische Besonderheit, daß man sich der staatlichen und parastaatlichen Bedrohung – der Drohung, umgebracht zu werden – durch Ortswechsel entziehen kann? Durch Verlassen der Konflikte in der Großstadt? Oder ist es ein Anzeichen für die neue lokale Aufteilung der Macht, der zersplitterten Einflußbereiche von bewaffneten halbstaatlichen Banden und Milizen, wie es mehr und mehr auch in einigen Teilen von Europa zu beobachten ist?
Die Ankunft des evangelikalen Zeitalters
Montag Nacht in der Kirche der Wiedergeburt im Stadtzentrum von Sao Paulo. Es ist Jugendgottesdienst. Die Sitze des um-gewandelten Theaters sind an den Wänden gestapelt. Um die 3000 jungen Leute bewegen sich über das leicht schräge Parken. Das junge Publikum kennt die religiösen Rockklänge gut genug, um während der Pausen der Band eine Akapella anzustimmen. Ein Song katalogisiert drei Jahrzehnte internationaler Jugendkultur mit Anspielungen auf die Beatniks, Drogen, Yoga, Naturkost, und Politik (“Müssen wir töten?”), und endet mit der Strophe: “Die Revolution ist Gott, der Vater und sein Sohn Jesus Christ!” Viele der Jugendlichen tragen T-Shirts mit meist englischen Aufschriften, wie: “Be cool, Jesus loves you!” .
Später am Abend wendet sich ein lässig gekleideter Mann um die zwanzig an das Publikum, das mittlerweile auf dem Boden sitzt. Der Seminarstudent bekommt einen besseren Draht zu den Leuten als der schon ältere Prediger. Seine Botschaft ist einfach: “Jesus Christ”, mahnt er. “möchte Teil eures Lebens sein.” Danach kommen zwei oder drei Dutzend nach vorne, um Christus zu akzeptieren, und werden hinter die Bühne geführt, wo sie aufgenommen werden und weitere Anweisungen bekommen. Währenddessen spielt ein bekannter Gitarrist, der ebenfalls Christus entdeckt hat, ein Bluesarrangement auf den 22. Psalm. Wiedergeburtstaumel und Erfolg sind eine Facette der derzeitigen Welle des evangelikalen Protestantismus, die über Lateinamerika schwappt. 1993 bezahlte die Kirche angeblich 2 Mio. US-Dollar für ein Auditorium im Herzen Sao Paulos. Solche Großveranstaltungen sind in Brasilien kaum noch etwas Neues. 1990 bezahlte die von Bischof Edir Macedo geführte Universalkirche des Königreich Gottes 45 Mio. US-Dollar für eine Fernsehstation in Sao Paulo. Macedo kann das Maracaná-Stadion in Rio mit 150.000 Anhängern füllen. Auf einem solchen Zusammenkommen sagte er den Brillenträgern, ihre Augen seien geheilt. Die Brillen wurden eingesammelt und nach vorne gebracht, wo er auf ihnen herumtrampelte.
Linke verharren in alten Denkmustern
Vielleicht aufgrund der Bewunderung der Linken und AkademikerInnen für die Rolle progressiver Teile der Katholischen Kirche in den sozialen Bewegungen, haben sie nur langsam das beträchtliche Anwachsen der Evangelikalen zur Kenntnis genommen. Außerdem wurde versucht das Phänomen in engen reaktionären Begriffen zu sehen, besonders als Guatemalas wiedergeborener Präsident Efraín Rios Montt (1982-83) Massaker der guatemaltekischen Armee rechtfertigte, und US-Fernsehprediger die nicaraguanischen Contras gegen die “gottlosen” Sandinisten unterstützten.
Die wesentlich andere Realität zeigt der Anteil der Protestanten an der Gesamtbevölkerung: Belief er sich noch vor einer Generation auf 2-3 Prozent, erreicht er heute eine kritische Masse um die 15 Prozent (mit großen Unterschieden von Land zu Land). Obwohl die Mehrheit der LateinamerikanerInnen sich bei Umfragen noch immer als KatholikInnen bezeichnet, besuchen nur wenige regelmäßig die Messe. Das Ergebnis ist, daß die Anzahl aktiver protestantischer KirchgängerInnen heute vergleichbar ist mit der Zahl praktizierender KatholikInnen. Die Anzahl praktizierender ProtestantInnen ist jedoch größer als die Zahl der Mitglieder aller anderen ehrenamtlichen Gruppierungen. ob politisch, kulturell oder sportlich, zusammen.
Siegeszug der Evangelikalen in Brasilien
Forscher des Instituts für Religiöse Studien (ISER) in Rio de Janeiro behaupten. daß der evangelikale Protestantismus “die am meisten meinungsmachende Bewegung der derzeitigen brasilianischen Gesellschaft sei, vor allem in den armen Vorstadtbezirken.” ISER fand heraus. daß sich zwischen 1990 und 1992 mehr als 710 Gemeinden im Großraum von Rio etablieren konnten, das bedeutet fünf pro Woche. Während dieser ganzen Zeit hat sich nur eine neue katholische Gemeinde gegründet. Obwohl die traditionellen Kirchen, besonders die Baptisten und die Presbyterianer weiterhin stark präsent sind, waren 90 Prozent der neugegründeten Gemeinden Pfingstgemeinden. In den armen Bezirken war die Proportion der Kirchen zu den BewohnerInnen dreimal höher als in den reichen, in Strandnähe gelegenen Gemeinden.
Aber es wäre ein Fehler anzunehmen, die evangelikale Bewegung wäre eine unaufhaltsame Schwindelei. Trotz guter Organisation einer einwöchigen Evangelisierungskampagne vieler Kirchen in Caracas in der alten Stierkampfarena, konnten sie nicht einmal 1.000 Leute mobilisieren, von denen .die meisten schon Evangelikale waren. Ähnlich plante die Assembleias de Deus in der Karwoche eine Kampagne im Zentrum von Sao Paulo mit dem Ziel, sechs bis zehntausend Seelen für Christus zu gewinnen. Es kamen vielleicht 5000 Leute, die meisten Evangelikale, und jene, die nach vorne kamen um Christus anzunehmen, gingen in die Hundert.
Kürzlich war ich in Sao Paulo. wo die evangelikale Bewegung gut gedeiht, und in Caracas, wo die Protestanten gerade ein Prozent der Bevölkerung ausmachen (für Venezuela insgesamt liegt die Zahl bei vier Prozent). Diese beiden Städte zeigen die unterschiedlichen Züge der evangelikalen Bewegung recht gut.
Protestanten -oder “Evangélicos”,Evangelikale, wie sie sich selbst nennen, sind nicht alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Die traditionellen, wie die Lutheraner, Methodisten, Presbyterianer, Baptisten, und andere sind den entsprechenden Konfessionen in Europa und den Vereinigten Staaten, woher sie auch stammen. sehr ähnlich. Im allgemeinen verstehen diese Kirchen die Bibel kritischer als die konservativen Kirchen, welche die Bibel wortwörtlich interpretieren. Während diese Kirchen als fundamentalistisch bezeichnet werden, steht bei der sich rasch ausdehnenden Pfingstbewegung weniger die Predigt oder eine Doktrin im Mittelpunkt, als vielmehr eine emotionale Erfahrung mit dem Geist Gottes. Diese allgemeinen Kategorien sind aber auf keinen Fall wasserdicht. Pfingstlensche Praktiken haben mittlerweile auch die traditionellen Kirchen durchdrungen.
Die Pfingstgemeinden
Zudem gibt es eine große Vielfalt im Bereich der Pfingstgemeinden innerhalb der protestantischen Kirche. Bischof Macedos Universalkirche beispielsweise drehte die Praxis der meisten protestantischen Konfessionen einfach um. Diese bildeten neue Gemeinden als Folge einer Kirchenspaltung, oder als kleine Missionsgruppen, die zu einer Gemeinde wurden. Eigentum er-warben und darauf aufbauten. Die Universalkirche bildet generell eine Gemeinde auf kommerzieller Basis. Dann erst wer-den Pastoren ernannt, die damit beginnen, Gottesdienste abzuhalten, üblicherweise viermal am Tag, sieben Tage die Woche. Der Pastor muß die Leute zu den Gottesdiensten locken und sie zu Spenden motivieren.
Bei der Universalkirche hat jeder Tag ein Thema: “Wohlstand”, “Familie”, und so weiter. Das Freitagsthema “Befreiung” hat nichts mit sozialer Veränderung zu tun. sondern mit der Befreiung von bösen Geistern Wie jeder andere Gottesdienst an den anderen Tagen, fängt auch dieser mit einer halben Stunde Singen an. Dann
kommt ein halbes Dutzend Leute. vorrangig Frauen, nach vorne. Schon bald fangen sie an zu stöhnen, zu schreien, zu kriechen. Der Prediger schreit die Dämonen an, und führt den Gesang, wobei er immer wieder singt: “Sai! Sai!” (“Geh raus, Geh raus!”). Die Dämonen verschwinden gehorsam, hinterlassen ihre Opferspendabel, und ihre Familien erleichtert. Die Kirche Deus é Amor (Gott ist Liebe). eine Vorgängerin der Universalkirche, wird ebenfalls von einem “caudillo”-Prediger geführt, David Miranda. Sie legt besonderen Wert auf Heilung, und strahlt über hundert Stunden pro Woche Radioprogramme aus. Diejenigen, die die täglichen Gottesdienste in den riesigen warenhausähnlichen Hauptquartieren in der heruntergekommenen industriellen Region auf der anderen Seite des Flusses von Sao Paulo in Anspruch nehmen, sind sichtlich arm.Und diejenigen, die in der Kirche arbeiten, reflektieren wirklich die Kultur der unteren Bevölkerungsschichten, aus der auch sie stammen, im Gegensatz zur Universalkirche. Deren Pastoren sehen aus. als würden sie Autos oder Immobilien verkaufen Viele Menschen nehmen an den Gottesdiensten der Universalkirche oder Deus é Amor teil, wenn sie gerade das Bedürfnis danach haben, sind aber keine aktiven Mitglieder in einer lokalen Gemeinde
Die Congregacao Crista in Brasilien unterscheidet sich in vielerlei von der Universalkirche. Sie hat keinen vergleichbaren Klerus, führt keine Kampagnen, veröffentlicht keine Bücher, sendet keine Radioprogramme und ist nicht politisch. ihre teilweise pfingstlerischen Gottesdienste sind Vorzeigemodelle des Anstandes. So-gar Angehörige der ArbeiterInnenklasse kommen in Anzügen und Kostümen, Frauen und Männer sitzen getrennt. Trotz ihrer ruhigen Art verbreitet sich die Congregacao Crista immermehr in den Vor-orten von Sao Paulo und entlang der großen Highways.
Geballte Kraft
Die größte einzelne Gruppe in Brasilien wie auch andernorts in Lateinamerika sind die Assembleias de Deus, die Versammlungen Gottes. Sie haben heute bereits mindestens acht Millionen Mitglieder, wobei sie selbst von mehr als 12 Millionen sprechen, und haben 35.000 Gemein-den über das ganze Land verstreut. Sie bilden die größte protestantische Glaubensrichtung in jedem “katholischen” Land. und haben mindestens viermal so viele Mitglieder wie die anglikanische Kirche in England. so der britische Forscher Paul Freston. Die Assernbleias haben mittlerweile einen beeindruckenden Grad an Organisation erreicht. Ich war dabei, als sich 1.100 Geistliche aus dem Großraum S5o Paulo zu ihrem monatlichen Gebet und Planungstreffen versammelten. Als eine Konsequenz ihrer schieren Größe haben sie zu ganz anderen Geldquellen Zugang als die anderen, kleineren Kirchen.
Die weitbewunderte Las Acacias-Kirche in Caracas unterscheidet sich deutlich von den oben genannten brasilianischen Kirchen, und auch von den meisten Pfingstgemeinden in Venezuela. Der Gottes-dienst ist zwar auch pfingstlerisch, aber es gibt immer wieder Momente der Ruhe und des Sich-Sammelns, und die Eindringlichkeit der Predigt wird nicht in Dezibel gemessen. Im Gegensatz zu den strengen Regeln in vielen evangelikalen Gemeinden, die das Rauchen, Tanzen. Alkohol, Filme und Fernsehen verbieten, und einen Kleiderzwang auferlegen (vor dem für Frauen), überläßt es Las Acacias ganz dem Ermessen ihrer Mitglieder. Sie betont vor allem die positive Auswirkung des Glaubens auf das Leben jedes einzelnen. Manche Beobachterinnen lehnen Las Acacias als eine MitteIklassen-Kirche ab, obwohl sie in Wirklichkeit klassenüber- greifend ist. Aber viel wichtiger ist, daß sie eine Alternative zu der Rigidität vieler anderer evangelikaler Kirchen bietet.
Diese Vielfalt an Stilen ist die Stärke des lateinamerikanischen Protestantismus. Innerhalb eines katholischen Pfarrbezirks in Sao Paulo, gibt es ein Dutzend und mehr protestantischer Gemeinden, deren Band- breite von den traditionellen bis zu unabhängigen Konfessionen reicht. die sich von einer größeren Pfingstkirche abgespaltet haben.
Finanzielle und intellektuelle Abhängigkeit von den US-Rechten
Die Linke und die progressiven Katholiken sind erschreckt und befremdet über diese rapide Expansion einer, wie sie sagen, fremden Religion. Sie sind versucht dieses evangelikale Anwachsen einer bewußten US-Regierungsstrategie unter Reagan und Bush zuzuschreiben, und der starken finanziellen Unterstützung der religiösen Rechten in den USA. Und tatsächlich werden die evangelikalen Gemeinden nachhaltig von den großzügigen Beiträgen ihrer Mitglieder finanziert, von denen erwartet wird, daß sie ein Zehntel ihres Einkommens an die Kirche geben, was sie auch tun. Die Katholische Kirche ist da weitaus abhängiger von finanziellen Mitteln von außen -primär aus Europa -als die Evangelikalen. Ein Bereich, indem auch die evangelikalen Gemeinden ab- hängig sind. ist der intellektuelle Bereich. Um ein Beispiel zu geben: 1991 wurden 70 Prozent der 585 in Brasilien publizierten evangelikalen Bücher von ausländischen AutorInnen geschrieben.
Orientierungshilfen
Die meisten der linken und katholischen KritikerInnen scheinen nie einen Schritt in eine evangelikale Kirche getan zu haben, um selbst einmal zu beobachten und ein Verständnis davon zu bekommen, was Millionen armer Leute in ihre Reihen zieht. Ihre Anziehung kommt durch die Intensität des Gebets, und eine einfache, verständnisvolle Botschaft, die dem ganzen Chaos der sie umgebenden Situation einen Sinn gibt. Strenge moralische Verhaltensweisen ermöglichen eine Orientierung. die in mancher Hinsicht einen Rückschritt zu den strengmoralischen Werten kleinbäuerlicher Gesellschaften darstellt. Eine Gemeinschaft, in der sich die Leute gegenseitig Brüder und Schwestern nennen, und ein Gefühl von Selbstrespekt vorhanden ist. Auch wenn den evangelikalen Kirchen oft vorgeworfen wird, sie wären ausländische Importe, scheinen sie in den armen Bezirken der Volkskultur näher zu sein, als die Katholische Kirche. Die meisten protestantischen Geistlichen kommen aus derselben Schicht und Kultur wie die anderen aus der Gemeinde. Die Mehrzahl der progressiven katholischen Priester dagegen versuchen, die “Option für die Armen” zu bieten, leben aber in einer anderen kulturellen Welt und Schicht. Die “Option für die Armen”, die für die Erneuerungsbewegung der Katholischen Kirche in den Sechzigern steht, fand ihren Ausdruck in einer neuen Form pastoraler Arbeit, was auch die Verteidigung der Menschenrechte und die Zusammenführung von Basisgemeinden beinhaltete. Kleine Gruppen, die sich zum gemeinsamen Gebet, Diskussionen und Bewußtseinsbildung trafen. All das war unterlegt von einer Theologie der Befreiung. Progressiver Katholizismus war noch nie eine Massenbewegung, obwohl er qualitativ sehr wichtig war, vor allem in seiner Oppositionsrolle, die er während der Militärdiktaturen einnahm und bei den Kämpfen in Zentralamerika, wo nur eine kleine Minderheit daran teilnahm. Auch wenn es in Brasilien wirklich 80.000 Basisgemeinden mit jeweils mindestens 25 Mitgliedern gibt, beträgt ihre absolute Anzahl an AnhängerInnen gerade mal 2 von 160 Millionen. Und neuere Forschungen sehen diese Zahlen sogar als überhöht an.
Befreiungstheologie in der Krise
Diese Strömung innerhalb des Katholizismus ist aber in einem gewissen Maß in eine Krise geraten. Die Ernennungspolitik des Vatikan, der seit zehn Jahren konservative Bischöfe ins Amt beruft, verbunden mit massiven Druck gegen die Befreiungstheologen, hatte ihren Preis. Die Krise sitzt tiefer, und hat etwas mit dem Aufeinanderprallen der in das Befreiungsprojekt gesteckten Hoffnungen und den gegenwärtigen Zukunftsaussichten der lateinamerikanischen Gesellschaft zu tun. Christliche Basisgemeinden, so die Worte eines brasilianischen Theologen, hätten der “Ausgangspunkt für eine soziale Revolution sein können, die zu einer neuen Gesellschaft geführt hätte. In den Basisgemeinden zu arbeiten hieß, die Zukunft einer neuen lateinamerikanischen Gesellschaft vorzubereiten.” In den 90ern sind diese utopischen Träume, die im Klima der Militärdiktatur genährt wurden, an
dem scheinbar universellen Triumph des Kapitalismus, an der Krise des Marxismus und an dem Zurückdrängen linker Themen zu reformistischer Sozialdemokratie zerplatzt. Venezuelas progressive Katholiken, die nie eine vergleichbare Phase des Widerstands gegen eine Militärdiktatur hatten, und deren Hoffnungen vielleicht weniger utopisch sind, sind weniger in der Krise als die Brasilianischen.
Religiöser Pluralismus
In jedem Fall kommen diejenigen. die sich zum Protestantismus bekehren, nicht aus den christlichen Basisgemeinden, sondern aus der großen Mehrheit derer, die nur beiläufig Kontakt zur Katholischen Kirche haben. Die zum Protestantismus Bekehrten gehörten nie fest zur Katholischen Kirche im Sinne aktiver Gemeindemitgliedschaft. So ist es wohl auch richtiger davon zu sprechen, daß sich Lateinamerika in religiöser Hinsicht zum ersten Mal pluralistischer zeigt, und nicht “protestantischer wird”. Selbstverständlich haben schon immer andere religiöse Anschauungen, vor allem afrobrasilianische Religionen und ähnliche Formen hinter der katholischen Fassade prächtig geblüht.
Das aufkommende protestantische Zeitalter aber markiert das Ende einer katholischen Hegemonie.
Als direkte Folge ihrer Masse an Mitgliedern stellt die protestantische Bewegung nicht zuletzt auch eine potentielle politische Kraft dar. Ohne seine evangelikale Identität hätte Jorge Serrano wohl nicht Präsidentschaftskandidat in Guatemala werden können, und Alberto Fujimori warb bei den Präsidentschaftswahlen 1990 in Peru offen um die Stimmen der Evangelikalen. Evangelikale Abgeordnete repräsentieren mittlerweile den wichtigsten Block im brasilianischen Kongreß.
Protestantische politische KandidatInnen sind stärker vertreten als jemals zuvor. Die Botschaft an ihre AnhängerInnen ist, daß der Moment gekommen sei, und da5 die evangelikale Bewegung ein Recht auf politische Repräsentation hätte. Sie versuchen große Teile der Bevölkerung davon zu überzeugen, daß ihre evangelikale Politik sich von der machtgierigen und korrupten Politik herkömmlicher Politiker- Innen absetzt (ein Anspruch, der nicht viele Jorge Senanos überleben wird). Einige protestantische Führungsköpfe sehnen sich nach einer gesellschaftlichen Stimme wie die der katholischen Bischofskonferenz. Da aber die meisten lokalen Pastoren nicht die Notwendigkeit einer derartigen Stimme sehen. und auch nicht eine zentrale evangelikale Dachorganisation anerkennen, ist die Unterstützung recht gering.
Die Konservativen haben sich rasch das Argument des britischen Soziologen David Martin zu eigen gemacht, wonach der Protestantismus letztendlich durch die Überwindung des kapitalismusfeindlichen Katholizismus helfen könnte, die Modernisierung Lateinamerikas voranzutreiben. In einem Artikel über den lateinamerikanischen Protestantismus in dem Magazin “Forbes”, ein Magazin. daß normalerweise weder Lateinamerika noch Religion beachtet, freute man sich hämisch darüber, daß “der kulturelle Umbruch durch das Anwachsen der Evangelikalen “nichts anderes ist, als die andere Seite der ökonomischen Transformation”, und “zeigt solide Anhaltspunkte für die Zukunft, einer kapitalistischen. bürgerlichen Zukunft, und keiner marxistischen oder traditionellen.”
Nicht rechts, nicht links, sondern religiös!
Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung sind nicht alle Evangelikalen konservativ. Eindeutiger Hinweis dafür ist die Mitgliedschaft von Evangelikalen in der linken Arbeiterpartei Brasiliens, der PT. Hier ist ihr Anteil nur ein bißchen geringer als ihre Präsenz in der brasilianischen Gesellschaft. Benedita da Silva zum Beispiel, die schwarze Sozialarbeiterin, die in den Kongreß gewählt wurde. und 1992 beinahe das Rennen um das Bürgermeisteramt Rio gewonnen hatte. ist aktives Mitglied in der Assembleias de Deus.
Wenn man sich überlegt, daß für 15 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung der protestantische Glaube von Bedeutung ist, erkennt man. daß diese Kirchen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen. Und selbst wenn ihre Theologie für ein soziales Engagement eher demotivierend ist, könnte sich ihre politischer Stellung noch weiter ausbauen. In einigen theologisch-konservativen Kreisen hört man die Behauptung, daß die versprochene Erlösung durch Christus “umfassend sei: Das bedeutet, daß es nicht nur die “Seele” betrifft, sondern die gesamte Person, und somit auch die Gesellschaft. Diese Position ist analog zur Position im römischen Katholizismus, die die Grundlage für soziales Engagement und für die Befreiungstheologie legte. Eine Gruppe konservativ-protestantischer Theologen. die sich 1988 in Medellín versammelten, kritisierten zwar die Befreiungstheologie, gestanden aber ein, daß es Evangelikale bei weitem daran fehlen lassen, sich sozialen Mißständen zuzuwenden. Das abschließende Dokument dieser Zusammenkunft rief zu mehr Verbindlichkeit bei sozialen Themen auf.
Wenn die lateinamerikanische Linke nach dem Kalten Krieg dabei ist, Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu schließen um Alternativen zum Neoliberalismus zu finden. muß sie die Stereotype bezüglich evangelikaler Kirchen fallen lassen. Es ist höchste Zeit, daß die Linke endlich diese religiösen Bewegungen ernstnimmt, die sie bisher nur verspottet, ignoriert oder distanziert wahrgenommen hat.
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