Mädchenprostitution und Sextourismus

Brasilien entwickelt sich immer mehr zum beliebten Reiseziel von Sextouristen. Da die bekannten Touristenstädte wie Rio de Janeiro und Recife wegen der Medienbe­richte über ur­bane Gewalt an Attraktivität verlieren, eroberte die Touris­musindustrie in den letzten drei Jahren die ruhigen Strände im Nordosten des Landes: Natal, Fortaleza, Joao Pessoa. Seit einem Jahr gibt es wöchentlich einen Charterflug von Recife nach Natal. Seitdem wird die Stadt in der Hochsaison von 20.000 Touristen, vor allem von Deutschen, Ita­lienern und Argentiniern besucht. In Natal gibt es proportional zur Größe der Stadt (600.000 EinwohnerInnen) die meisten Reise­büros in ganz Brasilien.
Tourismus – eine vom IWF empfohlene Entwicklungsstrategie – wird als Lösung sozialer Probleme propagiert, soll das Steueraufkommen erhöhen und Devisen zur Schuldenrück­zahlung einbringen. Ein gut organisiertes Kartell hat in Brasilien eine Tourismus-Infrastruktur geschaffen und zieht dabei auch hohe Gewinne aus dem Prostitutionsgeschäft mit Minderjäh­rigen. Brasilien hat nach Thailand welt­weit den höchsten Anteil an minderjähri­gen Prostituierten und ist da­bei, Thailand den ersten Rang streitig zu machen. Denn dort, so wird befürchtet, ist AIDS stärker verbrei­tet, und zum anderen ist der Prostitu­tionsmarkt teurer. (Die Ent­jungferung ei­nes Mädchens kostet in Bra­silien 200, in Thai­land 400 US-Dollar.) Nach Angaben des Sozial­ministeriums werden 500.000 Min­derjährige in Brasi­lien prostituiert.

Das Kartell der Mädchen­prostitution

Wie das Imperium des Sextourismus funktioniert, wird in einem Dossier darge­stellt, das CEBRAIOS für die Untersu­chungskommission über die Prostitution Minderjähriger er­stellt hat. Verwickelt in dieses lukrative Geschäft sind die Besitzer von Hotels, Reiseagenturen, Unternehmer und Politi­ker. Während diese kleine Gruppe ihren Reichtum vermehren kann, bietet das Tourismusgeschäft dem Rest der Bevölke­rung allenfalls schlecht be­zahlte Arbeit. Für Frauen und Mädchen ist die Prostitution oft die einzige Arbeits­möglichkeit. Es wird damit gerechnet, daß inzwischen mehr Minderjährige in der Prostitution arbeiten als erwachsene Frauen. In dem Touristenort Mossoró, so das Dossier, ver­dient die Hälfte der weib­lichen Bevölkerung ihr Einkommen in der Prostitution.
Das Coletivo Mulher Vida, eine Frauen­organisation in Olinda/Recife, beschreibt, daß in der Regel schwarze Mäd­chen zwi­schen 14 und 18 Jahren in die Prostitution einstei­gen. Sie kommen aus der unteren sozialen Schicht, verdie­nen 50 bis 100 US-Dollar an einem Touristen und werden über Luxushotels vermittelt. Die Hoffnung der Mädchen besteht darin, über die Prosti­tution einen reichen, weißen Aus­länder zu heiraten.
In Natal sind einflußreiche Personen wie Unternehmer und Politiker daran beteiligt, den Ring der organisierten Kinderprosti­tution auszubauen, so z.B. der Besitzer des Mo­tels “De Ville”, Antonio Melo, Bruder des Ex-Gouverneurs von Rio Grande do Norte. Neben Touristen gehö­ren Politiker und Parlamentsabgeordnete zu den Klienten verschiedener “Agen­turen”, die Minderjährige als Pro­stituierte für sich ar­beiten lassen.
Bekannt wurde dieser Skandal, nachdem eine 15-jährige massiv von ihrer Zuhälte­rin bedroht worden war und sich mit ihren Eltern an eine Zeitung wandte. Nachdem sie sich geweigert hatte, dem Abgeordne­ten Cipriano Correia (PMDB) zu sexuel­len Diensten zur Verfügung zu stehen, wurde sie unter Druck gesetzt.
Die Anwerbung von Mädchen beginnt oftmals direkt vor der Schule. Dort suchen sich die ZuhälterInnen (in Brasilien sind traditionell auch viele Frauen in diesem Metier tätig) die Mädchen aus, unterbrei­ten ihnen Vorschläge, mit Män­nern aus­zugehen und stellen ihnen in Aussicht, je­derzeit wieder aufhören zu können. Falls sich tatsächlich eine für den Ausstieg ent­scheidet, beginnen jedoch die Drohungen. Mädchen, die oft ohne Wissen der Eltern dieser Arbeit nachgehen, wird z.B. ange­droht, daß ihre Eltern informiert werden.
In Natal verfügen Zuhälter über Fotoka­taloge mit jungen Mädchen (“ninfetas”), die Abgeordneten und Unternehmern für “Programme” angeboten werden. Nach­forschungen erga­ben, daß der Prostituti­onshandel direkt vom Büro des Parla­mentsabgeordneten Manoel do Carmo aus organisiert wird. Seine Angestellte be­treibt von dort aus ihre Agentur als Zu­hälterin. Berichten der Mädchen zufolge gehören vor allem verheiratete Männer zwischen 40 und 50 Jahren aus der geho­benen Schicht zu ihren Klienten.
Das Schweigen über dieses Thema zu bre­chen, ist gefähr­lich. Der Journalist, der diese Informationen veröffentlichte, wurde derart bedroht, daß er Natal verlas­sen mußte und jetzt an einem unbekannten Ort lebt. Dilma Felizardo, die von jungen Prostituierten und Angestellten der Hotels und Bars darüber informiert wurde, wer sich in Natal am Pro­stitutionsgeschäft be­reichert, war als einzige bereit, am 15. September dieses Jahres vor der Untersu­chungskommission auszusagen. Am dar­auffolgenden Tag begannen telefonische Morddrohungen, ihre Tage seien gezählt, und sie solle die jungen Prostituierten in Ruhe lassen. Schutz von der örtli­chen Po­lizeistelle bekam sie erst nach elf Tagen – erst nachdem die Kampagne gegen Kin­derprostitution und das Dritte-Welt-Haus Bielefeld Protestbriefe an Justiz- und Re­gierungsstellen geschickt und ihre Be­sorgnis in der lokalen Presse bekanntge­geben hatten.
Von Sicherheitssenator Manoel de Brito wird das Problem der organisierten sexu­ellen Ausbeutung von Minderjährigen al­lerdings bestritten. Er kritisierte diejeni­gen, die es wagen, “die Namen ehrwürdi­ger Personen in den Schmutz zu zie­hen”. Solche Leugnungen und die Gewißheit, nicht bestraft zu werden, sind die beste Garantie für die Ausbreitung des Sexge­schäfts.
“Jene, die die Mädchen benutzen und zur Prostitution zwin­gen, kommen ungestraft davon. Über sie wagt man nicht zu spre­chen, ja man will nicht einmal die Vor­würfe nachprüfen, die ihnen zur Last ge­legt werden, weil sie diejenigen sind, die zahlen. Den Mädchen und Frauen verwei­gert man jedes Recht – sogar die minimal­sten Bedingungen, um ihren Kör­per schützen zu können,” schreibt Dilma Feli­zardo in dem Dossier.
Festgenommen wurden bisher nur zwei Personen, die weni­ger prominent sind, ein Fotograf und ein illegal dort leben­der Schweizer, der Kinder für die Prostitution angeworben hat, sie mit Drogen versorgte und mit Fotos von ihnen handelte.

Prostitution – der einzige offene Ar­beitsmarkt

Die Hälfte der Bevölkerung in Rio Grande do Norte lebt in absoluter Armut. Hunger, Elend und das Fehlen anderer Arbeits­möglichkeiten sind die Gründe dafür, daß viele Mäd­chen in der Prostitution arbeiten. Oft sind sie Kinder von armen Familien aus dem Landesinneren, die auf der Suche nach einer Überlebensmöglichkeit in die Städte gekommen sind. Mehrheitlich ge­hören sie zur schwarzen Bevölkerung Brasiliens. Die Prostitution der Mädchen beginnt früh. Nach einer Studie der Uni­versität in Natal prostituieren sich 13 Prozent bereits im Alter von 8 bis 11 Jahren und 61 Prozent im Alter von 12 bis 14 Jahren. 72 Prozent der Mädchen unter­stützen mit ihrem Verdienst ihre Familie. Die Hälfte der befragten Mädchen weiß nichts über die gesund­heitlichen Gefah­ren.
Der Eintritt in die Prostitution verläuft über unterschiedli­che Wege. Viele Mäd­chen versuchen zunächst mit “anstän­diger” Arbeit, Geld zu verdienen, sie ver­kaufen Früchte oder Süßigkeiten oder ver­suchen es mit Bettelei. Sie mer­ken aber schnell, daß sie mit diesen Ar­beiten kaum überleben können und kom­men so zur Prostitution. Andere Mädchen kommen vom Landesinnern in die Städte, wo sie sich als Hausangestellte bei reiche­ren Fa­milien verdingen. Abgesehen von der schlechten Bezahlung werden sie häu­fig Opfer sexueller Gewalt der Familien­väter oder ihrer Söhne – ein Weg, sie auf die Straße zu treiben.
Zum Teil werden die Mädchen mit falschen Versprechungen in die Städte gelockt und finden sich dann in einem Bor­dell wieder. In anderen Fällen wird be­richtet, daß es die Eltern selbst sind, die aufgrund ihrer elenden Situation ihre Töchter in Bars und Bordellen abgeben.
Aber nicht nur Mädchen aus den ärmsten Schichten arbeiten als Prostitutierte, son­dern auch Mädchen der Mittelschicht. Im Unterschied zu den Mädchen der armen Schichten, die sich prostituieren, um zu überleben, die Familie zu unter­stützen und/oder ihren Drogenkonsum zahlen zu können, benötigen sie das Geld eher, um sich einen besseren Le­bensstandard leisten zu können – wie Markenkleidung und teure Parfums.
Häufig haben die Mädchen, die in der Prostitution arbeiten, sexuelle Gewalt be­reits in der Familie erlitten. Laut einer Studie eines Zentrums für Jugendliche (CBIA) in Fortaleza wurden 80 Prozent der minderjährigen Mädchen, die sich prostituieren, von Familienmitgliedern wie Vater, Stiefvater, Schwager, Onkel, Bruder, Großvater mißbraucht. Sexuelle Ge­walt ist das Kontroll- und Disziplinie­rungsmittel, das den Mädchen die typische Frauenrolle zuweist und sie zur Anpas­sung zwingt.
Die Mädchen fliehen aus den gewalttäti­gen Familien und hoffen auf ein selbstbe­stimmtes Leben. Auf der Straße ler­nen sie die Gewalt, vor der sie geflüchtet sind, in noch stärkerem Maße kennen. Was als Rebellion begann, endet in noch mehr Mißhandlung und Verletzung. Der Handel mit dem eigenen Körper erscheint dann vielleicht als einzige Möglich­keit, über ihn selbst zu bestimmen, ihn selbst zu be­sitzen.
Dilma Felizardo erklärt: “Vor dem Hin­tergrund mangelnder Arbeitsmöglichkei­ten öffnet sich plötzlich eine Tür: Die Welt der Prostitution, die sich anfangs noch als eine große Ver­suchung darstellt. Eine faszinierende Welt voller Abenteuer, Geld, Musik, Männer, Autos, luxuriöser Motels und Drogen. Käuflicher Sex wird als ein Ausweg und eine Lösung für die sozialen Probleme gesehen. Auch die fa­miliäre Moral trägt zum Eintritt der Mäd­chen in die Prostitution bei. All­gemeinhin gibt man einem Mädchen, wenn es die Jungfräu­lichkeit “verliert”, einen neuen Namen: den einer “Verlorenen”. Wird es schwanger, verlangt die Familie eine schnelle Heirat, oder es wird aus dem Haus getrieben. Der Schritt in die Prosti­tution ist dann oft nicht mehr weit.”
Die Mädchen selbst verdienen am wenig­sten an der Prosti­tution. In der Regel blei­ben ihnen nur 20 Prozent der Ein­nahmen, den größten Teil des Gewinns (60 Prozent) kassiert die Zuhälterin oder der Zuhälter, 20 Prozent die Vermittler wie Touristenführer oder Hotelportiers. Mit 20 Jahren haben die Mädchen von ih­rem Traum – verheiratet, Kinder und ein eigenes Haus – nichts erreicht, und in der Prostitution gelten sie schon als alt. Die meisten sind dann drogenab­hängig, AIDS­infiziert, depressiv, und viele begehen Selbst­mord.

Casa Renascer – der Wunsch nach einem anderen Leben

Seit zehn Jahren arbeitet Dilma Felizardo mit Straßenkin­dern. In Recife hat sie die besondere Situation der Mäd­chen, die auf der Straße leben, gesehen. Zusätzlich zu allen Problemen, die sie mit den Straßen­jungen teilen, erleben die Mädchen wei­tere Gewalt. “Sie menstruieren auf der Straße und bekommen dort ihre Kinder, sie treiben auf der Straße unter lebensge­fährlichen Bedingungen ab und werden auf der Straße vergewaltigt. Ein achtjähri­ger Junge wird als Kind betrachtet. Wenn aber ein Mädchen acht Jahre alt ist, wird sie schon als Frau angesehen – d.h. die Männer bean­spruchen das Recht, sie se­xuell zu gebrauchen”, erklärt Dilma Feli­zardo. Wegen dieser Erfahrung gründete sie 1989 in Recife zusammen mit Ana Vasconcelos die “Casa de Pas­sagem”, ein Haus, das Straßenmädchen, die als Pro­stituierte arbeiten, Unterstützung, Bera­tung und Unterkunft anbietet.
Seit ein paar Jahren widmet sich Dilma der Arbeit mit Straßenmädchen in Natal und hat dort eine Zufluchtsstätte für Mäd­chen, die auf der Straße leben, gegründet – die “Casa Renascer” (Haus der Wiederge­burt). Dort gibt es Platz für 30 Mädchen im Alter von acht bis achtzehn Jahren. Ih­nen wird eine Umgebung der Zuflucht und Unterstützung angeboten und die Mög­lichkeit gegeben, einen neuen Alltag zu planen. Sie lernen nicht nur in, sondern auch mit der Gemeinschaft zu leben.
Die Mädchen sind selbstverantwortlich, sie sorgen für ihre Verpflegung, achten auf die Einhaltung der Regeln und disku­tieren gemeinsam, was passiert, wenn ein Mädchen ge­gen sie verstößt. Aufgrund der knappen finanziellen Mittel gibt es nur re­duzierte Betreuungsmöglichkeiten. Ver­bindungen zur Verwandschaft werden ge­sucht, Mädchen, die keinerlei Beziehun­gen zur Familie haben, können anschlie­ßend in einer Kleingruppe in einem ande­ren Haus leben.
Tagsüber besuchen die Mädchen die al­ternative Schule im oberen Stockwerk des Hauses und lernen lesen und schrei­ben nach der Methode von Paolo Freire. Nachmittags gibt es drei verschiedene Ar­beitsgruppen: eine Theatergruppe, ein Schneidereiprojekt und eine Werkstatt, in der Hängematten hergestellt werden. Eine Erfahrung, die Dilma in ihrer langjährigen Tätigkeit machen mußte, nämlich “daß man Ar­men immer nur etwas Armes an­bietet”, versucht sie durch ein wettbe­werbsfähiges Projekt zu durchbrechen. Mit Unter­stützung der kanadischen Regie­rung wurden Nähmaschinen angeschafft. Jetzt beabsichtigen die Mitarbeiterinnen von CEBRAIOS, eine Kooperative zu bil­den und mit den Einkünf­ten sowohl einen Teil der Kosten für das Haus zu decken, als auch den Mädchen und ihren Müttern Verdienstmöglich­keit zu geben. Ziel ist es, den Mädchen zu zeigen, wie die Arbeit in einer Kooperative organisiert sein kann, damit sie zukünftig selbst ihre Arbeit be­stimmen können.
Die Mitarbeiterinnen der Casa Renascer fordern von der brasilianischen Regierung vergeblich Geld für ihre Arbeit. Ihre Ar­beit wird genauso diffamiert wie die Mäd­chen, die aufgenommen werden – und dies sowohl von offizieller staatlicher Seite, als auch von der unmittelbaren Nachbar­schaft. Dort existiert seit der Eröffnung im Oktober 1992 eine Unterschriftenliste ge­gen das “Haus der Prostituierten”.
Dilma Felizardo weiß, daß die Unterstüt­zung für so wenige Mädchen angesichts des Ausmaßes ihrer Probleme ein Trop­fen auf den heißen Stein ist. Sie begreift Casa Renascer jedoch als ein Modell, das zum einen der brasilianischen Regierung zei­gen soll, daß eine Unterstützungsarbeit für Straßenmächen sehr wohl möglich ist, und das sie damit unter Druck setzen soll. Zum anderen soll die brasilianische Gesell­schaft auf das Tabuthema aufmerksam gemacht und dazu gebracht werden, ihrer Verantwortung gerecht zu wer­den – so wer­den auch Vorträge an Schulen und Uni­versitäten gehalten und studentische Prak­tikantinnen zur Mitarbeit im Mäd­chenhaus aufgenommen.
Ende Januar läuft der Mietvertrag für die Casa Renascer aus. Noch ist unklar, wie das Haus weiterfunktionieren kann, woher ausreichende Unterstützung kommt.

Hoffnung auf Unterstützung und Zusammenarbeit

Von ihrem Aufenthalt erwartet Dilma Fe­lizardo mehr Zusam­menarbeit und Aus­tausch im Kampf gegen Mädchenprostitu­tion und Sextourismus. Mit ihren Berich­ten darüber, wie Sextourismus in Brasilien organisiert ist und wie das Leben der Mädchen zerstört wird, hofft sie auf mehr Aktivitäten gegen Prostitutionstourismus “auf der anderen Seite der Welt”.
Seit 1990 läuft, initiiert in ostasiatischen Ländern, eine in­ternationale Kampagne gegen Kinderprostitution. In der BRD ist im September 1993 eine Gesetzesände­rung in Kraft ge­treten, die sexuellen Mißbrauch nun auch im Ausland unter Strafe stellt. Die Kampagne gegen Kinderpro­stitution fordert jetzt, daß die Bundesre­gierung mit den Zielländern des Sextou­rismus Rechtshilfeabkommen abschließt, damit die Ge­setzesänderung praktische Wirkung zeigt. Dilma Felizardo hofft, daß es zum Abschluß eines entsprechenden Abkommens mit Brasilien kommt.

Weitere Informationen:
Straßenkinderkomitee
c/o FDCL
Gneisenaustr. 2
10961 Berlin
Finanzielle Unterstützungsmöglichkeit:
Postgirokonto Berlin (BLZ 100 100 10)
Kto.Nr. 176966-104
Stichwort: Casa Renascer

Kasten 1:

CPI – Comissao Parlamentar de Inquérito

Die parlamentarische Untersuchungskommission (CPI) zu Kinderprostitution wurde in diesem Jahr vom brasilianischen Bun­desparlament einberufen. Sie wird die angeklag­ten Politiker nach Brasília vorladen, damit sie über ihre Verwicklung in den sexuellen Mißbrauch von Mädchen aussagen.
Nach den bisherigen Untersuchungen, so die Vorsitzende des CPI, Marilu Guimaraes, gibt es landesweit Unterschiede in der Form sexueller Gewalt gegen Kinder:
Im Amazonasgebiet und im Zentralwesten profitieren vor allem Goldgräber und Lastwagenfahrer von der Versklavung und sexuellen Ausbeutung der Mädchen. Folte­rungen und brutalste Gewalt sind in diesem Terrain der absoluten Rechtlosigkeit an der Tagesordnung, wie der Journalist Gilberto Dimenstein recherchierte. Mädchen, die nicht länger bereit sind, endlos viele Kunden täglich zu bedienen, werden getötet, sichtbar und als Abschreckung für andere Mädchen. Wer sich eine Geschlechtskrank­heit zugezogen hat, wird nicht behandelt, sondern in den Fluß geworfen.
Im Nordosten herrscht der Prostitutionstourismus vor. Es gibt einen regelrechten Austausch von minderjährigen Prostitu­ierten zwischen den verschiedenen Städten des Nordostens. Die von der Regierung ausgebaute “Rota do Sol” ist die ge­winnbringende “Route der Mädchenprostitution”.
In Rio und Sao Paulo ist die Kinderprostitution vor allem über “Agenturen für Foto­modelle” organisiert. Besonders brutal üben in Sao Paulo Militär- und Zivilpolizei Gewalt gegen Mädchen aus, die auf der Straße leben. Julio Lancelotti von der Pasto­rale für Minderjährige in Sao Paulo spricht von einer Symbiose zwischen Kinderpro­stitution, Drogenhandel (vor allem Crack) und Polizeigewalt.
Im Februar wird der Bericht der CPI veröffentlicht. Es besteht allerdings die Gefahr, daß Namen verschwiegen werden, ebenso wie erst kürzlich im Bericht der Untersu­chungskommission zu Gewalt gegen Frauen. Trotz Protesten wurde der Be­richt noch immer nicht vollständig freigegeben, da dort eine einflußreiche Person beim Namen genannt wurde.

Kasten 2:

Das Frauen/Mädchen/Gesundheits-Projekt CEBRAIOS in Natal

Casa Renascer ist ein Projekt von CEBRAIOS (Centro Brasileiro de Informacao e Orientacao de Saude Social), einem Aufklä­rungszentrum für soziale Gesundheit, das 1990 auf Initiative von Dilma Felizardo entstand. Ziel des Zentrums ist es, Fortbil­dungen zu Themen wie Sexualität, AIDS, sexueller Gewalt für Eltern, Schulen und Gewerkschaften durchzuführen und Studien zu einzelnen Problembereichen zu er­stellen. Neben der Casa Renascer sind weitere Projekte des Zentrums ein Frauenge­sundheitsprojekt und ein Projekt über Frauenrechte. CEBRAIOS hat insgesamt neun feste Angestellte (u.a. eine Lehrerin für Alphabetisierung, eine Sozialarbeiterin, zwei Straßenerzieherinnen, die Bars und Bordelle besuchen und Kon­takt zu jungen Prosti­tuierten aufnehmen, eine Lehrerin für Schneiderei und einen Lehrer für die Theater­gruppe, eine Be­raterin für Frauengesundheit) und weitere freiwillige Mitarbeiterinnen. CEBRAIOS ist eine nichtstaatliche Organisation, die, angewiesen auf finanzielle Hilfe aus dem Ausland, Unterstützung erhält vom Dritte-Welt-Haus Bielefeld, Campo Limpo und Arche Nova in München.

Es bleibt nur eine Alternative: Lula

ALAI: Wieder wird Brasi­lien von Korruptionsge­schichten erschüttert, diesmal sind Parlamenta­rier darin ver­wickelt. Wo­hin kann all dies füh­ren?
L.E. Greenhalgh: Die Lage im Land ist sehr ernst, wir sind in einer Sackgasse. Die Korruption hat mit der Absetzung von Collor nicht aufgehört, sondern ist noch schlimmer geworden, nachdem nun auch Parlamentarier und Richter in Verdacht gekommen sind.
Das Land ist gelähmt, und alle Blicke sind nur auf die Korruptionsskandale gerichtet. Die Regierung regiert schon nicht mehr, die Streitkräfte tun so, als sei nichts, das Parlament verabschiedet keine Gesetze, seit es die Überarbeitung der Verfassung unterbrochen hat, die Justiz erfüllt ihre Funktion nicht mehr, und das Volk ist empört. Das alles hat eine politische Si­tuation geschaffen, die den Zeitplan für die Verfassungsreform durcheinanderge­bracht hat. Es gibt möglicherweise vorge­zogene Wahlen, und man kann auch Putschpläne nicht mehr ganz ausschlies­sen.

Präsident Itamar Franco persönlich hat geklagt, auf ihn werde Druck aus­geübt, einen Staatsstreich nach Fujimori-Art durch­zuführen. Wie wahrscheinlich er­scheint Ihnen eine solche Entwick­lung?
Hätte Itamar die politische Macht, hätte er bereits den Kongress geschlossen und einen Staatsstreich wie Fujimori gemacht, aber er hat keine Macht. Er wurde Präsi­dent, weil Collor abgesetzt wurde, er­nannte Männer mit guten Absichten zu Ministern, aber die Regierung bewegt nichts, diese Leute treten auf, reden viel, aber sie tun nichts. Zum Beispiel der Fi­nanzminister ist ein angesehener Mann, der sich hier verausgabt, denn das brasi­lianische Volk möchte, daß die Inflation von monatlich 40 Prozent gestoppt wird, aber das schafft er nicht. Hätte er die In­flation eingedämmt, wäre die Regierung Itamars aus dem Skandal im Parlament gestärkt hervorgegangen, aber da er es nicht konnte, haben sie keine politische Kraft und können keinen Putsch à la Fu­jimori wagen.
Meiner Ansicht nach gibt es in Brasilien nur eine Alternative: die von Lula, die im Aufbau eines demokratischen Gemeinwe­sens besteht, mit dem Wirtschaft und Po­litik gesunden können. Es wird keine linke Regierung, keine sozialistisch-revolutio­näre, aber es wird eine revolutionäre Re­gierung in Bezug auf die Lage, in der Bra­silien sich befindet. Eine Regierung, die die Agrarreform im Griff hat, den Reich­sten Steuern auferlegen kann, die Straflo­sigkeit beendet, Ausbildung und Gesund­heitsversorgung verbessert und ein wenig die Inflation kontrollieren kann. Wenn das alles in Brasilien geschieht, können wir schon von einer Revolution sprechen: Für Brasilien gibt es keine an­dere Möglich­keit, es gibt nur eine, und das ist Lula.

Seit einiger Zeit scheint es, als ob in einigen Staaten separatistische Be­wegungen an Bedeutung gewinnen…
Meiner Meinung nach ist diese Welle von separatistischen Bewegungen in der Welt eine der Folgen des Endes des Kalten Krieges. Die Erde war lange in zwei Lager gespalten mit dem Ost-West-Konflikt. Aber nachdem diese Polarisierung ver­schwunden ist, verlagern sich die Ge­wichte auf die Regionen, und nun sehen wir die separatistischen Bewegungen mitten in Europa aufkommen und ebenso in Südamerika, in Brasilien, in Argenti­nien, in Chile. Ich glaube, daß das Ende der Bipolarität der Welt die regionale Bi­polarität hervorgebracht hat.
Darüber hinaus gibt es in Brasilien wirt­schaftliche Bedingungen, die die separati­stischen Bewegungen besonders im Süden des Landes fördern, denn die brasiliani­sche Wirtschaft spielt sich größtenteils im Süden ab. Und da entsteht ein Gefühl, daß der Süden dafür arbeitet, die Last des gan­zen Landes zu tragen und daß das nicht gerecht ist; sie denken, daß sie weiter entwickelt sein könnten, wenn es nicht die große Asymmetrie zwischen dem Norden und besonders dem Nordwesten und dem Süden gäbe.
Die Situation verschärft sich, denn die Regierung kann nicht damit umgehen. Sie möchte das Gesetz über die Nationale Si­cherheit umarbeiten, um es auf die Führer der Separatistenbewegungen anwenden zu können. Wenn sie dieses Gesetz anwen­den können, kann die Regierung solche Gruppen politisch verfolgen. Die Regie­rung von Itamar ist eine dumme Regie­rung. Ich glaube, wenn Brasilien seine “finanzielle Gesundheit” verbessert, dann werden diese Bewegungen wieder an Be­deutung verlieren.
So unglaublich es klingt, aber Lula ist eine der ganz wenigen Personen, die die mora­lische Autorität besitzen, das Land zu einen auf der Basis einer Zukunftspla­nung, und damit wird er die nationale Einheit fördern.

In Bezug auf Amazonien hört man, daß es einen Plan geben soll, die bra­silianische Armee zurück­zuziehen, um eine interna­tionale Kontrolle dieser Re­gion einzurich­ten. Wie steht die PT dazu?
Ein Hauptpunkt in den Gesprächen der PT mit den Militärs wird Amazonien sein und besonders das Projekt Calha Norte [Calha Norte war ursprünglich ein militärisches Projekt zur Sicherung der Grenze Amazo­niens; s. LN 180.], nicht, um etwas mit den Militärs auszuhandeln, sondern um einen Dialog über ihre mögliche Rolle in einer demokratischen, an den Interessen des Volkes orientierten Regierung zu be­ginnen.
Die PT und die Militärs haben seit jeher sehr verschiedene Grundauffassungen. Die PT wurde während der Militärregie­rung verfolgt. Im Demokratisierungspro­zeß haben die Militärs nie das Gespräch mit der PT gesucht. Jetzt wollen die Mili­tärs mit der PT sprechen, denn es besteht eine reale Möglichkeit, daß wir die Regie­rung stellen. Die Militärs erkennen an, daß die PT die einzige Partei mit einem Pro­gramm ist, das einen Ausweg für Brasilien aufzeigt. Deshalb versuchen beide Seiten, sich gegenseitig ernstzunehmen.
Außerdem reden wir mit den Militärs, um zu wissen, was ihre Vorstellungen und Schwerpunkte sind. Ihr erster Schwer­punkt, so sagen sie, ist die Professionali­sierung der Armee, die nie stattgefunden hat, da die Regierungen dafür keinen Etat hatten. Sie sagen, daß jedenfalls theore­tisch die Streitkräfte umso weiter von der Politik entfernt sind, je professionalisierter sie sind.
Ihre zweite Aufgabe ist die Verteidigung des nationalen Territoriums und der Gren­zen. Die Doktrin der Nationalen Sicher­heit, die einen äußeren und einen natürli­chen inneren Feind voraussetzt, ist über­holt. Deshalb sind die Militärs anderer Meinung wie Brizola, der möchte, daß die Militärs den Drogenhandel bekämpfen. Nach Ansicht der Militärs ist das Sache der Polizei, der Militärpolizei und der Mi­lizen, und nicht der Armee. Sie wollen keine Außenstelle des Pentagons oder des US-Heeres sein.
Außerdem ist ihnen die Notwendigkeit bewußt, das nationale Territorium in Amazonien zu erhalten. In diesem Sinne wollen sie das Projekt Calha Norte disku­tieren. Die Gespräche laufen gut, wir re­spektieren uns gegenseitig, wir reden frei, klar und ohne Angst, damit sie wissen, was wir von ihnen erwarten, und sie von uns.
Vom Standpunkt der nationalistischen In­teressen Brasiliens aus werden wir das Projekt Calha Norte unterstützen, soweit es die Erhaltung Amazoniens beinhaltet, jedoch mit einigen Einschränkungen.

Welche sind die Einschrän­kungen? Was zum Beispiel sagen Sie zu der Kon­trolle der Bevölkerung, die die­ser Plan enthält?
Unsere Einwände betreffen die sozialen Auswirkungen. Wir haben uns schon aus­gesprochen gegen ACISO (Acción Civica Social), mit deren Hilfe ganze Gemein­schaften unterdrückt und kontrolliert wur­den. Wir wollen die Verteidigung der Grenzen, die Verteidigung der territorialen Integrität Amazoniens als Teil Brasiliens.

Heißt das, Sie würden die Freizü­gigkeit der indigenen Bevölkerung re­spektieren, denn es gibt ja Völker wie die Ya­nomami, deren Gebiet bis nach Venezuela reicht…
Das Territorium der Indígenas gehört ih­nen, in dieser Hinsicht ist die Staatsgrenze eine Fiktion. Eine Regierung Lula würde die Grenzen im indigenen Territorium nicht festlegen, im Interesse der Einheit der indigenen Nation. Es entsteht auch ein Dialog zwischen den Indígenas und den Militärs, denn die Militärs beklagen sich, daß sie keinen Zugang zur Staatsgrenze haben, die zu schützen ihre Aufgabe ist, weil sie auf Stammesterritorium liegt. Wir ermöglichen Verhandlungen, ziehen auch CIMI und CNBB hinzu und das Justizmi­nisterium, damit die Militärs das Gebiet nicht besetzen, sondern das Gebiet nur betreten und durchqueren im Interesse der Verteidigung, ohne die Lebensweise und die Bräuche der Indígenas zu stören.

Sprechen wir von den an­stehenden Wahlen. Wie ste­hen Sie diesem Pro­zeß des Bündnisses gegenüber?
Es gibt eine Meinungsverschiedenheit in­nerhalb der PT darüber, ob das Bündnis die PSDB (Partido Social Democrático de Brasil) miteinbeziehen soll oder nicht: 40 Prozent unserer Partei ist der Meinung, daß die PSDB nicht Teil des Bündnisses sein darf. 60 Prozent dagegen meint, daß das Bündnis auch die PSDB umfassen sollte und einige Teile der PMDB. Das ist die offizielle Position unserer Partei.
Das Problem ist, daß die PSDB “eine schwierige Liebe” ist. Sie erklären sich, zeigen Ihre Absichten, möchten mit ihr reden, verhandeln und sie bei der Hand nehmen, und die PSDB will nicht, ist Jungfrau und Puritanerin und sträubt sich. Also wäre es sehr kompliziert, müßte Lula als potentieller Wahlsieger weiterhin die PSDB umwerben, die sich ihrerseits nicht entscheidet. Die Haltung der PT ist fol­gende: Wir bleiben weiterhin mit der PSDB im Bündnis, wenn es jedoch nicht hält, ist das nicht die Schuld der PT son­dern der PSDB.
Die PSDB hat keine Massenbasis aber sie hat Führungskräfte. Die PT hat eine Mas­senbasis, jedoch nur wenige Kader; also könnten wir uns zusammentun, was einen Machtwechsel in Brasilien garantieren würde. Mit Lula an der Spitze und einem der PSDB als Stellvertreter können wir im ersten Wahlgang diese Wahlen gewinnen, aber die PSDB macht alles kompliziert.

Worauf ist es zurückzufüh­ren, daß sich die Glaub­würdigkeit nun im Bereich der Zivilgesellschaft be­findet?
Es ist in Brasilien nichts Neues, daß die Zivilgesellschaft glaubwürdig ist, das war schon immer so. In der Zeit der Militär­diktatur gab es zwei politische Parteien, die eine war Instrument der Diktatur und hieß ARENA, die andere, die MDB, war in der Oppositon, d.h. die Diktatur ließ sie Opposition sein.
Wir sagten im Scherz, der Unterschied zwischen den beiden Parteien bestehe darin, daß die ARENA “Ja, mein Herr” und die MDB nur “Ja” sage. Aber wer das Land aus der Diktatur herausholte, das war das Volk, die Zivilgesellschaft, die StudentInnen, die Menschenrechtsorgani­sationen, etc..
Der erste große Kampf, der gegen die Diktatur geführt wurde, war der Kampf für die Amnestie. Und der wurde nicht von den Parteien ausgelöst, sondern von Persönlichkeiten und von der organisier­ten Zivilgesellschaft. Danach, mit Einset­zen der Amnestie, betreten die politischen Parteien die Szenerie und fangen dort wieder an, wo sie vor dem Militärregime aufgehört hatten. Die einzige Neuerschei­nung ist die PT.
Nachdem sich die Parteien rekonstruiert hatten, waren Direktwahlen für die Prä­sidentschaft notwendig. Wer macht die Wahlkampagne für die Direktwahlen? Die Parteien und die Zivilgesellschaft. Danach kommt die verfassungsgebende Ver­sammlung, die Parteien wählten ihre Ab­geordneten, aber es war die Zivilgesell­schaft, die die Anträge für die Verfassung einreichte. Anschließend fand die Kampa­gne gegen Collor statt. Wer die Kampagne zu seiner Entlassung veranlaßte, war die Zivilgesellschaft. Und erst danach stiegen die Parteien mit ein.
Also hat die Zivilgesellschaft in Brasilien eine herausragende Position. Heutzutage, da sich das Land in einem Zustand der Auflösung befindet ist die Kampagne ge­gen den Hunger das einzige, was sich be­wegt. Sie wird zwar von der Regierung unterstützt, aber von der Zivilgesellschaft getragen. Diese Kampagne, die von Be­tinho angeführt wird, bezieht den Bürger und die Bürgerin als politisches Wesen mit ein. Sie ist die einzige zur Zeit ernst­zunehmende Bewegung in Brasilien.
Es gibt Komitees gegen den Hunger in Stadtvierteln, Gemeinden und Regionen. In einer gemeinsamen Organisation wäre dies die größte Volksmacht, die es in un­serem Land je gegeben hat. Betinho ist ein guter Drahtzieher für die Kampagne, aber ein schlechter Organisator. Wenn er ein guter Organisator wäre, würde er als Er­gebnis der Kampage gegen den Hunger die größte Volksmacht in Brasilien auf­bauen.
Aber außerdem existieren noch andere Komitees, für Ethik, StaatsbürgerInnen, BürgerInnenrechte … wir arbeiten am Konzept des Staatsbürgers und der Staats­bürgerin. Gegen Ende der Diktatur in Bra­silien setzten wir uns für Menschenrechte ein. Aber die Charta der Vereinten Natio­nen spricht nur von individuellen Men­schenrechten. Wir müssen damit begin­nen, die kollektiven, kommunalen und Gruppenmenschenrechte einzufordern, wie zum Beispiel das Recht auf Wohnung, auf Erziehung und Gesundheit. Bald wer­den wir erreichen, daß diese Rechte in der Bundesverfassung verankert sind. Dann muß die Bevölkerung die Verfassung in die Hand nehmen und sagen: Wir sind brasilianische StaatsbürgerInnen, und hier haben wir unsere Rechte. Dieses ist der beste Abwehrmechnanismus gegen einen Putschversuch und die beste Garantie für den Demokratisierungsprozeß.

Von der Psychosekte zum Folterlager

“Von der Banalität des Bösen” könnte man das neue Buch über die Colonia Dignidad in Chile auch nennen. Das wievielte Buch über diese verschrobene deutsche Sekte, die zur Helferin des chilenischen Geheimdiestes DINA und zur Folter- und Mordassistentin wurde, ist es eigentlich?
Seitdem die etwa 300 Köpfe zählende Sekte unter ihrem Führer Paul Schäfer 1961 Hals über Kopf von Deutschland nach Chile ausreiste, weil Schäfer von der Staatsanwaltschaft wegen sexuellen Miß­brauchs von Sektenkindern gesucht wur-de, stand die Gruppe in Chile mehrfach im Mittelpunkt von Skanda­len. Flucht, Prü-gel, Freiheitsberau­bung, psychische und physische Ab­hängigkeit der Sekten-mitglieder, Folter und Mord gemeinsam mit dem Pino­chet-Geheim­dienst DINA waren die Stichworte.
Allein in Chile sind min­destens zwei Ro-mane und vier Sach­bücher über die Psy-chosekte erschie­nen. Neben den Ver­öf-fentlichungen von Amnesty Internatio­nal 1977 und der Lateinamerika-Nachrichten 1980, 1988 und 1989 ist hier in Deut-schland vor allem das etwas zu schnell ge­schriebene und deshalb mit Detailfeh­lern behaftete Buch “Colonia Dignidad – ein deutsches Lager”, Reinbeck 1988, von Gero Gemballa zu nennen. Die Zahl der Fernsehberichte und längerer Zei­tungs-artikel geht in die Dutzende. Auch ein Spielfilm (“Die Kolonie” von Orlando Lübbert, BRD 1985) ist ent­standen.
F. Paul Heller geht die Sache jetzt auf 306 eng beschriebenen Seiten gründlich an, mit Personenregister und Chronik und vielleicht etwas zu gründ­lich. Er sucht Antworten auf die Frage: Wie kommt es, daß eine ursprünglich christlich orientierte Gruppe – der Großteil der Mitglieder stammt aus ei­nigen Baptisten-Gemeinden in Nord­deutschland – zur Terrortruppe nach innen und außen wird? Die Kapitel “Theologie des Terrors”, “Christentum und Folter” und “Gott und Teufel” machen Erklärungsversuche. “Arbeit ist Gottes­dienst” ist eines der wichtigsten “Glaubensbekenntnisse” von Paul Schäfer. Schweigen gegenüber anderen Sektenmit­gliedern und gegenüber Au­ßenstehenden bei gleichzeitiger voll­ständiger Offen­legung aller Gedanken und Gefühle ge­genüber dem Sekten­führer sind die Herrschafts-instrumente, mit denen die Gruppe auf Gedeih und Verderb zusam­mengeschweißt worden ist.
Es wird ein Psychogramm der Gruppe ge­zeichnet, und es werden auch Verbin­dungen zwischen der ver­steckten ideolo­gischen und theologi­schen Basis der Gruppe und einem “esoterischen Hitlerismus” einiger Freunde der Colonia Dignidad herge­stellt. Das ist schwer ver­daulich. Was den Wert des Buchs aus­macht, ist zum einen die Darstellung der Colonia Dignidad als Ort der Folter von politischen Gefangenen und als Ausbil­dungslager für den chilenischen Geheim­dienst. Zum anderen sind die zahlreichen bisher unveröffentlichten Dokumente spannend, weil sich die LeserInnen mit ihnen ein eigenes Bild vom Innenleben der Psychosekte und von der Terror-ideologie des Geheimdienstes machen kann.
Während des Putsches 1973 und in den Monaten danach sind in Chile einige tausend Gegner der Pinochet-Diktatur verhaf­tet worden und danach spurlos ver­schwunden. Der Autor präsentiert nun im Kapitel “Das Massaker” und “Das Arbeitslager” konkrete Zeugenaussagen über die Ermordung von etwa 100 so­genannten Verschwundenen in der Nähe der Colonia Dignidad an einem Berg mit dem Namen Monte Mara­villa. Monte Ma-ravilla war ein Ar­beitslager, das die Colonia Dignidad mit einem Teil der chilenischen Streit­kräfte (höchstwahr-scheinlich war dies die DINA) unterhielt. Nachden im Buch zusammengetragenen Aussagen bestand das Arbeitslager aus Fertig­baracken und Zelten. Dieses Lager, in dem bis zu 100 Gefangene unterge­bracht gewesen sein sollen, soll noch bis 1978, also 5 Jahre nach dem Mili­tärputsch bestanden haben. Die Arbeit, die auch nachts geleistet werden mußte, bestand in Steineschleppen und Graben. Soweit der Autor recherchie­ren konnte, sind alle, die dort gefangen gehalten wurden, bis heute “verschwunden”.
Zu den dort Ermor­deten zählt wahrscheinlich auch der 1974 verhaftete und verschwundene Chileno-Franzose Alfonso Chanfreau, dessen Schicksal ausführlich dargestellt wird. Erschreckend die Geschichte der ehemaligen Freundin Chanfreaus, die wie er zum linksre-volutionären MIR gehörte und nach Ver-haftung und Folter DINA-Agentin wurde. Jetzt führen die aus dem französischen Exil zurückgekehrten Eltern Chanfreaus einen Prozeß, um die Mörder ihres Sohnes dingfest zu machen. Einer der Folterer Chanfreaus, Osvaldo Romo, wurde in-zwischen von Brasilien ausge­liefert und sitzt nun in Chile in Un­tersuchungshaft. Das Buch bietet eine Fülle von Einzel-heiten, die es manchmal schwer machen, den Über­blick zu bewahren. Grausame Doku­mente sind abgedruckt, so z.B. die Empfehlungen eines Militärarztes 1973, wie mit den Anhängern der Unidad-Popular-Regierung umzugehen sei. Sie wurden in heilbare und unheilbare Ex­tremisten eingeteilt, die Unheilbaren soll-ten deportiert und schließlich “neutra-lisiert”, also ermordet werden. Betroffen macht auch die Lebens­beichte des DINA-Agenten Rene Mu­ñoz Alarcón, der kurz nach dem Mili­tärputsch im National-stadion alte Par­teifreunde der Sozia-listischen Partei identifizierte und der nach eigener Aussage in der Colonia Dignidad an Verhör- und Folterkursen teilnahm.
Grausig und dunkel sind auch die di­rekten Dokumente aus der Colonia Dignidad, die von einem krankhaften Verfolgungswahn zeugen. Häufig ver­fahren sie nach der Methode, die Beschuldigungen schlicht umzudrehen und die Verfolgten zu Verfolgern zu machen. Projektion nennen die Psy­chologen so etwas. Das “Protokoll der Außerordentlichen Generalversamm­lung” vom 26.10.1985 ist ein beredtes Dokument über die Denkweise der Sekte. Nach der Flucht dreier wichtiger Gruppenmitglieder, u.a. von Hugo Baar, der jahrelang der Leiter des zu­rückgebliebenen Außenpostens der Gruppe in Siegburg war, wurde dieses Protokoll verfaßt, um mit den Flüchti­gen abzurechnen. Baar wird als gel­tungssüchtiger hysterischer Psychopath bezeichnet. Psychoterror, Bespitzelung, Post- und Telefonkontrolle werden ihm vorgeworfen. Praktiken, die für Baars damaliges Verhalten treffend ge­wesen sein mögen, die aber wahr­scheinlich in noch größerem Ausmaß auch für die Colonia Dignidad in Chile zugetroffen haben.
Am Ende des Buchs stellt sich die Frage, was jetzt aus der Colonia Dignidad wird. Immer wieder in neue rechtliche Formen mu­tiert, existiert die Gruppe unter Sek­tenführer Paul Schäfer seit Mitte der 50er Jahre. Zwei große Skandale mit zwei parlamentarischen Untersuchun­gen (Chile 1967 und Deutschland 1988) hat die Gruppe unbeschadet überstanden. Als Helferin der Pino­chet-Diktatur jahrelang gut geschützt, dann aber auch in Chile in die öffent­liche Kritik geraten und im Februar 1991 formell aufgelöst, besteht die verschrobene Sekte weiter, weil sie ihr Eigentum rechtzeitig in neue Gesell­schaften von Sektenmitgliedern über­führt hat.
Wird es eines Tages eine Befreiung der von ihrer Führung un­terdrückten Sekten mitglieder geben? Wird eines Tages die ganze Wahrheit über die Kollaboration der Colonia Dignidad mit dem Geheimdienst ans Licht kommen? Werden die Mörder und Helfer gerichtlich zur Verantwor­tung gezogen werden können? Gewisse Chancen bestehen jetzt. Die chileni­sche Justiz hat inzwischen den frühe­ren Geheimdienstchef und Freund der Colonia Dignidad, Manuel Contreras, zu 7 Jahren Haft verurteilt. Dies geschah jedoch nicht für die Straftaten, die er zu­sammen mit der Colonia Di­gnidad began­gen hat, sondern wegen der Ermordung des ehemaligen Außenministers Or­lando Letelier, der 1976 einem Bom­benattentat in Washington zum Opfer fiel. Ob die gegen die Colonia Digni­dad angestrengten Prozesse jemals ein Ende finden werden, bleibt zweifelhaft. Der Autor jedenfalls wagt keine Pro­gnose.

Friedrich Paul Heller, Von der Psy­chosekte zum Folterlager, ISBN 3-926369-99-X, DM 29.80 Schmetterling Verlag, Stuttgart 1993

Korruptionsskandale ohne Ende

Das Brasilia der sieben Zwerge

Alles begann damit, daß die Polizei im Oktober einen Mann mit dem gut brasilianischen Namen José Carlos dos Santos unter dem Verdacht verhaftete, er habe seine Frau umgebracht, mit Kokain gedealt und Falschgeld unter die Leute gebracht. Nur, der Mann war nicht irgendwer. Der Ökonom José Carlos hatte es in der Bürokratie Brasilias bis zum Assesor des Haushaltsausschusses gebracht, er war bis 1992 einer der entscheidenden Drahtzieher bei der Erstellung des brasilianischen Staatshaushaltes. Seit einem Jahr ist seine Frau verschwunden, er steht unter Mordverdacht. In seiner Wohnung fanden Polizei und der Untersuchungsauschuß drei Millionen US-Dollar, teilweise gefälscht, sowie Videos und Utensilien, die zeigten, daß die Wohnung von José Carlos für Sexorgien – unter Beteiligung von Abgeordneten – diente. Aber diese üble Räuberpistole, die einem billigen Film entliehen scheint, war nur der Auftakt zu einer noch unüberschaubareren Korruptionsaffaire. Im Gefängnis beschloß José Castro auszupacken. Er nannte Namen und Details, wie über Jahre hinweg der Staatshaushalt von einer Gruppe von Abgeordneten manipuliert worden war. Die Gruppe war schon vor diesen Aussagen als die Hintermänner des Haushaltsausschusses identifiziert worden, und die Presse hatte sie als die “sieben Zwerge” bezeichnet. Zunächst hielten viele die Beschuldigungen José Carlos für den Versuch eines in die Enge getriebenen Übeltäters, Dreck in den Ventilator zu schmeißen. Aber immerhin wurde ein parlamentarischer Untersuchungssausschuß (CPI) eingerichtet und der Erste der vernommen wurde, war Joao Alves. Als dieser dann von Gott und Lotto erzählte, war allen klar: die Beschuldigungen von José Carlos haben Hand und Fuß, die Beweise gegen Joao Alves gelten inzwischen als hinreichend, um sein Mandat zu kassieren.

Der Staatshaushalt als Selbstbedienungsladen

Wie aber funktionierte die Haushaltsmafia? Entscheidendes Instrument ist eine Besonderheit des brasilianischen Haushaltrechtes: Einzelne Abgeordnete können Änderungsvorschläge beziehungsweise Ergänzungen (bis zu 50 “emendas”) einreichen. Diese beziehen sich in der Regel auf ein konkretes Projekt: die Straße in der Gemeinde X oder der Kindergarten in der Gemeinde Y. Nur gingen diese Gelder dann in vielen Fällen in Projekte, die viel teurer angesetzt waren als die realen Kosten, oder in Tarnorganisationen, die von Freunden oder Verwandten der Abgeordneten geleitet wurden. Nach Ermittlungen des Untersuchungsausschusses und der Presse sind von 150 Millionen DM, die in den letzten drei Jahren vom Sozialministerium als zusätzliche Mittel bewilligt worden waren, 130 Milionen (etwa 90 Prozent also) zur Finanzierung von Wahlkampagnen mißbraucht worden – oder sie flossen direkt in die Taschen der Abgeordneten und deren Verwandte.
Die Skandale im Einzelnen sind eigentlich keine Neuigkeit, der Mißbrauch von Staatsgeldern für private Zwecke wird immer wieder von Opposition und Presse angeklagt. Neu sind Ausmaß und Systematik dieser Haushaltsmafia. Nur ein Beispiel: einer der “sieben Zwerge” ist Feres Nader, der Tycoon einer Provinzstadt im Staate Rio de Janeiro. Ihm gehören fünf Fernsehsender und mehrere private Schulen und Fachschulen. Sein Jahresumsatz belief sich 1990 auf 2,7 Milliarden (!) US-Dollar, eifrig unterstützt durch Zuwendungen aus dem Staasthaushalt. Joao Alves veranstalte in Bahia ein Ausgabenfestival, um seine Wiederwahl als Abgeordneter zu garantieren. Ohne Nachweise über die Verwendung bringen zu müssen, erhielten Bürgermeister etwa 4 Milionen US-Dollar für das Versprechen, ihm Stimmen zu garantieren (alle Angaben nach Jornal do Brasil vom 31.10.93). Die Enthüllungen des Ausschusses sind auch ein Lehrstück in praktizierter Demokratie in Brasilien.

Linke und Militärs profitieren von der Krise

Jeden Tag werden nun durch Fernsehen und Presse alle Vorurteile gegen die politische Kaste in Brasilia bestätigt. Natürlich erinnert dies alles an den Skandal, der Collor letztes Jahr zu Fall brachte. Aber damals erhofften viele BrasilianerInnen von der Aufdeckung des Skandals, daß dies den Weg für eine neue Ethik in der Politik freimachen könnte. Jetzt werden eher pessimistische Verallgemeinerungen und Politikverdrossenheit verstärkt. In jüngsten Umfragen wächst die Zahl derer, die nicht wählen wollen, gewaltig. Aber der Skandal hat auch konkrete politische Auswirkungen.
Zunächst ist das Projekt der Verfassungsreform, die jetzt anlaufen soll (vgl.LN 233) gefährdet. Die eh schon umstrittene Legitimität des Parlaments für ein solches Werk ist mehr als angeschlagen. Die Verfassungsreform ist das große Anliegen des Mitte-Rechts Blockes, um das geltende Gesetzeswerk von nationalistischen Überbleibseln zu bereinigen und damit den Weg für den Marktliberalismus zu ebnen. Geschwächt durch den Skandal wird also genau dieser Block, und damit auch die Kräfte, die die Regierung Itamar Franco stützen. Ein Jahr vor neuen Präsidenschaftswahlen scheint die Regierung nun kaum den politischen Spielraum zu haben, um noch offensiv zu agieren.
Die vom Wirtschaftsminister Fernando Henrique Cardoso eingeforderte Steuerreform als Voraussetzung für ein Stabilisierungsprogramm ist in weite Ferne gerückt. Brasilien geht damit in einer unstabilen Situation in das Superwahljahr 1994. Gestärkt wird natürlich bisher die Linke, deren Abgeordnete nicht in den Skandal verwickelt sind. In Umfragen führt der Präsidentschaftskandidat der PT (Arbeiterpartei), Lula da Silva, mit so großem Abstand, daß einige “PTistas” schon von einem Wahlsieg im ersten Durchgang träumen. Aber kurioserweise gibt es auch einen anderen Gewinner. Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses heißt Jarbas Passarinho. Dies ist eine tragische Ironie. Passarinho gehört zu den typischen Überlebenskünstlern der brasilianischen Politik. Schon Collor diente er zu dessen Endzeiten als Minister und zu Hochzeiten der Militärdikatatur war er für das Justizressort verantwortlich. Er war es, der das berüchtigte Dekret AI-5 unterschrieb, das die harte Phase der Diktatur einleitete und durch das Mandate von Abgeordneten kassiert werden konnten. Heute posiert Passarinho von neuem als Kreuzritter gegen die Korruption – und schon steigt seine Popularität in den Wahlumfragen, obwohl er erklärt, kein Kandidat zu sein. Aber er ist zumindest wieder eine Schlüsselfigur im politischen Establishment. In den Augen vieler BrasilianerInnen ist die Verbindung zum Militärregime kein Makel mehr. Die Diskreditierung der bürgerlichen Demokratie durch die Korruptionsskandale führt zu einer gewissen nachträglichen Relegitimierung der Miltärdiktatur nach neunjähriger ernüchternder Erfahrung mit zivilen Regierungen. In ein solches Bild passt auch die Diskussion über den Einsatz des Militärs zur Bekämpfung der Drogenbanden in Rio. Nach Umfragen, denen allerdings nicht immer zu trauen ist, befürwortet die Mehrheit der BewohnerInnen Rios einen solchen Einsatz. Die Streitkräfte feiern ein come-back als Ordnungsmacht. Es ist absurd: eine Aufdeckung von Korruption erweckt mehr Befürchtungen als Hoffnungen. Von der Aufbruchstimmung und dem Optimismus, der die Amtsenthebung Collors begleitete, ist zur Zeit – im brasilianischen Frühling – wenig zu spüren.

Gefangen im Goldbergbau

“Wenn ich vier Stunden am Stück unter Wasser bin, dann denke ich nur an die schönen Dinge des Lebens – an gutes Essen oder, daß ich den großen Goldklumpen finde”. So der Garimpero – der Goldgräber -, der auf einem Tauchfloß arbeitet. Während des vierstündigen Tauchgangs wacht ein anderer Garimpero über die Luftzufuhr. Trotzdem gibt es sehr viele Unfälle. Die Suche nach Schwemmgold in den Sandbänken ist aufreibend. Rheumatismus, Herzstörungen und Atembeschwerden sind fast schon normal. Das Saugbaggerfloß arbeitet im Gegensatz zum Tauchfloß mit höherem technischem Aufwand. Die Motoren laufen zwanzig Stunden pro Tag und machen einen ohrenbetäubenden Lärm. Sechs Menschen leben fast ständig auf dieser schwimmenden Maschine. Essen, schlafen, arbeiten auf dem Floß. Andere Garimperos arbeiten im Primärgoldabbau. Felsen werden mit Wasserhochdruckspritzen und schwerem Räumgerät bearbeitet. “Man sucht Gold und bekommt es nie zu Gesicht, es ist das Leben eines Gefangenen” sagt einer der Arbeiter.
Szenen aus dem Dokumentarfilm “Goldbergbau am Oberlauf des Tapajós”, dessen deutsche Fassung im November in Berlin uraufgeführt wurde. Zwischen einer halben und einer Million Menschen arbeiten im Amazonasraum von Brasilien in der Goldgewinnung, um damit ein Auskommen für fünf Millionen Menschen zu sichern. Was üblicherweise wegen der extremen Umweltbelastung und den oft tödlichen Auseinandersetzungen mit IndianerInnen im Kreuzfeuer der internationalen Kritik steht, wird in diesem Film von einer ganz anderen Seite beleuchtet. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Goldgräber stehen im Mittelpunkt. Und die sind denen der Kautschukzapfer, die vor einhundert Jahren das flüssige Gold im Amazonas suchten, nicht unähnlich. Ohne gesetzliche oder soziale Absicherung arbeiten sie für einen Minenbesitzer oder auf eigenes Risiko sechs, manchmal auch sieben Tage in der Woche. Malaria ist die häufigste Krankheit. Lepra, Tuberkulose, Quecksilbervergiftungen und Geschlechtskrankheiten machen den schlecht ernährten Menschen zu schaffen. Eine Krankenversicherung gibt es nicht, genausowenig wie Schulen oder eine funktionierende Justiz. Bei Nichtanwesenheit des Staates gelten eigene Gesetze. Ein in den Film eingeblendeter Ausschnitt einer brasilianischen Fernsehsendung verdeutlicht die Blauäugigkeit und/oder den Zynismus der brasilianischen Gesundheitsbehörden: ein japanisches Wundermittel entgiftet einen an Quecksilbervergiftung leidenden Goldgräber angeblich binnen weniger Tage.
Etwas schwer verständlich für die deutschen ZuschauerInnen ist der Schluß des Videos. Hier sollen Handlungsperspektiven für eine bessere (gewerkschaftliche) Organisation der Garimperos aufgezeigt werden. Daß diese nur unter erheblicher Beteiligung der Minenbesitzer möglich sein soll, ließ unter den in Berlin anwesenden ZuschauerInnen eine lebhafte Diskusssion entstehen.
“Goldbergbau am Oberlauf des Tapajós” beeindruckt durch seine seltenen und nahen Aufnahmen und ist eine sehr gute Einführung in die Problematik des Goldbergbaus im Amazonas. Er entstand als ein brasilianisch-deutsches Kooperationsprojekt (CEPEPO, ABONG, Buntstift und KATALYSE) im Anschluß an das Seminar “Auswirkungen des Goldbergbaus auf Sozialgefüge und Umwelt im Amazonasraum”, das im Dezember 1992 in Belém stattfand. Bei weitergehendem Interesse sei das gleichnamige Buch zum Seminar empfohlen, das jetzt beim Volksblattverlag in Köln erschienen ist. Die deutsche Videoversion in VHS PAL oder Beta SP PAL kann ausgeliehen werden über KATALYSE, Institut für angewandte Umweltforschung, z.Hd. Regine Rehaag, Mauritiuswall 24-26, 50676 Köln. Tel. 0221-235964.

Der “Telenovela-Streit”

Märchen ohne Konkurrenz

In Mexiko produziert der Medienriese Televisa (bzw. sein Vorläufer “Telesistema Mexicano”) seit Ende der fünfziger Jahre Telenovelas und verkauft sie seit Anfang der Sechziger auch in die übrigen Länder Lateinamerikas und in die USA. Televisa konnte durch aggressive Strategien die Medienkonkurrenz in Mexiko ausschalten oder zur Bedeutungslosigkeit verurteilen und hat damit weitgehend eine Monopolstellung. Aus dieser Position heraus konnte die Unternehmensleitung krasse Zensurmaßnahmen vornehmen, durch die die Beschäftigten unter hohen Druck gesetzt werden, die Programme strikt nach den Interessen der Unternehmensleitung zu gestalten. Diese Unternehmenspolitik rief in Mexiko viele KritikerInnen des Fernsehens und seiner Programme auf den Plan.
Anders als in Brasilien hielten die professionellen Kulturschaffenden, die Autor-Innen, RegisseurInnen und SchauspielerInnen jahrzehntelang Abstand von dem kommerziellen Fernsehgiganten, da es als “imageschädigend” galt, bei Televisa zu arbeiten. Erst seit in den achtziger Jahren die Arbeitsmöglichkeiten für KünstlerInnen in Mexiko immer schlechter wurden, gingen mehr und mehr SchauspielerInnen, aber auch einige AutorInnen und RegisseurInnen zu Televisa. Dadurch gab es über viele Jahre hinweg gar nicht erst den Versuch, in Programmen wie den Telenovelas anspruchsvolle Innovationen vorzunehmen. Die Konsequenz war, daß die mexikanischen Telenovelas bis in die achtziger Jahre “immer die gleichen rosaroten Märchen” blieben.

Linke Kritik seit den siebziger Jahren

Ausgehend von den Diskussionen der Siebziger wurden in ganz Lateinamerika die Massenmedien als Agenten des Kulturimperialismus gebrandmarkt, die die kulturelle Autonomie der lateinamerikanischen Völker durch fremde kulturelle Werte zerstören wollten. Daneben wurde in Anlehnung an einige Vertreter der Kritischen Theorie deren negative Bewertung der Massenmedien übernommen. Die Medien, so das gängige Urteil, prägten den schlechten Geschmack und entfremdeten das Bewußtsein der Menschen.
Als Prototyp dafür galten die Telenovelas. Allein die Tatsache, daß sie zusammen mit den ähnlich konzipierten Radio- und Fotonovelas ein Massenpublikum ansprechen und in ihren Bann ziehen können, wurde als Maßstab für den Grad der Entfremdung genommen, dem das Publikum bereits unterlegen war. Ideologiekritische Produktanalysen wurden vorgenommen und die Mechanismen der Bewußtseinsentfremdung hervorgehoben. Zwar gab es Ansätze, über neue Wege kritisches Bewußtsein zu schaffen, doch für viele der KritikerInnen gilt bis heute als Alternative, die “schlechten”, als zu konservativ, zu realitätsfern, zu konsumistisch oder zu liberal bezeichneten Inhalte durch “gute” zu ersetzen, das aber unter Beibehaltung derselben Art der Beeinflussung.

Imagepflege Televisas

In Mexiko fanden die kritischen Positionen ein so großes Echo, daß Televisa reagierte. Das Ergebnis waren einige Telenovelas, die sich um Ereignisse der mexikanischen Geschichte rankten oder in denen aufgefordert wurde, an Alphabetisierungsmaßnahmen teilzunehmen oder Verhütungsmittel zu benutzen. Mit solchen “unterweisenden Inhalten” konnten dazu gewinnträchtige Geschäfte gemacht werden. Für die Propagierung regierungsfreundlicher Geschichtsschreibung und die Unterstützung der Bevölkerungspolitik erließen die jeweiligen Regierungen Steuern und Gebühren. Insgesamt gab es kaum zwanzig Telenovelas diesen Typs, aber Televisa stellt sie bis heute zur Imagepflege in den Vordergrund.
Neben der Produktion von explizit als “bildend” bezeichneten Telenovelas ging Televisa zunehmend dazu über, die schon immer präsentierten Inhalte als “gute Botschaften” zu verkaufen. Das Publikum bekäme Beispiele für “gutes” Verhalten, wie z.B. das Waschen der Hände vor dem Essen. Schlechte Gewohnheiten, wie Alkohol- und Drogengenuß, würden in der Telenovela bestraft und hätten daher abschreckende Wirkung. Das Zurschaustellen von luxuriösen Konsumartikeln würde in den armen Menschen nicht den Wunsch wecken, ebensolche zu begehren, weil sie mit ihren traditionellen Lebensformen zufrieden seien.
Gleichzeitig betonte Televisa immer wieder, daß die Telenovelas nur zur Unterhaltung seien und das Publikum dem Fernsehen lange nicht so stark ausgesetzt sei wie z.B. einem Film im dunklen Kinosaal. Seit Anfang der neunziger Jahre strahlte der Fernsehsender außerdem Spots aus, in denen das Telenovela-Schauen in scherzhafter Form als aufregendes Ereignis in allen Lebensbereichen dargestellt wird. Außerdem wurde seit Ende der achtziger Jahre immer wieder auf die hohe Qualifikation der bei Televisa Arbeitenden verwiesen und die gute Qualität der Telenovelas beteuert.

Telenovelas entfremden die Frauen

Zwischen den Fronten der Telenovela-KritikerInnen, die überwiegend aus intellektuellen Kreisen stammten, und den VerteidigerInnen Televisas verbreitete sich die Diskussion um die Telenovela in den Auseinandersetzungen der Volksmassen. Die Argumente für und wider die Telenovela wurden “popularisiert”. Aus dem Argument der kulturellen Homogenisierung wurde in Mexiko der konservative Vorwurf, daß die traditionellen mexikanischen Sitten ausgehöhlt würden, wie z.B. die Priorität der Familie. Dies galt unter anderem als Kritik an den Frauen, welche durch die Telenovela-Inhalte motiviert würden, die Autorität des Mannes in Frage zu stellen.
Eines der in Mexiko am häufigsten benutzten Wörter bei der Kritik an den Telenovelas ist der Begriff der Entfremdung. Darunter wird in den meisten Fällen eine zeitliche Fremdbestimmung verstanden. Es heißt z.B., die Frauen kümmerten sich nicht genug um Mann und Kinder, weil sie an die Telenovelas gefesselt seien. Dies führe unter anderem zur Verwahrlosung der Kinder. Darüberhinaus kämen ZuschauerInnen nicht mehr in kirchliche und soziale Einrichtungen, weil sie lieber vorm Fernseher blieben. Anstelle des Fernsehkonsums sei das Lesen eines guten Buches, die Beschäftigung mit den Kindern usw. vorzuziehen. Die inhaltliche Interpretation des Entfremdungsbegriffes richtet sich darauf, daß vor allem Jugendliche und Kinder durch Telenovelas zu Delinquenz, Drogensucht und sexuellen Ausschweifungen verleitet würden.
Die harsche Kritik an den Telenovelas wurde vor allem von den Männern gegenüber den Frauen geübt. Besonders für Männer galt es als peinlich, Telenovelas gut zu finden. Seit Anfang der achtziger Jahre versuchte Televisa daher, deren Aufmerksamkeit durch die Hinzufügung von mehr Aktions- und Krimimomenten und durch Erotisierung und Sexualisierung der Liebesbeziehungen zu gewinnen.
Die Geringschätzung eines Fernsehgenres, das zunächst vorwiegend Frauen anzog, ist nicht auf Mexiko beschränkt, sondern findet sich ebenso in den USA und anderen Ländern gegenüber Fernsehserien und anderen vor allem bei Frauen populären Medien.

Niemand schaut Telenovelas

Die Telenovela-Fans mußten angesichts der harschen Kritik an ihrem Fernsehverhalten auf die Angriffe reagieren. Glaubt mensch den Äußerungen, die in Mexiko über den eigenen Telenovela-Konsum gemacht werden, scheint es oft, als würde kaum jemand diese Programme schauen. Andere ZuschauerInnen greifen die Argumente Televisas auf und betonen, sie würden die Serien nur zur reinen Unterhaltung und Zerstreuung und nur für ein Weilchen anschauen, wenn sie ohnehin nichts anderes zu tun hätten. Wieder andere beteuern, sie selber, ihre Kinder oder ihre Eltern würden eine Menge Gutes von den Telenovelas lernen.
Sie würden beispielsweise motiviert, sozial “besser” zu handeln oder Konflikte anders zu verarbeiten. Gleichzeitig betonen alle, nicht von den Telenovelas beeinflußt zu werden. Schließlich taucht oft das Argument auf, die mexikanischen Telenovelas seien von hoher Qualität. So sei es nur recht und billig, sie zu konsumieren.

Anpassung und Subversion

Die hier skizzierte Art der Auseinandersetzung mit Telenovelas ist bis heute in Mexiko häufig anzutreffen, befindet sich allerdings seit den achtziger Jahren in einem Prozeß der Veränderung. Zum einen führte das verstärkte Aufgreifen der Lebensrealität ärmerer Bevölkerungsschichten und Jugendlicher in der Telenovela dazu, daß neue Publikumsgruppen hinzugewonnen und deren Akzeptanz erhöht werden konnte. Zum anderen ist international eine Umbewertung in den Urteilen über Fernsehserien und populäre Geschmäcker festzustellen: Es wird stärker aus der Sicht der Einzelnen über deren Umgangsweisen mit populären Genres im jeweiligen alltagsweltlichen Kontext nachgedacht. In den USA gibt es darüber hinaus zahlreiche Annäherungen an die Frage, welche Bedeutung die Fernsehserien gerade für Frauen haben.
In Lateinamerika führte die Auseinandersetzung mit den sozialen Bewegungen jenseits der traditionellen Formen von kritischen Aktionsformen dazu, daß auch im Bereich der “cultura popular” ein Umdenken stattfand. Populäre Lebensstile werden nicht mehr nur als die Frucht interpretiert, die äußere Mächte gesät haben, sondern als die jeweiligen Aneignungsformen des Vorgegebenen zwischen äußeren Zwängen und eigenen Bedürfnissen und Wünschen. Dadurch sei es nach Meinung des Mexikaners García Canclini ganz und gar nicht zu einer Homogenisierung der verschiedenen lateinamerikanischen Kulturen gekommen, sondern es gäbe eine Vielzahl von traditionellen und modernen Lebensformen und -stilen, die nebeneinander ständen. Lateinamerika sei in die Postmoderne eingetreten, ohne die Moderne voll entwickelt zu haben.
Sowohl bei den spezifisch weiblichen Umgangsformen mit Fernsehserien, als auch bei den populären Herangehensweisen an Massenkultur wird eine neue Position vertreten. Danach übernehmen die Einzelnen zum Teil die von außen an sie herangetragenen Weltbilder. Auf der anderen Seite ist die eigene Alltagsrealität so bestimmend, daß Fernsehinhalte, die nicht mit den eigenen Werturteilen übereinstimmen, ignoriert werden. In Anlehnung an den Nutzenansatz in der Medienwirkungsforschung fragen seit Mitte der achtziger Jahre viele ForscherInnen in Lateinamerika danach, “was das Publikum mit den Medien macht”. Die Tatsache, daß die Fernsehproduzenten auf eine massenhafte Akzeptanz ihrer Produkte angewiesen sind, führe außerdem dazu, daß die Lebensrealität der Massen in den Telenovelas aufgegriffen und damit wiedergespiegelt und sichtbar gemacht würde.
In diesem Zusammenhang findet der in den letzten Jahren in Lateinamerika häufig aufgegriffene Begriff der “Mediación” von Martín Barbero aus Kolumbien seine Anwendung: die Telenovela ist Vermittlung. Sie ist der Ort, an dem sich Produktion und Rezeption, Rentabilität und kulturelle Heterogenität treffen und an dem diese verständlich werden.
Eine weitere Lesart von Telenovelas, die vor allem aus den feministischen Arbeiten über Soap Operas im englischsprachigen Raum angeregt wurde, betont, daß die scheinbar eindeutigen Botschaften in den Fernsehserien auf vielerlei Weise gedeutet werden können. Ein anderer Impuls kommt aus Brasilien, wo die Zurückdrängung US-amerikanischer Programme durch die Expansion nationaler Fernsehproduktion und der weltweite Export der Telenovelas hervorgehoben wird. Die Schwellenländer seien nun in die Lage gekommen, dem US-Kulturimperialismus etwas entgegenzusetzen.
Die Diskussion über Telenovelas im besonderen und Massenmedien im allgemeinen verläuft nicht in allen Ländern Lateinamerikas gleich, sondern bewegt sich mit unterschiedlicher Gewichtung der hier skizzierten Positionen: zwischen Ablehnung, dem Feiern der Telenovela als Spiegel gesellschaftlicher Realität und der Betonung der Ambivalenzen im Umgang damit. Während die Akzeptanz der Telenovelas in Brasilien in den letzten Jahren erheblich zunahm, gibt es in Mexiko weiterhin sehr viel Skepsis ihr gegenüber. Überall bleibt die Diskussion über sie jedoch in Bewegung.

Ich glotz TV

Das Leben, wie es wirklich ist

“A vida como ela ” dieses Motto hämmern Moderator und Moderatorin immer wieder denen ein, die den Abend nicht mit einer Telenovela beginnen wollen, sondern sich bei der Globo-Konkurrenz SBT einschalten, der abgeschlagenen Nr.2. “Aqui e agora” – “Hier und Jetzt” heißt die allabendliche Magazinsendung, die verspricht zu zeigen, wie das Leben wirklich ist. Leider ist es so, wie viele es gerne sehen wollen: Eine Mischung aus Blut und Tränen. “Aqui e agora” setzt die ZuschauerInnen nicht in die erste Reihe, sondern direkt in den Polizeiwagen. In einem Teil der Sendung begleiten ReporterInnen die Polizei beim Einsatz, sind beim Bankraub dabei und verfolgen mit der Polizei die Täter. Wenns dann langsam reicht, kommt die Rührstory: Frau mit Vierlingen, vom Mann verlassen – erst nachdem lange genug im Privatleben des Spendenopfers gerührt worden ist, werden die ZuschauerInnen um Hilfe gebeten.
Der Star von “Aqui e agora” ist Gil Gomes. Wer ihn zum erstenmal hört, glaubt der Ton des Fernsehers sei kaputt. Eine verzerrte Gruftstimme schallt ihm entgegen: “In dieser Stadt, in dieser Straße, in diesem ruhigen Ort, hier, wo sich noch die Nachbarn kennen, hier wo die Welt noch in Ordnung scheint, hier geschah, hier geeschaaah es…” Gil Gomes Stimme hat sich inzwischen schon fast überschlagen und sein Gesicht ist zur Fratze verzerrt, bis er das unerhörte verkündigt. Wo ein Kind zerstückelt wird, wo eine Leiche in Beton gegossen wird, wo die Geliebte die Ehefrau und den Papagei umbringt, da taucht bald Gil Gomes auf und inszeniert den Schrecken neu. In der Regel sind es ordentliche Schrecken. Böse Menschen begehen grausame Taten und werden von der Polizei erwischt.
Immer wieder lobpreist Gomes die Polizei, läßt erst smarte Polizisten erzählen, wie sie das Monster überführt haben, um dieses dann zu präsentieren. Als SBT ein Jahr “Aqui agora” feierte, präsentierte der Sender eine “Best of Gil Gomes”. Höhepunkt war, wie der Höllenreporter zwei Mörder zur Tatortsbesichtigung begleitet. Die beiden hatten einen achtjährigen Jungen sexuell mißbraucht und dann umgebracht. Am Tatort läßt sich Gomes ausführlich den Hergang erzählen. Als sie zum Polizeiauto zurückgehen, will eine aufgeregte Menge die Mörder lynchen. Gil Gomes wendet sich an die Menge und fordert sie in pathetischen Worten auf, ihr Vertrauen in Gott und die Justiz zu setzen – und verhindert die Lynchjustiz.
So ist also das Leben wirklich. SBT rühmt sich, den Nachrichtenjournalismus revolutioniert zu haben. Eins stimmt: Die Welt von “Aqui e agora” ist nicht die glitzernde Scheinwelt der Reklame, es ist ein gewalttätiges Brasilien. Gomes’ Szenarien sind meist im einfachem Mittelschichtsniveau oder in Favelas angesiedelt. Natürlich zeigt die Inszenierung des Immergleichen Abnutzungserscheinungen und pro-voziert damit die Tendenz zur Radikalisierung. Bei Geiselnahmen fordern die Täter immer öfter die Präsenz von SBT und die ReporterInnen stellen sich dann gerne als Ersatzgeisel zur Verfügung. Aber in einem Fall scheint SBT selbst für die hartgesottenen brasilianische Öffentlickeit zu weit gegangen zu sein: “Aqui agora” zeigte live den Selbstmord einer Jugendlichen (sie stürzte sich vom Dach eines Hochhauses) in Sao Paulo.
Mit diesem Programm, das von sieben bis neun Uhr abends “Aqui e agora” mit einer Nachrichtensendung mischt, konnte SBT einen guten zweiten Platz reservieren. Danach kommt dann Billiges, weil man Globo eh keine Konkurrenz machen kann: mexika-nische Telenovelas.
Aber zum Ausklang des Abends überrascht der Sender dann mit einer der besten Sendungen, die das brasilianische Fernsehen zu bieten hat: Jo Soares, der Dicke (er ist unglaublich dick), interviewt mit Witz und Geist (mehr oder weniger) Prominente aller Couleur. Unterhaltsame und intelligente Plaudereien, nicht ohne (tendenziell progressives) Engagement. Die Werbung für die Sendung “geh’ nicht ohne ihn ins Bett” befolgt man/frau jedenfalls recht häufig.

Eine Nation sieht Globo

SBT zeigt, wie eine Strategie gegen die Übermacht Globo aussehen kann. Nicht frontal angreifen, sondern punktuell und nicht an den stärksten Stellen, den Telenovelas am Abend. Denn spätestens ab 8.30 gehört der Abend Globo. Globo-time ist zehn Minuten vor acht und beginnt mit der regionalen Nachrichtensendung. Um 8.00 beginnt dann das Jornal Nacional, die erste und immer noch dominierende Nachrichtensendung des brasilianischen Fersehens. Jetzt sind wir also wie 70 – 90 Prozent aller brasilianischen FernsehzuschauerInnen in den Fängen von Globo. Es gab Telenovelas, die Einschaltquoten von fast 100 Prozent erreichten. TV Globo ist einer der zentralen Institutionen der brasilianischen Gesellschaft. Es erreicht 99,2 Prozent des brasilianischen Territoriums und 99,5 Prozent aller Haushalte. Der Erfolg von Globo ist ein Phänomen, das nicht leicht zu erklären ist. Wieso hängt ein Mittelschichtspublikum in Sao Paulo allabendlich vor der gleichen Telenovela wie eine arme Bauernfamilie im Nordosten. Warum gucken das Hochhaus und die Favela nebenan allabendlich dasselbe? Warum himmeln Kinder von deutschen Einwanderern in Rio Grande de Sul die gleichen Stars an wie Nachfahren der Indios in den Städten Amazoniens? Erklärungen neigen dazu, die Ungeheuerlichkeit dieser Tatsache zu relativieren.
Globo ist bestürzend erfolgreich, es ist zusammen mit Karneval und Fußball die große nationale Instanz, die eine kulturelle Identität Brasiliens sichert. Eine Instanz mit Geschichte. Globo ist ein Kind der Diktatur. Ein Jahr nach dem Putsch von 1964 wurde es gegründet, der inzwischen fast neunzigjährige Besitzer Roberto Marinho war Unterstützer und Günstling der Diktatur. Die mediale Modernisierung, die sich auf US-amerikanische Technologie stützte, ist vielleicht eine der tiefgreifendsten Entwicklungen der siebziger Jahre. Globo hat die Diktatur glänzend überlebt, zumindest im letzten Augenblick hat auch Roberto Marinho die Demokratisierungsbewegung unterstützt. In jüngster Zeit waren es drei Entwicklungen und Ereignisse, die die Bedeutung von Globo markieren. Fernando Collor war der erste Fernsehpräsident Brasiliens. Ein smartes politisches Nichts wird 1989 innerhalb kürzester Zeit zu einer Alternative gegen einen drohenden Sieg der Linken aufgebaut. Sein Image: der Jäger der Korrupten. Im letzten Moment entscheidet eine Fernsehdebatte die Wahl. 1992 konnte die Nation dann erfahren, daß der Jäger der Korrupten ein selbst für brasilianische Verhältnisse übler und neurotischer Spitzbube war, der schließlich aus dem Amt gejagt wird. Der Fall Collor zeigt die Macht von Globo und deren Grenzen: die Realität wehrt sich noch bisweilen gegen die totale Medialisierung. 1992 zeigt Globo vier Wochen lang eine Miniserie über die Zeit von ’68 mit dem Titel “rebellische Jahre”. Sie trifft genau in die Zeit des Beginns des impeachment-Verfahrens gegen Collor und ist so schlecht nicht. Die StudentInnen gehen auf die Straße mit der Parole “Rebellische Jahre Teil 2”. Der Medienpräsident wird durch eine medieninspirierte Jugendbewegung in Bedrängnis gebracht. Die Mediatisierung der Realität schließt also die Opposition ein und Ironie nicht aus. An dem Tag, als Collor zurücktritt gibt es nur ein Thema: den Mord am Globo-Jungstar Daniela Perez, begangen von deren Partner in der Novela und dessen Frau. Merke: Überschätze Präsidenten und unterschätze SchauspielerInnen nicht.

Die Feinde des Imperiums

Natürlich hat Globo Feinde. Die Intellektuellen kritisieren es und schalten es immer wieder ein, schließlich muß man ja seine Feinde kennen. Aber der hartnäckigste und erbitterste Gegner von TV Globo und seinem Chef Roberto Marinho ist Leonel Brizola, der “linkspopulistische” Gouverneur von Rio. Er beglückt die brasilianischen ZeitungsleserInnen fast allwöchentlich mit seinen Botschaften, die als bezahlte Anzeigen veröffentlicht werden und wegen ihrer Form “Ziegelsteine” genannt werden. Für Brizola ist Roberto Marinho an allem schuld. Gewalt in Rio: das Fernsehen und Marinhos Zeitung (die auch Globo heißt) bauschen alles auf, um Brizola zu schaden. Außerdem ist das Fernsehen schuld an der Gewalt, weil es so gewalttätige Filme zeigt. Genüßlich zitiert es dann aus einer Untersuchung, die gezählt hat, wieviele Morde Globo durchschnittlich pro Tag in die Haushalte sendet. In seinem Haß gegen Globo hat sich Brizola im letzten Jahr schwer vergallopiert. Er hat die Kampagne gegen Collor zunächst kritisiert, weil sie sich gegen Hühnerdiebe richte, während der große korrupte Roberto Marinho… Das Argument ist immer dasselbe, Brizola kann mit irgendeinem Problem anfangen, mit Sicherheit endet er bei Globo, sein Weltbild ist völlig globozentristisch geworden. Auch in seinen Verbalinjurien geht Brizola weit. Für ihn ist Marinho der “Stalin der Medien”.

Die Auslöschung des Sozialen

Vordenker der intellektuellen Kritik am Fernsehen ist Muniz Sodr. Der Titel seines jüngsten Buches ist Programm: “Das ausgelöschte Soziale – städtische Gewalt, das Neugroteske und die Medien”. Für Sodr konstituieren die Medien eine neue Form der Soziabilität, die bestimmt ist durch unpersönliche Beziehungen. Dabei werden die dominanten Orientierungen von maximal 30 Prozent der Bevölkerung gnadenlos verbreitet und popularisiert. Die FavelabewohnerInnen sehen jeden Abend die Reklame von American Express. Die asoziale Konsum-, Vergnügungs- und Machtorientierung der Fernsehprogramme lassen andere Sozialitäten (Familie, traditionelle Kultur) verblassen. Das Fernsehen führt so zu Erosion einer personal vermittelten Sozialität. Nicht Armut an sich produziert Gewalt (sowenig wie Arbeitslosigkeit), sondern die Kombination aus Armut, sozialer Erosion und urbaner anonymer Nähe ergeben das explosive Gemisch. Im Ergebnis treffen sich Brizola und Sodr: das Fernsehen ist zumindest mitverantwortlich für die Gewalt, die das Leben in den Städten immer mehr prägt.
Dies scheint der vorher getroffenen Feststellung zu widersprechen daß Globo einer der großen Instanzen der Versicherung einer na-tionalen Identität in Brasilien ist. Ich denke, es weist eher auf den Charakter dieser Identität hin. Sie ist in dem Sinne falsch (der viel weiter ist als das Konzept der Manipulation) als sie nicht auf ein sozialisierbares Projekt hinzielt und Glücks-versprechen personali-siert.
Das große Thema der Novelas ist Liebe und an zweiter Stelle Geld. Liebe und Reichtum – wer findet das schon auf einer Gewerkschaftsversammlung. Die Radikalisierung der romantischen Liebe als das große Glücksversprechen, das auch den Armen winken mag, und die kriminelle Individualisierung der Reichtumsaneignung im Drogenhandel oder Raub sind Ausdruck desselben Prozesses der Entsozialisierung.
Die Linke hat es schwer, dagegen eine andere Lesart der Wirklichkeit zu stellen. Die immerselben Parolen (die heute noch auf T-shirts ihre Urstände feiern), wie “gemeinsam sind wir stark”, bleiben machtlos, weil unattraktiv. In der Mediatisierung des Sozialen ist Brasilien alles andere als ein Entwicklungsland, es hypertrophiert geradezu. Dies sollte für eine Perspektive des sozialeln Wandels nicht unterschätzt werden. Zumindest läßt Brasilien an einen alten Verdacht Adornos erinnern. Daß die Gefahr einer totalitären Macht weniger von einem perfekten Repressionsapparat ausgeht, als von dem Einschreiben der Herrschaft in die Bedürfnisse und das Begehren.
Nachsatz: Bei meinem letzten Besuch in Deutschland fiel mir auf, daß das Fernsehen dort dem brasilianischen immer ähnlicher wird. Vielleicht ist Brasilien doch das “Land der Zukunft”, aber in einem ganz anderen Sinn als es es sich die EntwicklungsoptimistInnen in den siebziger Jahren dachten.

Editorial Ausgabe 234 – Dezember 1993

Eine Bananenschale schwimmt in einer kleinen Pfütze, die der Tankwagen hinter-lassen hat. Einmal die Woche bringt er Wasser. Ein Luxusgut -zu Wucherpreisen. Hütten, konstruiert aus Strohmatten und ein paar Ziegelsteinen. Obendrauf Dächer aus Wellblech und immer wieder Fernsehantennen. Das penetrante Knattern des Stromgenerators ist zu hören. Ein kollektiver Seufzer aus vielen tausend Bäuchen überflutet die Poblacion. 20.59 Uhr.
Gerade eben hat Maria beschlossen, die Untreue ihres Geliebten Jorge mit Flucht zu bestrafen. Der anschließende Werbe- block geht in einer vieltausendstimmigen Diskussion unter. Zweifel, ob sie Jorge nicht noch eine weitere Chance hätte geben sollen, schwirren noch lange über den Dächern Villa EI Salvadors, Lima, Peru. In Villa E1 Salvador wurde der Fernseher unter großen Mühen über den informellen Markt organisiert. Kein fließend Wasser, aber in vielen Hütten ein Fernseher …
Wenn von Medien in Lateinamerika die Rede ist, dominiert in den Köpfen vieler Europäerlnnen die romantische Vorstellung von Indios im brasilianischen Dschungel, die mit hypnotisiertem Blick ein quäkendes Transistorradio beäugen. In etwas weniger klischeehafter Form gibt es natürlich immer noch dieses “Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen “. Doch in wachsendem Ausmaß globalisiert sich die Medienkultur.
Es ist viel über die Kolonisierung der Köpfe geredet und geschrieben worden, über die sexistischen und rassistischen Botschaften der Medienbilder. Von Donald Duck bis Dallas reichte die Palette der Exportschlager, die in Lateinamerika von der Kulturkritik so richtig auseinander- genommen wurden. Alle Hoffnung lag auf einer authentischen, lateinamerikanischen Medienkultur, die nach dem Sieg über den medialen Yankee-Imperialismus beginnen sollte. Heute ist Ernüchterung eingekehrt. Wenn, wie es Thomas W. Fatheuer in “lch glotz TV ” beschreibt, kein Ereignis Brasilien so sehr beschäftigt wie die letzte Folge einer Telenovela, muß neu nachgedacht werden. Ist die Telenovela das lateinamerikanische Derivat der Volksopiate? Gila Klindworth zeigt in “Der Telenovela-Streit “,wie kontrovers die Diskussionen in der Novela-Fabrik Mexiko verlaufen.
Die Welle der Kommenialisierung hat Lateinamerika erfaßt. Radio Venceremos und Radio Farabundo Martí, die einstigen Guerillasender der FMLN in EI Salvador, kämpfen nun um Werbegelder, wie Reimar Paul in “Kommerzialisierung ohne Aus-verkauf” zeit. Mehr denn je produzieren Lateinamerinerlnnen heute für Lateinamerikanerlnnen. Trotzdem sind Bereiche wie der einstmals starke lateinamerikanische Film in großen Schwierigkeiten -Bettina Bremme beschreibt den “Gerupften Vogel”. In den USA boomt derweil das spanischsprachige Fernsehen. Eine “Grenzenlose Zukunft ” bei “Begrenzten In-halten” hat Martin Ziegele entdeckt, als er sich durch die Programme zappte.
Der Neoliberalismus schlägt sich auch im Mediensektor in einer beispiellosen Welle der Deregulierung und Privatisierung nieder. Die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Alternativmedien in diesem Tohuwabohu veranschaulicht Deidre McFa-dyen’s “Rein in die öffentliche Debatte”. Die “Vernetzung lateinamerikanischer Nachichtenagenturen” könnte eine Antwort darauf sein; “ein schwieriges Unter-fangen” meint Andreas Behn. Wie Don Quijotes Kampf gegen die Windmühlen mutet der Kampf der kommunalen Radios in Chile gegen die neue Radiogesetzgebung an -das “Recht des Stärkeren” hat Joachim Göske dort gefunden.

Grenzenlose Zukunft -begrenzte Inhalte

Die Entdeckung des spanischsprachigen Publikums

Die Show ist das Zugpferd von Univision. 24 Stunden täglich sendet das Fernsehnetz, das sich selbst als “Vision Lateinamerikas” beschreibt -nach eigenen An-gaben erreicht es 90 Prozent aller Latino/a-TV-Haushalte von Chicago bis E1 Paso, von Miami bis Los Angeles. Die große Konkurrentin Telemundo hat mittlerweile eine ähnlich hohe technische Reichweite. Galavisión, die dritte im Bunde, konzentriert sich vor allem auf Latinos/as an der Westküste, die ihren Ursprung in Mexiko oder Zentralamerika haben. Alle drei stehen im Wettbewerb um die Gunst einer Zielgruppe, die erst vor einigen Jahren als solche entdeckt wurde und seither von einem kommerziellen Medienangebot geradezu über-schwemmt wird. “Effektive Strategien für den hispanischen Markt”, “die Entdeckung des hispanischen Zuschauers”-Artikel, Broschüren, Bücher mit solchen Titeln gehören mittlerweile zur Grundlagenlektüre jeder US-Werbeagentur.
Als Kommunikationswiese ethnischer Enklaven haben spanischsprachige Medien in den USA, wie viele andere fremdsprachige ImmigrantInnenmedien, eine lange Historie. Hier ein Blättchen, dort ein Blättchen, ein Kommen und Gehen. Als überlebensfähig hatten sich nur einige wenige Zeitungen erwiesen (siehe Kasten). Mit der Entdeckung der Latinos/as als Zielgruppe der Werbeindustrie begann jedoch eine ganz neue Geschichte: Der Boom der kommerziellen spanischsprachigen Medien in den USA. in den 70er und vor allem in den 80er Jahren schossen spanischsprachige Hörfunkstationen wie Pilze aus dem Boden, in immer mehr Regionen wurden Femsehprogramme auf spanisch über neue UHF-Stationen ausgestrahlt oder in Kabelsysteme eingespeist. Seit 1988 streiten sich zwei, seit 1990 drei Fernsehnetze um den Werbegelderkuchen.

Aufgewärmtes aus Mexiko und frisches Selbstgemachtes

Auch wenn Univisión, Telemundo und Galavisión immer wieder versuchen, sich voneinander abzugrenzen und sich ein unverwechselbares Image aufzubauen, kochen alle drei mit demselben Wasser. Das alltägliche Menü aus Werbeblöcken wird marktgerecht mit importierten Telenovelas, Komödien und Spielfilmen zusammengebracht und zur Not in den Nachtstunden als Resteesssen einfach noch einmal aufgewärmt. Ein Großteil dieser Sendungen stammt aus den Töpfen des mexikanischen Medienriesen Televisa, der einen Anteil von 25 Prozent an Univisión hält und Galavisión selbst zum Strahlen erweckt hat. Das Programm trifft aber nicht unbedingt den Geschmack aller Latinos/as in den USA. Vor allem jüngere schauen lieber den Musikkanal MTV oder Spielfilme auf einem der zahlreichen englischsprachigen Kanäle (manche von ihnen fallen schon von vornherein heraus: sie sprechen drei Generationen nach der Immigration schlecht oder überhaupt kein Spanisch mehr). So wollen sich die Fernehnetze seit einigen Jahren nicht mehr allein auf Programmimporte -vor allem aus Mexiko -verlassen, sondern vergleichsweise kostenintensiv in den USA selbst zu produzieren. Riesige Studio-Areale sind in den letzten Jahren in Miarni entstanden, wo sowohl Univisión als auch Telemundo produzieren. Anfangs waren es nur die nationalen Nachrichten, die von Florida aus in die spanischsprachigen Haushalte der USA verbreitet wurden. Sie sind sauber recherchiert und mit Berichten eigener KorrespondentInnen in Lateinamerika und dem “Rest der Welt” gefüttert. Telemundo kooperiert mit dem englischsprachigen Nachrichtensender CNN. Univisións “Sábado Gigante” wird seit nunmehr sechs Jahren in Miami produziert, genauso wie die erst wenige Jahre laufende “Christina”, eine täglich ausgestrahlte, außerordentlich erfolgreiche Diskussionssendung über Themen wie “zweisprachige Erziehung”, “Diskriminierung am Arbeitsplatz”, “Fit ins Alter” oder “rnachismo”. Sogar die erste jemals in den USA produzierte spanischsprachige Komödie “Corte Tropical” ist in den Studios in Florida entstanden. Ort der banalen Komödie ist ein Friseursalon, in dem sich die Wege von Latinos/as verschiedenster Generationen und Herkunft kreuzen: Mexikano-Amerikaneruinen, Kubano-Amerikanerinnen, Puerto-Ricanerinnen oder Immigrantinnen aus Zentralamerika.

Die normative Kraft des Kommerziellen

Mittlerweile leben über 17 Millionen Menschen in den USA, die vorzugsweise in Spanisch kommunizieren -und ihre Zahl steigt durch Immigration kontinuierlich. Weitere 5 Millionen Latinos/as beherrschen das Spanische zumindest passiv
-ein riesiger Markt für nationale und werbefinanzierte Programme. Wurden vor wenigen Jahren englische Werbespots spanisch synchronisiert, gibt es heute Spots, die exklusiv für die Zielgruppe der US-Latinos/as konzipiert und produziert werden. Spanischsprachiges Fernsehen in den USA ist vor aliem ein Geschäft -zudem eines mit rosigen Zukunftsaussichten. “Money makes the world go round.” Dieses Lied wird in den englischsprachigen Chefetagen der spanischsprachigen Fernsehnetze gerne gesungen. Besonders dann, wenn Latino/a-LobbyistInnen fordern, die Inhalte und Botschaften der Programme mehr an der sozialen und politischen Ausgrenzung vieler lateinamerikanischer ImmigrantInnen auszurichten. Cubano, Mexicano or whan
Doch politisch-emanzipatorische Programme für Latinos/as sind Mangelware; von den Programmchefs der Fernsehnetze ist oft zu hören, daß es Versuche gegeben habe, Dokumentationen und Diskussionssendungen ins Programm aufzunehmen. Massenhaft hätten die ZuschauerInnen zu Hause daraufhin das Programm mittels Fernbedienung ins elektronische Jenseits befördert.

Kein Minderheitenmedium

Die halbstündigen lokalen Nachrichten konzentrieren sich auf das Neueste aus den barrios in den Latino/a-Metropolen. Wenn überhaupt, dann sind sie es, die durch ihre engagierte, mitunter auch sozialkritische Haltung in die Schublade passen, in die spanischsprachiges Fernsehen in den USA von vielen immer noch gesteckt wird: Minderheitenmedium. Das hat Konsequenzen. Von KritikerInnen aus Latino/a-Kreisen wird ihm immer wieder vorgeworfen, es käme seiner eigentlichen Funktion, Anwalt für ImmigrantInnen zu sein, nicht nach. Andere wiederum, vorzugsweise WissenschaftlerInnen, sehen es als Orientierungsforurn für Neuankömmlinge in den USA. Sie nennen es in einem Atemzug mit deutschen oder russischen EinwanderInnenzeitungen des 19. Jahrhunderts und warten nur darauf, den Grabgesang auf ein weiteres fremdsprachiges Medium in den USA anzustimmen.
Doch spanischsprachiges Fernsehen in den USA ist kein Minderheitenrnedium. Ein Zielpublikum von 17 Millionen ist in einer Medienwelt, die sich in immer kleinere’ Zielgruppen segmentiert, keine Minderheit. Im Gegenteil. Viel wahrscheinlicher ist eine weitere Segmentierung des spanischsprachigen Fernsehmarktes. So wie im Fall von MTV Latino, der seit kurzem verfügbaren Version von MTV auf Spanisch. Sie wird auch in US-amerikanische Kabelnetze eingespeist.

Elektronischer Schmelztiegel ?

Egal, ob Fernsehen, Hörfunk oder Printmedium, vom Image eines kämpferischen Minderheitenrnediums haben sich die kommerziellen, spanischsprachigen Me-dien schon lange verabschiedet. So richtet sich die Kritik einiger Latinos/as im-mer mehr auf die Bilder, die das Fernsehen in den Köpfen ihrer ZuschauerInnen produziere. Earl Shorris, Biograph der Latinos/as in den USA, drückt das Mißfallen vieler aus, wenn er schreibt, spanischsprachiges Fernsehen sei ein “elektronischer melting pot, in dem Wörter, Bräuche, Gesten und Geschichten verschwinden”. Spanischsprachiges Fernsehen ist eines der wenigen Bindeglieder zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen, die unter dem Dach der “Superethnie” Latinos versammelt sind. Entsprechend hoch wird von manchen Beteiligten die potentielle Wirkung der Fernsehbilder auf das Selbstbild der US- Latinos/as eingeschätzt. Seit einigen Jahren diskutieren in-tellektuelle Latino/a-Zirkel, was der idealtypische Latino oder “die” Latina sei. Für viele Latinos/as stellt sich diese Frage nicht. Ihr Selbstbild kommt direkt aus dem Bauch und ist in den meisten Fällen in ihren Nationalfarben gezeichnet. “Mexicano”, “Cubano”, “Salvadoreno” sind die Antworten auf die Frage nach der ethnischen Identität. “Yo soy Latino -Ich bin Latino/a” ist eine eher selten verbreitete Selbsteinschätzung. Die Zielgruppe spanischsprachigen Fernsehens in den USA jedoch sind Latinos/as -anders als die lokal oder regional kommunizierenden Hörfunkstationen oder Tageszeitungen, flimmert über drei Zeitzonen und alle Ethnien und Nationalgefühle hinweg dasselbe Programm. Telenovelas, Nachrichten und in den USA produzierte Programme wie “Christina” oder “Sábado Gigante” sollen Mexikano-Amerikanerinnen vom Südwesten der USA gleichermaßen anziehen wie die große kubanische Gemeinde in Florida oder die karibische in New York. Manche glauben, daß in den USA eine Chance vertan wird, den typischen Latino oder “die” Latina nicht nur als Nachfahren spanischer Eroberer zu zeichnen.
Denn die täglichen Sendungen ignorieren die Existenz indianischer oder afrokaribischer Geschichte. Es blondelt und blauäugelt unproportional viel im spanischsprachigen Fernsehen. Das Phänomen des elektronischen Rassismus allerdings ist lateinamerikanische Tradition und nicht erst unter den Latinos/as in den USA kreiert worden.

Exporte nach Lateinamerika -Ziel Nummer eins

Damit sich die Investitionen für die in den USA produzierten Programme wieder amortisieren, greifen die spanischsprachigen US-Networks zu dem, was im Mediengeschäft ohnehin schon länger Standard ist: Sie exportieren Programme, die ursprünglich für den Latino/a-Markt der USA produziert wurden, nach Lateinamerika. So strahlt Don Francisco mittlerweile auf nahezu allen Bildröhren Lateinamerikas (über Don Franciscos Einfluß in Chile auch der Artikel “Mit anderen Augen gesehen” in diesem Heft), “Christina” hat sich auch zu einem Exportschlager Univisions entwickelt.
Mauricio Gerson, Programmchef bei Telemundo, nennt die Ausbreitung des Fernsehnetzes nach Lateinamerika das “wichtigste Ziel für die kommenden Jahre, es wird über unsere Zukunft entscheiden”. So soll der Verkauf spanischsprachiger Fernsehprogramme von den USA nach Lateinamerika das dringend benötigte Geld beschaffen, um weiterhin zu Hause -in den USA -teure, spanischsprachige Programme zu produzieren. Das alles, um nicht zu abhängig von aus Lateinamerika importierten Billigproduktionen zu werden. Medien kennen keine Grenzen mehr. Seit spanischsprachiges Fernsehen die Aufmerksamkeit der Werbeindustrie geweckt hat und selbst ausschließlich den Gesetzen der Profitmaximierung verpflichtet ist, ist es als Werbeträger zu einem wichtigen Bestandteil der globalen Konsumanimation geworden.Der Latino/a-Medienmarkt in den USA mausert sich mehr und mehr zum Experimentierfeld multinationaler Konzerne.

Wie in einem gigantischen Versuchslabor wird hier getestet, wie der lateinamerikanische Konsummarkt optimal animiert werden kann.Der Gedanke ist so simpel wie fragwürdig: Was von der multikulturellen Latino/a-Gemeinde in den USA angenommen werde, werde sich auch auf dem ebenso multikulturellen lateinamerikanischen Markt durchsetzen. Den spanischsprachigen Fernsehproduktionen käme dabei zugute, was für einige das Erfolgsrezept US-amerikanischer Medienindustrie überhaupt ist: Fernsehprogramme für ein kulturell, ethnisch und regional sehr unterschiedliches Publikum in den USA entwickeln zu müssen.
Doch nach diesem Rezept wird heute in allen Produktionsküchen von weltweit agierenden ProgrammanbieterInnen gekocht. Televisa in Mexiko, Radio Carácas in Venezuela oder Rede Globo in Brasilien sind Beispiele in Lateinamerika, die schon lange nicht mehr nur für ein nationales Publikum planen und produzieren. Don Francisco ist’s ohnehin egal, für wen er nächsten Samstag arbeitet -Hauptsache, die Einschaltquote stimmt.

Kreative Unruhe inmitten des ökonomischen Desasters

Es ist eine seltsame Sturmnacht. Wind und Regen peitschen von der Karibik her gegen das kolumbianische Festland. Krebse krabbeln aus der Gischt und retten sich an Land. Ein Baby wird unruhig. In Windeseile bedeckt das glitschige Getier den Boden der Strohhütte. Das Baby schreit. Draußen hat das Unwetter ein anderes verstörtes Wesen an den Bootssteg gespült: “Un señor muy viejo con unas alas enormes” – einen sehr alten Herrn mit enormen Flügeln. Ein Geschenk des Himmels?
Fernando Birri, Kuba, 1989

Wie jeden Tag sitzt sie in der Küche und weint beim Zwiebelschneiden, als sie spürt, daß es soweit ist: Der gewölbte Unterleib krampft sich zusammen, die Fruchtblase platzt, und ein Meer von Tränen ergißt sich über die Holzdielen, schwappt bis zur Türschwelle. Das Mädchen, das in diesem Moment das Licht der Küchenfunzel erblickt, wird den Großteil seines Lebens in diesem Raum verbringen und als Köchin kleine Wunder vollbringen. Tief im Inneren wird sie sich nach den samtigen Schlafzimmeraugen ihres Geliebten und späteren Schwagers verzehren. Sie gehören zueinander “como agua para chocolate” – wie das Wasser und die Schokolade, die sie ihm täglich in emsiger Fürsorge zubereitet…
Alfonso Arau, Mexiko, 1992

Mexikanische Knäste sind nicht besonders angenehm, dieser ist keine Ausnahme: Die Mittagshitze brennt aufs Wellblechdach, apathisch hängt die Wärterin hinterm Schreibtisch und zählt Schmiergeld. Auch der einzige Insasse langweilt sich – und sinnt auf Rache: Er weiß, wessen Verrat er diesen Aufenthalt verdankt. Da ist das Schlagen einer Autotür zu hören. Breitbeinig, die Knarre im Anschlag, betreten sie die Baracke. Damit der Chef die neue Freiheit auch genießen kann, haben sie ihm gleich was mitgebracht: einen schwarzen Gitarrenkoffer – drinnen eine kleine Waffensammlung. Der Weg ist frei für die Revanche – wenn da nicht ein unschuldiger “Mariachi”-Sänger mit einem ähnlichen Koffer wäre…
Roberto Rodriguez, Mexiko, 1992

Von einem Tag auf den anderen beschließt er, das wenige zu verkaufen, was er sich in all’ den Jahren als Sargtischler erarbeitet hat. In La Paz begreift niemand, warum er zurück will in sein Aymara-Dorf. Vor Jahren hatte ihn die Gemeinschaft verstoßen: Er hatte Geld unterschlagen. Eine rituelle Tanzmaske auf den Rücken geschnallt, macht er sich zu Fuß auf den Weg, um dort zu sterben, wo er hingehört: zur “nación clandestina” – der geheimen Nation.
Jorge Sanjinés, Bolivien, 1991

Bloß raus aus dem feuerländischen Winter, weg vom spießigen Stiefvater, der resignierten Mutter, den Schikanen in der Schule und der verwickelten Liebesaffäre. – Wohin? Mal sehen: erst mal mit dem Rad durch Patagonien, dann weiter nach Norden… Quer durch den unbekannten lateinamerikanischen Kontinent, auf den Spuren des Vaters, der vor Jahren das Weite suchte: “El viaje” – die Reise – vielleicht ist der Weg schon das Ziel?
Fernando Solanas, Argentinien, 1992

Eingangsquenzen von fünf lateinamerikanischen Filmen, die in den letzten Jahren entstanden: Ein Panoptikum unterschiedlicher Geschichten und Bildsprachen. Nicht alle haben eine klare “mensaje”, eine politische Botschaft. Im Gegenteil: “El Mariachi” und “Como agua para chocolate” stehen eher in der Tradition populärer Unterhaltungsgenres, treiben sie auf die Spitze, lavieren zwischen parodistischer Brillianz und schnöder Trivialität hin und her.
Ganz anders dagegen Filme wie “La nación clandestina” und “El viaje”. Auf sehr unterschiedliche Art und Weise befassen sie sich mit der Suche nach einer persönlichen und kollektiven Identität: “La nación clandestina” des Bolivianers Sanjinés hält sich als künstlerisches Werk zurück. Der Film, der mit Aymara-Indígenas in ihrer Sprache gedreht wurde, paßt sich in Tempo und Schnittfolge der Lebensphilosophie dieses Volkes an. Ganz anders dagegen der abenteuerliche Trip von Solanas Protagonisten, einem Jungen aus dem weißen Mittelstand: “El viaje” ist vom ständigen Wechsel der Verkehrsmittel, der Umgebung, der Eindrücke geprägt: Ein surreal-dekadentes Argentinien, von Wassermassen überschwemmt und in seiner eigenen Scheiße erstickend. Ein postkartenschönes Machu Picchu, das inmitten des touristischen Rummels Ahnungen von der präkolumbianischen Vergangenheit aufsteigen läßt. Ein von grotesken Gegensätzen zerrissenes Brasilien, in dem es futuristische High-Tech-Metropolen gibt, während gleichzeitig im Amazonasgebiet Minenarbeiter sich zu Tode schuften müssen wie schon zu den Zeiten der Conquista. – Zwei Filme, der eine von stoischer äußerer Ruhe und Verschlossenheit, der andere opulent, teilweise überladen mit Eindrücken und Metaphern – Porträts der widersprüchlichen Gesichter eines Kontinents.

Filme zur Conquista: Jubiläumsspektakel oder kultureller Dialog?

Pünktlich zum Jahr 1992 entstanden auch einige Filme, die sich direkt mit der Geschichte der Eroberung Amerikas auseinandersetzen: Im Gegensatz zu den US-amerikanischen Mammutschinken “1492” und “Columbus”, die sich auf die Heldengestalt des “Entdeckers” bezogen, erzählen “Jericó” (Luis Alberto Lamata, Venezuela, 1991) und “Cabeza de vaca” (Nicolás Echevarría, Mexiko, 1991) andere Versionen vom “Aufeinandertreffen zweier Welten”, die ebenfalls auf historische Quellen zurückgehen: In beiden Fällen sind die Protagonisten spanische
Conquistadoren, die von ihrer Armee getrennt werden, nach und nach immer mehr vom alten Ich abstreifen, in die fremde Umgebung und Kultur eintauchen – bis sie gegen ihren Willen von den Spaniern “gerettet” und in die “Alte Welt” zurückgeholt werden.
Das Paradoxe ist, daß die meisten dieser “500 Jahre”-Filme nur mit Hilfe von Geldern aus Europa realisiert werden konnten. Besonders der staatliche spanische Fernsehsender TVE ließ sich das historische Gedenken schon einiges kosten und trat als Koproduzent bei der Finanzierung einiger Filme auf – unter anderem bei “La nación clandestina” von Sanjinés und “Un señor muy viejo con unas alas enormes”, den Fernando Birri nach einer Kurzgeschichte von Gabriel García Márquez verfilmte.

Allgemein konnte im letzten Jahr durchaus der Eindruck enstehen, als ob die europäische Medienöffentlichkeit ganz wild darauf sei, die koloniale Vergangenheit durch eine hohe Durchlaufzahl von lateinamerikanischen Filmproduktionen aufzuarbeiten. Sowohl auf den Leinwänden der Filmfestivals als auch in der ersten Reihe bei ARD und ZDF waren so viele amazonische Ureinwohner und großstädtische Straßenkinder zu sehen wie nie zuvor. Jetzt, wo der Jahrestag der Betroffenheit abgefeiert worden ist, scheinen sich die Bedürfnisse des Marktes und das Angebot in den Massenmedien erst mal wieder in andere Weltregionen verlagert zu haben.

Zwischen “Ästhetik des Hungers” und Happy End für “Juliana”

Und wie sieht es in Lateinamerika selbst aus? Mehr als 30 Jahre sind seit der Entstehung des Neuen Lateinamerikanischen Films vergangen. Beeinflußt von der kubanischen Revolution und linken Bewegungen anderswo auf dem Kontinent, versuchten in verschiedenen Ländern FilmemacherInnen, neue Wege zu gehen. Stilistisch waren sie unter anderem vom italienischen Neorealismus oder vom Surrealismus Luis Buñuels beeinflußt, der damals im mexikanischen Exil lebte. Das Kino sollte keine illusionistische Traumfabrik sein, sondern Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und gleichzeitig Motor politischer Veränderungen. Entsprechend programmatisch waren die Namen: “Cine Imperfecto”, “Cine de Liberación”, “Ästhetik des Hungers”. Regisseure wie Fernando Solanas und Octavio Getino (Argentinien) propagierten ein “Drittes Kino” in Abgrenzung sowohl von der kommerziellen Filmindustrie als auch vom individualistischen Autorenkino.
Ziel war die “Entkolonialisierung der Köpfe” – Film als politisches und pädagogisches Instrument: Entsprechend groß war auch die Bedeutung, die dem Kino in Kuba und auch im sandinistischen Nicaragua beigemessen wurde. Einige dieser Filme beeindrucken nicht nur durch die “Botschaft”, sondern auch durch die expressive Bildsprache: Zum Beispiel “Lucía” von Humberto Solás (Kuba, 1968), der die Geschichte Kubas anhand dreier Frauen aus unterschiedlichen Epochen dieses Jahrhunderts zeigt. Andere Filme arbeiteten dagegen vorwiegend mit dem didaktischen Zeigefinger: Die Charakterisierung der Personen wurde dem vereinfachenden Pinselstrich des “sozialistischen Realismus” untergeordnet.
Einige RegisseurInnen oder Filmkollektive versuchten, nicht nur die Inhalte zu “revolutionieren”, sondern auch die Entstehung eines Films zu einem Gemeinschaftsprojekt zu machen: In den achtziger Jahren arbeitete Grupo Chaski in Peru fast ausschließlich mit LaiendarstellerInnen, die aus ähnlichen Lebensverhältnissen stammten wie die Personen des Films. Ihre Erfahrungen sollten in die Handlung einfließen. Dieser Anspruch wurde allerdings nur begrenzt realisiert – unter anderem, da es nicht gelang, mit gruppeninternen Hierarchie- und Machismo-Konflikten fertigzuwerden. Bei den Filmen von Grupo Chaski flossen Realität und Fiktion ineinander. Und auch Wunschträume hatten ihren Platz, beispielsweise bei dem Film über das Straßenmädchen “Juliana” (Peru 1989), der auf Wunsch der Kinder, die mitspielten, ein Happy End bekam. – Dies löste übrigens bei der Präsentation des Films in Europa bei vielen BetrachterInnen Befremden aus, wurde angesichts der Situation in Peru als unpolitisch und naiv angesehen…

Vor dreißig Jahren: Aufbruch trotz wirtschaftlicher und politischer Zwangsjacken

Das Neue Lateinamerikanische Kino sah sich natürlich von Anfang an mit großen ökonomischen Problemen konfrontiert. Nur in wenigen Ländern, wie etwa Argentinien, Brasilien und Mexiko, gab es eine funktionierende Infrastruktur im Filmbereich, die in erster Linie der Herstellung kommerzieller Unterhaltungsspektakel diente. In den siebziger Jahren begannen Länder wie Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru und Venezuela, Gesetze zur Förderung der nationalen Filmindustrie zu verabschieden. So schreibt beispielsweise seit 1972 ein Gesetz in Peru vor, daß in den Kinos vor jedem ausländischen Spielfilm ein peruanischer Kurzfilm gezeigt werden muß und ein Teil der Kinoeinnahmen seinen ProduzentInnen zufließt. Dies führte immerhin dazu, daß zwischen 1972 und 1990 mehr als 800 Kurzfilme entstanden.
Während der Zeit der Militärdiktaturen in Argentinien, Chile, Bolivien und anderen Ländern waren viele FilmemacherInnen gezwungen, ins Exil zu gehen. Erst die Rückkehr der Länder zur formalen Demokratie brachte wieder Impulse für den Film, der zum Sprachrohr der progressiven Bewegungen wurde: In Argentinien entstanden ab Mitte der achtziger Jahre eine Reihe von Werken, die sich mit der Zeit der Diktatur auseinandersetzten, so etwa “La historia oficial” von Luis Puenzo (“Die offizielle Geschichte”, 1985), “La noche de los lápices” (“Die Nacht der Bleistifte” 1986) von Héctor Oliveira und “Sur” (Süden, 1987) von Fernando Solanas.

Ökonomische Krise und Videoboom: schlechte Zeiten fürs Kino

Die neunziger Jahre sind für das lateinamerikanische Kino nicht gerade die Zeit der großen Hoffnungen, und das hat in erster Linie ökonomische Ursachen: Die in den meisten Ländern ohnehin nicht sehr stabile Filmindustrie leidet zum einen unter der immer größeren Konkurrenz durch Fernsehen und Video. Die ökonomische Krise der letzten Jahre und vor allem die neoliberale Wirtschaftspolitik haben gleichzeitig die Kaufkraft so weit geschwächt, daß ein Kinobesuch auch für Leute aus der Mittelschicht zum Luxus geworden ist.
Als Konsequenz des Publikumsschwundes mußten in den vergangenen sechs Jahren mehr als die Hälfte der Kinosäle in Lateinamerika schließen. Die übrig gebliebenen Lichtspielhäuser setzen vorwiegend auf US-amerikanische Massenware. Oft werden sie auch von den Verleihfirmen dazu verpflichtet, mehrere Streifen en bloc einzukaufen, was es schwer macht, unabhängig produzierte in- oder ausländische Filme ins Programm zu nehmen.
Anders als in der Fernsehindustrie gibt es im Filmbereich kaum Strukturen für den Vertrieb und Austausch lateinamerikanischer Produktionen. Mit paradoxen Folgen: Die Wahrscheinlichkeit, einen kolumbianischen Film in einem Programmkino in Köln oder einem Dritte Welt Zentrum in Münster zu sehen, ist weitaus größer als die Möglichkeit, das Werk im Nachbarland Ecuador zu Gesicht zu bekommen. Das gilt auch für viele Filme, die internationale Preise erhalten haben.
Insbesondere die brasilianische Filmindustrie wurde von den Privatisierungen unter Collor de Mello stark getroffen. Dieser löste nach seinem Amtsantritt die staatliche Filmförderungsbehörde Embrafilm auf und schaffte das Gesetz ab, das den brasilianischen Filmen eine Abspielmöglichkeit garantierte. – Mit dem Ergebnis, daß das Land, das zeitweise bis zu 90 Filme pro Jahr produzierte, seit Anfang der neunziger Jahre nur noch durchschnittlich 3 Filme herstellt. Die Programmlücken, die so im Kinoangebot entstanden, wurden rasch mit US-Produktionen gefüllt.
Lediglich Mexiko gelingt es nach wie vor, seine – größtenteils recht kommerziell orientierte – Filmproduktion relativ stabil zu halten. Dies liegt zum einen an der vergleichsweise sicheren politischen und ökonomischen Situation des Landes. Wichtig für die künstlerische Filmproduktion sind die Aktivitäten des staatlichen “Instituto Mexicano de Cinematografía” (IMCINE), das unter anderem gezielt junge FilmemacherInnen fördert. Einige Filme wurden sogar kommerzielle Erfolge im Ausland, zum Beispiel “Como agua para chocolate”: In den USA wurde das Küchendrama überraschend zum Kassenschlager und spielte allein in den ersten 16 Wochen 8,5 Millionen Dollar ein.
Und wie steht es mit Kuba? In den drei Jahrzehnten nach der Revolution entstand auf der Insel unter Federführung des nationalen Filminstitutes ICAIC eine Filmindustrie, die zwischen 1984 und 1990 ungefähr 10 Spielfilme pro Jahr sowie zahlreiche Kurz- und Dokumentarfilme produzierte. Entscheidend ist allerdings nicht die Anzahl der Filme, sondern die politischen Impulse, die vom kubanischen Film ausgingen, sowie die Infrastruktur, die der kubanische Staat aufbaute und auch Filmschaffenden anderer Länder zur Verfügung stellte.
So wurde 1986 auf Kuba die “Filmschule der drei Welten” gegründet – ein weltweit einmaliges Projekt, das jungen Leuten aus Lateinamerika, Asien und Afrika die Möglichkeit bietet, gemeinsam zu studieren und sich auszutauschen. Das Internationale Filmfestival von Havanna, das seit 1980 jährlich stattfindet, entwickelte sich schnell zum wichtigsten Forum des lateinamerikanischen Films.
Die ökonomische Krise, unter der Kuba seit dem Zusammenbruch der Länder des Warschauer Paktes leidet, hat natürlich auch Auswirkungen auf die Filmindustrie: So konnten im vergangenen Jahr nur zwei Spielfilme fertiggestellt werden. Folglich fand das Filmfestival in Havanna in den letzten beiden Jahren in einer Atmosphäre der Widersprüche statt: Inmitten des immer größer werdenden Mangels gelang den OrganisatorInnen zwar das Kunststück, einen reibungslosen Ablauf des Festivals zu organisieren. Gleichzeitig sorgte 1992 die de-facto-Zensur des kubanischen Films “Alicia en el pueblo de las maravillas” (“Alice im Wunderland”), einer systemkritischen Satire von Daniel Díaz Torres, für einen Skandal.

Lateinamerikanische Filmkooperation – erste zaghafte Schritte

Was ist aus der kontinentalen Vision der Väter – und wenigen Mütter – des Neuen Lateinamerikanischen Films geworden, die sich 1967 im chilenischen Badeort Viña del Mar zum ersten lateinamerikaweiten Treffen versammelten?
1986 wurde von Filmschaffenden aus verschiedenen Ländern die “Fundación del Nuevo Cine Latinoamericano” (“Stiftung des neuen lateinamerikanischen Kinos”) ins Leben gerufen, die sich zum Ziel gesetzt hat, “die nationalen und kulturellen Werte Lateinamerikas wiederzubeleben” und die bereits bestehenden Bewegungen auf kontinentaler Ebene zu verknüpfen. Auf Initiative der Stiftung, die ihren Sitz in Havanna hat, wurde beispielsweise 1989 die “Conferencia Iberoamericana de Autoridades Cinematográficas” CACI (“Iberoamerikanische Konferenz der Filmbehörden”) gegründet. Ziel ist, die Zusammenarbeit staatlicher Institutionen und der Filmindustrien auf dem Kontinent zu verbessern und verstärkt Koproduktionen herzustellen. Mittlerweile haben 13 Länder eine “Ibero-amerikanische Film-Vereinbarung” unterzeichnet, die unter anderem die Einrichtung einer jährlichen internationalen Filmkonferenz vorsieht. Auch soll ein Exekutivorgan geschaffen werden, das die gesetzliche und praktische Umsetzung der Vereinbarung in den verschiedenen Ländern überprüft. – Ein gemeinsamer lateinamerikanischer Filmmarkt – die Patentlösung gegen die erdrückende Dominanz der US-amerikanischen Medienindustrie? Gabriel García Márquez, einer der Gründer der “Stiftung des neuen lateinamerikanischen Films”, betont, das Ziel sei nicht, die US-Konzerne aus dem Geschäft zu drängen, sondern lateinamerikanischen Filmen die gleichen Vertriebs- und Präsentationschancen zu verschaffen.
Der lateinamerikanische Film, ein schillernder Vogel, zur Zeit ziemlich gerupft, versucht, ökonomisch fliegen zu lernen. Ein schweres Unterfangen in einer Zeit, in der die wirtschaftliche Krise eine solch beklemmende Schwerkraft entwickelt wie in den neunziger Jahren.

Von der Sünde, ein Volk zu sein

Die ursprüngliche Fassung des Projekts, die Vorstellungen indigener Gemeinschaften und ihrer VertreterInnen enthielt, sollte der Gleichgültigkeit ein Ende setzen, mit der traditionell den ersten BewohnerInnen des Landes begegnet wurde. Mapuches, Aymaras, Rapa, Nui, Atacamenas, Collas, Kawshkar und Yamana stellen heute ein Zehntel der chilenischen Bevölkerung und leben meistens in extremer Armut. Die Vorstellungen der 998.000 Indigenas, in der Mehrzahl Mapuches, die zunächst zur Mitarbeit eingeladen worden waren, wurden schließlich im Zuge der Beratungen in beiden Kammern des Parlaments nicht berücksichtigt.
Zwei Jahre dauerte es, ehe die Deputiertenkammer und der Senat die Ley Indígena verabschiedeten, die der ursprünglichen Fassung der Gesetzesinitiative jedoch in entscheidenden Punkten nicht mehr entsprach. Auch wenn sich die PolitikerInnen aller Fraktionen damit brüsten, einen Konsens erreicht zu haben, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß nach wie vor die von Indígenas geforderte Anerkennung als eigenständige Völker verweigert wird.

Röntgenbild der Tauben

1990 kehrte Chile zur formalen Demokratie zurück. Der frisch gewählte Präsident, der Christdemokrat Patricio Aylwin, berief die “Sonderkommission indigener Völker” (Cepi), zu deren offiziellen Zielen es gehörte, den lange mißachteten Rechten indigener Völker Geltung zu verschaffen. Die Cepi stützte sich dabei auf ein Übereinkommen, das die spätere Regierungskoalition der “Parteien für die Demokratie” im Zuge ihres Wahlkampfes mit Indígena-Organisationen getroffen hatte. Die Concertación versprach damals “die verfassungsmäßige Anerkennung indigener Völker samt ihrer ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte”.
In Zusammenarbeit mit verschiedenen Interessenvertretungen von Indígenas bereitete die Cepi einen Entwurf für die neue Ley Indígena vor. Die VertreterInnen der verschiedenen Völker sowie BeraterInnen der Regierung behandelten Themen wie die Anerkennung einer eigenen Identität, die Landfrage, Wasserrechte und den Zugang zu einer Erziehung, die Kultur und Sprache der Indígenas fördert. Außerdem sollte es ermöglicht werden, Konflikte auf der Grundlage indigenen Gewohnheitsrechtes beizulegen. “Die schweren Versäumnisse der bisherigen Gesetzgebung sollten beseitigt werden. Es ging nicht nur darum, sich lediglich auf dem Papier gegen Rassismus zu wenden, sondern auch darum, die Geschichte dieses Landes zu bewältigen, die in höchstem Maße durch Intoleranz gegenüber den Existenzrechten indigener Völker geprägt war”, erklärt José Bengoa, der Direktor der Cepi. Seiner Meinung nach war der Gesetzentwurf, der im Oktober 1991 dem Parlament vorgelegt worden war, durch den Willen gekennzeichnet, den indigenen Völkern das Recht zuzugestehen, den Entwicklungsweg zu wählen, der in ihren eigenen Traditionen und Vorstellungen wurzelt. Ausgehend vom Prinzip der “positiven Diskriminierung” sollte die neue Gesetzgebung der ungerechten juristischen Praxis ein Ende bereiten, die Indígenas stets nur im Zusammenhang mit Besitzrechten auf Ländereien betrachtet hat.

Von der Sünde, ein Volk zu sein

Aylwin beabsichtigte, gemeinsam mit der Ley Indígena die Verfassung von 1980 zu verändern, die die Gleichheit aller ChilenInnen vor dem Gesetz festlegte. Hinter diesem Rechtsgrundsatz der von der Militärdiktatur hinterlassenen Verfassung verbirgt sich in Bezug auf indigene Völker das Prinzip: “Wir alle sind Chilenen”. Dieses dogmatische Gebot als wichtigster Baustein juristischer Interpretation verhindert die Anerkennung der Existenz indigener Völker in der chilenischen Verfassung.
In der ursprünglichen Version der Ley Indígena hieß es: “Der Staat wird sich für den juristischen Schutz und die Entwicklung der indigenen Völker einsetzen, die Bestandteile der chilenischen Nation sind”. Für Ricardo Navarrete von der Radikalen Partei, die dem Regierungsblock angehört, ist es unverzichtbar, “die Existenz indigener Völker ausdrücklich anzuerkennen, weil es sich bei ihnen um einen Bestandteil der Bevölkerung mit einem eigenen kulturellen Wert handelt”. Doch gerade der Begriff “Volk” war es, der die erste Fassung des Gesetzes scheitern ließ. Die politische Rechte lehnte diesen Begriff mit der Begründung ab, er gefährde die innere Sicherheit des Staates und verletze das Prinzip der einheitlichen chilenischen Identität. Sergio Diez, der Senator der rechten “Nationalen Erneuerung”, erklärte: “Ich bin ein entschiedener Anhänger der Integration aller Wurzeln des chilenischen Volkes in das chilenische Volk. Ich glaube, daß wir uns alle als Chilenen fühlen und uns in die nationale Gemeinschaft eingliedern wollen. Der Begriff ‘Volk’würde hingegen einer separatistischen Tendenz Vorschub leisten, die einer Politik zuwider läuft, die auf die harmonische Integration dieser Gruppen abzielt.”
Der politische Diskurs weckte in dramatischer Weise Erinnerungen an den Jahrhunderte währenden Versuch, “das Indigene auszumerzen”, die Indígenas koste es was es wolle zu assimilieren, einer in kultureller Hinsicht homogenen Gesellschaft zuzustreben. Statt im neuen Indígena-Gesetz von Völkern zu reden, wurde der unverfängliche Begriff “Gemeinschaft” oder “Ethnie” gewählt. Die Concertación mußte schließlich eingestehen, “daß die verfassungsgemäße Anerkennung der Existenz indigener Völker noch solange ausstehen wird, bis innerhalb der chilenischen Gesellschaft und ihrer politischen Klasse ein größeres Maß an Verständnis existiert”.
Unter den Indígenas, die sich an der Ausarbeitung des ursprünglichen Gesetzentwurfes beteiligt hatten, breiteten sich Mißtrauen und Enttäuschung aus. Cesar London von der Organisation “Xawun Ruca” stellte fest, “daß das Gesetzesverfahren von Anfang an von der politischen Macht bestimmt wurde, an der wir Mapuches nicht teilhaben”. Der Ratgeber der Cepi und Vertreter von Ad Mapu, José Santos Millao, fällte ein vernichtendes Urteil über das neue Gesetz: “Ohne die verfassungsmäßige Anerkennung als Volk samt Territorium wird uns auch das Recht auf politische Teilnahme verwehrt. Wir haben nicht mehr als ein Anhörungsrecht.”
Der fehlende politische Wille der ParlamentarierInnen hat die Ley Indígena zu einem Gesetzwerk gemacht, das weit hinter den Standards internationaler Rechtsprechung zurückbleibt. Viele lateinamerikanische Staaten verfügen über Verfassungen, in denen sich die Gesellschaften wenigstens auf dem Papier als pluriethnisch und -kulturell bezeichnen. In Panamá existiert dieser Verfassungsgrundsatz seit vierzig Jahren, und auch in Kolumbien, Brasilien, Nicaragua, Ecuador und Peru wird das Konzept unterschiedlicher Nationen in einem Staat akzeptiert. Der Druck internationaler Standards scheint die chilenische Politik nicht sonderlich zu beeindrucken. Noch während des Wahlkampfes versprach die Concertación, der “Konvention 169 über indigene Völker und Stämme in unabhängigen Staaten” der Internationalen Arbeitsorganisation beizutreten. In dieser Konvention wird “die Notwendigkeit anerkannt, den Schutz indigener Völker zu gewährleisten und ihren eigenständigen Charakter anzuerkennen”. Das zitierte Dokument stellt den fortschrittlichsten internationalen Vertrag in Bezug auf indigene Völker dar, weil es die traditionelle ethnozentrische, auf Assimilation gerichtete Perspektive überwindet und moderne Sichtweisen von Menschenrechten umsetzt. Noch immer wurde dieses Vertragswerk vom chilenischen Parlament nicht ratifiziert. Seit 1991 liegt die Ratifizierung auf Eis, enthält die Konvention doch dasselbe Konzept von indigenen Völkern, das jüngst die Nueva Ley Indígena zum Scheitern brachte.

Die wichtigsten Punkte der Ley Indígena

Offiziell trägt das neue Gesetz den Titel “Gesetz zum Schutz, zur Förderung und zur Entwicklung der Indigenas” und fügt sich in das Konzept “Ethnoentwicklung” ein, das auf den Möglichkeiten indigener Kultur aufbaut. Ein zentraler Gesichtspunkt des Gesetzes behandelt die Landfrage. Die Eigentumsrechte auf im Augenblick von Indígena-Gemeinschaften genutztem Land sollen abgesichert werden. Mit dem Verbot, Indígena-Land an Privatpersonen zu verkaufen, soll verhindert werden, daß diese Territorien über den Immobilienmarkt auf legale Art und Weise enteignet werden.
Der “Fonds für Land und Wasser” soll dazu dienen “Indígena-Ländereien” zu schützen, für deren angemessene Nutzung zu sorgen, ein ökologisches Gleichgewicht zu gewährleisten und auf die Ausweitung von Indígena-Eigentum hinzuwirken”. Mit Hilfe staatlicher Unterstützung sollen die Indígenas die Schwierigkeiten des Minifundismus überwinden. Außerdem soll der Fonds dazu dienen, die Bodenqualität zu verbessern und Probleme der Bewässerung zu lösen. Die gesamte Indígena-Politik wird von der Nationalen Vereinigung Indigener Entwicklung (CONADI) koordiniert, die neben ihrer Zentrale in Araucania Zweigstellen überall im Land haben soll.
Darüber hinaus soll es unter Strafe gestellt werden, Indígenas aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Kultur zu beleidigen. Die Meldebehörden werden angewiesen, in den Geburtsregistern jene Namen festzuhalten, die Indígena-Eltern angeben. Dieser etwas grotesk anmutende Artikel soll der Politik der “Chilenisierung” vorbeugen, die vielfach von Verwaltungsbeamten betrieben wird.
In Regionen mit hohem indigenen Bevölkerungsanteil sollen zweisprachige Schulen eingerichtet werden. Forderungen nach politischen Mitbestimmungsrechten wurden von der Rechten als angeblich verfassungwidrig abgelehnt. Immerhin stehe der Zugang zu politischen Ämtern allen ChilenInnen offen, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft. Andererseits wurde ein Artikel angenommen, der besagt, “Indígenas sollen an der lokalen und regionalen Verwaltung beteiligt werden”.

Kritik der Mapuches an der neuen Gesetzgebung

Die Mapuche-Organisationen, die in der Cepi mitarbeiten, stimmen in der Einschätzung überein, daß die Landfrage nur unzureichend geklärt wurde. Dagoberto Cachána von Ad Mapu kritisiert, “daß das Gesetz uns nicht die Eigentumsrechte der Ländereien zubilligt, die uns auf der Grundlage damaliger Rechtssprechung weggenommen wurden. Darum wird das neue Gesetz für uns ebenso schädlich sein wie das alte.”
Im Hinblick auf den Schutz von Indígena-Territorien weist die neue Ley Indígena eine entscheidende Lücke auf. Nach ziviler Rechtssprechung existiert nach wie vor die Möglichkeit, Land für längstens neunundneunzig Jahre zu verpachten, was de facto einer völlig legalen Enteignung entsprechen würde. Der Erfolg dieses Gesetzes wird zudem entscheidend davon abhängen, mit welchen finanziellen Mitteln die Regierung bereit ist, für dessen Umsetzung zu sorgen. Nachdem das Finanzministerium für die Ausstattung des “Fonds für Land und Wasser” lediglich eine Zusage von 500.000 US-Dollar gemacht hat, muß an dieser Bereitschaft gezweifelt werden. Selbst die staatliche Behörde Cepi stellt in Frage, ob der Fonds für die Umsetzung der ehrgeizigen Zielsetzungen des Gesetzes ausreichen wird.

Die Indígena-Politik unter der Militärdiktatur

Jahrhundertelang wurden die Territorien der Indígenas unter dem Vorwand kolonialisiert, es existierten keine juristisch abgesicherten Besitztitel. Erst 1972 wurde unter Salvador Allende ein Gesetz erlassen, das Indígenas als eigenständige menschliche Wesen akzeptierte und nicht nur als Teil der von ihnen besessenen Ländereien. Dieser Fortschritt wurde mit dem Militärputsch von 1973 zunichte gemacht. Den Prinzipien des Neoliberalismus getreu ging es der Militärdiktatur vor allem darum, das Prinzip des Privateigentums durchzusetzen. 1978 wurde per Dekret der Prozeß der Zersplitterung von in Gemeinschaftsbesitz befindlichen Ländereien beendet: “Von heute an gibt es weder Indígena-Land noch Indígenas”. Die Schöpfer dieses Dekrets gaben vor, mit der Einführung des Individualbesitzes den entscheidenden Schritt für den Fortschritt und die Modernisierung im ländlichen Bereich zu unternehmen. Sozialstudien in der Region Auracania zeigen jedoch, daß durch die Aufteilung der Ländereien ein Minifundismus gefördert wurde, der vielen Mapuche-Familien allenfalls das Existenzminimum sichert.
Im Interesse nationaler Politik wurden die Indígenas zu chilenischen Bauern und Bäuerinnen erklärt. Offiziell hieß es unter der Pinochet-Diktatur, “daß das eigentliche Problem der Mapuche nicht in ihrer kulturellen Andersartigkeit besteht, sondern im ihrem Mangel an Erziehung und Kultur”. Außerdem wurde hartnäckig die Position vertreten, in Chile gäbe es keinen Unterschied zwischen Indígenas und dem Rest der Bevölkerung. Ein bedeutender Anteil der Indígenas, hauptsächlich Mapuches, ist seit den fünfziger Jahren in die größeren Städte emigriert, um vor allem der Armut auf dem Land zu entfliehen. In den Städten sahen sie sich dem Druck ausgesetzt, ihre Tradition und ihre Sprache abzulegen. Sechsundsiebzig Prozent der Indígena-MigrantInnen ziehen nach Santiago und arbeiten dort mehrheitlich in Brotfabriken, auf dem Bau oder als Hausangestellte. Ohne entsprechende Ausbildung und aufgrund ihrer Herkunft geringgeschätzt, vergrößern sie den marginalisierten Sektor der urbanen Bevölkerung.

“Marri cliwe” – oder der Kriegsruf

Mit dem Beginn der siebziger Jahre entstand in Lateinamerika eine starke indigenistische Bewegung, die sich für die “ethnische Autonomie” einsetzte. Konzepte wie die “Integration aller Ethnien” wurden von dieser Bewegung abgelehnt, weil mit ihnen stets Ungleichheiten verschleiert wurden und sie als Vorwand dienten, indigenen Völkern eine fremde Kultur aufzuzwingen. Dem wurde das Recht entgegengestellt, kulturelle, ökonomische, soziale und politische Systeme zu entwickeln und zu bewahren, die sich von denen der Bevölkerungsmehrheit unterscheiden. Auf dem gesamten Kontinent neigte die indigenistische Bewegung dazu, Verbindungen zu Teilen der mestizischen Gesellschaft zu kappen. Die häufig eingegangenen Verbindungen mit Sektoren der Linken hatten nie dazu geführt, daß die Probleme von Indígenas losgelöst von der allgemeinen Problematik gesehen wurden. Im Unterschied zu seinen lateinamerikanischen Nachbarstaaten hat der Indigenismus in Chile in intellektuellen oder fortschrittlichen Kreisen kaum Widerhall gefunden. Das Scheitern der ursprünglichen Ley Indígena machte einmal mehr deutlich, daß es die chilenische Gesellschaft nicht vermag, ihr Verhältnis zu indigenen Völkern zu lösen.
Die Frage des Landbesitzes bleibt indessen das zentrale Moment bei der Mobilisierung der Indígenas. Notfalls auch mit Waffengewalt will der “Consejo de Todas las Tierras” die den Mapuche genommenen Ländereien zurückerlangen. Darüber hinaus verlangt der Consejo einen Status politischer Autonomie gegenüber dem chilenischen Staat. Die Haltung der Regierung lehnt der Rat vollständig ab. “Nachdem er bemerkt hat, daß man die Existenz der Indígenas nicht länger verleugnen kann, bittet der Staat heute um Verhandlungen, an denen zwar alle teilnehmen, aber nur wenige entscheiden. Der kulturelle Genozid drückt sich heute anders aus. Er trägt nicht länger das Merkmal physischer Gewalt, militärischer Intervention. Die Maßnahmen der Regierung laufen darauf hinaus, den kulturellen Zusammenhalt der Mapuche zu zerstören, und sie will die Regeln festlegen, nach denen wir mit ihr verhandeln sollen.”
In diesen Zusammenhang stellt der Consejo auch das neue Indígena-Gesetz. “Das Gesetz wurde uns von außen diktiert und ist ein wirkungsvolles Instrument des Kolonialismus, an dessen Herstellung leider auch Indígenas beteiligt waren. Indem sie uns den Status als Volk verweigern, drücken sie aus, daß es keine Gleichberechtigung mit den Chilenen gibt. Nach wie vor werden unsere Rechte verletzt, verweigert man unsere Existenz”, faßt Aucan Huilicaman zusammen. Das Versprechen, die Urbevölkerung Amerikas in ihren Rechten zu respektieren, wurde in Chile noch immer nicht erfüllt. Mit der Ley Indígena hat es wiederum die mestizische Bevölkerungsmehrheit versucht, die Geschichte der Indígenas zu schreiben – auch im 501. Jahr nach der sogenannten “Entdeckung” Amerikas.

Wer zerstört, wer rettet Amazonien?

Der folgende Beitrag von Thomas W. Fatheuer ist einer Publikation der brasilianischen Nicht-Regierungsorganisation FASE entnommen, die kürzlich unter dem Titel “Hoffnung für den Regenwald? Das Pilotprogramm der G-7 und Ansätze für eine neue Politik in Amazonien” auf deutsch erschienen ist.

Amazonien der große Wald

Amazonien wird in der internationalen Wahrnehmung fast immer und ausschließlich mit dem Regenwald identifiziert. Damit wird die Region zum primären Objekt der Ökologie. Tatsächlich hat die Analyse des Ökosystems Regenwald wichtige Ergebnisse zu Tage gebracht. So ist es heute fast Allgemeinwissen, daß die tropische Fülle des Regenwaldes nicht mit einer hohen Bodenfruchtbarkeit korrespondiert. Der bekannte Biologe und Vorstandsmitglied des WWF J.Reichholf konfrontiert die Welt des Überschusses, aus der die Siedler kommen, mit der Realität des Regenwaldes: “Diesen Überschuß gibt es im Regenwald nicht. Das gesamte System ist auf geschlossene Kreisläufe eingestellt. Jede Öffnung, um Überschuß zu erreichen, schädigt und zerstört das System. Nur das Sicheinfügen in ein ökologisches Großsystem mit ‘Nullwachstum’ gäbe dem Menschen einen Platz im tropischen Regenwald. Dieser Wald befindet sich in einem umfassenden Gleichgewicht.” (Reichholf 1990, S.181f) Die Konsequenz ist klar: “Die landwirtschaftliche Erschließung der tropischen Regenwälder lohnt sich nicht.” (Reichholf 1990, S.184) Gnade finden allenthalben Indios mit an den Wald angepaßter Wirtschaftsweise bei geringer Besiedlungsdichte. Ansonsten sind die Regenwälder “weder mittel- noch langfristig nutzbar” (Reichholf 1991, S.20). Diese Ausführungen Reichholfs werden illustriert durch eine Karte über die “ökologische Großgliederung Amazoniens” (Reichholf 1990, S.183). Die gesamte Region, größer als Europa, wird aus drei Teilen gebildet: (1.) dem extrem nährstoffarmen zentralamazonischen Bereich, durchzogen von der (2.) fruchtbareren Várzea (zeitweise überschwemmtes Land), die an Bodenfruchtbarkeit mit dem Andenvorland gleichzusetzten ist und (3.) die ebenfalls recht mineralstoffarmen Zonen des nördlichen und südlichen Randgebietes. Demonstrieren soll diese Karte, daß in Amazonien lediglich eine “Flußoasenkultur” inmitten einer grünen Wüste entstanden und tragfähig ist.

Die “soziale Leere”

Auf dieser Karte verschwinden sowohl Städte wie Gebiete, die seit hundert Jahren landwirtschaftlich genutzt werden – was natürlich bei einer Illustration der ökologischen Großgliederung verständlich ist. Das Problem aber ist, daß Städte und Landwirtschaft in der Diskussion einer Lösung für den Regenwald/Amazonien überhaupt nicht auftauchen. Genau das ist es, was die schon zitierte Äußerung von H. Acselrod meint, wenn sie die “soziale Leere” Amazoniens in solchen Diskursen kennzeichnet. Die totale Ökologisierung Amazoniens entleert die Region ihrer sozialen Gestaltung. Es ist leicht einzusehen, warum: In dem ökologischen Gleichgewichtsmodell sind alle menschlichen Eingriffe als Schädigungen (s.o.) klassifiziert. Zugespitzt: der Mensch erscheint, sei er denn nicht ein Indio, als Zerstörer, als Schädling. Er kann gar nicht anders. Die Kritik an der Entwicklung Amazoniens bezieht sich somit nicht auf ein bestimmtes historisches, ökonomisch und sozial determiniertes Aneignungsmodell, sondern auf menschliche Nutzung schlechthin.
Was bedeutet aber eine solche Analyse für Amazonien? Über die Hälfte der etwa 17 Millionen Einwohner Amazoniens leben in den Städten, bei der ländlichen Bevölkerung beträgt die Anzahl der Indios etwa 170 000. Mag man noch zu den Indios andere Gruppen zählen, die auf traditionelle Weise den Wald nutzen, bei großzügiger Rechnung bleibt doch eine Bevölkerung von etwa 15 Mio, für die in den öklogischen Konzepten kein Platz ist. Was soll mit diesen 15 Mio Waldschädlingen geschehen? Nein, niemand schlägt vor, diese umzusiedeln oder Ähnliches. Vor solch offensichtlichem Unsinn schützt doch in der Regel der gesunde Menschenverstand. Das Problem sind nicht absurde Vorschläge, sondern ist das Schweigen. Es wird einfach nicht diskutiert. Amazonien ist der Wald. Die soziale Vielfalt, die Geschichte der Region, ihre Wandlungen und Dynamik, all das tritt nicht ins Bild – oder nur, um Zerstörung und Sinnlosigkeit der Nutzung anzuklagen. Die Bilder vom nicht-florestalen Amazonien (“Hohe Schornsteine am Amazonas”) dokumentieren nur den zerstörerischen Charakter all dessen, was nicht Wald ist. Sinnbildlich ist diese Ikonografie auf dem Titel des “Regenwaldbuches” (Niemetz 1992): In einen wunderschönen Moosregenwald auf Zentralsulavesi ist das Kleinfoto von Hochspannungsleitungen des Wasserkraftwerkes Balbina hineinmontiert. Was gut und was schlecht ist, bedarf keines Kommentares.
Die auf einer Ökologie des Regenwaldes (die hier nicht kritisiert werden soll) beruhende Ökologisierung Amazoniens wird fatal durch Ausblendung. Die ökologische Kritik hat sich als äußerst wertvoll darin erwiesen, den Unsinn der bisherigen Entwicklungsstrategien in Amazonien aufzuzeigen, sie hat aber – jenseits der Propagierung der indianischen Wirtschaftsweise – keine Perspektiven für die Mehrheit der Bevölkerung entwickeln können. Das Pilotprogramm (der G-7 für Amazonien) reflektiert dieses Dilemma. Es ist Ausdruck der florestalen Wahrnehmung Amazoniens und setzt das Schweigen über den “Rest” fort.

Rettet indianisches Wissen den Regenwald?

Der Umschlag des Regenwaldberichts der deutschen Bundesregierung zeigt das Foto einer Brandrodung: ein brennendes Stück Land und ein Mann auf dem Maultier. Das stammt, so werden werden wir aufgeklärt, aus dem Bildarchiv des WWF und zeigt “shifting cultivation” in Brasilien. Gleich in der Einleitung des Berichtes wird zu den Ursachen der Tropenwaldprobleme festgestellt: “Der größte Teil der weltweiten Zerstörung tropischer Wälder ist durch Brandrodung verursacht. Diese Methode beruht insbesondere auf Armut, Überbevölkerung und ungünstiger Landverteilung.”(S.14) Später wird diese Aussage auf 60% präzisiert und kein Zweifel gelassen, wer hier abbrennt: “lokale Bevölkerung und Siedler aus anderen Gebieten” (S.32). Auf das Konto von Viehzucht und Großprojekten soll nur 30% der Waldzerstörung gehen. Eine auf portugiesisch verfasste Informationsbroschüre über die deutsche Tropenwaldpolitik wiederholt diese Angaben.
Als diese Zahlen auf dem Seminar in Belém zitiert wurden, haben sie einen Empörungssturm und eine hitzige Debatte hervorgerufen. Verständlicherweise. Ikonografie und Zahlen definieren eindeutig die Kleinbauern als die Hauptgefahr für den Wald, im Drama der Waldzerstörung sind sie die “Bösen”. Natürlich gibt es auch die “Guten”. “Der Schlüssel für Amazonien liegt im indianischen Wissen.” (Gawora 1992, S.21). Diese Aussage dürfte einen weiten Konsens unter Regenwaldgruppen darstellen.
Die Wiederentdeckung und Aufwertung indianischen Wissens – dies wurde bereits gesagt – ist eine äußerst positive Entwicklung, die viel zur Kritik am herrschenden Entwicklungsmodell beigetragen hat. Insbesondere die Forschungen von Darrell Posey haben gezeigt, mit welch differenzierten Strategien Indios, in diesem Fall die Kayapo, den Urwald nutzen. Sie haben auch gezeigt, daß der “Urwald” Amazoniens viel mehr durch menschliche Eingriffe beeinflußt worden ist, als wir bisher angenommen haben. “Die Unterscheidung in Urwald und Kulturland ist nicht mehr möglich…Der Regenwald sollte nicht mehr als undurchdringlicher Dschungel betrachtet werden, sondern als indianische Kulturlandschaft” (ebd.:20). In dieser Sichtweise wird den Kleinbauern zumindest eine Perpektive eingeräumt: “Übernahme indianischer Landnutzungssysteme” (ebd). Beispiel für eine zumindest partielle Übernahme indianischer Techniken, sind die Kautschukzapfer, Paranußsammler, oder seit längerem im Urwald lebende Flußanwohner (ribeirinhos). Dennoch ist die Konsequenz klar: konventionelle kleinbäuerliche Nutzungsformen sind gescheitert, Kleinbauern haben nur eine Chance, wenn sie quasi zu Indios werden. Es herrscht eine klare Dichotomie. Die Kleinbauern sind eindeutig als Teil des Problems definiert, die Indios hingegen als Teil der Lösung. Für die Bestimmung sozialer Akteure in Amazonien ist dies natürlich eine folgenreiche Feststellung.

Die Waldvernichter No. 1

Die erste Grundannahme dieser Konstruktion, daß die Kleinbauern die Hauptverursacher der Waldvernichtung sind, ist zumindest für Amazonien eindeutig falsch. Francisco Costa kommt aufgrund einer Analyse der für den Bundesstaat Pará vorliegenden Zahlen zu einem eindeutigen Schluß: 67% der durch landwirtschaftliche Nutzung verursachten Entwaldung geht auf Kosten der Anlage von Viehweiden. Zu nicht weniger als 80,7% sind dafür landwirtschaftliche Betriebe mit einer Fläche von über 200 ha verantwortlich (alle Zahlen für 1985). Bäuerliche Betriebe mit einer Fläche bis zu 200 ha sind insgesamt mit 38% an der Entwaldung beteiligt, ein sicherlich nicht geringer Anteil, der aber eine sinkende Tendenz aufweist (vgl. Costa 1992, S.64f). Diese Zahlen widersprechen jedenfalls völlig den Behauptungen des Tropenwaldberichts, zumal wenn man bedenkt, daß hier die Waldzerstörungen durch Großprojekte (Staudämme, Carajás) nicht einbezogen sind.
Dennoch bleibt die Feststellung, daß auch Kleinbauern den Wald zerstören. Diesen aber das indianische Wissen als Alternative anzubieten, ist illusorisch. Indianische Produktionssysteme haben eine lange Geschichte, sie sind in eine spezifische Kultur integriert und – das ist der entscheidende Punkt – sie sind nicht auf eine Marktproduktion ausgerichtet. Gawora gibt auch als Voraussetzung für die Übernahme indianischen Landnutzungssysteme durch Bauern “eine gewisse Teilautonomie vom Markt” an. Außerdem haben indianische Lebensformen nur da eine Chance, wo viel Land in gesicherten Verhältnissen zur Verfügung steht. Dies unter den gegebenen sozialen, ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen Kleinbauern als einzige Alternative anzubieten, heißt ihnen keine Alternative anzubieten.

Die Kleinbauern wirtschaften effizienter

All dies zeigt erst einmal nur, daß in den gängigen Vorstellungen über Amazonien für Kleinbauern kein Platz ist. Natürlich ist damit keineswegs die Annahme widerlegt, daß landwirtschaftliche Nutzung in Amazonien aus ökologischen Gründen prinzipiell nicht bzw. nur in der indianischen Variante möglich ist. Die prinzipielle Leugnung einer landwirtschaftlichen Nutzung übersieht die geografische und ökologische Diversität Amazoniens – auch die regional und lokal äußerst unterschiedlichen Bodenqualitäten. Tatsächlich zeigen Erfahrungen zum Beispiel in der Region Bragantina, zwischen Belém und dem Meer, und in der Region der Transamazônica, daß eine landwirtschaftliche Nutzung in Teilen Amazoniens auf Dauer möglich ist. In der Bragantina wird seit 100 Jahren Landwirtschaft betrieben. Wer meint, alle Erfahrungen mit der landwirtschaftlichen Entwicklung in Amazonien mit einem (ökologischen) Federstrich abtun zu können, wird nicht in der Lage sein, Strategien zu entwickeln, die an den sozialen Gegebenheiten der Region ansetzen. Erste Erhebungen des Instituts für Amazonasstudien (NAEA) an der Universität Belém und der FASE weisen darauf hin, daß es positive Erfahrungen im Bereich der kleinbäuerlichen Produktion gibt, Tendenzen der Nutzung, die sich als erfolgversprechend erweisen.
Zwei Beobachtungen sind in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Statistiken zeigen, daß der Anteil der Dauerkulturen am Wert der landwirtschaftlichen Produktion von Kleinbauern steigt. 1980 betrug er 14 Prozent gegenüber 22 Prozent 1985 (Costa 1992, S.58). Auf den entwaldeten Flächen produzieren die Kleinbauern einen 3-5 mal höheren Wert als Großbetriebe (Costa 1992, S.61). Während die Großbetriebe eine flächenver(b)rauchende, extensive Viehwirtschaft bei geringem Einsatz von Arbeitskräften privilegieren, tendieren die Bauern zu einer kapitalintensiven Dauerkultur. Es besteht also eine deutliche Differenz zwischen den Nutzungsmethoden der Kleinbauern auf der einen und den Großgrundbesitzern auf der anderen Seite. Es zeigt sich damit auch, daß die “shift cultivation keineswegs eine natürliche Technik ist und daß der Wanderbau nicht der bäuerlichen Produktionsweise inhärent ist.” (Costa 1992, S.65)
Die bäuerliche Landwirtschaft in Amazonien leidet unter dem Fehlen angepaßter Technologien und der Unterordnung unter die Ausbeutung durch das Handelskapital, das die Vermarktung der Produkte erschwert. Erste Analysen weisen darauf hin, daß Kleinbauern dort Erfolg haben, wo sie angepaßte Produktionsmethoden entwickeln, den Anbau durch agroforstwirtschaftliche Techniken diversifizieren, Zugänge zu Vermarktung und Krediten erlangen und die Eigentumsverhältnisse gesichert sind. Dies ist genau die Richtung, in die die Organisationen der Kleinbauern (Gewerkschaften) und Unterstützergruppen in Amazonien arbeiten. Unter solchen Voraussetzungen ist eine kleinbäuerliche landwirtschaftliche Entwicklung in Teilen Amazoniens möglich. Wer meint, dies sei nicht möglich, kann diese Erfahrungen nicht mit einer roten Karte oder einem Handschlenker abtun, sondern muß sich mit den realen Entwicklungen in Amazonien konfrontieren lassen.

Das Problem ist die Agrarindustrie

Das Verschwinden(lassen) der Kleinbauern in den ökologischen Konzepten hat eine fatale Konsequenz: Es differenziert nicht zwischen der zerstörerischen Aneignung durch die landwirtschaftlichen Großprojekte und der kleinbäuerlichen Produktion. Beide erscheinen als Momente des gleichen zerstörerischen Prozesses. Damit werden die Kleinbauern als Bündnispartner ausgegrenzt und politisch in die Hände der Großgrundbesitzer getrieben. Nicht die landwirtschaftliche Nutzung in Amazonien ist das Problem, sondern die vorherrschend praktizierte Form durch Großgrundbesitz und Agroindustrie, die, wie hier gezeigt wurde, erheblich mehr Flächen bei ungleich geringerer Produktivität als die bäuerliche Wirtschaft verbraucht. Kleinbauern sind an eine ökologische Entwicklung in Amazonien ankoppelbar, die großen Viehfarmen nicht. Großgrundbesitz und Agroindustrie sind in den letzten beiden Jahrzehnten durch Subventionen massiv begünstigt und die Kleinbauern marginalisiert worden. Nur eine Änderung dieser (Macht-) Verhältnisse wird eine sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Entwicklung ermöglichen – und nicht eine erneute Marginalisierung der Kleinbauern durch ihre ökologisch begründete Ausgrenzung.
“Die Rettung Amazoniens erfordert es, das Rückgrat der Latifundienwirtschaft zu brechen. Um den Migrationsfluß nach Amazonien zu stoppen, ist die grundlegende ökologische Forderung in Brasilien heute die Agrarreform in den Landesteilen mit längerer landwirtschaftlicher Tradition.” (Costa 1992, S.75) Auf dieser Grundlage kann das Bündnis der “Völker des Waldes” durch eine Zusammenarbeit mit den Kleinbauern erweitert werden. Demarkierung und Schutz der Indianergebiete, Einrichtung von Sammelzonen und eine nachhaltige kleinbäuerliche Produktion wären dann die Grundpfeiler ländlicher Entwicklung und Waldschutz in Amazonien. In ihrer Gegnerschaft zum Latifundium, zu zerstörerischen Großprojekten, zur industriellen Fischerei haben Indios, Sammler und Kleinbauern eine gleiche Interessenlage.

Costa, Francisco (1992) – “Ecologismo e questâo agrária na Amazônia”, Belém.
Gawora, Dieter (1992) – “Indianisches Wissen in Amazonien. Landnutzung und Heilwissen: Chance und Gefahr” in: Entwicklung und ländlicher Raum Nr. 1.
Niemetz, Carsten (1992) – “Das Regenwaldbuch”, Berlin, Hamburg.
Reichholf, Josef (1990) – “Der Tropische Regenwald”, München.

Die Broschüre von Thomas W. Fatheuer (FASE) – “Hoffnung für den Regenwald? Das Pilotprogramm der G-7 und Ansätze für eine neue Politik in Amazonien” ist gegen DM 5.- in Briefmarken, Scheck oder bar erhältlich bei:
Lateinamerika Nachrichten – Vertrieb, Gneisenaustr. 2a, 10 961 Berlin, Tel. 030 – 694 61 00.

Kasten:

Hauptursachen der Waldvernichtung

Philip Fearnside, Forscher am Instituto Nacional de Pesquisa da Amazônia (INPA) in Manaus, ist vielleicht der Forscher, der sich in den letzten Jahren am kontinuierlichsten und intensivsten mit der Frage nach den Ursachen der Entwaldung in Amazonien beschäftigt hat. Er sieht die Hauptursachen in einem kombinierten Entwicklungsprozeß, der die Migration nach Amazonien forcierte, verbunden mit einem Entwicklungsmodell, das die negativen Auswirkungen des Migrationsflusses auf den Wald maximierten. Dabei spielt die Viehwirtschaft eine herausgehobene Rolle: “Die Rinderwirtschaft macht den größten Teil der entwaldeten Flächen in Amazonien aus” (Fearnside 1992, S.207). Die Anlage von Viehweiden dient nicht nur der Produktion von Fleisch, sondern ist auch durch Immobilienspekulation begünstigt. Die Entwaldung zur Anlage von Viehweiden gilt in der Gesetzgebung als “Verbesserung”, schützt vor Enteignung wegen unterlassener Nutzung und erhöht den Wert des Grundstückes. Weitere Hauptursachen der Waldvernichtung sind:

– Staudammbauten und die damit verbundene Entwicklung der Aluminiumindustrie in Amazonien.
– Die Holzgewinnung, die historisch kein wichtiger Faktor war, in den letzten Jahren aber an Bedeutung gewann.
– Herstellung von Holzkohle
– die Anpflanzung homogener Wälder (Eukalyptus)

Der Wanderfeldbau, den traditionelle Waldbewohner praktizieren, ist für Fearnside in Brasilien “ein minimaler Faktor”. Über diese Feststellungen hinaus ist es schwierig, die einzelnen Momente der Waldvernichtung genau zu quantifizieren. Fearnside läßt aber keine Zweifel daran aufkommen, daß es die landwirtschaftlichen und industriellen Großprojekte sind, die die Hauptverursacher darstellen.
Als wichtigste Problemfelder, an denen eine Gegenstrategie ansetzten müßte, sieht er: “Entscheidungen über Bau und Verbesserung von Straßen; die Politik der Anerkennung des Landbesitzes auf der Grundlage von Weiden, deren Anlage als ‘Verbesserung’ akzeptiert wird; die Politik der ländlichen und industriellen Entwicklungen in den Herkunftsgebieten der Migranten, außerhalb Amazoniens.

Fearnside, Philip (1992) – “Desmatamento e desenvolvimento agrícola na Amazônia Brasileira”, in: Philippe Lena/ Adéla Oliveira – “Amazônia: a fronteira agrícola 20 anos depois”, Belém.

Verfassungsreform: Die Rechten in der Offensive

Mit Tumulten, Protesten und juristischen Verwirrungen begannen in Brasilia die Beratungen über eine grundlegende Revision der erst 1988 verabschiedeten Verfassung. Damals war die neue “Magna Carta” als ein großer Schritt zur Demokratisierung Brasiliens nach der Militärdiktatur gefeiert worden. Die progressiven und nationalistischen Kräfte in der Verfassungsgebenden Versammlung konnten wichtige Punkte einbringen. Das relativ progressive Design der Verfassung war auch einer großen Mobilisierung der sozialen Bewegungen zu verdanken, die eigene Vorschläge einbrachten. Internationale Beobachter sahen hingegen oftmals in der Verfassung ein wirres Machwerk, das zudem zu sehr ins Detail gehende Bestimmungen (z.B. Festlegung der Arbeitszeiten) und völlig irreale Festschreibungen (maximale Höhe für Zinsen) enthält. Inzwischen ist diese kritische Bewertung der Verfassung zur herrschenden Meinung in der brasilianischen Parteienszene geworden: Die gerade erst verabschiedete Verfassung wurde vom Mitte-Rechts-Spektrum als Haupthindernis für wirtschaftliche Stabilisierung und “Modernisierung” abgestempelt.
Gegen die geplante Verfassungsrevision haben die linken Parteien und Gewerkschaften vergeblich mobilisiert. Sie bezeichneten das Reformvorhaben als kalten Putsch und sprechen dem Kongress jegliche Legitimation dafür ab. Aber der Versuch, durch eine große Massenmobilisierung die Reform zu verhindern, kann als gescheitert gelten. Die “Contras” – wie die Gegner der Verfassungsreform in Brasilien bezeichnet wurden – blieben in der Minderheit. Die Bahn scheint also frei zu sein, so lauten die Befürchtungen, für einen Revanchismus, der ein Teil der Errungenschaften der Verfassung von 1988 hinwegfegt.
Was aber sind nun die wichtigsten Punkte, die in der Revision anvisiert werden? Folgende Ansätze haben sich in den Vordiskussionen herauskristallisiert:
– Das Staatsmonopol in den Sektoren Erdöl, Telekommunikation und Energie soll fallen. Dies würde auch den Weg für Privatisierungen in diesen Bereichen öffnen.
– Jegliche Diskriminierung ausländischen Kapitals soll wegfallen. Nach der jetzigen Verfassung haben brasilianische Firmen mit nationalem Kapital Vorrechte – etwa bei der Vergabe staatlicher Kredite.
– Die Ausbeutung der Bodenschätze ist bis jetzt tabu für ausländische Firmen. Auch diese Beschränkung soll aufgegeben oder zumindest gelockert werden.
– Zwei soziale Fragen stehen zur Disposition: Die Unkündbarkeit im öffentichen Dienst und die Rentenregelung, die den Bezug einer Rente nach 30 (Frauen) beziehungsweise 35 (Männer) Arbeitsjahren garantiert.
Diese in der Öffentlichkeit heftigst diskutierten Punkte zeigen deutlich die Tendenz: die brasilianische Verfassung soll an den marktliberalen Mainstream angepaßt und von den nationalistischen Überresten befreit werden.
Ein weiterer Kernpunkt ist eine Reform des Steuersystems. Der Wirtschaftsminister Fernando Henrique Cardoso wirft sein ganzes Gewicht in diese Frage, weil diese Reform nach seiner Meinung die Voraussetzung für eine Stabilisierung der Staatsfinanzen ist und damit auch für die Inflationsbekämpfung. Hier ist allerdings die große Frage, ob für ein Stabilitäts- und Anpassungsprogramm Zeit bis zum Ende der Verfassungsreform ist: Im September stieg die Inflation auf 38 % pro Monat an. Cardoso will daher die Steuerreform vorziehen, um Ende des Jahres einen großen Stabilisierungsplan zu lancieren.
Zwar zeigt die brasilianische Wirtschaft – bei einer so hohen Inflation eigentlich kaum zu fassen – Erholungszeichen, die Produktion wird in diesem Jahr nach zwei Jahren Rezession wieder wachsen, aber für die Mehrheit der Bevölkerung verstärkt der rasante Preisanstieg nur das soziale Elend. Wohl auch deshalb ist das Interesse an der Verfassungsreform relativ gering – und damit auch das Interesse an der Mobilisierung gegen sie. Zu sehr erscheint alles als ein abgehobenes Schauspiel, als Selbstlauf der politischen Klasse. Die Zweifel an der Legitimität dieses Kongresses, die Verfassung zu ändern, dürften von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt werden. Oder, wie es ein Kolumnist formulierte: Das Image der Politiker konkurriert nur noch mit dem der Polizei in Rio. Wie um solche Vorurteile zu bestätigen, platzte im Vorfeld der Verfassungsdiskussion ein neuer Bestechungsskandal: mehrere Abgeordnete haben gegen Bezahlungen die Partei gewechselt, um einer Minipartei das Quorum (15 Abgeordnete) zu verschaffen, das Voraussetzung ist, um einen Präsidentschaftskandidaten zu lancieren. Daß eine solche Politikerbande das Land auf den Weg der allseits beschworenen “Modernisierung” zu führen vermag, darf allerdings bezweifelt werden. Dennoch ist alles mehr als ein Sturm im Wasserglas. Die Verfassungsreform dient dazu, einen marktliberalen Block zu strukturieren und den Weg frei zu machen, die letzten Reste des nationalistisch beeinflußten brasilianischen Entwicklungsmodells zu beseitigen. Allerdings wird der Durchmarsch in moderne Zeiten nicht ganz einfach sein, auch die Rechte ist etwa in der Frage des Erdölmonopols durchaus nicht einer Meinung. Die Verfassungsreform ist wohl auch als ein Versuch zu werten, vor einem drohenden Wahlsieg des Kandidaten der Linken, Lula, bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr Fakten zu schaffen.

Berichtigung:
In der LN 231/232 Seite 2 und 71 ist uns leider ein Fehler unterlaufen. Jorge Barros arbeitet am CEAP, dem Centro de Articulaçao de Populaçoes Marginalizadas. Das CEAP ist eine Menschenrechtsorganisation, die sich gegen die Gewalt an Kindern und Jugendlichen, Frauen und der marginalisierten schwarzen Bevölkerung einsetzt.
Jorge Barros arbeitet nicht am CAPM und bei keiner Straßenkinderhilfsorganisation. – SORRY.

Das Recht auf trial and error in einer Welt ohne Beispiele und Bezugspunkte

“Reform oder revolutionäre Theorie und Praxis in Lateinamerika und Europa” lautete der Titel eines Internationalen Kongresses, den der Verein Monimbó aus Dietzenbach/Hessen in Zusammenarbeit mit Buntstift und der Stiftung Umverteilen organisiert hatte. Ein sowohl vom Alter als auch von den Nationalitäten ziemlich gemischtes Publikum von ungefähr 400 Leuten fand sich am 2. und 3. Oktober in der Frankfurter Uni ein.
Auf dem Podium des Hörsaals V1 saßen und referierten führende Vertreterinnen verschiedener linker Parteien und (ehemaliger) Guerillaorganisationen aus Brasilien, Cuba, Argentinien, Venezuela, E1 Salvador, Guatemala, Nicaragua und Chile. Einer der zentralen Diskussionspunkte war: Ist eine grundlegende Demokratisierung möglich, oder sind die formalen Demokratien, die in den letzten Jahren nach Abdankung der Militärs in Ländern wie Chile, Argentinien, Paraguay oder Brasilien entstanden sind, Fortsetzung der Diktatur mit anderen Mitteln?
Der argentinische Journalist Miguel Bonasso brachte die Fragestellung auf den Punkt: “Die sechziger Jahre waren die Zeit der revolutionären Bewegungen. In den siebziger Jahren kamen die Militärdiktaturen, die in den Achtzigern von formalen Demokratien abgelöst wurden. Was werden die neunziger Jahre bringen? Kommt jetzt wieder eine Phase der autoritären Staatsformen á la Fujimori in Peru, oder gibt es Möglichkeiten für linke Reformprojekte?” Die Kompetenz der lateinamerikanischen ReferentInnen konnte nicht über eine grundlegende Schwäche des Kongresses hinwegtäuschen: Die Zusammensetzung des Podiums spiegelte nicht gerade die Vielfalt der lateinamerikanischen Linken wieder, sondern nur deren parteipolitische Variante. Abgesehen von der Diskussionsleiterin Dorothee Piemont und Monica Baltodano von der FSLN waren Frauen lediglich in ihrer klassischen Funktion als Übersetzerinnen präsent.

Chance vertan: Soziale Bewegungen und Beiträge des Publikums waren kaum erwünscht

Auf die Anwesenheit von VertreterInnen sozialer Bewegungen war offenbar kein Wert gelegt worden, obwohl gerade diese in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika entscheidende Impulse für eine Erneuerung linker Programmatik gegeben haben. Und so blieb es einer Lateinamerikanerin aus dem Publikum vorbehalten, darauf hinzuweisen, daß es mittlerweile auf kontinentaler Ebene zahlreiche Treffen und Zusammenschlüsse von Frauengruppen, Umweltverbänden, Bauernorganisationen, Schwarzen und indigenas gibt, die ja nicht zuletzt in der Kampagne gegen die offiziellen 500 Jahr-Feiern im vergangenen Jahr eine entscheidende Rolle spielten.
Was die Stimme der bundesdeutschen Linken auf dem Kongreß anging, war es fast schon grotesk, mit Wolf-Dieter Gudopp vom “Verein Wissenschaft und Sozialismus” einen Vertreter ausgerechnet jener orthodoxen, kopflastigen und verknöcherten Variante von Sozialismus eingeladen zu haben, die an der ideologischen Krise der Linken einen entscheidenen Anteil hat.
“Auch ich bin von der Begeisterung für Dinosaurier angesteckt.”Dieses modische Lippenbekenntnis Dorothee Piemonts bezog sich auf ihre These, daß der Kapitalismus auf Dauer nicht überlebensfähig sei. Mindestens genauso gut hätte dieser Satz jedoch auf das anachronistische Gestaltungskonzept des Kongresses gepaßt: An zwei Tagen wurde vor vollem Hörsaal eine Frontalveranstaltung sondergleichen abgezogen: Die meisten Redebeiträge lagen dem Publikum als deutsche Übersetzung vor. Aus “Zeitmangel” wurden fast alle Referate ohne Direkt-Übersetzung auf Spanisch abgelesen -eine Methode, die auf einen Teil des Publikums einschläfernd wirkte, während andere frustriert und wütend reagierten: “Da hätte ich mich ja besser mit dem Reader zuhause hinsetzen können.”
Für den Dialog mit der Basis blieb -“leider, leider” -wie die Diskussionsleitung immer wieder bedauerte -so gut wie keine Zeit. Auf diese Weise wurde nicht nur eine Chance vertan, die Perspektiven der lateinamerikanischen Linken in größerer Runde zu diskutieren. Auch die gegenwärtige Krise der bundesdeutschen Linken -und eventuell vorhandene Erneuerungskonzepte -wurde kaum reflektiert, geschweige denn diskutiert.

Revolutionärer Pragmatismus: Drei Mahlzeiten täglich für alle

Die lateinamerikanische Linke sieht sich zur Zeit mit politischen und wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, die neben einer langfristigen Perspektive auch ein konkretes Handeln erfordern: Ein Blick auf die politische Landkarte des Subkontinentes zeigt, daß die Situation in den verschiedenen Ländern so unterschiedlich ist, daß es schwerfällt, allgemeine Prognosen zu treffen. Von einer Entwicklung sind allerdings fast alle Staaten betroffen: Mit dem rigiden Durchsetzen neoliberaler Wirtschaftsprogramme hat sich die Situation für den Großteil der Bevölkerung weiter verschlimmert und die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Das Kürzen öffentlicher Ausgaben im sozialen Sektor und im Bildungsbereich und die Privatisierungen staatlicher Unternehmen haben immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Heute ist es für viele Basisbewegungen in Ländern wie Peru oder Brasilien eine zentrale Forderung, den Hunger und das Massenelend zu beseitigen.
Wenn in seinem Land durchgesetzt werden könnte, daß die gesamte Bevölkerung dreimal täglich zu essen bekäme, so Nildo Domingos von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT), wäre dies angesichts der jetzigen Situation schon eine revolutionäre Errungenschaft. Gleichzeitig sieht auch er die Gefahr, sich in tagespolitischen Forderungen aufzureiben: “Die Linke war bis vor kurzem zu dogmatisch. Nun ist sie zu pragmatisch.”
Mit dem Vorwurf eines zu großen Pragmatismus, der “Sozialdemokratisierung”, wurde auf dem Kongreß in Frankfurt insbesondere der Vertreter der FMLN aus E1 Salvador, Shafik Hándal, konfrontiert. Die ehemalige Guerilla, die Anfang letzten Jahres nach zwölfjährigem Kampf einen Friedens-und Demokratisierungsvertrag mit der Regierung aushandelte, hat gute Chancen, bei den Wahlen im kommenden März die Regierung zu übernehmen. Das Programm, mit dem die FMLN antritt, konzentriert sich auf eine grundlegende politische Demokratisierung und Entmilitarisierung der salvadorianischen Gesellschaft. Es sieht eine Stärkung genossenschaftlicher Eigentumsformen vor, will jedoch gleichzeitig die Marktwirtschaft erhalten. Gegenüber KritikerInnen betonte Handal: “Ob die Demokratie sich am Ende als eine bürgerliche, rein formale, oder als eine substantielle herauskristallisieren wird, ist eine offene Frage. Wir von der FMLN bestehen auf unserem grundlegenden Recht auf die Methode des trial and error in einer Welt, die uns weder Beispiele noch Bezugspunkte bietet.”
Neben der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit ist ein anderes zentrales Problem in vielen Ländern die Rolle des Polizei-und Militärapparates als Repressionsorgan und die Existenz paramilitärischer Todesschwadrone. Gerade die aktuelle Entwicklung des Friedensprozesses in E1 Salvador läßt daran zweifeln, ob sich diese Kräfte tatsächlich mit friedlichen Mitteln entmachten lassen -von einer systematischen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen ganz zu schweigen.

Der ‘Geist Bolivars’ -Trugbild oder politische Vision?

Auf dem Kongreß wurde deutlich, daß die meisten linken Parteien Lateinamerikas zur Zeit in erster Linie damit beschäftigt sind, Perspektiven auf nationaler Ebene zu entwickeln -mit unterschiedlichen Konsequenzen. Zwar wurde immer wieder die Notwendigkeit beschworen, sich auf kontinentaler Ebene zusammen-zuschließen und auch mit linken Bewegungen aus Afrika oder Asien zu kooperieren. Der “Geist Simón Bolivars”, des antikolonialen Befreiungskämpfers aus dem vorigen Jahrhundert, schwebte nicht nur in Form eines riesigen bemalten Transparentes über den Köpfen der Diskutierenden. Es wurde betont, daß es allein schon aufgrund der weltwirtschaftlichen Verflechtungen und der Interventionspolitik der westlichen Industriestaaten nicht möglich sei, den “Sozialismus in einem Land zu realisieren -siehe die Beispiele Kuba und Nicaragua. Durch den Niedergang des “realexistierenden Sozialismus” haben sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren weiter verschlechtert. Dazu Eleuterio Huidobro von der ehemaligen Guerilla und jetzigen Partei der “Tupamaros” aus Uruguay: “Früher sahen wir die Alternativen Sozialismus oder Faschismus. Heute ist eine dritte Alternative aufgetaucht, die sich besonders in einigen afrikanischen Ländern oder in Osteuropa zeigt: das Chaos.”
Trotzdem war die Stimmung auf dem Kongreß von Optimismus gedämpften Optimismus gekennzeichnet: Immerhin haben in einigen Ländern Lateinamerikas linke Projekte in den letzten Jahren an Boden gewonnen und deren VertreterInnen könnten in absehbarer Zeit Regierungsaufgaben übernehmen, beispielsweise in E1 Salvador, Brasilien oder Uruguay. Ein anderes sehr interessantes Projekt -in Deutschland bisher noch recht unbekannt -ist die “Causa R in Venezuela (vgl. LN 226):Diese Bewegung versucht, dem staatlichen Establishment eine dezentrale, basisdemokratische Gegenmacht entgegenzusetzen. Mit beachtlichem Erfolg: Mittlerweile stellt die “Causa R” unter anderem den Bürgermeister der Hauptstadt Caracas.
Was die politischen Programme angeht, sind die LateinamerikanerInnen zwar bereit, auch mit deutschen Linken zu diskutieren, wehren sich aber gegen Bevormundung. Dazu Huidobro aus Uruguay: “Es wäre wünschenswert, wenn sich die Deutschen mehr um ihre Probleme hier kümmern. Wir würden auch gerne in Lateinamerika ein Kommitee zur Unterstützung der Revolution in Deutschland gründen.”

Capoeira – Die Kultur des Widerstandes

Capoeira veio daqui Capoeira kam von hier
do quilombo de Zumbi aus dem quilombo von Zumbi
como Angola ela chegou als Angola kam sie her
e aqui luta formou und hier formte sie den Kampf
Negro fugia da senzala die Neger flohen aus den Sklavenhütten
perseguido stets verfolgt
e se escondia do alarido und versteckten sich vor dem Geschrei
pra lutar bereit zu kämpfen
olha armada, meia lua schau, die Armada, die Meia Lua
cabeçada die Cabecada
a rasteira e a queixada die Rasteira und die Queixada
pra matar bereit zu töten
capoeira dizia die capoeira sprach
capoeira fazia die capoeira handelte
liberdade pro negro Freiheit für die Neger
liberdade pra vida Freiheit für das Leben
capoeira hoje em dia capoeira heutzutage
é a vida alegria ist eine Lebensfreude
vem pra roda vamos jogar komm zur roda, laß uns spielen

So der Text eines capoeira-Liedes, das gemeinsam im Kreis, der “roda”, gesungen wird. Das Lied drückt fast alles aus, was mit der capoeira in Verbindung steht und im Buch als geschichtlicher Hintergrund beschrieben wird.
Erzählt wird die Geschichte von Zumbi de Palmares, dem König der quilombos. Von der Entstehung der quilombos, den versteckten Siedlungen entflohener Sklaven im 16. Jahrhundert. Von der Ausbreitung einer Kampfform der befreiten und angeketteten afrikanischen Sklaven im Nordosten Brasiliens, die mit dem Streben der Schwarzen nach Freiheit einhergeht. E a capoeira. Das ist die capoeira. Sie hat die Kanonen der Portugiesen überlebt, auch wenn Palmares nach langjährigem Befreiungskampf dem Erdboden gleichgemacht und die Menschen niedergemetzelt wurden.
Der espirito – der Geist von Palmares – findet sich wieder in Liedern, Tänzen und Erzählungen und damit in der capoeira als Symbol für den Kampf gegen die Unterdrückung.
Was bei der Befragung von vier capoeiristas über den Begriff der capoeira herauskommt, sind fünf Meinungen. Der verstorbene Mestre Bimba vertrat die Meinung, capoeira sei die Kunst und Tücke, die einen Menschen befähigt, den Unwägbarkeiten des Lebens zu begegnen. Andere sehen die capoeira als Spiel, Kampf, Rhythmus, Poesie…
Mit der Abolicao, der Abschaffung der Sklaverei 1888 in Brasilien, gab es ein gesetzliches Verbot der capoeira. Die capoeira ging in den Untergrund. Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der ehemaligen Sklaven verschärften sich. Jetzt spielte die capoeira als wichtiges Mittel im Überlebenskampf eine große Rolle.
Hier kommt die “Macht der Götter” (und Göttinnen!) ins Spiel, denn unter dem Deckmantel der aus der afrikanischen Kultur mitgebrachten religiösen Riten konnte die capoeira in den Candomble, Umbanda und Macumba eingeflochten werden. Bei der Ausübung dieser Riten konnte die capoeira trainiert werden, ohne als Kampf sondern als religiöser Tanz angesehen zu werden. Aber anders als beim Candomble wird der/die capoeirista in der roda nicht in einen Trancezustand versetzt. Der Rhythmus bildet den Rahmen und bestimmt die Dynamik, mit der die KämpferInnen einander langsam, schnell, spielerisch, akrobatisch, ausdrucksstark, listig… begegnen. Die Ginga, der Grundschritt der capoeira, bildet einen von der Musik unabhängigen, eigenen inneren Rhythmus.
Außer der Geschichte im Leseteil des Buches sind im Übungsteil einerseits die in der “roda” benutzten Elemente, nämlich der Eigenbau des “Berimbau”, das Hauptmusikinstrument der capoeira, die capoeira-Musik, Toques (Rhythmen), Gesang und Texte zum Nachmachen gut beschrieben. Das Erlernen der Ginga, und der wichtigsten Techniken mit Abbildungen von meia lua (Halbmond), queixada, bensao, meia lua de compasso… macht einen weiteren großen Teil der Übungen aus. Mit der Unterscheidung der capoeira in die zwei Stilrichtungen capoeira angola und capoeira regional werden hauptsächlich Kampftechniken der Richtung angola gut erklärt. Für AnfängerInnen in der capoeira zum Nachlesen und Ausprobieren eine gute Hilfe.
Im Anhang finden sich sowohl weitere Literatur-Angaben und Bezugsadressen von capoeira-Schallplatten und CD’s sowie Adressen von capoeira-LehrerInnen, die allerdings nicht ganz auf dem neuesten Stand sind!
Insgesamt bietet das Buch eine anschauliche Einführung in die Grundtechniken der capoeira und viele Hintergründe über eine Kultur des Widerstandes in Brasilien.
Auffallend ist, daß es trotz weiblicher capoeiristas nach Dirk Hegemanns nur den männlichen “capoeirista” gibt, denn im gesamten Buch ist außer bei den Abbildungen nicht zu erkennen, daß dieser Kampftanz auch von Frauen betrieben wird, und dementsprechend Frauen auch verbal angesprochen werden sollten.
Aber “man” muß Capoeira leben, (sagte Mestre Sapo aus Olinda zu seinem Schüler, dem Autor) um zu erfahren und zu verstehen, was sich hinter “ihr” verbirgt.
Für einen Einstieg in die brasilianische Widerstandskultur capoeira trotzdem sehr zu empfehlen.

Dirk Hegemanns, Capoeira – Die Kultur des Widerstandes: ein Lese- und Übungsbuch, Schmetterling Verlag, 1993.

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